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Predigt über Joh. 8,30-32    

Friedenskirche:.11.10.87

Die Wahrheit wird euch freimachen. 

Eingangspsalm 23 (Mein Liederbuch S. 15) 
GM B12 Heillose Welt - 
Kyrie /C12  Fürchte dich nicht -
Ehre sei Gott
Kollektengebet ML S. 15  Christi Hände
Epistel Römer 8,22 - 39
Credo: Vertrauen (Mein Liederbuch S. 25 oben)
B77 Predigt Einsam bist du klein - Kanon 
Meditation B 83 
Taufe
Vertrauen und Segen (ML 28 mitte)
Unser Vater
Schützen  (ML 26 mitte) B 127 

Liebe Schwestern und Brüder!
Lütge lügt - ein schönes Wortspiel. Oft gehört, noch wieder letzten Mittwoch im  letzten Pfarrerkreis. Lütge ist faul - solche Worte machen frei. Ärger macht sich damit  Luft, der anders nicht heraus kann, der nicht direkt formuliert werden kann. Der erste  Versuch, direkt miteinander zu sprechen, ohne Publikum, unter vier Augen, an einem  Tisch, ohne Telefon, kam vorgestern, zu spät. Über die Grenzen einer persönlichen  Abneigung zweier Kollegen, die am Anfang die halbe Nacht miteinander telefonierten  und sich gut verstanden, über die Grenzen aller persönlichen Kränkungen und  hundepisserischer Rivalität zwischen uns beiden hinweg konnten wir verstehen, daß es  nicht reine Bosheit ist, die uns gegeneinander trieb, nicht Sadismus und brutaler  Machtkampf allein, sondern Befangenheit, Unfähigkeit, richtig hinzuschauen und  wahrzunehmen, Blockierungen im Erkennen. Wir beiden haben nach wie vor die  gleichen politischen Optionen und das verbindet uns trotz aller Spannung, auch wenn  wir beide froh sind, einander nicht mehr zu begegnen: Unser Herz schlägt für die  Vernichtung aller Waffen auf der Welt, für Sättigung aller Hungrigen auf der ganzen  Welt und für einen sanften Umgang mit der Natur, die unsere Mutter ist und uns nährt  und trägt und immer noch erträgt. Unsere Arbeit war immer besonders offen für die  türkischen Mitbürger und Hausgenossen in unserer Gemeinde, für alle, die aufgrund  ihrer Nationalität oder Fähigkeiten benachteiligt werden. Wir haben gemeinsam  geworben für die atomwaffenfreie Zone, wir haben gearbeitet für Hilfsprojekte in aller  Welt - Cap Anamour, Äthiopien, Siebenbürgen, Mandu Tawahun. Unsere Arbeit war  immer an dem Motto Brot für die Welt orientiert. Damit hat diese unsere Gemeinde  eine Linie bekommen, auf die wir beiden beide stolz sind, trotz aller Feinde, die uns  diese Arbeit auch geschaffen hat. Diese Arbeit wird weitergehen. Dieser Prozeß ist nicht  umkehrbar. Diese Zielrichtung ist das Wirken des Geistes Gottes durch alle Irrtümer  und persönlichen Unvollkommenheiten hindurch. Wir haben das nicht als persönliche  Masche oder private politische Meinung, wie uns einige Leute unterstellt haben in dem  Teil Bergkamens, der Richtung Rußland gelegen ist. Wir folgen in all unseren  Bemühungen mehr schlecht als recht dem Willen Gottes. Gott will Frieden,  Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Wir haben diese iele sehr massiv und  offensiv, ich vielleicht manchmal auch aggressiv, aber nicht banal, vertreten und ich bin  dabei so manchem auch auf den Schlips getreten, der in der besseren Saunahälfte von  Monopol seine Beziehungen unterhält und herumkunkelt. Ein Amtsbruder, der immer  bedauert hat, daß wir evangelischen Geistlichen keine für militärische Empfänge in der  Glückaufkaserne würdevolle Amtsrobe besitzen, hat Anstoß genommen, als ich mit  Talar und Bibelsprüchen die Bundeswehr besucht habe. Allein das, was jeder  Militärpfarrer jeden Sonntag tut, wurde bei mir schon ganz richtig als herbe Kritik an  der Bundeswehr gesehen, die es sich nicht nehmen läßt, ihre Soldaten in Uniform zum  Traualtar zu schicken. Und so gab es einige Konflikte, bei denen ich noch nicht einmal  richtig losgelegt hatte und schon war für gewisse Leute schon der Ofen aus. Ich habe  richtig dicke Feinde gewonnen in den viereinhalb Jahren hier. Ich bin z.B. sicher, daß die  Entscheidungträger der Stadt für unsere Teestube keine müde Mark locker machen  werden, um mich zu treffen. Nur sie treffen die Jugendlichen, die von der Stadt hier im  Umkreis überhaupt nichts angeboten bekommen. Ich habe richtig dicke Feinde. Ich habe sie nicht ersehnt, aber sie machen mir auch  nicht viel aus. Das gehört zum Christsein dazu. Ich habe auch einige Freunde, nicht  dicke, aber treue und kritische und unbeirrbare. Deshalb fällt mir der Abschied nicht  schwer. Sie werden mir bleiben. Aber was mir schwerfällt ist so ein ganz sentimentales  Gefühl, zu erleben, wie ich in dieser Gemeinde mit Skepsis und Vorbehalten  aufgenommen wurde und wie sich nach vier Jahren daran sehr viel geändert hat. Liebe  Gemeinde, ihr habt mich trotz meiner langen Haare, trotz meiner Lederhose und  ordinären Sprüche ertragen und habt hinter die Kulisse geguckt und habt mich so  genommen wie ich bin: kein Heiliger, sondern ein Sünder, ungeschickt, unfertig, unreif.  Und ihr habt mir trotzdem zugehört und euch auf das Wort Gottes in der Form, wie ich  es euch gesagt habe, eingelassen. Was hier passiert ist: Am Anfang waren die  Gottesdienste für mich kühl und steif. Jetzt bin ich hier zuhause. Wir sind  zusammengewachsen. Ihr habt mich aufgenommen. Das ist das, was ich unter  Gemeinschaft der Heiligen verstehe: Eine Kirchengemeinde, die selbst so einen  Hippietyp wie mich aufnimmt. Das ist schon richtig Liebe. Ich habe mich darüber sehr  gefreut. Nicht daß ich meine Art zu leben für die einzig richtige halte. Aber ihr habt  nicht versucht, mich umzukrempeln, ihr habt mir meine Art zu leben gelassen und ich  hoffe, ich habe euch eure Art zu leben auch gelassen. Wir haben ganz gut gelernt,  miteinander auszukommen. Ich weiß, ich hätte mich noch mehr um euch kümmern  müssen, war zuviel mit Jugendarbeit zugange. Aber glaubt mir, faul war ich nicht. Und  dieses Zusammenwachsen zu einer lebendigen Gemeinschaft, das hat mir gutgetan und  mir den Glauben gegeben, daß es das gibt: Kirche als Gemeinde Gottes, als  Liebesgemeinschaft in der Welt. Eigentlich ist es fast eine kleine Liebeserklärung, die  ich euch heute mache: Bei allem Streß des Pfarramts, ich war drauf und dran, mich in  diese Gemeinde zu verlieben. Für meine Freunde hatte ich immer weniger Zeit. Und  das ist sehr bedenklich. Wenn ich jetzt gehe, dann tue ich es mit schwerem Herzen. Ich habe viel von euch  gelernt. Ich hoffe, ihr auch von mir. Ich gehe, weil ich nicht länger mehr ertragen kann, wie einer, der einmal väterlicher  Freund war, sich zum Rivalen entwickelt hat. Ich will nicht länger diese Rivalität. Das  sind Sandkastenspiele, aber nichts für eine gute Kirchengemeinde. Liebe Freunde! Ich  will nicht mehr. Ich will nicht mehr der kleine Doofe sein neben dem großen Meister.  Ich bin das nicht. Ich will auch nicht der beliebtere Jüngere neben dem in die Ecke  gedrängten Älteren sein. Ich will überhaupt nicht mehr ständig gemessen oder  verglichen werden mit meinem Kollegen. Ich will als ein ganz normaler Mensch unter  anderen leben. Ich will nicht mehr groß sein. Ich will so mittelmäßig sein dürfen, wie  mich Gott geschaffen hat. Ich brauche jetzt Ruhe. Zeit zum Nachdenken über mich,  über das, was ich wirklich will, was ich kann, womit ich anderen dienen kann. Ich bin den  Streß des Pfarramts leid, jeden Tag zwischen 10 und 15 Stunden herumrödeln und unter  seelischer Spannung und das bei meiner Trotteligkeit. Ich muß zu mir selbst kommen, zu  innerer Klarheit. Darum will ich mich in den kommenden Jahren intensiv um  Psychoanalyse kümmern. So wie jetzt geht es nicht mehr weiter. Die Arbeit frißt mich  auf. Ich will erst wieder ins Pfarramt, wenn ich den inneren Ruhepol gefunden habe,  ganz und gar aus der Kraft Gottes zu leben. Ich brauche Zeit, um aus der Verzettelung  der auf den Pastor konzentrierten Gemeindewünsche herauszukommen. Jesus ist gerne  auf einen einsamen Berg gegangen und hat da gebetet. Ich will das zusammen mit dem  Analytiker versuchen: Zu Gottes Kraft in mir vorzudringen. Zu meinen Energien. Der  Weg dazu ist lang. Ich werde viel nachdenken und nacherleben über all die Blockaden in  meiner Wahrnehmung. Ich werde den Balken in meinen Augen sehr genau angucken  lernen. Die Wahrheit wird euch freimachen. Ich freue mich darauf. Wir hatten viele Konflikte. Manche Leute hatten Angst, mir ihre Meinung persönlich  zu sagen. So traten immer liebe Kollegen als Fürsprecher meiner ängstlichen Kritiker  auf und gaben die gehörte Kritik weiter, selbstverständlich nicht als eigene Kritik,  sondern nur referierend. Es ging immer alles um drei Ecken. Besonders gut hintenrum.  Und hintenrum und hinterrücks kamen dann viele Dinge mit hinein, die schief waren.  Das hat mir nie gefallen, auch nicht, wenn ich über andere getratscht habe. Es ist ein  schlechtes Luftablassen. Es disqualifiziert den Tratscher selbst fast noch mehr als den  Betratschten. Ich will das nicht mehr. Die Wahrheit wird euch freimachen. Ich will  sagen, was ich denke. Ich will sagen, was ich glaube, und ich will sagen, was ich fühle. Ich  muß raus aus dem Hintenrum. Ich versuche das jetzt in dieser Predigt. Ich versuche das  durch die Abberufung von hier und durch die Psychoanalyse-Ausbildung. Ich leiste mir  den Luxus, auf meine Magenschleimhautentzündung, meine Rückenschmerzen und die  Grippalinfekte zu hören: Mein Körper sagt mir: Da stimmt was nicht. Ich habe nahezu  vier Jahre meine Körper überhört. Er ist immer kränklicher geworden. Die Wahrheit  wird euch freimachen. Und die Wahrheit meines Leibes ist: Raus, weg von dem  kränkenden Dauerkonflikt, weg von dem kränkenden "Lütge lügt", "Lütge ist faul",  "Lütge macht Mätzchen". Wir haben an diesem Wochenende das erste Mal in unserer Kirche einen  Meditations-Workshop. Da lernen wir, auf unseren Körper zu hören. Wir lernen in all  den Entspannungsübungen, wie empfindlich und verletzlich unsere Seele, unser Leib als  Ausdruck unserer Seele ist. Der Weg ist nicht, die Schmerzen zu ignorieren, die Zeichen  der Krise blind zu übersehen. Wer sein Fleisch kreuzigt, wird auch über andere Leichen  gehen. Der Weg ist, auf die Stimme des Körpers zu hören und mit den inneren Kräften in  Kontakt zu kommen. Die Spannungen und Gefühle unseres Körpers sind untrügerische  Zeichen. Der Leib lügt nicht. Der Körper sagt die Wahrheit. Er erinnert uns an Gefühle,  die wir längst verdrängt haben und die gleichwohl in uns warten, warten auf ihre  Wiederentdeckung, ihre Auferstehung im Fleisch. Ich möchte lernen, auf die Wahrheit  meines Körpers zu achten und zu hören. Die Wahrheit wird euch freimachen. Die  Wahrheit Jesu Christi ist nicht gegen den Körper. Das Wort ward Fleisch und wohnte  unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit. Die Herrlichkeit Gottes gibt es auf unserer  Welt eben nun einmal nur in Fleisch und Blut verpackt, und das will satt werden, warm  bleiben und Ruhe finden. Ganz einfach, wie es meine Katze Mia von ihrer Geburt an  gleich richtig gemacht hat. Amen.