Bremen am 26. November 2023 zum
Ewigkeitssonntag / Totensonntag
1 Dann sah ich einen neuen Himmel und
eine neue Erde. Der erste Himmel und die erste Erde waren verschwunden,
und das Meer war nicht mehr da. 2 Ich sah, wie die Heilige Stadt, das
neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkam. Sie war festlich
geschmückt wie eine Braut, die auf den Bräutigam
wartet. 3 Vom Thron her hörte ich eine starke Stimme: »Jetzt
wohnt Gott bei den Menschen! Er wird bei ihnen bleiben, und sie werden
seine Völker sein. Gott selbst wird als ihr Gott bei ihnen
sein. 4 Er wird alle ihre Tränen abwischen. Es wird keinen
Tod mehr geben und keine Traurigkeit, keine Klage und keine
Quälerei mehr. Was einmal war, ist für immer vorbei.« 5
Dann sagte der, der auf dem Thron saß: »Jetzt mache ich
alles neu!« Zu mir sagte er: »Schreib diese Worte auf, denn
sie sind wahr und zuverlässig.« 6
Und er fuhr fort: »Ja, sie sind in Erfüllung gegangen! Ich
bin der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende. Wer durstig ist,
dem gebe ich umsonst zu trinken. Ich gebe ihm Wasser aus der Quelle des
Lebens.
Liebe Lesergemeinde!
Zum diesjährigen Ewigkeitssonntag las ich eine Predigt eines
Theologieprofessors, der wohl seine mühsam errungenen
Kenntnisse über die Dogmatik präsentieren wollte und
bei der Auslegung vom letzten Kapitel der Bibel vom dreieinigen Gott
sprach. Welcher normale Kirchenbesucher weiß noch, wer damit
gemeint sein soll? Der dreieinige Gott wischt also später mal
die Tränen ab. Es klingt für mich so wie das Lied
"Mein Hut, der hat drei Ecken". Zuerst hatte ich gelesen: "Der
dreibeinige Gott". Der Seher Johannes, Autor der "Offenbarung", war
noch nicht dieser dogmatischen Finessen mächtig. Für
ihn war Gott noch ein einziger, der Tränen abwischen wird,
wenn er zu den Menschen herunterkommt, um bei ihnen zu wohnen in dem
zur Erde niedergefahrenen Jerusalem. Diese Vision ist eine Vision, kein
Tatsachenbericht eines baldigen Geschehens, was eigentlich schon seit
langem innerhalb der letzten 2000 Jahre hätte eintreffen
müssen. Ich liebe diese Worte vom Abwischen der
Tränen. Immer wenn ich sie gehört habe oder als Pfarrer gesprochen
hatte, bekam ich Tränen in meine Augen und konnte nicht weiter
sprechen. Es ist ein mächtiges Bild, ein
überwältigender Trost, diese Vorstellung,
daß Gott ein Tröster und nicht der Weltenherrscher ist, der so viel
Grauenvolles über die Tiere und Menschen gebracht hat: von den
Naturgewalten bis zu den großartigen Vernichtungsspektakeln der Menschen, die ihre besten
Männer darauf ansetzen, immer perfidere Waffen zu erfinden, um
noch effizienter töten zu können im Namen der
Menschlichkeit oder des dreibeinigen Gottes.
Wir erleben in diesen Tagen nicht, weil unsere Medien gerade dies nicht
filmen dürfen oder wollen, wie das Volk Gottes die Stadt Gaza
so dem Erdboden gleichmacht zu einer Steinwüste, daß
wieder einmal zwanzig Mal so viele Zivilisten der
palästinensischen Ureinwohnerschaft liquidiert werden, wie
Israelis ermordet wurden. Heute senkt nicht Gott sein himmlisches
Jerusalem auf die Erde, sondern Israel seine Bombenteppiche herab auf
Gaza. Und wir bekommen davon fast nichts mit, dafür besucht
unser Präsident demolierte Kibuzzim und vergiest seine
Tränen über die 1200 ermordeten Menschen dort, ohne
den 12000 ermordeten Palästinensern auch nur eine
Träne nachzuweinen. Und neben ihm am Brandenburger Tor steht
Schwester Annette Kurschus fest an der Seite Israels. Man könnte
gegenrechnen: Was sind
schon 12000 Palästinenser, vom israelischen
Verteidigungsminister als Tiere bezeichnet, gegen 6 Millionen Juden in
deutschen Konzentrationslagern. Ja, und eine solche Rechnung des
Grauens aus der Vogelperspektive oder der Position Gottes im Himmel
betrachtet ist selbst schon wieder bei aller deutschen Schuld, die sich
Staatsräson nennt, eine perverse und Menschen verachtende
zynische Art, mit Kriegsverbrechen umzugehen, sie sich vom Leib zu
halten, sich zu distanzieren, sich herauszuziehen aus diesem Schrecken,
den unsere Medien uns freundlicherweise auch gar nicht erst vor Augen
bringen. So wenig wie die Vorgeschichte der israelischen
Eroberungspolitik und der Vertreibung von gut einer Million
palästinensischer Bauern.
Was sagt wohl der dreieinige Gott dazu? Kommt er noch runter nach
Jerusalem und wessen Tränen wischt er ab?
Sie werden mir hoffentlich vorwerfen, all dies gehöre nicht in
eine Predigt. Ich möge lieber Worte des Heils aussprechen.
Eine Predigt soll die Gemeinde aufbauen oder in der
Nachkriegsterminologie kirchlicher Rede: auferbauen. Im Predigerseminar
hatten wir 1979 ein Curriculum "Gemeindeaufbau". Inzwischen
sind weniger als die Hälfte noch in der Kirche Mitglied,
Tendenz fallend und zwar unaufhaltsam und getriggert von den immer
massiver unter dem Teppich hervorgezogenen
Mißbrauchsfällen. Sie sind deshalb so aufregend und
ärgerlich, weil die Kirche insgesamt die Sexualität
in ganz besonderer Weise versucht zu unterdrücken. Und nur
weil Sex in der Kirche vorzugsweise unter den Teppich gekehrt wird und
unter einem Generalverdacht steht und mit Gott gar nichts zu tun zu
haben scheint trotz seines Schöpfungsauftrags (Seid fruchtbar
und mehret euch), nur deshalb sind die zur Enthaltsamkeit im
Zölibat verpflichteten Priester und die zur Ehe angehaltenen
Pastöre so unter sexuellem Hochdruck, daß einige die
Gelegenheiten nutzen, die sich beruflich anbieten und die ihnen
anvertrauten Kinder zu ihrer Triebabfuhr benutzen, meist unter Zwang
und Drohungen, oft mit brutaler Gewalt. Ich gestehe, daß ich
mir das nicht vorstellen kann, wie Lust mit Gewalt zusammengehen kann,
wie ein Mensch einen anderen gegen seinen Willen sexuell benutzen kann.
Ich wäre impotent, wenn meine Freundin keine Lust auf mich
hat. Und verstehe nicht, daß das nicht bei allen anderen
Pastoren oder Priestern auch so ist. Wo sie doch alle Jesu
Fürsorge und Liebe als Vorbild haben.
Gemeindeaufbau noch einmal: Wir hatten in meiner Pfarrerzeit so viele
Gruppen, daß es oft schwer war einen freien Raum im
Gemeindehaus zu finden. Wenn ich jetzt in meine Bremer Gemeinde komme,
ist alles wüst und leer. Eine kleine Gruppe macht sakralen
Tanz, viel mehr läuft nicht. In einer anderen Kirche ist ein
Sozialkaufhaus mit besten Anziehsachen und Möbeln aus zweiter
Hand für kleines Geld, dort brummt es, weil der Diakon erkannt
hat, was die Menschen im Stadtteil brauchen: Klamotten und
erschwingliche Mahlzeiten. Er hat damit die Eucharistie auf den Punkt
gebracht, ganz ohne Geschwafel vom dreieinigen Gott. Dort tummeln sich
Menschen aller Nationen und Konfessionen und die reichen
Nachbargemeinden beneiden diese Lebendigkeit und
überhäufen sie in den Kleidercontainern vor ihrer
reichen Kirche mit Luxus-Konfektionsware, dreimal getragen und weg
damit. Bei dieser reichen Gemeinde ist die größte
Attraktion das Heim in Hohenfelde an der Ostsee, wo die Jugend ihre
Urlaube verbringt in gediegener Atmosphäre mit einem bunten
Abend nach dem anderen. Es gibt keine Friedensgruppen mehr und keine
Dritte-Welt-Gruppe, keinen gemeinde-eigenen Eine-Welt-Laden. Die sind aus den Kirchen ausgezogen in Läden
in alternativen Stadtvierteln. Teilweise gibt es noch Theatergruppen in
der Gemeinde, selten mal eine Teestube, schon gar nicht Disko oder Rockkonzerte. Kirche als
Wohlfühlort oder zweites Zuhause, das ist vorbei. Das neue
Ethos nach den Mißbrauchsskandalen heißt: noli me tangere:
bloß nicht irgendwen in den Arm nehmen, es könnte
ein sexueller Übergriff sein. Ich habe mich mit einer Kollegin
gestritten, ob es erlaubt war, auf dem Friedhof am Grabe die Witwe in
den Arm zu nehmen, weil mir die salbungsvollen Worte ausgegangen waren
angesichts ihres Schmerzes. Ich hätte sie vorher
förmlich um ihr Einverständnis für diese
übergriffige Handlung fragen müssen. Daß
ein Pastor ein Gespür dafür hat, ob das in dieser
Situation paßt, konnte sie sich nicht vorstellen. Die
Versuche, gegen sexuelle Gewalt gegenzusteuern, führen zu
einer neuen nachgerade technischen Kälte in den Beziehungen in
der Kirchengemeinde, verstärkt durch die Corona-Abstandsregeln.
Ob die Kirche ein Ort sein kann, wo Gott Tränen abwischt? Ist
das nicht schon übergriffig, jemandem seine Tränen
abzuwischen? Ist nicht Ziel der Therapie, die ich gelernt habe,
Klienten überhaupt erstmal zum Weinen zu bringen über
all die Traumata und Noxen ihrer mißratenen Vergangenheit, ehe man neue Orientierungen sucht und ausprobiert?
Jesus weint über Jerusalem. Dort wird er dann gekreuzigt.
Weinen kann gefährlich werden. Kritik tut weh. Und wir
vermeiden beides am besten und reden lieber vom dreieinigen Gott.
Halleluja.