Was ist
Gestalttherapie? Wozu brauchen wir überhaupt
Therapie? Oder ist das nur was für die Doofen aus der Klapse?
Ich kenne keinen,
der nicht irgendeine Macke hat. Bei manchen ist sie einfach nur gut
getarnt und
er oder sie kann damit ganz gut leben. Die Menschen, die sehr ehrlich
sein
können, werden bei sich fündig. Wir haben gelernt,
uns zu tarnen. Deckung
aufbauen. Eine der wichtigsten ist Ordnung und Sauberkeit. Alles, was
zu tierisch
oder menschlich riecht, wird weggescheuert mit Meister Propper, jedes
Unkraut
muß sofort dran glauben. Mit der äußeren
Ordnung machen wir uns auch innerlich
etwas ordentlicher, reißen unsere Unkraut-Gefühle
und -Gedanken aus und
schieben sie weit von uns. Haß, Wut, Neid,
Todeswünsche sind uns suspekt und
wir wollen sie nicht haben. Sie sind böse. Also
müssen wir uns von unserer Wut
und unserem Haß trennen. Der wird weggeputzt. Und so lernen
wir, unsere Gefühle
überhaupt wegzuputzen, weil man nicht nur die schlechten
Gefühle wegputzen
kann, es gehen auch die guten Gefühle flöten. Und wir
werden innerlich immer
starrer und maschineller, immer mehr logisch-funktionell und
bestenfalls
vergeistigt. Wir spalten unsere Gefühle ab versuchen so, gute
Menschen zu sein.
Aber wir sind keine guten Menschen. Das gibt es nicht. Es gibt nur
Sünder. Wir
sind alle immer in Schuld und schlimme Situationen verstrickt, in
Streß,
Feindschaften, Kleinkriege zwischen Nachbarn oder Verwandten oder
Ehepartnern
oder Geschwistern. Die reale Lebenssituation macht oft wütend,
gehässig,
zynisch, böse. Oft widerfährt uns Unrecht. Dann sind
wir gekränkt, verletzt. Und
aus solchen Verletzungen der Seele kann jeder von uns richtig krank
werden. Es
ist eine Frage des Milieus, in dem wir leben und aufwachsen. Ob wir
verhärten
oder sensibel werden für die Welt und die Empfindungen
anderer. Ob wir unsere
Gefühle abspalten und tief verstecken und verdrängen
müssen oder sie spüren und
mit ihrer Hilfe die Gefühle anderer verstehen. Manche brechen
unter dem Druck
innerlich zusammen und bekommen auffällige Symptome, deren
Vielzahl schier
unerschöpflich und auch modebedingt ist, bestimmte seelische
Krankheitsbilder
entstanden in einer ganz bestimmten bigotten oder verklemmten Zeit,
etwa die
Hysterie im Wien der Jahrhundertwende bei Geheimratsgattinnen, aber
nicht bei Wäscherinnen
oder anderen einfachen Frauen. Solange Frauen ihre sexuellen
Wünsche nicht
leben und spüren dürfen, weil der Mann Geheimrat ist
und einen Besen
verschluckt hat, der ihn an allen Gliedern hart macht, nur an einem
nicht,
bahnt sich das sexuelle Begehren seine geheime Sprache und seinen
Schrei in die
Hysterie, in geradezu orgastische Gefühlsausbrüche
des Zorns bis zur Ohnmacht. Heute
haben wir als Modekrankheit mißbrauchter Kinder
Eßstörungen, Magersüchtige
versuchen sich buchstäblich zu einem unerkennbaren Strich in
der Landschaft zu
machen, den niemand mehr als Frau mit Busen sehen und vergewaltigen
kann,
Bulimie-Mädchen stopfen sich mit Nudeln voll, um sich zu
spüren, bei manchen
haben sich die Stimmen der Tanten, Onkels, Eltern und Lehrer oder
Mitschüler
mit ihren gehässigen Sprüchen so verinnerlicht,
daß sie auch noch ihr Echo nachklingen
lassen, wenn die bösen Mitmenschen längst weg sind.
Schizophrene haben solche
Stimmen oft in sich und können sich gegen dieses quasi
automatische Echo der
Stimmen böser Mitmenschen, gegen das Echo der
früheren Verletzungen, überhaupt
nicht wehren, sie können das nicht abstellen und oft ist es so
schrecklich für
sie, daß sie lieber sterben wollen, als das jeden Tag aufs
neue zu erleben. Viele
Selbstmorde sind die Flucht vor einer unglaublichen innerlichen Qual
und Hölle.
Und manchmal kann ein Therapeut dagegen so wenig tun, daß er
insgeheim diese
Flucht in den Tod gut versteht. Was ich gerade beschrieben habe, nennen
wir
Psychose, wozu auch Verfolgungswahn gehört, während
etwa ein Waschzwang, Angst
vor Schlangen, Spinnen, Pferden oder dem Gehen über einen
leeren Platz oder
Erröten bei jeder Frage, die man gestellt bekommt, zu den
neurotischen Erkrankungen
gehört und mit Verhaltenstherapie quasi auch wegtrainiert
werden kann in der Art,
wie man auch Hunde dressiert. Man macht etwa Reizkonfrontation, geht
immer
näher an die Spinne ran und erlebt jedes Mal aufs neue, sie
hat mich nicht gebissen.
Dann geht irgendwann die Angst langsam weg. Das ist Training. Auch
Kopfschmerzen kann man mit Entspannungstraining wegtrainieren. Ein
bißchen ist
jede Therapie Training von neuen Verhaltensmöglichkeiten, mit
denen man
leichter leben kann. Auch Depressionen kann man mit einem regelrechten
Trainingsprogramm angehen, wo man die schlechte Meinung, die der
Depressive von
sich selbst hat, systematisch wiederlegt durch kleinste Schritte auf
dem Weg
zur Aktivität, Produktivität und eine neue zarte
Freundschaft knüpfen zu sich selbst.
Aber selbst dort muß man an die Herde der Verletzung heran,
muß noch einmal durchleben,
was damals war, als die Verletzung zu der Geschichte der seelischen
Krankheit geführt
hat. Das ist der Weg Sigmund Freuds und der vielen Richtungen, die von
ihm beeinflußt
sind. In der Therapie geht es um die Rückkehr zu den
verdrängten Gefühlen. Der
Weg führt über die Situation früher, die so
schlimm war, daß wir keine andere
Wahl hatten als unser Gefühl einzuschließen in einen
Seelenbunker, aus dem sie
nie mehr wiederkehren sollen. Aber in diesem Bunker der
Verdrängung, im
Unbewußten, schreien die Verletzungen und die verletzten
Wünsche auf ihre Weise
und wollen ans Tageslicht zurück, wollen Heilung und
Erfüllung. Die Arbeit des
Therapeuten ist es, dem Patienten die Erlaubnis zu geben, zu
fühlen, was er fühlt,
zu denken, was er denkt. Besonders seine schlechten Gefühle,
weil die am
meisten unter den Teppich gekehrt sind. Der Weg zu den guten
Gefühlen führt
durch die bösen Gefühle hindurch, der Weg in den
Himmel durch die Hölle. Das
ist buchstäblich so in der Therapie. Es tut oft wochenlang
weher als je zuvor,
wenn man mit einem alten Problem neu konfrontiert wird und den ganzen
alten
Schmerz noch einmal erlebt, die ganze alte Verzweiflung, die ganze Wut
wieder
spürt, den ganzen Haß. Wenn man sich
schämt, daß man so ein wütiger und
böser
Mensch ist. Wer will das schon gerne sein? Und ausgerechnet bei mir
selbst, der
ich mich jahrzehntelang für einen Halbheiligen gehalten habe,
spüre ich dann
diese Wut und diesen rasenden Haß. Ein Grundsatz dabei ist
die Weisheit des
Organismus. Jedes Tier und jeder Mensch sind ein komplexes Wesen aus
Körper und
Geist und Seele, auch die Tiere. Wir alle sind ein Leib, ein
Körper-Seele-Geist-Wechselspiel.
Und die verdrängten Gefühle der Seele haben immer
noch den Körper als
Sprachrohr. Ohne daß der Geist das mitkriegt, handelt unser
Körper während
unseres Redens. Und oft sagt er in seinen Gesten und Minenspiel etwas
ganz anderes
als unser Mund. Die Faust oder der zitternde Fuß, die
Halsmuskeln mit ihrer
Wutspannung verraten mehr als alle schönen Worte. Darauf lernt
ein
Gestalttherapeut zu achten und behandelt diese Sprache des
Körpers wie in einem
Stummfilm als eine eigene Erzählung. Dann kann er dem
Patienten sagen: Spürst
du deine Faust, spürst du die Spannung in deinem Hals,
während du hier so ganz
gefaßt erzählst, daß deine Mutter dir
damals eine Wäscheleine umgebunden hat
und alle anderen Kinder lachten am Gartenzaun? Du sagst das alles so
locker und
nett, als wäre es eine witzige Situation gewesen. Aber was
sagt deine Faust
dazu? Spann sie ruhig weiter an und guck, was sie macht und was sie
will und wenn
sie schlagen will, hier ist ein Kissen, da kannst du sie draufhauen.
Und
versuch mal, sie sprechen zu lassen wie eine Kasperlepuppe. Was sagt
deine
Faust zu deiner Mutter? War das nur witzig mit der
Wäscheleine? Und wenn dann
der Patient wirklich sich traut, auf ein Kissen oder auf den Sessel
oder
irgendwas weiches zu schlagen, dann findet er Worte und kann
brüllen und
schreien: Mutter, nie wieder wirst du mich fesseln und vor meinen
Freunden so
bloßstellen, nie wieder, hörst du? Ich will es nicht
und ich lasse es nicht
mehr zu. Das kann dann schon mal laut werden im Therapiezimmer. Oder
jemand
weint die Tränen um die verlorene Schwester, die er damals nie
weinen konnte
und der ganze festgefressene Schmerz löst sich wie Rost unter
dem guten Caramba.
Und die Sache kommt wieder in Bewegung und nach einem Liter
Tränen über Monate
hinweg kommt dann irgendwann eine ganz neue Art zu Lachen ins Leben,
man sieht
die Blumen bunter als vorher, riecht die Düfte intensiver,
spürt die Gefühle
von Leichtigkeit, Lust, Lustigkeit, die Lebendigkeit, die man damals
hatte, als
das Schwesterchen ertrunken ist und die man mit dem Schwesterchen
mitsterben
ließ, weil man irgendwie sich schuldig gefühlt hat
an ihrem Tod, und da muß man
in der Therapie dann auch genau klären, war man wirklich mit
schuldig oder nicht,
um Realismus in diese Trauer hineinzubringen. Vieles ist also
nachgeholte
Trauerarbeit um den Verlust geliebter Menschen, die plötzliche
Einsamkeit. Und
immer ist der Weg in den Schmerz zurück auch der Weg zu den
schönen Gefühlen,
die man vor der Verletzung oder dem Unglück hatte. Und quasi
am Abgrund wird
dann im vollen Schmerz ein neuer Weg gesucht, der jetzt nicht mehr in
die
verzweifelte Krankheit hineinführt, sondern eine neue
Problemlösung ist. Es
gibt nie nur den einen Weg, der einen krank gemacht hat. Es gibt noch
andere. Man
kann sie finden, allein oder gemeinsam. Und dann kann man diesen neuen
Weg
einüben und muß das ganz langsam und
allmählich erst lernen. Anfangs ist man
immer ungeschickt und macht vieles falsch. Aber das gibt sich und dann
irgendwann
hat man die innere Wäscheleine wirklich abgelegt und kann ohne
Fessel und vor
allem ohne den ständigen Kampf gegen diese
Wäscheleine durch die Welt gehen. Und
dann sieht man allmählich, daß man sich 45 % aller
Wäscheleinen selbst gemacht
hat, weil man das Spiel gehorsam mitgespielt hat. Man hätte es
auch nicht
mitspielen können und wäre trotzdem den anderen
willkommen und lieb. So einfach
kann das sein. Therapie ist also Befreiung von inneren
Zwängen, die nicht mehr
nötig und angemessen an die Realität sind. In
Schüren ist sonntags rasenmähen
ein Tabu. Da, wo ich vorher gewohnt habe, hat niemals jemand auf
Sonntag oder
Mittagsruhe geachtet. Das gab es da einfach nicht. So unterschiedlich
können
die äußeren Bedingungen sein. Darauf muß
ein Therapeut achten. Er sollte nicht
eine Freiheit einüben, die seinen Patienten dann
ständig in Konflikte mit
seiner Umwelt bringt. Aber er wird mit ihm zusammen einen guten
Kompromiß
zwischen seinen neuentdeckten Lüsten und Wünschen und
den Tabus und der Moral
seiner Firma und seines Lebensfeldes suchen. Das Ziel ist: befreiter
und
leichter leben durch tieferen Kontakt mit seinen eigenen
Wünschen und Gefühlen.
Der große Irrtum ist, daß das egoistisch macht.
Falsch. Wer sich selbst
intensiv spürt und seine eigene Lust empfindet, kann sich auch
besser in andere
Menschen und Tiere hineinfühlen und ihre Lust und
Wunschrichtung erspüren. Und
so ist er nicht egoistischer, sondern sozialer geworden durch Therapie.
Er macht
nicht mehr alles so mit wie früher und läßt
nicht mehr alles mit sich machen. Er
hat gelernt, Grenzen zu setzen und nein zu sagen, wo es für
ihn schmerzlich
würde. Er läßt sich nicht mehr so leicht
vereinnahmen und benutzen. Man muß ihn
fragen, ob er will, anstatt ihn geschickt manipulieren zu
können. Er ist
störrischer geworden. Unbequemer. Weniger pflegeleicht. Aber
er ist aufrichtig
zu sich und anderen und klar und einfach. Und das macht ihn dann
wesentlich
umgänglicher als wenn er nur lieb ist und sich dafür
alle paar Minuten die
Hände waschen muß oder tagelange Depressionen hat
oder trinkt oder sonst eine
Klatsche ohne Beifall.