Zur Genealogie der Engelwesen

Zum Impressum Wenn die Stimme, der Hauch und das Gesicht des geliebten Wesens entzogen werden durch den Tod, füllt sich diese Wunde durch ein Nachwachsen der Erinnerungsspuren zu einer inneren Repräsentanz, einer personalen Instanz, die Wesenselemente des geliebten Wesens zum fehlenden Dialog durchklingen läßt, der nicht mehr im unmittelbaren Austausch stattfindet, sondern sich verlagert in den inneren Dialog, in dem die erinnerten Gesten, Szenen, Gewohnheiten vom Trauernden, Liebenden quasi übernommen werden, inkorporiert und in die eigenseelischen Regungen eingefleischt. Diese inneren Sedimente des geliebten Wesens in ihrer Verdichtung zur personalen Instanz begegnen dem Trauernden immer wieder, im Schlaftraum, in Wachträumen, in den Situationen, die er zuvor mit dem geliebten Wesen geteilt hat. Für mich ist dies eindringlicher noch als bei allen Menschenwesen bei meiner über alles geliebten Katze Mia geschehen. Wenn das ganze Leben Dialog mit einer weisen und verständigen Katze war, die mehr Klarheit und Seelenprägnanz hatte als wir Menschen sie aufbringen, füllt sich die Wunde ihres Nichtmehrmitseins mit der Erinnerung und dem Schmerz zugleich. Sie war in ihrem stillen Wohlwollen und Wohlfühlen Inkarnation der guten Mächte, die treu und still umgeben und die getrost erwarten lassen, was kommen mag. Das geliebte Wesen verdichtet sich im Liebenden zur inneren Person.
Diese innere Repräsentanz der Eltern ist in der Herausbildung stabiler Ich-Strukturen eine unerläßliche Entwicklungsaufgabe für das Kind. Je klarer diese innere Repräsentanz ausgebildet ist, desto handlungsfähiger wird ein Mensch.  Hier lagert sich quasi das ein, was die Instinkt-Ausstattung der Natur uns nicht mehr mitgeben konnte, weil die zivilisatorische Entwicklung der Menschengattung schneller ging als die Modifikationsfähigkeit der Instinkt-Vererbung. Das Vorbild der Eltern und aller weiteren Agenten der Enkulturation resoniert, personiert im seelischen Leben des Kindes als Verdichtung von Erinnerungsspuren zu inneren Instanzen, inneren Personen, deren Handeln eigenständig weitergespielt und imaginiert werden kann. So internalisieren wir nie nur nackte Fakten oder Informationen, sondern uranfänglich Beziehungsgeschehen in Fragmenten, die sich stückweise akkumulieren zu vollständigen Gestalten der Beziehungspartner. Alle künftige Erkenntnis schöpft aus den inneren Archiven dieser uranfänglich inkorporierten Wesen, die durch ihre Hilfe in der Aufzucht des Nesthockers Mensch dessen Überleben allererst ermöglicht haben. Diesen Wesen verdankt der junge Mensch buchstäblich sein Leben und die Erhaltung seines Lebens in der langen Zeit, in der er noch nicht fähig war, für sich selbst Nahrung, Wohnung und soziale Vernetzung zu besorgen.
Diese Einleibungen geliebter Wesen in die eigene Person führt zur Übernahme ihrer Verhaltensmuster, ihrer Sprache, ihrer Gesten, ihrer Kompetenz und Performanz in der Bewältigung der Alltagsprobleme. Die Mimesis der Geliebten, die für das hilflose Kind vergleichsweise allmächtig wirken in ihrer Vielfalt der Bewältigungsstrategien, verleiht dem Kind selbst mehr Kompetenz und Überlebenstechniken. Die Adaption der allmächtigen Eltern verleiht Macht durch Kompetenzgewinne. Sie lernen essen, laufen, begreifen und zubereiten von Essen. Sie lernen, wie es besser im Verein mit anderen geht und welchen großen Reiz die Gemeinschaft der Heiligen hat.
Die Einleibungen der verschiedenen liebenden und geliebten Wesen des ursprünglichen sozialen Lebenszusammenhanges zu quasi personal verdichteten inneren Repräsentanzen durch Erinnerung und Mimesis nennt Freud Über-Ich und Gewissen, wobei er deren Vielfalt in einer einzigen Instanz meint subsumieren zu können. Bei dieser Einleibung geliebter Wesen gilt als Gestaltprinzip, daß in jeder Geste, jeder Melodie, in jeder Szene das Ganze der Person personiert, Ganzheitsstrukturen wirken und wiedererkennbar sind.  Im Fragment, im kleinsten Teil, ist das Ganze der geliebten Person präsent, in jeder seiner Fugen der ganze Bach wiederzuerkennen.  Der Geliebte ist, indem ich ihn denke, vorstelle, lobpreise, mit ihm spreche - über den Tod hinaus.
So auch mit den Engeln, von denen er singt. Engel sind innere Repräsentanzen der geliebten Wesen. Sie sind nicht fremd, sondern nah.  Sie schützen wie es die Eltern in ihrer Fürsorge um ihre hilflosen Kinder tun und getan haben. Gute Geister sind sie. Der Geist eines Wesens ist die Gesamtheit seines Wesens in Sein und Tun, seine Person in der Form, in der sie sich anderen Wesen perzeptiv inkorporieren, einleiben lassen kann. Die Einleibung in die Seele hat nur eine Grenze: Der Körper dieses geliebten Wesens ist nicht einzuleiben. Man kann bestenfalls nah sein oder ein Fleisch mit ihm werden im Orgasmus, aber die Körpergrenze ist unüberwindbar. Der andere ist und bleibt immer ein eigen Fleisch und Blut und ist der Alterung und Vergänglichkeit unterworfen, Krankheit und Tod, genau wie ich selbst. Das Einzige, was ich werde hinüberretten können über den Tag seines Todes, ist seine innere Repräsentanz in mir, das Gesamt aller Erinnerungen, gespeichert in meinen mnestischen Archiven, in Tagebüchern, Erzählungen, Nachspielen seiner Szenen, Aufzeichnungen in Bild, Ton, Plastik, Totenmaske, Konzertmitschnitt, Werkverzeichnis, Nachlaß, seine künstlerische Hinterlassenschaft, seine Selbstvergegenständlichung in seinen Arbeiten. Alldies dient als Medium für seinen Geist, der sich in allen diesen Weisen zur Erkennen gibt, zum Erklingen bringt, personiert. So sind im sozialen Netz der Hinterbliebenen Fotoalben, Videos oder Erzählungen die Verlustbewältigung, in der der verstorbene und verlorene Geliebte in der gemeinsamen Erzählung aufs Neue repräsentiert wird, seine unersetzbare Leerstelle gefüllt wird mit den Erinnerungsspuren in den Seelen der Weiterlebenden. »Wie nah sind uns manche Tote und wie tot sind manche, die leben.« So setzt sich nach deren Tod die überlebenswichtige Einleibung der geliebten Wesen fort in der dankbaren Erinnerung, im gemeinsamen Nachhängen an dem, was sie für uns getan haben und gewesen sind und dies auch bleiben über ihren Tod hinaus durch die Kraft und Insistenz der Liebe, die nicht abläßt zu lieben, wenn der Körper des Geliebten erloschen ist.
Dies ist der innere Grund, weshalb aus der Liebe nach dem Tod die Verehrung der Ahnengeister werden muß. »Und vergiß nicht, was er dir gutes getan hat.« In den Kurganen ist sicherlich nicht nur Liebe, sondern auch Furcht und alle Auswirkungen der Fürstenmacht in den Hofstaatseelen im Spiele gewesen, welches den Verstorbenen Königen eine ganze Totenstadt mitgab. Aber wo alljährlich in einem Fest die Geister der Verstorbenen eingeladen werden, bewirtet und bekleidet werden und mit Gesängen verehrt, da sind im Lob ihrer vergangenen guten Taten ihre ganze Person zugegen, da wird diese erinnernde Wiederholung zur Vergegenwärtigung der vom Tod entzogenen geliebten Wesen und diese ihre Gegenwart wird durch den alljährlichen Ritus zu einem Traditionsarchiv, in dem sie nicht vergessen werden. Was sie Gutes getan haben, nimmt in den Seelen ihrer Kinder und Enkel seinen Lauf, wirkt weiter. Es nicht versiegen und vergessen zu lassen, helfen die Feste und Lieder von den Liebsten. Daß sie als Ahnengeister immer noch Schutzgeister bleiben, versteht sich von ihrem Ursprung her: Ohne sie wären die Kinder verhungert oder verdurstet. So sind die Fravashi eben auch mit dem Wasser und den Pflanzen, also mit der Ernährungsgrundlage in einem Atemzug genannt. Sie waren basale Garanten des eigenen Lebens. In gewisser Weise sind sie es immer noch ganz lebenspraktisch: Durch das, was sie lehrten, kann der Stamm sich am Leben halten, ob Ackerbau, Viehzucht oder Verteidigung und Kriegsführung. Der Dank und die Erinnerung formiert sich als eine dritte gesellschaftliche Gruppe: Die Priester sammeln und bewahren, strukturieren, verdichten und organisieren die gesellschaftliche Erinnerung und den Dank, heben ihn auf in Litanei, Gesetz und Feier, geben ihn weiter durch die Lehre ihrer Textsammlung. Ihr Wissen führt zu mehr Macht als das Kriegswissen des Kriegeradels.
Nun ruhen die Geisterseelen der Toten nach dem Gericht im Himmel, wenn sie die Prüfung der Gerechten auf der Cinvatbrücke ohne Sturz in den Abgrund der Hölle überstanden haben. Sie weilen im Himmel, je nach ihren Verdiensten sogar im dritten Himmel, wo sie nahe bei Gott sind. Es ist ein Seelenhimmel, ein Haus des Gesanges, des Duftes und der Freude, der gerechte Lohn für ein gerechtes Leben. Und immer noch können die Geister der Ahnen, die Fravashi der Aufrichtigen, der Wahren und Gerechten, der A a-Gläubigen, zum Schutz und zur Hilfe ihrer Lieben im irdischen Leben werden. Sie sind Schutzengel, indem ihre Praxisfiguren zu Lebzeiten sich tief in den Seelen ihrer Mitgeschöpfe sedimentiert haben und so die Kompetenzen zu einem friedvollen und gedeihlichen Miteinander bilden. Die ständige Erinnerung durch ritualisierten Lobpreis der Fravashi frischt zugleich diese Kompetenzen auf und restabilisiert sie.
Einige haben herausragende Rollen bekommen, sie sind die Erzengel mit zentralen Aufgaben und Funktionen geworden. Auch im Himmel gibt es die Hierarchie, die auf Erden die Stämme einte und stärkte. Damit läßt sich zur Genealogie der Engelwesen in ihrer himmlischen und schützenden irdischen Existenz sagen: Sie sind die Geisterseelen der geliebten Wesen, die durch ihre Entzogenheit des Todes zu einer veränderten Repräsentanz in den Seelen und Mythen ihrer Hinterbliebenen gefunden haben. Sie sind die Ausdrucksform ihres bleibenden Eindrucks innerhalb ihrer sozialen Gruppe. Die Götter sind aus ihnen entstanden. Wenn selbst Ahura Mazda eine Fravashi hat, dann war auch er erstmal nur ein weiser Mann, ein religiöser Meister, dessen Seele und Geist in einem bleibenden fortwährenden Dialog stand mit Zarathustra. Die Lehre dieses Weisen hat sich so tief eingeprägt in Zarathustra, daß er sie gleich sinnig weitertreiben kann, daß sie sich von selbst weiterführt als Offenbarung. Die Botschaft der Engelsoffenbarung ist ursprünglich die Erinnerung ihrer Praxisfiguren zu Lebzeiten. Dann wird sie zur kongenialen Fortschreibung dieser Praxisfiguren über den Tod hinaus. Schließlich können Sie intersubjektiv innerhalb ihrer Religionsgemeinschaft fortgeschrieben werden und modifiziert werden im langen Verlauf der Geschichte des Glaubens, der immer neue Geschichten ausbrütet aus dem Fundus der alten. Sozialisierung und Vergeschichtlichung heben die Ahnengeister vom privaten Schutzengelstatus in den Status von Repräsentanten eines kulturellen Ideals, eines religiösen Vorbilds für alle.
Gab es im Jahwe-Himmel den Herrn der Heerscharen, den Kriegsherren, um dessen Thron bei Jesaja Hofstaat-Engel mit glühenden Kohlen folternde Reinigungen vollzogen, so wird erst nach dem Exil unter Einfluß des persischen Dreierhimmels das Paradies des höchsten Himmels zum Haus des Gesangs, in dem die Fravashi der Gerechten zum Ausdruck ihrer Lebensfreude den Lobpreis anstimmen und ihr Ja singen zu dem, was lebt, was gelebt hat und was leben wird. Dieser Lobpreis der Engel in der Herrlichkeit Gottes als iranisches Erbe der jüdischen und christlichen Glaubensweisen ist auch ein Schutz des Lebens, ein JA zum Leben, ein Ausdruck der Liebe zu denen, die anders nicht mehr kontaktet werden können, ein Ausdruck der Liebe über den Tod hinaus. Und das Einstimmen in diesen Lobpreis der Engel und die Vorankündigung eines Friedens auf Erden ist die Solidarität der Lebenden mit den Toten, die seinerzeit für diesen Frieden gearbeitet und geliebt haben. Ihr Erbe fällt nicht dem Vergessen anheim, sondern wird bewahrt mit Fleiß in den Visionen eines neuen Himmels und einer neuen Erde, auf der Gerechtigkeit wohnt und wo Gott unter den Menschen wohnt und ihnen die Tränen von ihren Augen abwischen wird. Dazu braucht er Menschen, die weinen können und lieben können.

Anmerkungen

1  Zur Entwicklungspsychologie cf Heinz Hartmann, Ich-Psychologie und Anpassungsproblem (1939), Stuttgart (Klett-Cotta) 1960; Heinz Hartmann/ Ernst Kris/ Rudolph Maurice Loewenstein, Comments on the Formation of Psychic Strukture, in: R. Eissler et al. (Hg), The Psychoanalytic Study of the Child II, New York (Intern.Univ.Press) 1946,11-38

 2 Heinz Kohut, Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1976,70 sieht in der »transmuting internalization«, der umwandelnden Verinnerlichung der archaischen Selbst-Objekte zu »Grundstrukturen des Ichs aus unzähligen (im Vergleich mit dem Über-Ich minimalen) inneren Abbildern von Aspekten des präödipalen Objektes zusammengesetzt« (68) die Grundlage für die Ichbildung überhaupt. Mit Melanie Klein u.a. betont er damit die Relevanz der frühesten Erfahrungen des Kindes für die Strukturbildung des Ichs, die eben nicht erst mit der Verinnerlichung der ödipalen Triade beginnt.

 3 Wolfgang Metzger, Psychologie. Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einführung des Experiments, Darmstadt5 (Steinkopff) 1975,62ff zählt zu den Gestalt-Eigenschaften: 1) Struktur, Tektonik, 2) Ganzheit des stofflichen Materials und 3) Wesen als funktionelle Interdependenz der Teile und die subjektive Eindrucksqualität und Anmutung, die sie mit ihrem Ausdruck im Beobachter erwecken. AaO 65: »eine Struktur 'bedeutet' nicht ihr Wesen, sondern wo sie ist, da ist
das Wesen auch; es ist nicht dahinter, sondern darin«. Prägnanz ist reinste und zwingendste Verwirklichung des Wesens in der Struktur.

 4 Max Wertheimer, Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt, in: Psychologische Forschungen 1/1922,47-58,55; 4/1923,301-350. Cf Wertheimers Arbeiten in der Zeitschrift für Psychologie : Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung (60/1911);  Über das Denken der Naturvölker, Zahlen und Zahlgebilde (61/1912); Zu dem Problem der Unterscheidung von Einzelinhalt und Teil (129/1933,353-57); Wertheimer, Produktives Denken, Frankfurt (Kramer) 1964,19,50,77-80,116f, 183,221,243 Beispiel oft musikalische Melodien

 5 Bezeichnenderweise ist Parmenides auch für Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Einheit der Natur. Studien, München (Hanser) 1971,441- 65 ('Parmenides und die Graugans', ein Essay über Gestalt in den Dingen und in der Idee) und 446-91 ('Parmenides und die Quantentheorie' zur Einheit von Sein und Denken) Ausgangspunkt einer Philosophie der Einheit des Kosmos als Einheitlichkeit der Spezies von Objekten, Einheit der Erfahrung und Einheit der Zeit und Einheit von Mensch und Natur.(aaO 468ff) Cf zum Selbigkeitsbezug von Denken und Sein DK 28 B 3:  to\ ga\r au)to\ noeiÍn e)sti¿n te kaiì eiånai.   Das selbe ist Denken wie Sein.

 6 Wolf Biermann, Der Hugenottenfriedhof