Dr. phil. Dr. theol. Michael Lütge, Pfarrer, Gestalttherapeut, Religionsphilosoph, Religionswissenschaftler
fußnotenloser Auszug aus:
"Wachstum der Gestalttherapie und Jesu Saat im Acker der Welt. Psychotherapie als Selbsthilfe"
Lang-Verlag Frankfurt, 1997 824 Seiten ISBN 3-631-32666-1

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    Seite 47-119

    1.2.1 Der Einfluß von Sigmund Freud 47

    Zum Impressum

    1.2.1.1 Anthropologisches Paradigma und erkenntnistheoretisches Verfahren 47

    1.2.1.1.1 Freuds Inkonsistenz von Empirismus und Hermeneutik 47

    1.2.1.1.2 Positivistische Aporie und menschliche Behandlungstechnik 51

    1.2.1.1.3 Die organismische Feldtheorie von Perls als Ausweg? 54

    1.2.1.1.4 Leistungsfähigkeit von Apparat-Modell versus Organismus-Modell 55

    1.2.1.2 Geschichtlichkeit und Kausalität 57

    1.2.1.2.1 Determinismus und Mensch als hydraulische Denkmaschine 57

    1.2.1.2.2 Relevanz der Kindheit und panoramische Archäologie der Therapie 58

    1.2.1.2.3 Überdetermination und multiperspektivischer Funktionalismus 60

    1.2.1.2.4 Freie Assoziation und Abstinenz als Manipulationsmittel 61

    1.2.1.3 Energiemodell und organismische Selbstregulation 63

    1.2.1.3.1 Konstanzprinzip, Neuronentheorie und Primärvorgänge 63

    1.2.1.3.2 Sekundärvorgänge und Energiebindung im Denken 65

    1.2.1.3.3 Erinnerung durch Assoziation: Unbewußtes, Vorbewußtes, Bewußtes 67

    1.2.1.3.4 Regression und Wunscherfüllung als Problemlösungswege 69

    1.2.1.3.5 Tagesrest und Unerledigtes, Verdrängtes und die Not des Lebens 69

    1.2.1.3.6 Befriedigungsversuche: Denken, Motilität, Traum, Symptom 72

    1.2.1.3.7 Bewußtsein und Unbewußtes zwischen Lust und Realität 75

    1.2.1.3.8 Leiblichkeit und die Differenz von Somatischem und Psychischem 76

    1.2.1.4 Libidotheorie: Genese der Lust 77

    1.2.1.4.1 Sexualmißbrauch als Ursprung von Hysterie und Neurose 77

    1.2.1.4.2 Erogene Zone, Partialtrieb, polymorph-perverse Kindlichkeit 79

    1.2.1.4.3 Hunger und Sexualität 80

    1.2.1.4.4 Perversion und Normalität: Gesundheitsbegriff der Sexualmoral 81

    1.2.1.4.5 Orale, anale und genital-phallische Phase und präpuberale Latenz 84

    1.2.1.4.6 Hüllkurve des Orgasmus und Aporie des Lustprinzips 85

    1.2.1.4.7 Narzißmus, Selbsterhaltung und Objektbeziehungen 86

    1.2.1.4.8 Mannbarkeit und Weiblichkeit - Das Elend mit dem Penisstolz/neid 91

    1.2.1.4.9 Verdrängung und Inzesttabu: Zur Entstehung des Ödipuskomplexes 95

    1.2.1.5 Aggression. Der Destruktionstrieb als Gegenpol der Liebe 100

    1.2.1.5.1 Narzißtischer Haß und Objektbemächtigung 100

    1.2.1.5.2 Aggressionstrieb, Todestrieb und Nirwanaprinzip 101

    1.2.1.5.3 Wiederholungszwang und Assimilation 104

    1.2.1.5.4 Todessehnsucht des Lebens und der Eros als Störenfried 106

    1.2.1.5.5 Triebmischungen und -entmischungen im inneren Bürgerkrieg 109

    1.2.1.5.6 Sublimierungsenergie und sekundärer Narzißmus im Ich 109

    1.2.1.5.7 Primärer Masochismus und seine Abkömmlinge 111

    1.2.1.5.8 Kastrationsangst, Gewissen und strafendes Über-Ich 112

    1.2.1.5.9 Energetische Unvereinbarkeit von Konstanz und Trägheit 114

    1.2.1.5.10 Selbstzerstörung oder Fremdzerstörung und kein Ausweg? 116

    1.2.1.5.11 Liebesgebot und Diktatur der Vernunft als Mittel gegen Krieg? 117

    1.2.1.5.12 Perls' Einwand: Hungertrieb und Dental-Agression befriedigbar 118

    1.2. Zur theoriegeschichtlichen Ortung des Gestaltansatzes

    1.2.1 Der Einfluß von Sigmund Freud

    Die Intensität, mit der sich die Gestalttherapie der Psychoanalyse verdankt, entgegen allen anderslautenden Behauptungen, macht eine entsprechend intensive Beschäftigung mit Freud zu einer gebotenen und aufschlußreichen Arbeit. Je versierter die Kenntnis der Psychoanalyse, um so fundierter fällt eine wirkliche Integration der metatheoretischen Bezugsperspektiven aus, die ihre Implikationen bis tief in die Methodologie, Nosologie und die alltägliche Arbeit der Therapeuten ausfließen lassen. Gerade zur Verbreiterung des jahrzehntelang vermiedenen Diskurses zwischen Vertretern der Psychoanalyse und jenen der Gestalttherapie, der sich inzwischen als Tendenz der Methodenintegration abzuzeichnen beginnt, ist es für die »Gestaltszene« um so wichtiger, die oft unreflektierten Fundamente ihrer Arbeit in den Blick zu nehmen. Es wird sich zeigen, daß die Kritik an der Psychoanalyse sich auf die Gestalttherapie selbst rückbeziehen läßt und sie zu einem reflektierteren Umgang mit ihren eigenen, eingängigen und allzu gängigen Götterbildern der Seele animieren kann. Dies bedeutet auch, Abschied zu nehmen von einem allzuleichten Jargon des hingehüpften Hier und Jetzt. Gerade vor einer Psychoanalyse, wie sie Jaques Lacan gelehrt hat, kann eine an unkomplizierter Triebbefriedigung ausgerichtete Form von Gestalttherapie nicht bestehen. So unbedingt die Sehnsucht der Menschen gerade in der Therapie auf Glück ausgerichtet ist, so wenig geht Erfüllung und Versöhnung in einer Ausrichtung der Kur auf schnellen Sex und Gehaltserhöhungen auf. Daß wir angesichts unseres Todes und der daraus resultierenden Einschränkungen unserer Freiheit nicht alles haben können, was wir wollen, daß es ein letztes Unerfülltsein und einen Überschuß von Sehnsucht über jede Befriedigung hinaus gibt, schützt den Therapeuten vor der Illusion, göttliches Heil wirken zu können. In einer solchen Bescheidung wird Therapie zur filigranen Arbeit am Kleinsten, auf daß sich, hoffentlich, das Ganze so verwandelt, daß ein Mensch keine Sekunde seines Lebens mehr bereut.

    1.2.1.1 Anthropologisches Paradigma - Erkenntnistheoretisches Verfahren

    1.2.1.1.1 Freuds Inkonsistenz von Empirismus und Hermeneutik

    Perls eröffnet sein erstes Buch mit einem Zitat aus »Psycho-Analysis«, einem 1926 für die Encyclopädia Britannica verfaßten lexikalischen Kurzüberblick über die Psychoanalyse Sigmund Freuds: »Die Psychoanalyse ruht sicher auf der Beobachtung der Tatsachen des Seelenlebens, ihr theoretischer Überbau ist darum noch unvollständig und in beständiger Umwandlung begriffen.«(1) Damit wird Psychoanalyse als naturwissenschaftlicher, empirischer Forschungsprozeß verstanden, die systemische Unvollständigkeit zum Motor seines Fortschritts erhebend.(2) Die physikalistische Verdinglichung des Seelenlebens zu »Tatsachen« fingiert phänomenale Objektivität, unabhängig vom Subjekt des Beobachters und Interpreten: Hier bruta facta, dort die Theorien des Forschers, die nur noch den Fakten optimal angeglichen werden müßten im Sinne aristotelischer Sachadäquation. Freud suggeriert damit erkenntnistheoretisch einen naiven Realismus, der im Erkenntnisakt das nominalistische Moment der unumgänglichen Reduktion von Realkomplexität zu sinnstiftender Kompatibilität mit dem Sprachspielkontext des erkennenden Subjekts und den fokalen Ausblendungseffekt des analytischen Settings ignoriert. Solch szientistische Naivität wird im Textgefüge seiner Werke kaum je deutlich. Oft artikuliert Freud den noch hypothetischen Charakter einer Interpretation von Neuentdeckungen im analytischen Material, der weiterer klinischer Bestätigung bedarf. Auch die Wende in der zunächst allein den Sexualtrieb hervorhebenden, ab 1915 dann fortwährend zur Polarität von Eros und Todestrieb modifizierten Libidotheorie(3) zeigt die Offenheit seines Denkens, erweist aber zugleich die angeblichen »Seelentatsachen« als die Tatsache eines seine eigenen Reduktionen und Begriffe von Wahrgenommenem revidierenden Forschersubjekts. Offensichtlich hat dieser Szientismus, der unaufgelöst neben dem Romantizismus(4) der Liebe-Tod-Dualität(5) in Freuds Trieblehre steht, apologetische Motive: einer skeptischen Medizinerwelt ein neues Verfahren und bisher verleugnete Dimensionen der menschlichen Ganzheit als wissenschaftlich fundiertes Verfahren zu demonstrieren, was besonders in den »Vorlesungen«(6) von 1915-1917 immer wieder deutlich wird. Die positivistische Attitüde soll legitimatorisch wirken, soll die faktische Subjektivität hermeneutischen Verstehens im analytischen Setting als eine objektive Tatsachenbeobachtung hinstellen.(7) Die Freudsche Metapsychologie leidet unter dem Statusirrtum, wissenschaftliche Empirie zu betreiben, während sie in Wahrheit Hermeneutik ist: »absolut gesprochen gibt es in der Psychoanalyse keine 'Tatsachen', weil hier nicht beobachtet, sondern interpretiert wird.«(8)

    Perls hat die dogmatische Verdichtung der klassische Psychoanalyse zu einem Glaubenssystem erfahren in der Konfrontation mit Marie Bonaparte.(9) Er benutzt in seinem Erstwerk Freuds Zitat(10) in erster Linie, um den Meister mit dessen eigenen Waffen zu schlagen, als immanent legitimierten Auftakt seiner aus der enttäuschenden Begegnung mit Freud 1936(11) motivierten massiven Kritik der Psychoanalyse. Er will damit seinen eigenen Ansatz als Umwandlung und Vervollständigung der Theorien Freuds ausweisen, geht aber bis zur Revision von zentralen Axiomen wie dem der Verdrängung, vorwiegender Konstitution der subjektiven Erfahrungs- und Verhaltensstruktur in früher Kindheit und mechanistischer Topologie eines psychischen Apparats. Das ermöglicht ihm den Abbau narzißtischer Grandiositätsprojektionen auf den mittlerweile allseits anerkannten Begründer der Psychoanalyse.(12) Perls selbst steht eindeutig in der Tradition der klassischen Psychoanalyse und versteht seinen oralen Ansatz nur als eine Ergänzung zum genitalen, nicht aber als Alternativentwurf einer oralen statt genitalen Triebtheorie. Bis 1948 bezeichneten er und Lore sich denn auch immer noch als »Psychotherapeuten«, wenn auch als »revisionistische«.(13)

    Programmatisch geht es Perls im Modus immanenter Kritik nur darum, »das Gefüge des psychoanalytischen Systems dort zu festigen, wo seine Unvollständigkeit und sogar Fehlerhaftigkeit am meisten ins Auge fallen: a bei der Behandlung des psychischen Gegebenheiten, als existierten sie isoliert vom Organismus; b bei der Verwendung der linearen Assoziationspsychologie als Grundlage eines vierdimensionalen Systems; c bei der Vernachlässigung des Phänomens der Differenzierung.«(14)

    Um die Implikationen von Perls' Kritik der isolationistischen Anthropologie bei Freud hinreichend zu verstehen, ist ein Stück Wissenschaftstheorie der Psychologie sinnvoll. Das angeführte Zitat Freuds macht neben aller Offenheit des Forschernaturells auch die Befangenheiten im empiristischen Modell von medizinischer Verdinglichung des Menschen zum funktionierenden Apparat deutlich, der zu beobachten, zu deuten, zu erklären ist. Zwanzigjährig hat Freud während seines Medizinstudiums ab 1876 über sechs Jahre am renommierten neurophysiologischen Institut Ernst von Brückes in Wien anatomische Forschungen über Nervenzellen gemacht.(15) Er hat dabei Wesentliches zur Neurologie, etwa die Entdeckung von Nervenbahnen aus isolierten, synaptisch verschalteten Nervenzellen beigetragen.(16)

    Sein Ziel im von Herbart, Griesinger, Helmholtz, Exner und Meynert stark beeinflußten »Entwurf einer Psychologie« von 1895 war, programmatisch formuliert, »psychische Vorgänge darzustellen als quantitativ bestimmte Zustände aufzeigbarer materieller Teile«.(17) Gerade dieser konsequente Materialismus, der über die Hypothese eines psycho-physischen Parallelismus weit hinausgeht, bietet später - analog der Bohrschen Erkenntnis der Korpuskel-Welle-Komplementarität - die Möglichkeit eines umfassenden Begriffes von Leiblichkeit: biochemischer Prozeß des Zentralnervensystems und seelischer Prozeß konvergieren als zwei Aspekte einer Seinsgeschehens.(18) Diese frühe, in der »Traumdeutung«(19) erst aufgegebene deterministische Reduktion seelischer Prozesse auf anatomische Vorgänge versuchte dagegen, die Komplementarität durch eine Identifikation auszudrücken; dies mußte scheitern.

    Diese physikalistische Darstellung seelischer Ereignisse und deren pharmakologische Implikationen gemäß dem Diktum, auch Liebe sei letztlich nichts als Chemie(20), von Freud noch bis in den »Abriß« von 1938 durchgehalten, depersonalisieren und entwürdigen den Menschen, indem sie seine innigsten Gefühle aus dem Beziehungskontext abspalten und auf die ihnen innewohnenden chemischen Prozesse reduzieren. Der Klient wird zur Maschine(21), dem medizinischen Objektivismus bedenkenlos treu.(22)

    Freuds ökonomisches Modell von Energieverteilung im psychischen Apparat zeitigt in der Idee einer lückenlosen Übersetzbarkeit psychischer Vorgänge in zugrundeliegende, anatomisch derzeit nur noch nicht erfaßbare biochemische und physikalische Prozesse im Organismus eine wirkungsgeschichtlich makaber zu nennende Tendenz: »Die Zukunft mag uns lehren, mit besonderen chemischen Stoffen die Energiemengen und deren Verteilungen im seelischen Apparat direkt zu beeinflussen;... vorläufig steht uns nichts besseres zu Gebote als die psychoanalytische Technik...«(23)

    Freuds Kokainsucht mag die schleichende pharmakologische Okkupation des Menschen illustrieren (24), die die heutige Psychiatrie und Drogenszene gleichermaßen charakterisiert. Der Ersatz von Beziehungswärme durch Chemie hat zu einer das Problem der Neurotiker weit übertreffenden Problematik der Verdinglichung und Entfremdung durch psychopharmakologische Toxikation geführt; wo immer chemischer Spannungsausgleich vorgenommen wird, ist es mit den menschlichen Beziehungen meist schlecht bestellt. Sie werden völlig funktional. Der extensiven pharmakologischen Verdinglichung, die erst heute voll erkennbar wird, geht eine entsprechende materialistische und mechanizistische Objektivation des Menschen zum Apparat nicht nur, aber eben auch bei Freud voraus: »Freud verfällt, weil er von Anbeginn dem szientistischen Selbstverständnis verhaftet bleibt, einem Objektivismus, der von der Stufe der Selbstreflexion unvermittelt zum zeitgenössischen Positivismus des Machschen Typus zurückkehrt und deshalb eine besonders krude Form annimmt.«(25)

    Mit dem Logischen Empirismus des Wiener Kreises scheint Freud in seinem mechanistischen Modell von Triebenergien, Energieverteilung und der Annahme von quasi Lokalitäten innerhalb des seelischen Apparats in seiner Ich-Es-Überich-Topologie(26) eigentümlich zu konvergieren, wenn etwa Rudolf Carnap formuliert: »die Psychologie ist ein Zweig der Physik.«(27)

    Angesichts der Anfechtungen, denen die Betonung der Sexualität in damaligen Akademikerkreisen ausgesetzt war, ist der physikalistische Rekurs Freuds als Eintauchen in die Aura des anerkannt Wissenschaftlichen verständlich. Die widerspruchsfreien Protokollsätze, in denen sich wissenschaftlich das Faktenmaterial des Beobachtungsgegenstandes »Seele« abspiegelt, sind nach dem Metaphysik-Verdikt des Wittgensteinschen Traktatus auf den ersten Blick verifikabler als der lyrische, metaphorische, umgangssprachliche, aber im Idiom der Abbildtheorie von Sprache »unentscheidbare« Ausdruck seelischer Empfindungen.(28) Dabei ist doch das einzige Beobachtungsmaterial neben der gesturalen Expression gerade diese - frei assoziativ hervorgebrachte - »Lyrik« des Analysanden. Es ist bemerkenswert, wie schroff der Gegensatz zwischen den metatheoretischen und den klinischen Schriften im Werk Freuds ist; den Krankengeschichten und Traumberichten haftet durchaus die empathische Zärtlichkeit an, deren sich der strenge Analytiker-Lehrer glaubt, enthalten zu müssen.(29)

    Reine Fakten, ihre Beobachtung und schließlich die Eingliederung in einen theoretischen Gesamtzusammenhang, dessen Gestalt sich um so mehr aufklärt, je mehr Detailfakten zur kompletten Gesamtschau zusammengetragen sind: hier spiegelt sich etwas von der positivistischen Fortschrittsgläubigkeit jener Epoche wieder, in der Freud groß geworden ist(30), wenn auch Freud eher auf dem Stand des Immanenzpositivismus Ernst Machs anzusiedeln ist als auf den sprachorientierten Vorstellungen des logischen Empirismus des Wiener Kreises selbst.(31)

    1.2.1.1.2 Positivistische Aporie und menschliche Behandlungstechnik

    Das positivistische Wissenschaftsparadigma, dem Freud verfällt, suggeriert die Möglichkeit vollständiger, lückenloser Annäherung an den Erkenntnisgegenstand. Das Vollständigkeitspostulat(32), welches Freud als Ziel psychoanalytischer Erkenntnis setzt, stammt von René Descartes.(33) Selbst noch Karl Popper, der statt Verifikation von Basissätzen korrektiv das Falsifikationsprinzip als Sinnkriterium eingeführt hat(34) und den Basissätzen den Status von vorläufigen(35) Interpretationen(36) statt direkten Abspiegelungen von Realität zuerkennt, fällt später(37) einem schier thomistischen Wahrheitsbegriff anheim.(38)

    In der Kette der empiristischen Blindheit für die Resultat-Relevanz des sich in Werturteils-Askese übenden positivistischen Forschersubjekts hat es eine Ausnahme gegeben: Die Position des Beobachters ist 1929 bei Carnaps aus der Gestaltpsychologie abgeleitetem(39) Ansatz bei den - sehr an Husserls Neocartesianismus erinnernden - eigenpsychischen »Elementarerlebnissen«(40) noch Ausgangspunkt strukturalistischer Konstitution von Wirklichkeit. Doch sein völlig unabhängig von de Saussure(41) entwickeltes Programm rationaler Nachkonstruktion des sinnlichen Wahrgenommenen wird als unzulässige solipsistische Reduktion auf eine real schon kulturell präfigurierte und dadurch selbst schon strukturdeterminierte Subjekterfahrung enttarnt, die als Quelle untauglich, quasi verunreinigt ist. »Die Insistenz auf der Vermitteltheit eines jeglichen Unmittelbaren ist das Modell dialektischen Denkens schlechthin, auch des materialistischen, insofern es die gesellschaftliche Präformiertheit der kontingenten, individuellen Erfahrung bestimmt.«(42)

    Mit der Feststellung dieser Carnapschen Aporie von 1929 und ihrer Kritik durch Neurath wird das Subjekt des Beobachters als für den Erkenntnisakt konstitutives Moment nachhaltigst wieder ausgeblendet.(43) Wird in der Phänomenologie das Subjekt zum neuen Angelpunkt der Erkenntnis, zum Wahrnehmenden, ohne dessen Wahrnehmung es sinnlos ist, von einer solchen zu sprechen, so wird es im Positivismus eskamotiert. Hier geht man davon aus, es könnte potentiell jeder dieselbe Erkenntnis einer Sache gewinnen, nur dann seien Sätze wissenschaftlich. Die empiristische Reduktion auf physikalische Protokollsätze tritt an die Stelle der Reduktion aufs cartesianische Subjekt.(44) Subjekt und Objekt im Erkenntnisprozeß sind klar getrennt, das Subjekt tritt vermeintlich völlig hinter der Erhellung des Objekts zurück.(45) Gerade so sitzt Analytiker im Setting der klassischen Psychoanalyse versteckt hinter dem auf der Couch liegenden Analysanden und hört schweigend zu, scheinbar neutral bemüht, das assoziierte Material des Analysanden deutend zu ordnen.(46) Er geriert sich empirisch, als gäbe es weder Übertragung noch Gegenübertragung(47) und als seien seine hermeneutischen Vorgriffe(48) im Deuten der Assoziationen nicht schon gespickt mit seinen Projektionen, analytischen Theoriebildungen und therapeutischen Vorerfahrungen, durch die sich ja allererst seine Kompetenz konstituiert. Schon die vermeintlich reine Beobachtung des Analytikers, die gleichschwebende Aufmerksamkeit, ist subjektive Selektion und kann gar nicht ihr empiristisches Soll erfüllen.(49)

    Daß bei diesem Labormodell von Anatomie des Seelenlebens die konstitutiven sozialen Bezüge des Patienten bis auf die Kausalität traumatisierender Ursprungssituationen(50) ausgeblendet bleiben, gehört zu den mechanistischen Implikationen des programmatischen Immanenzpositivismus von Freuds Hermeneutik. »Die psychoanalytische Strukturlehre ist... individualistisch borniert, auf der abstrakten Ebene isolierter Individualität angesiedelt. Dagegen ist eine Theorie zu setzen, in der die gesellschaftliche Konstitution individueller Strukturen begreifbar wird, subjektive Strukturen als Produkte einer 'beschädigenden Herstellung' begriffen werden unter Darstellung des 'Wie' dieser beschädigenden Herstellung.«(51)

    Interessanterweise ist nach Patientenberichten über Freud sein Behandlungsstil eben kaum jemals so objektivistisch gewesen, wie seine theoretische Begrifflichkeit Glauben macht. Cremerius resümiert, »daß Freuds Technik wenig systematisiert war. Sie erscheint offen, unmittelbar, lebendig, mehr künstlerisch als im strengen Sinne wissenschaftlich.«(52) In der Praxis war Freud weiter als in der Theorie.(53) »War für den Theoretiker Freud der Patient der Gegenstand, den ein perfekt beobachtender Analytiker, der außerhalb des Feldes stand, mit der psychoanalytischen Methode behandeln sollte, so impliziert der Praktiker Freud, daß der Gegenstand der Analyse ein dreifacher ist: Der Analysand, der Analytiker und die Interaktion. In diesem Feld gilt es für beide, Verstehen zu erproben und neue Erfahrungen zu machen.«(54) Das Ungenügen an der anatomischen Metaphorik Freudscher Theoreme hat Analytiker wie Ferenczi, Reich und auch Perls zur Revision, ja zum Bruch mit diesem, seinen eigenen hermeneutischen Status empiristisch verleugnenden Ansatz von Therapie bewogen.

    1.2.1.1.3 Die organismische Feldtheorie von Perls als Ausweg?

    Das positivistische Wissenschaftsparadigma(55) ist, seit den Erkenntnissen der Relativitätstheorie, abgelöst durch ein dialektisches der Interdependenz. Zumindest Einsteins Erkenntnis der Feldverwobenheit(56) des Erkenntnissubjekts fließt, von Kurt Lewins adaptiert(57), in die Laborexperimente der Berliner Gestaltpsychologie ein und führt zur Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die umgebende Situation des Beobachtungsgegenstandes, zu der letztlich der Beobachter konstitutiv hinzugehört.(58) Die Wirkungsgeschichte des Einsteinschen Feldbegriffs setzt sich über die Berliner Schule fort zu Kurt Goldstein und von da zu Perls, bei dem der Feldbegriff explizit nur dreimal aufgenommen ist(59), ansonsten aber über Goldsteins Organismus-Umfeld-Begriff(60) den Stoffwechsel und die Interaktion des Einzelwesens mit seinem sozialen und ökologischen Lebensnetzwerk bezeichnet.(61)

    So ist die Destruktion des naiven Empirismus vom Machschen Typus dann zum Element der Perlsschen Kritik an Freuds isolationistischen Beschreibungen des Seelenapparats geworden, in denen das Subjekt des Analytikers gemäß seinem eigenen Bewußtsein von Gegenübertragung in der Analyse selbst niemals so eskamotiert gewesen ist, wie es seine mechanistische Begrifflichkeit Glauben zu machen imstande ist. »Die objektive Wissenschaft gibt es nicht, und da jeder Autor einen bestimmten subjektiven Blickwinkel hat, ist auch jedes Buch von der Geisteshaltung des Autors abhängig. Mehr als in jeder anderen Wissenschaft stehen in der Psychologie Beobachter und beobachtete Gegebenheiten in einem untrennbaren Zusammenhang.«(62)

    Ein Kornfeld wird vom Bauern, Piloten, Maler, Spekulanten, Getreidehändler und einem Liebespaar je völlig verschieden gesehen und erlebt; je nach Bedürfnislage gewinnt ein Objekt die unterschiedlichsten Bedeutungen, Funktionen und Wahrnehmungsformen.(63) Extraindividuelle Objektivität ist bestenfalls gedankliche Faustskizze, Kants »Ding an sich« fiktiv. Wahrgenommene Realität ist immer subjektiv selegierte Objektivität, gerastert von biologischen Trieben, Bedürfnissen und deren multiplen Vergeistigungsformen. »Spezifische Interessen werden durch spezifische Bedürfnisse diktiert.«(64) Diese grundlegende Dialektik zwischen Subjekt und Objekt der Erkenntnis affiziert die Wahrheitsfähigkeit psychoanalytischer Aussagen und Theoriesysteme: Sie können niemals als absolute Wahrheit, als Naturgesetz, als Objektivitätsabspiegelung verstanden werden, sondern haben in genuiner Weise mit der Triebstruktur und der Sensitivität des Psychoanalytikers zu tun. »Die wechselseitig Abhängigkeit zwischen dem Beobachter und den beobachteten Fakten, die die heutige Wissenschaft postuliert, ist durch Freuds Entdeckungen vollständig bestätigt worden. Infolgedessen sollte man auch sein System nicht betrachten, ohne ihn als den Urheber mit einzubeziehen.«(65)

    1.2.1.4 Leistungsfähigkeit von Apparat-Modell versus Organismus-Modell

    Auf der Metaebene der Anthropologie will Perls Freuds Diastasen von

    a) analytischem Beobachter und psychischen Fakten im Analysanden,

    b) Körper und Seele, und

    c) Es, Ich, Über-Ich als Mechanizismen einer nur topologischen Struktur ersetzen.

    Statt dessen weist er hin auf

    a) die fundamentale Möglichkeit von Verstehen im intersubjektiven Kontext der therapeutischen Beziehung,

    b) die körperliche Symptome und Expressionen als unmittelbarem Erscheinungsort einer nicht vom Körper isolierbaren Seele, und

    c) die biologische Grunddisposition des Menschen als eines im Austausch mit der Umwelt je und je nach Gleichgewicht strebenden Organismus.

    Dabei ist das Modell, was Perls dem mechanistischen Strukturmodell Freuds entgegenstellt, selbst geprägt von einem relativ naiven Biologismus, der Paradigmenwechsel hat nicht im Prinzip stattgefunden, sondern wesentlich nur im Design.(66) Daß die organismische Ebene konstitutiv für die Existenz des Menschen ist, zwingt nicht, alles lebendige Geschehen nach dem Modell einer Amöbe zu beschreiben, während die Anatomie des Menschen sich als hochkomplex verschaltetes System erweist.(67) Zwar opponiert Perls gegen den isolierten Seelenbegriff Freuds mit der Kritik, der Kontext, das Umfeld, seien zur vollständigen Beschreibung unerläßlich. Perls entwickelt aber die Interdependenz von Organismus und Umfeld nur auf der Ebene des biologischen Stoffwechsels, Essen und Defäkation stehen an erster Stelle. Daß Sozialwesen nicht nur von Muttermilch leben, sondern von Zärtlichkeit und Beziehungserfahrung, die sich im Kontinuum der Historie, nicht etwa im zeitlosen Jetzt allein, zunehmend zu vergeistigteren Formen der Interaktion erweitert, macht die Struktur des Stoffwechsels wesentlich komplizierter als die einfache Mechanik von Introjektion und Projektion. Hierin liegt eine Schwäche dessen, was Perls dem Physikalismus Freuds entgegenzusetzen hat, dessen Analysen der »Sekundärvorgänge« um ein Wesentliches mehr die Subjektivität des Menschen gelten lassen, trotz allem Determinismus. An die Stelle des Psycho-Apparats Mensch ist bei Perls lediglich die Amöbe Mensch getreten. In der Art, wie er im Rahmen seiner Theoriebildung das Modell Organismus dem Modell Apparat konfrontiert, erliegt er der Gefahr aller reduktionistischen Programme, in der die Fülle der Phänomene auf des Pudels Kern und wahres Wesen, auf ureigentliche Grundfunktionen und ein letztgültiges Apriori zurückgeführt wurden. Gerade der Feldbegriff ist dazu angetan, das Individuum in seiner sozialen Vernetzung, als Teil des »social body« zu verstehen und damit die Individualpsychologie schon im Ansatz einzubetten in Sozialpsychologie, die erweist, wie das Subjekt bis in seine intimste Zelle durch intersubjektiven sensomotorischen Austausch präformiert ist.

    Eine Verankerung der Anthropologie in der Biologie sichert dem Menschenbild einen Hauch von mehr Wissenschaftlichkeit, als es die vom anatomischen Befund unmittelbar in interpretative Strukturen transvestierte und damit letztlich hermeneutische Psychoanalyse vermochte, auch wenn sie wissenschaftstheoretisch sich gern positivistisch gerierte in ihrer mentalistischen Uminterpretation des physikalistischen Apparatemodells vom Menschen.(68) Während Freud von der wissenschaftlichen Psychologie weitgehend als empirisch unüberprüfbar abgelehnt wurde(69), genoß die in Laborexperimenten hinreichend abgesicherte Gestaltpsychologie der Berliner Schule, als wissenschaftlich exakte Theorie neben dem Behaviorismus, wachsendes Ansehen in der beginnenden akademischen Psychologie.(70) Möglicherweise hat Perls sich für das anthropologische Modell Organismus entschieden, weil es mehr empirische Substanz zu erreichen imstande war als Freuds »Beobachtungstatsachen« der Laborsituation Psycho-Couch, die notwendig zur »Grundlage unzureichenden Materials«(71) führen mußte.

    Der Rekurs aber auf organismische Grundfunktionen, und seien sie auch noch so feldverwoben und kybernetisch differenziert dargestellt, bleibt eine Reduktion der Menschlichkeit des Menschen, mit der er seiner Würde als eines in Begegnung und sozialer Beziehung vernetzten Wesens ebenso beraubt ist wie in der Black-box-Theorie Skinners(72) oder in den - gemäß der an Ratten geschulten empiristischen Menschensicht nur folgerichtigen - grauenvollen Vivisektionen eines Dr. Rascher in Dachau.(73)

    1.2.1.2 Geschichtlichkeit und Kausalität

    Frühe Aufsätze Freuds sind oft als Ätiologien von Hysterie, Neurose oder Paranoia konzipiert.(74) Die zugrundeliegende Denkfigur entspringt wiederum der Newtonschen Mechanik(75): Jedes Ding ist in einem bestimmten und bestimmbaren anderen begründet. Psychische Zustände sind nicht zufällig oder lediglich biologisch bedingt, sondern das Resultat bestimmter Kräfteeinwirkungen auf den »psychischen Apparat«.(76)

    1.2.1.2.1 Determinismus und Mensch als hydraulische Denkmaschine

    Schon 1895 im »Entwurf einer Psychologie«(77) beherrscht die Vorstellung des »psychischen Apparats« das - noch nicht topisch mit Unbewußtem, Vorbewußtem und Bewußtem ausgerichtete - Modell der seelischen Energieverteilung und Triebdynamik. »Diese gründet auf... dem Konstanzprinzip -, das der Physik entlehnt ist und zu einer quantitativen Behandlung der Energie tendiert.«(78) Das Homöostase-Modell stammt von Herbart, dessen Psychologie schon Elemente entwickelt hatte wie Vorstellung und Affekt, Verdrängung, zwei Zensurstellen auf dem Wege zur Bewußtwerdung und die Idee völliger nomologischer Determiniertheit des Seelenlebens, welches als Kraft und Energievorgang meßbar sein muß.(79) Neben dieser Linie von Herbart(80) über Fechner(81) gibt es die Linie Robert Mayer über Helmholtz(82) mit dem Satz von der Erhaltung der Energie im System, auch im System Körper oder Seele. Beide Linien trafen sich bei Freuds Lehrern(83) von Brücke(84), Meynert(85), Griesinger(86) und Breuer(87).

    Der Mensch ist als Maschine gedacht.(88) Diese Anleihe der Psychoanalyse aus der Physik(89) ist gewiß auch als Ausdruck neurotischer Sprachzerstörung, klischeebildender Abspaltung, zu verstehen(90), die es, anders als Lyrik, Poesie und religiöse Metaphorik, nicht wagt, die hermeneutisch tief fundierte Textur der Umgangssprache über Gefühle als gewachsene Grundlage zu einer Wissenschaft werdenden und ausgewiesenen Metasprache über die Vorgänge des Seelenlebens zu machen. Das Milieu der Wiener Medizinerfakultät war nicht dazu angetan, eine andere als streng materialistische Sprache walten zu lassen.(91)

    Wenn Perls von Friedlaender die Theorie der »schöpferischen Indifferenz« übernimmt, so basiert Perls' Homöostasefigur sowohl auf der Herbart/Helmholtz-Linie Freudscher Energetik als auch auf der Adaption Robert Mayers bei Friedlaender.

    Wie in der Mechanik meßbare Kräfte linear meßbare Veränderungen auf bestimmte Körper ausüben, die nomologisch determiniert sind, so wird auch der »psychische Apparat« affiziert durch Kräfteeinwirkungen aus dem familialen Umfeld. Daher sind psychische Zustände linear-logisch deduzierbar, bzw. erlauben den »analytischen« Rückschluß von einem bestimmten Seelenzustand auf das eine Reaktionsbildung oder Interaktionsform konstituierende Ereignis oder Setting von Ereignisfolgen. Dabei lagen für Freud die psychische Strukturbildungen begründenden Ereignisfolgen primär in der frühen Kindheit(92), wenn auch die Einflüsse der darauffolgenden Lebensphasen nicht vollständig ignoriert werden. Eindeutig aber richtet sich das Freudsche Augenmerk auf die ödipale Zeit.(93) Die zeitliche Verschiebung zwischen feststellbarem seelischen Zustand und bedingendem Setting von frühkindlicher Kräfteeinwirkung auf den seelischen Apparat läßt die Konstitution seelischer Struktur als genetischen Prozeß, als Lernprozeß oder Wachstumsprozeß erscheinen. Diese Kausalgenese psychischer Zustände ist dann im Nachherein heuristisch rekonstruierbar durch die Assoziationsmethode der tiefenpsychologischen Hermeneutik.(94)

    1.2.1.2.2 Relevanz der Kindheit - panoramische Archäologie der Therapie

    Teil der mechanistischen Kausalitätsauffassung Freuds ist dann folgerichtig, daß psychische Zustände kausal bedingt sind durch materielle Zustände, derart, daß die analytische Arbeit am psychischen Apparat auf der intersubjektiven, kognitiven und emotionalen Ebene für ihn weniger effizient erscheint als die damals kaum beherrschte pharmakologische Einwirkung auf die Dynamik der psychischen Energien.(95)

    Die Linearität der Kausalgenese(96) macht eine lineare Rekonstruktion möglich: am Ende der Analyse, die als hermeneutischer Prozeß verunreinigt und materialgeschwängert zugleich ist durch die Übertragungsphänomene(97), stehen Erkenntnisse, die formulierbar sind in der nomologischen Form: Von A kam B, von B kam C, von C kam D. Die Methode, um vom vorläufigen Endzustand D, in dem der Analytiker den Patienten antrifft, auf Zustand A zurückzukommen, ist die ausschließende Induktion(98) mit dem Material der vom Bewußtsein möglichst nicht zensierten Assoziation.(99)

    Die Verknüpfung der Vorstellungen(100), die die bewußte Formgebung (»Sekundärvorgänge«) von unbewußt wirkenden Triebenergien (»Primärvorgänge«) darstellen(101), führt von einem Seelenzustand mit der Logik von psychischen Mechanismen (Verschiebung, Verdichtung(102), Vergessen(103), Verdrängung(104), Projektion(105), Introjektion(106)) zum nächsten. In einer Archäologie der Vorstellungskomplexe(107) können damit Schichten im kausalgenetischen Prozeß psychischer Konstitution nacheinander ins Bewußtsein gehoben und »durchgearbeitet« werden.(108) Vergangene Konflikte, die beschädigend gewirkt haben, können reinszeniert zu einer neuen, nicht beschädigend wirkenden Lösung gebracht werden. Danach kann dann die nächsttiefere Schicht der psychischen Konstitution eruiert werden, wiederum mittels Rückschlußverfahren über assoziierte Vorstellungsgehalte. Die Linearität dieser Rückschlüsse suggeriert lineare Kausalität.(109)

    Dabei kommt Freud mit Herbart und Fechner zu einem materialistischen Determinismus.(110) Alles seelische Geschehen ist hirnphysiologisch bedingt. Und alle neurophysiologischen Prozesse im Zentralnervensystem stehen, als Reflexe(111) auf äußere Reize, in strenger Abhängigkeit zur Außenwelt. Der freie Wille ist daher eine Fiktion.(112) An dieser Stelle steht Freud dem Behaviorismus nah. Gerade aufgrund der Linearitätsannahme mußte der klinische Befund der Krankengeschichten Freuds, in seiner Differenziertheit die einfache Kausalität der »Urszene« revidierend, zur Aufrechterhaltung des Kausalitätsmodells die Existenz weiterer Determinanten einführen. Das führt Freud zum Begriff der »Überdeterminiertheit« jeder seelischen Reaktion.(113)

    Die »Urszenen«-Theorie des infantilen Kindheitstraumas, nach dem Aufgeben der Verführungstheorie relativiert zum Status psychisch-phantastischer Realität als Traumaquelle, ist problematisch.(114) Einflüsse der Gegenwart, besonders der therapeutischen Situation selbst, werden dabei nicht als Input, sondern als Output der psychischen Struktur des Patienten wahrgenommen: der Patient projiziert.(115) »Psychoanalyse hat keine kausalanalytische Aussagekraft... Die lebensgeschichtliche Rekonstruktion hat an keiner Stelle die Möglichkeit, die objektive Lage der Subjekte auch nur deskriptiv zu registrieren, geschweige denn deren Bedingungsmechanismus zu analysieren. Der psychoanalytische Zugriff ist auf die Erkenntnis der subjektiven Struktur abgestimmt innerhalb eines hermeneutischen Rahmens...«(116)

    1.2.1.2.3 Überdetermination und multiperspektivischer Funktionalismus

    Auch Perls hat in seiner Kritik der deterministischen Kausalität im mechanistischen Apparatemodell Freuds Anleihen bei der Physik gemacht. Offensichtlich kommt die Psychoanalyse, und erst recht die wissenschaftliche Psychologie, ohne Modelle aus der Physik nicht aus.(117) Er allerdings greift die Quantentheorie von Max Planck(118) und die Relativitätstheorie Einsteins(119) auf, um zum Modell multikausaler Vernetzung von Kräften, von Energiemengen in der psychischen Konstitution zu gelangen. Wie die Quantentheorie und die Relativitätstheorie die klassische Mechanik als einen Sonderfall, als erste Näherung(120) begreifen, - und nicht als Basisaxiomatik, nach der alle übrigen Dinge funktionieren, - so werden auch Leben und Bewußtsein nicht mehr auf die ihnen gleichwohl innewohnenden mechanischen Prozesse reduziert, sondern als neue Qualitäten angesehen, »die als Resultat der Entwicklung der Materie entstanden sind. Dabei ist die mechanische Bewegungsform in allen höheren Bewegungsformen enthalten, ist in ihnen 'aufgehoben', macht jedoch nicht ihre Spezifik, ihr Wesen aus.«(121) Statt kausaler Erklärung, ätiologischer Engführung als Reduktion geistiger Prozesse auf die ihnen innewohnenden mechanischen Anteile, ist Perls wie der Physiker an Beschreibung interessiert, die alle Faktoren berücksichtigt. »Die kausale Erklärung gilt außerdem nur für isolierte Ereignisketten. In der Realität finden wir Überdetermination (Freud), oder Koinzidenz, d. h. viele Ursachen von größerer oder geringerer Bedeutung laufen in dem spezifischen Ereignis zusammen.«(122) Zentral im Modell der Multikausalität wird der Begriff der Funktion. »Die Vorstellung von der Funktion umfaßt die Koinzidenz eines Ereignisses sowie seines Urantriebs - seine Dynamik.«(123)

    Nicht Erklärung der Ursache eines Symptoms hilft weiter, sondern die genaue Beschreibung der Funktion, die es für den Patienten gegenwärtig hat.(124) Den verstellten Sinn im gesamten Feld und besonders in der Gegenwart zu finden ist entscheidend, weil darin der Grund liegt, das Symptom weiter aufrecht zu erhalten.(125) Die consecutio temporum als lineare Abfolge der einzelnen Momente des Ganzen, die Interpunktionen von Ereignisfolgen auf einem Zeitstrahl aufreiht, ist eine - noch von Herbart und Fechner stammende(126) - idealtypische Deduktionsvorstellung, die Gleichzeitigkeiten und Gewichtungen einzelner Faktoren nicht auszuloten vermag. Insbesondere der Einfluß gegenwärtiger Faktoren auf einen Seelenzustand wird in diesem mechanischen Zeitfolgemodell von Freuds Assoziationspsychologie vernachlässigt.(127)

    1.2.1.2.4 Freie Assoziation und Abstinenz als Manipulationsmittel

    In der analytischen Übertragungssituation kann nicht nur Projektion vergangener traumatischer Erfahrung relevant werden, sondern auch gegenwärtig Wahrgenommenes als Projektion gedeutet, und damit eine Vertauschung von Ursache und Wirkung stattfinden. Sie bleibt unbemerkt, weil die Axiomatik einer linearen Kausalität die Relevanz gegenwärtiger Einflüsse im Fokus des Analytikers eliminiert.(128) Die Retrospektive der auf Erinnern und Durcharbeiten fixierten Analyse kritisiert Perls als neurotisches Verhalten: als Realitätsvermeidung.(129) Gerade Überdetermination macht jeden Einfall mehrdeutig. So sehr Freuds »gleichschwebende Aufmerksamkeit« des Analytikers Wachheit für den gegenwärtigen Kontakt betont, so sehr sei sie als »Flucht in die Vergangenheit«(130) ineffizient, weil sie die therapeutische Begegnung nicht als Eigenständiges nehme, sondern nur als Wiederholung eines infantilen Verhaltensmusters.(131) Für Perls ist der Mensch kreatives Subjekt. Freuds freie Assoziation nutzt die Kontinuität zum alten Material, während sie die schöpferische Einzigartigkeit der therapeutischen Begegnung ignoriert. Die Erfahrung mit Harniks abstinenter Einhaltung der analytischen Grundregel läßt Perls Kritik am hierarchischen Input, an der manipulativen Grundstruktur des analytischen Settings erheben.(132) Mit der »Wiederkehr des Verdrängten«(133), dem Wiederholungszwang(134), hat Freud die Phänomene des Konditioniertseins im Ermessen der inhärenten Tragik zugespitzt, Herbarts Determinismus aus der blinden Mechanik zur Schicksalsmacht erhebend.(135)

    Fast noch mehr dem Lernidiom des Behaviorismus verhaftet ist Perls selbst, wenn er von Konditionierung ausdrücklich spricht(136) und seine Therapie als Rekonditionierung begreift.(137) Unter Aufnahme von Experimenten Lewins, bei denen ungelöste Probleme das Bewußtsein weiterbeschäftigten, kommt Perls zu einer produktiven Interpretation der Wiederholung: »Zwanghafte Wiederholungen sind auch keineswegs automatisch. Im Gegenteil, sie sind kraftvolle Versuche, wichtige Lebensprobleme zu lösen.«(138) Der geheime Sinn der Zwangshandlung ist die Übung der Problemlösung, der unentwegte Versuch, eine damalige unerledigte Situation mit möglicherweise ungeeigneten Mitteln zu Ende zu führen, die Tendenz zur guten Gestalt, zur Erfüllung, zur organismischen Befriedigung, zur Triebhomöostase, dem Gleichgewicht der seelischen Energien.(139) Im Unterschied zu Freud sieht aber Perls im Wiederholungszwang nicht das blinde Walten der Determination des Schicksals, sondern die schöpferische Subjektivität des beschädigten Menschen, die sich - und sei es auf noch so verschlungenen Wegen - Handlungsmuster zur Befriedigung ihrer verbogenen Wünsche entwickelt hat. Ziel der Therapie wird dann nicht mehr die »Aufhebung der Kausalzusammenhänge selber«(140), sondern die schöpferische Erfindung direkterer Wege der Befriedigung. Wenn Freud das Unbewußte zeitlos(141) nennt, so ist die Perlssche Prävalenz des Hier und Jetzt die therapeutische Konsequenz dieser Einsicht.

    1.2.1.3 Energiemodell und organismische Selbstregulation

    1.2.1.3.1 Konstanzprinzip, Neuronentheorie und Primärvorgänge

    Die von Herbart über Fechner(142), dann Meynert, von Brücke und Griesinger übernommene Theorie des Strebens nach Gleichgewicht der seelischen Kräfte(143) führt bei Freud zum »ökonomischen Standpunkt«, nachdem der »dynamische« die Zielrichtung der Triebe bestimmt hat: Ichtriebe der Selbstbehauptung und Objekttriebe der Herstellung sozialer Beziehungen dienen.(144) Wenn also die »Dynamik« der Trieblehre die Funktion und Zielrichtung der Triebe klärt, so betrachtet die »Ökonomie« die Energiequanten, die Größe der Erregung und die Regulation ihrer Abfuhr, geregelt vom Unlust-Lust-Prinzip.

    Die »Topik« wird das Modell des psychischen Apparats schließlich und drittens erweitern um die gestaffelte Bewußtseinsfähigkeit der Triebe, ihrer Repräsentanzen und Vorstellungsbildungen und der Konversionsmechanismen, mittels derer sie Energieabfuhr besorgen. Die durch zwei Zensurschwellen geteilte »Räumlichkeit« von Bewußtsein, Vorbewußtem und Unbewußtem, dient als Hilfsvorstellung der Verortung, ja der Verraumzeitlichung. Die Unsichtbarkeit seelischer Vorgänge soll damit zumindest theoretisch visualisiert werden, so wie die Freud vertraute Anatomie bei der Entdeckung der Neuronen und ihrer Kontaktgrenzen, der Synapsen, etwas Sichtbares war.(145) Ab 1923 wird er als Revision der Topik das Ich gegen das unbewußte Es mit den Anteilen Trieb, Verdrängtes und kulturell introjiziertem Über-Ich abgrenzen.

    Im »Entwurf einer Psychologie«(146) entwickelt Freud 1895 erstmals und rein deduktiv, ohne jedes klinische, induktiv erschlossene Material, das Modell der Energieverteilung im psychischen Apparat. Das von Helmholtz in die Medizin integrierte Konstanzprinzip Robert Mayers, nach dem im geschlossenen System keine Energie verloren geht, versucht Freud äquivalent zum Trägheitsprinzip zu entwickeln, nach dem ein System zur Reduktion seiner Quantitäten gegen Null hin tendiert.(147) Die Hoffnung vollständiger Energieneutralisierung, später als »Nirwana-Prinzip«(148) das Trägheitsgesetz erfüllend und als Glück empfunden, ist apriori gebrochen durch die beständige Reizung von Außen, die materiellen Notverhältnisse des struggle of life, die später mit dem Begriff der Realität belegt werden. Sie zwingt die narzißtische Idylle der seelischen Primärvorgänge(149) sich zu einer gleichsam »zweiten Natur« der Sekundärvorgänge zu entäußern, mittels derer zwischen Innen und Außen ein Kompromiß des Überlebens versucht wird. Das »Neuronensystem« des seelischen Apparats ist gezwungen, die Nulltendenz der Trägheit aufzugeben; es modifiziert diese primäre Tendenz »zum Bestreben, die Quantität... wenigstens möglichst niedrig zu halten und sich gegen Steigerung zu wehren, d.h. konstant zu halten.«(150) Das Bewußtsein mit seinen »W-Neuronen« der Wahrnehmung, den durchlässigen »f- oder Kern-Neuronen« der sensualen Perzeption und den undurchlässigen »q- oder Mantel-Neuronen« des speichernden Gedächtnisses hat die Aufgabe, »die äußere Quantität in Qualität zu verwandeln«(151) u.a. durch zeitliche Strukturierung, Periodizität, z.B. des Essens oder der Sexausübung. Nach diesem Energiemodell ist »Unlust« spannungsvolle Quantitätssteigerung, »Lust wäre die Abfuhrempfindung.«(152) Dieses energetische Selbstregulationsmodell vernachlässigt, daß gerade der Spannungsstau vor dem Orgasmus eben keineswegs nur qualvolle Unlustempfindung ist, sondern als recht lustvoll erlebt wird. Freud gibt diese Version erst 1926 in »Hemmung, Symptom, Angst« auf.(153) Die realen Bedrohungen der Außenwelt bekommen dann als Faktor der Unlustempfindungen das gebührende Gewicht.

    Der Solipsismus des Energiemodells gerät durch den Faktor Not, Realität und Angewiesensein auf die Außenwelt ins Wanken. Unlust als Bedürftigkeit weist das Betriebssystem Seele an die soziale und ökologische Umgebung: »Der menschliche Organismus ist zunächst unfähig, die spezifische Aktion herbeizuführen. Sie erfolgt durch fremde Hilfe, indem durch die Abfuhr auf dem Wege der inneren Veränderung ein erfahrenes Individuum auf den Zustand des Kindes aufmerksam gemacht wird. Diese Abfuhrbahn gewinnt so die höchst wichtige Sekundärfunktion der Verständigung und die anfängliche Hilflosigkeit des Menschen ist die Urquelle aller moralischen Motive.«(154) Selbst also das Pulsieren primärnarzißtischer Lust und Unlust ist nicht ohne die Mithilfe der sozialen Umwelt möglich, der menschliche Organismus ist zutiefst ein soziales Gebilde. Hier berührt sich das Apparatemodell mit dem Perlschen Organismusmodell in dessen konstitutioneller Feldbezogenheit.

    Natürlich hat sich der methodisch sauber isolierte Apparat Mensch nicht einmal an der hochprojektiven »Empathie« in die frühkindlichste - nach neuerer Säuglingsforschung keineswegs so autistische(155) - Reaktionsform bewährt: Freud muß sein zunächst noch streng neurophysiologisch gefaßtes Energiemodell erweitern um die Dimension der Sekundärvorgänge, in denen Kontakt hergestellt wird zwischen Innen und Außen. Im - anatomisch immerhin noch nahezu plausibel beschriebenen - Primärvorgang findet keine Unterscheidung zwischen Innen und Außen statt. Unlustlösung, also Wunscherfüllung, ist sowohl durch reale als auch halluzinatorische(156) Repräsentanz des Wunschobjekts, des mangelnden und dadurch ersehnten, begehrten »Gegenstandes«, z.B. der Brust, möglich. »Die Wunschbesetzung bis zur Halluzination, die volle Unlustentwicklung, die vollen Abwehraufwand mit sich bringt, bezeichnen wir als psychische Primärvorgänge; hingegen jene Vorgänge, welche allein durch gute Besetzung des Ich ermöglicht werden und Mäßigung der obigen darstellen, als psychische Sekundärvorgänge. Die Bedingung der letzteren ist, wie man sieht, eine richtige Verwertung der Realitätszeichen, die nur bei Ichhemmung möglich ist.«(157) Als Zentralorgan der Unterscheidung zwischen Illusion und Realität, Innen und Außen, hat das Ich zugleich die Aufgabe der Hemmung der Wunschbesetzung eines als nicht real verfüglich ausgemachten Objekts.(158) Dabei wird das Ich, die Ausarbeitung von 1923 vorwegnehmend, als »ein Netz besetzter, gegeneinander gut gebahnter Neuronen«(159) beschrieben, also konstant besetzt und zudem noch anatomisch lokalisierbar wie etwa bestimmte funktionale Zentren des Gehirns damit Paul Federns substanzhaften Begriff des Ich vorbereitend(160); es hemmt Primärvorgänge und prüft sie auf ihre Realitätsfähigkeit hin.

    Wie allerdings Hemmung als Nicht-Besetzung von Objekten quantitativ darstellbar sei, bleibt Freud selbst unklar: »Ich gestatte mir von jetzt an, die mechanische Darstellung solcher biologischer Regeln, die auf Unlustdrohung beruhen, schuldig zu bleiben; zufrieden, wenn ich von da aus einer anschaulichen Entwicklung treu bleiben kann.«(161) An dieser Stelle zerbröckelt das streng anatomisch angelegte ökonomische Modell ein weiteres Mal: Die qualifizierende Zensur der Wahrnehmung mag bei einer bestimmten Schwelle summierter Energiequanten umschlagen in der Reizbewertung(162), mag die Realitätsprüfung, die Urteilskraft des Ich aus »Qualitäts- und Realitätszeichen« konstituieren(163), die sich aus Nachrichten der afferenten »f-Neuronen« über den Pegel der Quantitäten ergeben. Aber letztlich ist nicht schlüssig, wie es von den rein quantitativen Primärprozessen der Lust und Unlust zur Genese der qualitativen Sekundärprozesse von Realitätsprüfung und Affekthemmung kommt. Freud kann die Anatomie der Sekundärprozesse nicht mehr mit anatomischer Erfahrung belegen. Die Grenze der Physiologie zum Geist hin ist erreicht.

    1.2.1.3.2 Sekundärvorgänge und Energiebindung im Denken

    Die Sprache schließlich markiert als ein institutionalisiertes System von wahrnehmungsunabhängigen Realitätszeichen den Übergang von der Biologie zur Philosophie: »Das Denken mit Besetzung der Denkrealitätszeichen oder Sprachzeichen ist also die höchste, sicherste Form des erkennenden Denkvorganges.«(164) Sie bindet Besetzungsenergie. »Durch diesen gebundenen Zustand, der hohe Besetzung mit geringer Strömung vereint, würde sich also der Denkvorgang mechanisch charakterisieren.«(165)

    Physikalisch ist der Breuersche Begriff gebundener Energie in der Form hoher Besetzung bei niedriger Strömung eine contradictio in adjectio. Mechanisch ist dieser Vorgang nicht exakt nachvollziehbar. Dies trifft die gesamte Problematik der Besetzungsenergie; bei Angst oder Liebesleidenschaft ist die physiologische Steigerung der Erregungssumme offensichtlich, greift die quantifizierende Darstellung. Beim Denken aber, eigentlich bei allen Transformationsprozessen, die mit Assoziation, Symbolisation, Sublimierung, Verschiebung, Projektion etc. beschrieben werden, gerät das Bild der Erregungsmenge ins Wanken. Die Hemmungsfunktion der Sekundärprozesse, die Freud Ich nennt, mindert ja gerade die Energiemenge. Der Begriff der Besetzung kann nicht mehr im Modus der Energiequanten beschrieben werden. Gerade an dieser Stelle schlägt das Vokabular der Mechanik vollends um ins Metaphorische, wird für die Mechanik ungreifbar, gerät zur philosophischen Spekulation. Der »ENTWURF ist der Abschied von der Anatomie in Form einer phantastischen Anatomie.«(166)

    Wenn Freud Denken als Probehandeln in kleinen Quantitäten bestimmt und Wortsymbole als Repräsentanzen von realen Objekten, so finden wir diese Theorie von Perls mit der Bemerkung der Energieersparnis im Vergleich zum Handeln selbst komplett und wörtlich reproduziert.(167) Perls weist auf diese Quelle seiner Theorie nicht eigens hin. Es ist eines der zahllosen Beispiele für seinen Eklektizismus ohne Quellenangabe. Es scheint, daß Perls mehr Freud an Einsichten verdankt, als er offenlegt.

    Der »Entwurf« von 1895 führt mit dem Konstanzprinzip inhärent die Idee der »Selbstregulierung eines psychischen Systems«(168) in die Psychoanalyse ein. Wenn Perls über die Berliner Schule und Goldstein später die organismische Selbstregulation als das zentrale Prinzip der Organismus/Umfeld-Interaktion beschreibt, so hat er zwar mit den Berlinern die theoretische Möglichkeit neurophysiologischer Laborversuche als Belege für das Homöostase-Postulat, macht aber faktisch nie Gebrauch davon. Ich vermute, daß Perls die Gestalttheorie als aktuellere und empirisch erhärtete Quelle für das eher spekulative und gerade nicht exakt ausmeßbare energetische Modell Freuds benutzt hat. Wie offen und offensichtlich auch immer - das Modell der organismischen Selbstregulation bei Perls fußt inhaltlich auf den frühen Grundlagen des Freudschen »ökonomischen Standpunktes«, des Energieverteilungsmodells mit seiner primären Unlustabfuhr und seinen sekundären Realitätsvermittlungen.

    Freud hat seine neuronalenergetische Theorie der Erregungsquanten im VII. Kapitel der »Traumdeutung« 1899 wieder aufgenommen.(169) Unter Berufung auf Fechner entwickelt er im Regressionsabschnitt erstmals eine Topologie ohne anatomische Korrelation. »Wir wollen ganz beiseite lassen, daß der seelische Apparat, um den es sich hier handelt, uns auch als anatomisches Präparat bekannt ist, und wollen der Versuchung sorgfältig aus dem Wege gehen, die psychische Lokalität etwa anatomisch zu bestimmen.«(170) Hier markiert sich die Wende von der Physik zur Hermeneutik, von der Anatomie afferenter, efferenter und speichernder Neuronen als Träger des Wahrnehmungs- und Reaktionsvermögens eines Organismus hin zu einer funktionalen Psychologie, in der die Lokalisation von »Instanzen« oder »Systemen« der Reizverarbeitung lediglich gleichnishaft zur Hilfsvorstellung einer »zeitlichen Folge«(171) geworden ist. Dabei legt Freud die Reflexbogentheorie der Neurophysiologie dem psychischen Reaktionsvermögen zugrunde, nach der sensorische Reizerregung kortikal in motorische Erregung transformiert wird, die muskuläre oder vegetative Reflexe auslöst.(172) Die sensorische, afferente Neuronalstruktur, von ihm als »f-Neuronen« bezeichnet, leitet die via Erregung elektrischer Spannungsexplosionen übermittelten Informationen, »immer frisch und aufnahmefähig«(173), an die »q-Neuronen« des Gedächtnisses weiter, welches »die momentane Erregung des ersten (afferenten Systems; M.L.) in Dauerspuren umsetzt.«(174)

    1.2.1.3.3 Erinnerung per Assoziation: Unbewußtes Vorbewußtes Bewußtes

    Die memorative Funktion der Engrammierung von Informationsreizen begründet die gesamte Freudsche Assoziationspsychologie und dient der Hermeneutik als Modell ihres methodologischen Vorgehens: gegenwärtige Vorstellungsgehalte, ob Traum, Phantasie, Fehlleistung oder Symptom, werden als Reaktualisierungen vergangener Reizimpulse, vergangener Reaktionsformen, noch zugespitzter im pathologischen Bereich: vergangener Verletzungen und ihrer traumatischen Erlebnisstruktur begriffen. Die Methode freier Assoziation und die analytische Hermeneutik in der Therapie dienen der Rekonstruktion des Originalvorfalls als der historischen Basis der Verknüpfung von Reizen, von Erlebnissen und Reaktionen zu einer fest sedimentierten Struktur, die Bestandteil der Persönlichkeitsbildung wird. »Unsere Wahrnehmungen erweisen sich auch als im Gedächtnis miteinander verknüpft, und zwar vor allem nach ihrem einstigen Zusammentreffen in der Gleichzeitigkeit. Wir heißen das die Tatsache der Assoziation.«(175) Sie »besteht darin, daß infolge von Widerstandsverringerung und Bahnungen von einem der Er(regungs; M.L.)- Elemente die Erregung sich eher nach einem zweiten als nach einem dritten Er-Element fortpflanzt.«(176) Freud nimmt mehrere solcher Erregungssysteme an, in denen das »Erinnerungsrohmaterial« in je verschiedenen Anordnungen gespeichert wird, etwa nach Analogiekategorien.(177) »Was wir unseren Charakter nennen, beruht ja auf den Erinnerungsspuren unserer Eindrücke, und zwar sind gerade die Eindrücke, die am stärksten auf uns gewirkt hatten, die unserer ersten Jugend, solche, die fast nie bewußt werden.«(178) Hier interpoliert Freud die Instanz der »Traumzensur«(179), deren »Arbeit«(180) im Widerstand (181) gegen die Bewußtwerdung der im Traum mit den entstellenden (182) »Mechanismen« der Verdichtung (183) und Verschiebung (184) dargestellten(185) und erfüllten (186) Wünsche besteht.

    Die memorative Funktion des Zerebralsystems als eine Vermittlungsinstanz zwischen afferenter Sensorik und efferenter Motorik, deren eine Form das Bewußtsein ist, wird vom Bewußtsein abgeschirmt durch die Zensur des Widerstands.(187) Die Analyse der »sekundären Traumbearbeitung«(188) illustrierte die Filterung des memorierten Materials. In der Informationsverarbeitung sinnlicher Wahrnehmung zu adäquaten Verhaltensstrukturen findet quasi als Verfeinerung der an Ganglien gebundenen einfachen Reflexreaktionen eine assoziative Engrammierung von Sinnesreizen, Erregungselementen in verschiedene Erregungssysteme statt. Diese memorativen Erregungssysteme bezeichnet Freud nun als das Unbewußte, als »das System Ubw«(189), während im Verarbeitungssystem als letzte Stufe zur Motilität und zugleich zur Bewußtwerdung das Zensursystem des Vorbewußten gelagert ist. »Das letzte der Systeme am motorischen Ende heißen wir das Vorbewußte, um anzudeuten, daß die Erregungsvorgänge in demselben ohne weitere Aufhaltung zum Bewußtsein gelangen können, falls noch gewisse Bedingungen erfüllt sind, z.B. die Erreichung einer gewissen Intensität, eine gewisse Verteilung jener Funktion, die man Aufmerksamkeit zu nennen hat...«(190)

    Was bei Perls dann mit Charlotte Selver als »awareness-Prinzip« therapeutisch Nutzen findet, die »gleichschwebende Aufmerksamkeit« eines Menschen für seine körperlich-seelischen Prozesse, ist bei Freud bereits als Schlüsselort zum Unbewußten ausgemacht.(191) Damit hat Freud nun die Topologie entwickelt: die Verortung des seelischen Apparats in der zeitlichen Abfolge von Sinnesreiz, afferenter Erregung, Weiterleitung durch verschiedene unbewußte und teils memorative Erregungssysteme bis zur Zensurschwelle, die ins Vorbewußte, Bewußtseinsfähige führt und von dort aus sowohl ins Bewußtsein, in die Aufmerksamkeit, als auch in die dann nicht mehr reflexhafte, sondern willkürliche Motorik.(192)

    Die Zensur des Widerstands gegen Bewußtwerdung, die Unbewußtes und Vorbewußtes trennt, sinkt im Schlaf herab.(193) Das Phänomen der Halluzination, unter das auch religiöse Visionen und schizophrene Erfahrung fallen, erklärt Freud als Regression: die memorativen Sedimente der Erregung fließen zurück an den Punkt, wo sie empfangen worden sind, in das Wahrnehmungssystem. »Anstatt gegen das motorische Ende des Apparats pflanzt sie (die Erregung; M.L.) sich gegen das sensible fort und langt schließlich beim System der Wahrnehmungen an.«(194)

    Freuds Behauptung: »Werden aber Erinnerungen wieder bewußt, so zeigen sie keine sinnliche Qualität...«(195), stimmt in keiner Weise mit seiner eigenen Therapieerfahrung überein: »Es ist auch bekannt, daß selbst bei Personen, die sonst im Erinnern nicht visuell sind, die frühesten Kindererinnerungen den Charakter der sinnlichen Lebhaftigkeit bis in späte Jahre bewahren.«(196) Die Entspannung auf der Couch verhindert die starke Involvierung, die in der Aktionsphase des gestalttherapeutischen Prozesses zu einer so massiven Reaktivierung der infantilen Erlebnisstruktur kommt, daß bis in Sprache, Gestik und innere, bis zur Halluzination reichende Wahrnehmung die kindliche Erfahrung affektiv auflebt. An dieser Stelle läßt sich gut erkennen, wie das analytische Setting Freuds ihm auch mögliche Erkenntnisdimensionen verwehrt hat.

    1.2.1.3.4 Regression und Wunscherfüllung als Problemlösungswege

    Freuds Topik als ein in der erweiterten neuronalen Reflexbogentheorie fundiertes Strukturmodell des sensomotorischen Apparats hat die Grundlage für eine Gedächtnispsychologie geliefert, die es erlaubt, die Reaktivierung engrammierter Potentiale zu erklären. So wird der Traum als Regression verstanden, »als der durch Übertragung auf Rezentes veränderte Ersatz der infantilen Szene. Die Infantilszene kann ihre Erneuerung nicht durchsetzen; sie muß sich mit der Wiederkehr als Traum begnügen.«(197) Als tiefste Stufe der Regression im Traum erleben wir nicht nur die »Wiederbelebung der Kindheit«, sondern gar die der »phylogenetische(n) Kindheit«, der »archaischen Erbschaft des Menschen«, des »seelisch Angeborene(n)«.(198)

    In dieser Regression im Traum findet Wunscherfüllung statt. »Der Wunsch, welcher sich im Traume darstellt, muß ein infantiler sein. Er stammt beim Erwachsenen aus dem Ubw; beim Kind, wo es die Sonderung und Zensur zwischen Vbw und Ubw noch nicht gibt oder wo sie sich erst allmählich herstellt, ist es ein unerfüllter, unverdrängter Wunsch des Wachlebens.«(199)

    1.2.1.3.5 Tagesrest und Unerledigtes, Verdrängtes und die Not des Lebens

    Diese Entdeckung der Weiterbeschäftigung mit Unlust, der memorativen Aktivität an unerfüllter Bedürfnislage, ist in der Gestalttherapie zum Begriff der »offenen Gestalt«, der »unerledigten Situation« als Ausdruck des Verdrängten geworden. Indes ist die Lewinsche »Tendenz zur guten Gestalt« offensichtlich weniger sprachprägend für Perls geworden als die Freudsche Formulierung: »Unerledigte Probleme, quälende Sorgen... setzen die Denktätigkeit auch während des Schlafens fort...«(200) Ich vermute, daß aus der Wunscherfüllungsthese Freuds die zentrale Kategorie der »unerledigten Situation«, der »unvollständigen Gestalt« bei Perls(201) hervorgegangen ist.(202) Fast wirkt es verdeckend, wenn er den gestaltpsychologischen Vollständigkeitsbegriff(203) als Vater der Kategorie des »Unerledigten« heranholt und Lewins Gedächtnisversuche der besseren Erinnerungsleistung an ungelöste als an gelöste Probleme als Belege der selbstregulativen Organismustendenz zu einer Problemlösung bzw. Wunscherfüllung gegen Freuds Libidotheorie anführt.(204)

    Denn gerade die Wunscherfüllung bezeichnet ja Freud als den Sinn, die Funktion des Traumes oder Symptoms und stimmt völlig damit überein, daß die memorative Funktion des Unbewußten sich mehr der Unlustabfuhr - das genau wäre Problemlösung - widmet als dem Schwelgen in Lusterinnerungen. Oder genauer: Gerade das Schwelgen in Lusterinnerung hat die Funktion, die Unlustgefühle aufgrund ungelöster Probleme, fehlender Befriedigung der Bedürfnisse, zu kompensieren. Phantasierte Erfüllung im Traum kompensiert in der erlebten Realität unerfüllte, möglicherweise (noch) nicht erfüllbare Bedürfnisdispositionen. Lust wird da geschaffen, wo Mangel kompensiert, Überfluß abgeflossen ist, Erregungsquanten gegen Null streben. Der Traum stellt dazu einen Versuch dar. Er ist Katharsis. Bei Freud ist keine Rede von Fixierung der Libido auf die Lusterfahrungen der Befriedigung(205), sondern umgekehrt findet eine Fixierung auf die verwehrten Bedürfnisse und die Situationen der Versagung, der traumatischen Ausschlußverfahren aus öffentlich lizensierter Kommunikation, statt. Die fixierte Libido haftet sozusagen an dem Punkt, wo die Erfüllung gestört wurde, rastet immer wieder an dieser Stelle der Kommunikation ein und markiert die Wunde, reinszeniert die Verwundung im Modus der Entstellung.(206)

    Auch wenn Perls gestaltpsychologisch argumentiert in seiner Problemlösungstheorie: der Vorläufer dieser Argumentationsfigur ist im Wunscherfüllungstheorem der »Traumdeutung« geprägt. Einiges spricht dafür, daß dies die originäre Quelle für die Zentrierung auf das Problem der Unlustlösung ist, welches im Idiom der Gestalttheorie als »geschlossene Gestalt« den Vorgang vom Aufkeimen bis zur vollständigen Befriedigung eines Wunsches oder Bedürfnisses markiert. Die die gesamte »Traumdeutung« durchziehende Theorie der »Tagesreste«, die im Traum die Imagination weiterbeschäftigen und das Unerfüllte phantastisch zu erfüllen suchen(207), bezeichnet präzise die Struktur der Erledigung von Unerledigtem, die Vervollständigung unvollständig gebliebener, offener Situationen. »Die Kinderträume lassen ja keinen Zweifel darüber, daß ein bei Tage unerledigter Wunsch der Traumerzeuger sein kann.«(208) Die Träume haften geradezu am »Unerledigten«, sowohl lustvolle als auch angstvolle. »Es ist also nicht schwer zu erkennen, daß die Unlust- und Angstträume im Sinne der Theorie ebenso sehr Wunscherfüllungen sind wie die glatten Befriedigungsträume. Unlustträume können auch 'Strafträume' sein.«(209)

    1930 fügt Freud an dieser Stelle an, daß mit der Verdrängung, die auf Sanktionierung der Wünsche durch die soziale Umwelt folgt, die Kategorie des Über-Ich ins Spiel kommt.(210) Gerade Tagesreste erfüllter, aber verbotener Wünsche können nachträglich das Über-Ich aktivieren und die erwartete, ausgebliebene Strafe imaginieren, damit den »Strafwunsch« des Über-Ich erfüllend. Die von Freud eingeführte Kategorie des »Peinlichen«(211) deutet auf die Subtilität der gesellschaftlichen Ausgrenzungsverfahren hin, Zeichen einer viel effizienteren Verdrängungsmotivierung als die archaistische Kastrationsdrohung der ödipalen Situation, die wohl eher als ein von Freud phantasierter Sonderfall der Triebunterdrückung begriffen werden muß.(212)

    Dabei stellt Freud fest, daß die »Tagesreste«, das Unerledigte, sich assoziieren mit infantilen, unbewußt gewordenen Wünschen, die quasi Verstärkerwirkung haben: »Ich stelle mir vor, daß der bewußte Wunsch nur dann zum Traumerreger wird, wenn es ihm gelingt, einen gleichlautenden unbewußten zu wecken, durch den er sich verstärkt.«(213) Der unerfüllte Kinderwunsch tritt als ins Unbewußte Verdrängtes verstärkend zum Tagesrest. In dieser Assoziation zeitlich so disparater Erlebnisse tritt eine Verschiebung der Intensitäten, eine Übertragung von der sinnlichen Unabweisbarkeit des Kinderwunsches auf den Tagesrest ein, wiederum im Modell der Erregungsquanten als Besetzungsenergie vorgestellt: »In den meisten Träumen läßt sich ein mit besonderer sinnlicher Intensität ausgestattetes Zentrum erkennen, ... die direkte Darstellung der Wunscherfüllung«.(214) Der verdrängte Wunsch des Unbewußten benutzt quasi den rezenten Tagesrest als Vehikel der Darstellung. Es findet eine Übertragung der verdrängten Wunschintensität, der Triebkraft, auf den Tagesrest, das Rezente des Vorbewußten statt.(215) Übertragung und Assoziation sind zwei Aspekte einer Bewegung: In der Wahrnehmung sind die Elemente der inneren und äußeren Realität durch die Konstellation assoziiert, in der sie der sensualen Perzeption entgegentreten: als Objektivität. Memorativ werden sie nach dieser kontingenten Konstellation, nach dem Zusammentreffen der Sinneseindrücke in ihrer Gleichzeitigkeit oder zeitlichen Abfolge engrammiert. Dies wäre eine primäre Assoziation. In einer sekundären Assoziation werden sie quasi wieder wachgerufen durch Analogien, durch gleichartige Sinnesreize äußerer oder innerer Natur, durch Realität oder Unlust. In dieser sekundären Assoziation aktueller Sinnesreize mit memorierten, assoziativ engrammierten, vergangenen Wahrnehmungen findet eine dritte Verknüpfung statt: die Verknüpfung der damaligen, unbewußt gespeicherten Erlebnisintensität und Triebkraft. Ein Erinnerungsgefüge wird libidinös besetzt mit einer aktuellen sensualen Analogie. Diese dritte Form der Assoziation, der Verbindung damaliger Triebkraft mit heutiger Analogsituation, ist das eigentliche Phänomen der Übertragung, welches Freud in der analytischen Situation als Brücke zu der gesamten damaligen erlebten Szene nutzt. Übertragung in der therapeutischen Beziehung und freie Assoziation der Vorstellungen sind demnach phänomenal zwei völlig gleichartige Vorgänge und Methoden des hermeneutischen Rückschlußverfahrens.(216)

    Um die genuine Bestimmung des Traums als Wunscherfüllung genauer zu beschreiben, greift Freud auf das im »Entwurf« von 1895 entwickelte Konstanzprinzip neuronaler Erregungsquanten zurück.(217) Der psychische Apparat, im Bestreben, sich möglichst reizlos zu halten, führt im Reflexbogen »eine von außen an ihn anlangende sensible Erregung alsbald auf motorischem Wege« ab.(218) Diese primäre Idylle des Nervenkostüms ist aber nur eine gedachte, eine Art Nullpunkt der Bereitschaft. »In der Form der großen Körperbedürfnisse tritt die Not des Lebens zuerst an ihn heran. Die durch das innere Bedürfnis gesetzte Erregung wird sich einen Abfluß in die Motilität suchen, die man als 'Innere Veränderung' oder als 'Ausdruck der Gemütsbewegung' bezeichnen kann. Das hungrige Kind wird hilflos schreien oder zappeln.«(219) Erst fremde Hilfeleistung der stillenden Mutter mindert diese kontinuierlich wirkende Kraft der Bedürfnisse, die einen Anstieg innerer Erregung im psychischen Apparat verursachen. Mit der Stillung des Bedürfnisses wird der als Unlust empfundene Erregungsstau abgeführt; dabei wird im Befriedigungserlebnis die »Gedächtnisspur der Bedürfniserregung« mit dem »Erinnerungsbild« des »Befriedigungserlebnisses« assoziiert.(220) »Sobald dies Bedürfnis ein nächstesmal auftritt, wird sich, dank der hergestellten Verknüpfung, eine psychische Regung ergeben, welche das Erinnerungsbild jener Wahrnehmung wieder besetzen und die Wahrnehmung selbst wieder hervorrufen, also eigentlich die Situation der ersten Befriedigung wiederherstellen will. Eine solche Regung ist das, was wir einen Wunsch heißen«(221).

    1.2.1.3.6 Befriedigungsversuche: Denken, Motilität, Traum, Symptom

    Die einfachste, regressive Wiederherstellung der Befriedigungssituation ist die Halluzination der Erinnerung. Im Wunsch besetzt der psychische Apparat also die vorgestellte Szene mit Triebkraft. Das Bedürfnis ist durch die an seine Befriedigung assoziierte Vorstellung darstellbar, präsentierbar geworden. Der Trieb hat seine repräsentative Vorstellung gefunden. Er hat eine Szene oder ein Bild, ein Objekt »besetzt«. Dieser primäre Befriedigungsversuch per Halluzination ist aber nur kurzlebig. Darum muß der psychische Apparat eine sekundäre Form der Befriedigung suchen, die nachhaltiger ist, muß durch die Prüfung der Nachhaltigkeit einer Befriedigung ihre tatsächliche Wirksamkeit, ihre Realität prüfen.(222) Der primäre, halluzinatorische Weg wird dann gehemmt.

    Durch Realitätsprüfung und Hemmung der primären Abfuhrversuche von Erregungsenergie findet das Ich dann in den Sekundärprozessen einen zweckmäßigeren Weg zur realen, dauerhafteren Befriedigung der Bedürfnisse: über das »Tor zur Motilität«, mittels derer die Realität dahingehend verändert wird, daß sie den Triebwunsch erfüllt, Befriedigung und Stillung der Bedürfnisse verschafft.(223) Lediglich der Traum und die seelischen Krankheiten stellen noch Relikte der Primärvorgänge und ihrer Reaktionsformen dar. »Das Träumen ist ein Stück des überwundenen Kinderseelenlebens. In den Psychosen werden diese sonst im Wachen unterdrückten Arbeitsweisen des psychischen Apparats sich wiederum Geltung erzwingen und dann ihre Unfähigkeit zur Befriedigung unserer Bedürfnisse gegen die Außenwelt an den Tag legen.«(224) Damit ist das Rätsel auch aller psychoneurotischen Symptome gelöst in dem Verstehen, daß und wie »auch sie als Wunscherfüllungen des Unbewußten aufgefaßt werden müssen.«(225) Dabei sind die unbewußten Wünsche »immer rege«, ja »unzerstörbar«. »Im Unbewußten ist nichts zu Ende zu bringen, ist nichts vergangen oder vergessen... Die Kränkung, die vor dreißig Jahren vorgefallen ist, wirkt, nachdem sie sich den Zugang zu den unbewußten Affektquellen verschafft hat, alle die dreißig Jahre wie eine frische. Sooft ihre Erinnerung angerührt wird, lebt sie wieder auf und zeigt sich mit Erregung besetzt, die sich in einem Anfall motorische Abfuhr verschafft. Gerade hier hat Psychotherapie einzugreifen. Ihre Aufgabe ist es, für die unbewußten Vorgänge eine Erledigung und ein Vergessen zu schaffen.«(226) Entgegen dem Satz, Zeit heile alle Wunden, konstatiert Freud für das Unbewußte Zeitlosigkeit(227) und für den Wunsch Unzerstörbarkeit. Demnach ist das Therapieziel, »das Ubw der Herrschaft des Vbw zu unterwerfen«(228), mühevoll ein »Abblassen der Erinnerungen« und »die Affektschwäche der nicht mehr rezenten Eindrücke« zu erreichen, ein schier aussichtsloses Unterfangen. Die schroffe Schärfe von Freuds Analytik desillusioniert jede allzu vollmundige Prognose möglicher Heilung durch Psychotherapie.

    Das Perlsche Vorhaben, »Unerledigtes« zu »erledigen«, kathartisch dem fixierten Affekt im Unbewußten etwas von seiner Energie zu entwenden, indem er dem Bewußtsein überstellt wird, bleibt ein Kampf. Perls ersetzt Freuds im »Entwurf« und nur in der »Traumdeutung«(229) noch einmal verwendeten Begriff der »Aufmerksamkeit« durch »awareness«. Oder mit diesem fragwürdig unphysikalischen Physikalismus Breuers gesprochen: gebunden wird durch die energetische Besetzung, die das Denken kennzeichnet. Die therapeutische Wirkung des Traumes als primärprozeßhafte Regression halluzinierter Erinnerung bildet den Kompromiß kathartischer Energieabfuhr bei ausgeschalteter Motorik, die keine reale Schäden anzurichten vermag.(230) Wie im »Entwurf« nimmt Freud auch in der »Traumdeutung« die Hydraulik der fließenden Erregungsquanten an: »Wir glauben, daß von einer Zielvorstellung aus eine gewisse Erregungsgröße, die wir 'Besetzungsenergie' heißen, längs der durch diese Zielvorstellung ausgewählten Assoziationswege verschoben wird.«(231) Verdrängung kann so beschrieben werden als Abzug der »Aufmerksamkeitsbesetzung« eines vorbewußten Gedankens, der dem Unbewußten überstellt wird, wenn seine »Intensität« zu hoch ist, um seine Erregungsenergie auf andere Vorstellungen »diffundieren« zu lassen.(232)

    Wie eine Vorstellung ihre Besetzungsenergie an eine andere abgeben kann, so kann sie umgekehrt die Energiebesetzung einer oder vieler anderer aufnehmen im Verschiebungs- und Verdichtungsvorgang wachsender Besetzungsintensität.(233) Während das Lustprinzip des Primärsystems »auf freies Abströmen der Erregungsquantitäten gerichtet ist«(234), hemmt das Sekundärsystem zwecks zweckmäßiger Veränderung der Außenwelt, die gut überlegt sein will, zunächst die Affektimpulse und das Abströmen der Energie in die Motilität. Hat es dann aber »seine probende Denkarbeit beendigt, so hebt es auch die Hemmung und Stauung der Erregungen auf und läßt dieselben zur Motilität abfließen.«(235)

    Freud konstatiert, daß die Hemmung der Energieströme das große Geheimnis bleibt, für das die hydraulische Hypothese nicht wirklich greift: »Der Zweckmäßigkeit zuliebe postuliere ich also, daß es dem zweiten System gelingt, die Energiebesetzungen zum größeren Anteil in Ruhe zu erhalten und nur einen kleineren Teil zur Verschiebung zu verwenden. Die Mechanik dieser Vorgänge ist mir ganz unbekannt«(236), jedenfalls »an ganz andere mechanische Verhältnisse geknüpft«(237).

    Der »Sekundärvorgang« des Denkens strebt im Unterschied zum »Primärvorgang« regressiver halluzinatorischer Identität von Lust mit der Befriedigungserinnerung eine »Denkidentität« der Lust mit dem »Umweg« der motilen Außenweltveränderung zum Zwecke der Befriedigung an.(238) »Die Tendenz des Denkens muß also dahin gehen, sich von der ausschließlichen Regulierung durch das Unlustprinzip immer mehr zu befreien und die Affektentwicklung durch die Denkarbeit auf ein Mindestes, das noch als Signal verwertbar ist, einzuschränken.«(239) Während aber die Hemmung des Denkens eher ein kurzes Innehalten im Strom der vitalen Erregungsvorgänge ist, stellt die Verdrängung eine »Affektverwandlung« dar, die unter dem normativen Horizont der zensorischen »Zielvorstellungen des sekundären Denkens« inkompatible infantile Wunschregungen ihres ursprünglichen Lustcharakters beraubt und ihm den Unlustcharakter des Peinlichen und Ekelhaften verleiht.(240) Demnach scheint das Sekundärsystem dem psychischen Apparat eine ganz neue Qualifikation von Lusterlebnis zu geben. Streng genommen müßte hier von einer sekundären Lustdisposition gesprochen werden. Freud spielt den Konflikt von infantiler Lust und gesellschaftlicher Triebzensur als einen innerpsychischen durch: die verdrängten Vorstellungen, der Energiebesetzung und damit der Existenz im Vorbewußten entzogen, entfalten ihr Eigenleben im Unbewußten.(241)

    1.2.1.3.7 Bewußtsein und Unbewußtes zwischen Lust und Realität

    Das Unbewußte, zu dessen Kenntnis die Traumdeutung die »Via regia«(242) ist, »ist der größere Kreis, der den kleineren des Bewußten in sich einschließt; alles Bewußte hat eine unbewußte Vorstufe, während das Unbewußte auf dieser Stufe stehenbleiben und doch den vollen Wert einer psychischen Leistung beanspruchen kann. Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane.«(243) Aufmerksamkeit, Bewußtsein und Denken sind als Sekundärprozesse das genetisch später entwickelte Potential, statt instinktiver Reflexe ein komplexeres und variableres Vermögen, die Konfliktlage zwischen innerer und äußerer Natur des kulturgeschichtlich sozialisierten Menschen auszugleichen. Freud differenziert dabei noch einmal das Vorbewußte als den Teil des Unbewußten, der potentiell »bewußtseinsfähig« ist, vom nicht bewußtseinsfähigen Triebteil (244), zu dem er später auch das Verdrängte hinzurechnet.(245)

    Für das Bewußtwerden muß eine sensorische Erregung »eine unabänderliche Reihenfolge, einen Instanzenzug« vom Unbewußten über eine Zensurschwelle ins Vorbewußte durchlaufen, welches seinerseits eine Art »Schirm« zwischen Ubw und Bw bildet, um von da aus noch ein zweites Mal zensiert, endlich ins Bewußtsein zu gelangen.(246) Die Unterscheidung von sensorischen und vegetativen Afferenzen als der Wahrnehmung von Außenweltreizen und Organreizen der inneren Natur beschreibt neurologisch die Konfliktsituation des Bewußtseins: indem beide, äußere und innere Natur im erregenden Reiz über das vom »Entwurf« her bekannte »Wahrnehmungssystem W« ihre Forderungen geltend machen, tritt das Bewußtsein in die Position eines Konfliktwalters zwischen Triebnatur und Realität der Welt.

    Dabei betont Freud zugleich schon die Reflexivität des Bewußtseins, welches sich, im Konflikt zwischen innerer und äußerer Natur stehend, begreifen kann. »Der psychische Apparat, der mit dem Sinnesorgan der W-Systeme der Außenwelt zugekehrt ist, ist selbst Außenwelt für das Sinnerorgan des Bw, dessen teleologische Rechtfertigung in diesem Verhältnisse ruht... Das Material an Erregungen fließt dem Bw-Sinnesorgan von zwei Seiten her zu, von dem W-System her... und aus dem Innern des Apparats selbst«.(247) Dabei fällt dem Bewußtsein die Verteilung der psychischen Energiequanten als dem obersten Konfliktregulator zu. »Indem es neue Qualitäten wahrnimmt, leistet es einen neuen Beitrag zur Lenkung und zweckmäßigen Verteilung der mobilen Besetzungsquantitäten.«(248) Es qualifiziert Quantitäten, das Primärsystem des Ubw war lediglich zur Verschiebung von Energiequanten nach dem Konstanzprinzip und dem Trägheitsprinzip der homöostatischen Ausgleichsabströmung in der Lage.(249)

    Freud vermutet, »daß das Bewußtsein dieser Qualitäten eine zweite und feinere Regulierung hinzutut, die sich sogar der ersteren widersetzen kann und die Leistungsfähigkeit des Apparats vervollkommnet, indem sie ihn gegen seine ursprüngliche Anlage in den Stand setzt, auch was mit Unlustentbindung verknüft ist, der Besetzung und Bearbeitung zu unterziehen.«(250) In dieser Fähigkeit der qualifizierenden Regulation der Besetzungsenergie - auch gegen die primären Reaktionsmuster - besteht der Unterschied von Mensch und Tier: »Die Denkvorgänge sind nämlich an sich qualitätslos bis auf die sie begleitenden Lust- und Unlusterregungen, die ja als mögliche Störung des Denkens in Schranken gehalten werden sollen. Um ihnen eine Qualität zu verleihen, werden sie beim Menschen mit den Worterinnerungen assoziiert, deren Qualitätsreste genügen, um die Aufmerksamkeit des Bewußtseins auf sich zu ziehen und von ihm aus dem Denken eine neue mobile Besetzung zuzuwenden.«(251) Die Regulierung der primären psychischen Energiequanten im Bewußtsein durch dessen, nach einem gewissermaßen zweiten Lustprinzip funktionierende, Urteilskraft, seine Fähigkeit zur Unterscheidung der eigenen psychischen Regungen, ist nur möglich geworden durch etwas, was den Primärprozessen gleicht: der Kopplung einer (Un)Lust-Erinnerung mit einem Symbol, dem Wort. Indem die Lust oder der Schmerz benannt werden, entsteht die Übertragung der Lust auf das Wort. Mittels dieser Verschiebung der Besetzungsenergie, die aus dem Primärbereich stammt, wächst das Instrumentarium des Bewußtseins heran, welches, selbst von Lustbesetzung lebend, die Lustbesetzung des psychischen Apparats im Blick auf die Vermittlung von Stoffwechsel und Austausch zwischen innerer und äußerer Natur zu optimieren vermag.

    1.2.1.3.8 Leiblichkeit und die Differenz von Somatischem und Psychischem

    Freud hat an diesem energetischen Grundmodell zeitlebens festgehalten. Auch »Jenseits des Lustprinzips« und »Das Ich und das Es« bauen zentral auf dem ökonomischen Standpunkt der die klassische Mechnik nur mehr als Metapher benutzenden Hydraulik des neuronalen Stoffwechsels auf. Damit ist bereits vor Friedländer, Smuts und der Gestalttheorie das Konzept organismischen Gleichgewichts bereitgestellt. Dabei führt Perls die Freudsche Begrenzung auf einen rein psychischen Apparat nicht fort; er versucht, die aus wissenschaftlicher Strenge betriebene Selbstbeschränkung des Geltungsbereichs der analytischen Metapsychologie auszudehnen auf den Leib als Ganzes. Allerdings dürfte die begriffliche Engführung des Psychischen bei Freud faktisch genau die Ganzheit der leiblichen Existenz des Menschen treffen, weil jedes Lebenszeichen dieses Leibes neuronal vermittelt und damit psychisch ist. Gerade die Energetik ist ja der Versuch Freuds, die Psychologie als Phänomenologie seelischer Regungen als materiellen Vorgang, als somatisch konstituierte Reaktionsform des Leibes, zu beschreiben. Die Primärprozesse, das Unbewußte, all das sind zutiefst somatische Funktionen des Organismus und als solche von Freud dargestellt, ohne indes sie als somatisch fundierten Ausdruck des Somatischen selbst zu bezeichnen. Die Differenz zur organismischen Stoffwechselregulation in Perls' Theorie ist keine phänomenale, sondern nur eine nominale: die Verwendung einer anderen Metaphorik.

    1.2.1.4 Libidotheorie: Genese der Lust

    1.2.1.4.1 Sexualmißbrauch als Ursprung von Hysterie und Neurose

    Freuds schillernder Begriff der Libido als des sexuellen Verlangens(252), der Kraft, mit der sich der Sexualtrieb ausdrückt(253), als einer besonderen Qualität psychischer Erregung(254), und schließlich als des chemischen Prozesses der Sexualvorgänge(255), hat zu manchen Mißverständnissen geführt, nicht zuletzt bei Perls(256). Dabei ist in seinem genetischen Phasenmodell das Primat der Genitalität erst die letzte Entwicklungsstufe nach Oralität und Analerotik.(257)

    1896 in »Zur Ätiologie der Hysterie« vermutet er noch sehr fragend: »Aber hat man nicht ein Recht anzunehmen, daß es auch dem Kindesalter an leisen sexuellen Erregungen nicht gebricht, ja, daß vielleicht die spätere sexuelle Entwicklung durch Kindheitserlebnisse in entscheidender Weise beeinflußt wird?«(258) Freuds frühe Verführungshypothese des sexuellen Kindesmißbrauchs(259), später von ihm relativiert als phantasierte, als sogar vom Kind gewünschte Verführung, führt hysterische Symptome auf infantile Traumata zurück, die wirken, wenn sie »die betreffende determinierende Eignung« und »die nötige traumatische Kraft«(260) besitzen: strukturierte Überstimulation führte zur Wiederholungserinnerung des Symptoms.

    Die Entdeckung der »erogenen Zonen« um Mund und After formuliert Freud im Brief an Wilhelm Fließ vom 6.12.1896.(261) Zwei Jahre später, nachdem er im Sommer 1897 seine Selbstanalyse begonnen hat, erweitert er seine Vermutungen in »Die Sexualität in der Ätiologie der Neurose«.(262) Die Psychoneurose ist nicht in einer degenerativ vererbten »neuropathischen Disposition« irreversibel gegeben, wie die damalige Psychiatrie behauptete. »Ihre wirkliche Ätiologie ist zu finden in Erlebnissen der Kindheit, und zwar wiederum - und ausschließlich - in Eindrücken, die das sexuelle Leben betreffen. Man tut unrecht daran, das Sexualleben der Kinder völlig zu vernachlässigen; sie sind, soviel ich erfahren habe, aller psychischen und vieler somatischen Sexualleistungen fähig.«(263) Freud entwickelt die Idee, die Vermeidung sexueller Aktivität in der Kindheit diene einer Aufspeicherung der Triebkräfte, die »dann bei ihrer Entfesselung zur Zeit der Pubertät großen kulturellen Zwecken« dienen.(264) Daher wirken infantile sexuelle Erlebnisse pathogen, reproduzieren später in der Neurose ein »Erstarken der von ihnen ausgehenden libidinösen Impulse«. (265) Diese »libidinösen Impulse« lassen sich als sexuelle Begierde, als Wollust auffassen, die im neurotischen Prozeß einer Zielverhemmung unterworfen wird.(266)

    Während Freud in der »Traumdeutung« nur spärliche Andeutungen über die inzestuösen Wünsche des Kinderseelenlebens im Zusammenhang des Ödipuskonfliktes macht(267), ja sogar die Kindheit glücklich preist, »weil sie die sexuelle Begierde noch nicht kennt«(268), konzediert er 1901 in »Über den Traum«: »Seitdem wir die in ihren Äußerungen oft so unscheinbare, regelmäßig übersehene und mißverstandene infantile Sexualität kennen gelernt haben, sind wir berechtigt zu sagen, daß fast jeder Kulturmensch die infantile Gestaltung des Sexuallebens in irgend einem Punkte festgehalten hat, und begreifen so, daß die verdrängten infantilen Sexualwünsche die häufigsten und stärksten Triebkräfte für die Bildung der Träume ergeben.«(269)

    Einen Überblick über seine Theorie infantiler Sexualität gibt Freud 1906(270), wobei er die Verführungstheorie zugunsten der Relevanz von Phantasiebildungen aufgibt.(271) Hier markiert sich die generelle Wende in der Trauma-Theorie.(272) Pathogene Wirkung des traumatischen Vorfalls entsteht nun nicht mehr nur durch strukturierte Überstimulation im Abusus des asexuell-virginalen Kindes, sondern durch ein unerträgliches Zuviel, welches das Kind abwehren will(273); aber der Reizschutz der Abwehr, die Verdrängung, »mißlingt«, bleibt in der Zwangsvorstellung virulent.(274)

    Die Symptome Hysterischer sind Kompromißbildungen »zwischen der Libido und der Sexualverdrängung«(275) »und die Neurose führt sich auf eine zu weit gehende Verdrängung der libidinösen Strebungen zurück.«(276) Nachdem Freud nicht nur bei »Gestörten«, sondern auch bei »Normalen« in ihrer Kindheit reiche sexuelle Erfahrungen konstatieren mußte, sieht er das Schädigende nicht mehr in dem Überhaupt früher Sexualerfahrung, sondern in den Erlebnissen, die gegen den Willen des Kindes geschehen, seine Abwehr hervorrufen und zur Widerstandsreaktion von Verdrängung führen. Die Motivierung der Abwehr durch die Inzestschranke ödipaler Moral und Machtdrohung reflektiert Freud noch nicht. Sah Freud anfangs Hysterie und Zwangsneurose begründet im Kindheitstrauma sexuellen Mißbrauchs, so nun in der Verdrängung der infantilen Sexualerlebnisse. Traumatisch wirkt der Motor der Verdrängung, das Verbot. Die Ätiologie hat sich als vollständig revers zur Anfangsthese erwiesen.

    Durch konsequente klinische Phänomenologie führt der programmatische Determinismus Freud zur Erkenntnis einer diffizilen, polyvalenten Multikausalität oder Überdetermination der Neurose.(277) In den Krankengeschichten tastet er jede einzelne Determinante energetisch-quantitativ gewichtend und qualitativ strukturbestimmend ab.

    1.2.1.4.2 Erogene Zone, Partialtrieb, polymorph-perverse Kindlichkeit

    Wissend, »daß die Symptome die Sexualbetätigung der Kranken darstellen«(278), definiert Freud Neurose als »Störungen der Sexualvorgänge, jener Vorgänge im Organismus, welche die Bildung und Verwendung der geschlechtlichen Libido bestimmen. Es ist kaum zu vermeiden, daß man sich diese Vorgänge in letzter Linie als chemische vorstelle«(279). Libido wird hier energetisch als Kraft begriffen, als chemischer Prozeß von Energiequanten, die somatisch als Stoffwechsel, psychisch als sexuelle Erregung lustvoller und kraftvoller Entladung harren.

    Auf dem »Chemismus« oder Mechanismus der Erregung durch »Hautreizung«, Reizung der Vestibularnerven und tieferer Einwirkung auf Muskeln und Gelenke basiert auch die Herleitung infantiler Sexualität in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«.(280) In der Analyse der »sexuellen Abirrungen« von der »Normalität« des stracks auf Fortpflanzung gerichteten Genitalverkehres gelangt Freud zur Bestimmung der Perversion als in der Genese der infantilen Sexualität stagnierter Fixierung auf prägenitale Praktiken.(281) Hierbei entwickelt er den Begriff des »Partialtriebs«, der als sexuelle Erregung durch eine »motorische Impulsquelle«, durch die Reizung der »erogenen Zonen« um Mund und After entsteht, die Freud als »Nebenapparate und Surrogate der Genitalien«(282) mit ambiguenter Biederkeit verkennend herabwürdigt.

    In »Triebe und Triebschicksale«(283) differenziert Freud chemisch-somatische Trieb-Quelle, motorisch-aktiven Drang, als Vehikel der Lust notwendiges Objekt - meist die eigene oder eine geliebte Person - und das Ziel der befriedigenden Triebabfuhr. Nach diesem Modell bestimmt Freud in den »Drei Abhandlungen« im Zusatz von 1915 Trieb »als die psychische Repräsentanz einer kontinuierlich fließenden, innersomatischen Reizquelle«(284) ohne eine eigene Qualität.(285)

    Das Kind ist von Geburt an »polymorph pervers« veranlagt.(286) Es muß nicht eigens zu sexuellen Praktiken berufen werden, sondern hat im primären Narzißmus, wie Freud ab 1914 die von Havelock Ellis eingeführte autoerotische Libidodisposition nennt(287), gar rechte Freud am »Ludeln«(288), dem Saugen an Schleimhäuten aller Art, anfangs an der milchströmenden warmen Mutterbrust, wo die Sexualität »mit der Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses vergesellschaftet«(289) ist, sich von der Selbsterhaltungsfunktion des Milchfassens aber verselbstständigt in die Autarkie des Daumenludelns. »Nun wird das Bedürfnis nach Wiederholung der sexuellen Befriedigung von dem Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme getrennt, eine Trennung, die unvermeidlich ist, wenn die Zähne erscheinen und die Nahrung nicht mehr ausschließlich eingesogen, sondern gekaut wird.«(290) Wird die erogene Bedeutung der Lippenzone konstitutionell verstärkt, »so werden diese Kinder als Erwachsene Kußfeinschmecker werden, zu perversen Küssen neigen oder als Männer ein kräftiges Motiv zum Trinken und Rauchen mitbringen. Kommt aber die Verdrängung hinzu, so werden sie Ekel vor dem Essen empfinden und hysterisches Erbrechen produzieren. Kraft der Gemeinsamkeit der Lippenzone wird die Verdrängung auf den Nahrungstrieb übergreifen.«(291)

    1.2.1.4.3 Hunger und Sexualität

    An dieser Stelle greift nun der Einwand von Perls, es komme bei Freud zu einer Sexualisierung des Hungertriebes.(292) Tatsache aber ist, daß Freud nicht von einer anfänglichen Identität von Hungertrieb und Sexualtrieb ausgeht, sondern von einer anfänglichen Gesellung beider im Brustludeln, die möglicherweise später im Störfall eine Übertragung sexueller Abspaltung auf eine Abspaltung der Lust am Essen erlaubt. Es ist gerade für Freuds Theoriebildung konstitutiv, die Ichtriebe der Selbsterhaltung von den Objekttrieben der Sexualität zu unterscheiden(293), wobei im Narzißmus auch das eigene Ich Objekt der Lust sein kann.

    1.2.1.4.4 Perversion und Normalität: Gesundheitsbegriff der Sexualmoral

    Die Implikationen, die im Begriff der »polymorph-perversen« Veranlagung des Kindes mitschwingen, sind auch die einer moralischen Zensur, die wider besseres Wissen die Normalität des Bürgerlichen, Akademischen im braven k. & k. Wien der Jahrhundertwende teilt.(294) Einzig die Quantität des Perversen bietet Freud Unterscheidungsmöglichkeiten zur selbstbewußt-bornierten bürgerlichen »Normalität«, die gewissermaßen die Perversion lediglich in gebilligten Minimaldosierungen betreibt.(295)

    Der Begriff der Perversion impliziert und legitimiert dann als moralisierende Normativität in präziser Abspiegelung der realen gesellschaftlichen Verhältnisse die Begriffe von Tabu, Zensur und Verdrängung als den Konfliktstationen des Ausschlußverfahrens, in dem infantile Sexualgenüsse von gesellschaftlicher Moral verworfen werden und diese affektive Gegenbesetzung ins Individuum eingelagert wird. Künftig wird es bei Freud keine Sexualtheorie ohne die Verdrängungslehre geben; der gesellschaftlich konstituierte und keineswegs natürliche oder ontologische Konflikt von Trieb und Tabu verdichtet sich im Individuum und seinen Reaktionsbildungen.(296)

    Die einzige Norm, die Freud wirklich zu Gebote steht, um in der Beschreibung der Perversionen die Grenze zur Normalität zu vollziehen, ist die »kulturelle Sexualmoral«, die er 1908 als verlogene Doppelmoral durch ihre übermäßige Triebunterdrückung für die »moderne Nervosität«, die Entstehung der neurotischen Charaktere verantwortlich macht und ihr damit pathologische Qualität bescheinigt: »Alle, die edler sein wollen, als ihre Konstitution es ihnen gestattet, verfallen der Neurose; sie hätten sich wohler befunden, wenn es ihnen möglich geblieben wäre, schlechter zu sein.«(297) Normal setzt Freud hier mit »kulturförderlich« gleich.(298)

    Die Stärke des Sexualtriebes hält er für konstitutionsbedingt. Für Triebschwache ist die kulturelle Sexualmoral der ansonsten abstinenten Fixierung auf Fortpflanzungsaktionen gerade noch durchzuhalten.(299) Freud stellt die kirchliche Beschränkung der Sexualausübung auf Fortpflanzung der naturgegebenen Triebstärke und Lust an verspielter, »perverser« Sexualität gegenüber. Zur Perversion triebhaft Veranlagten bleibt nur die Alternative von Protest durch »Verwerflichkeit« oder »Flucht in die Krankheit«.(300)

    Die »doppelte« Sexualmoral der Ehe, die der treuen, eifersüchtig daheim wartenden Frau den fremdgehenden Mann zugesellt, produziert die typischen leidvollen Frauenschicksale. »Das Heilmittel gegen die aus der Ehe entspringende Nervosität wäre vielmehr die eheliche Untreue; je strenger eine Frau erzogen ist, je ernsthafter sie sich der Kulturforderung unterworfen hat, desto mehr fürchtet sie aber diesen Ausweg, und im Konflikte zwischen ihren Begierden und ihrem Pflichtgefühl sucht sie ihre Zuflucht wiederum - in der Neurose.«(301)

    Die Heterogamie ist konstitutionell also nur einer begrenzten Gruppe von Menschen ohne seelische Schäden möglich. Paulinisch gesehen ist sie das kleinere Übel, auch er hatte die schädigende Wirkung der Totalabstinenz beizeiten ausfindig gemacht, die nach Freud nicht einmal dem sublimierenden Künstler möglich ist, am ehesten noch dem Junggelehrten. »Im allgemeinen habe ich nicht den Eindruck gewonnen, daß die sexuelle Abstinenz energische, selbständige Männer der Tat oder originelle Denker, kühne Befreier und Reformer heranbilden helfe, weit häufiger brave Schwächlinge, welche später in die große Masse eintauchen, die den von starken Individuen gegebenen Impulsen widerstrebend zu folgen pflegt.«(302)

    Die voreheliche Abstinenz, zu der Mädchen gezwungen wurden, verunmöglicht die Entwicklung von Verliebtsein durch die Fixierung auf die Eltern; der »Typus der anästhetischen Frau« wird »durch die Erziehung geradezu gezüchtet, und diese Frauen, die ohne Lust empfangen, zeigen dann wenig Bereitwilligkeit, des öfteren mit Schmerzen zu gebären. So werden durch die Vorbereitung zur Ehe die Zwecke der Ehe selbst vereitelt«.(303) Der traumatische Charakter der Sexualfeindlichkeit christlicher Kulturmoral macht den spielerisch Liebenden zum Perversen, zum Außenseiter, oder zwingt ihn zur Sexualverdrängung mit der Folge neurotischer Erkrankung.

    Dabei konstatiert Freud das alleheliche Dilemma, daß durch beidseitig wachsende Frigidität, keiner will als lüstern gelten, der regelmäßige Geschlechtsverkehr als Basis des Ehelebens boykottiert wird. »Es ist wirklich für den Uneingeweihten ganz unglaublich, wie selten sich normale Potenz beim Manne und wie häufig sich Frigidität bei der weiblichen Hälfte der Ehepaare findet, die unter der Herrschaft unserer kulturellen Sexualmoral stehen, mit welchen Entsagungen, oft für beide Teile, die Ehe verbunden ist und worauf das Eheleben, das so sehnsüchtig erstrebte Glück, sich einschränkt.«(304) Die frustrierte Mutter läßt ihre Lust am Nachwuchs aus: »Die von ihrem Manne unbefriedigte neurotische Frau ist als Mutter überzärtlich und überängstlich gegen das Kind, auf das sie ihr Liebesbedürfnis überträgt, und weckt in demselben die sexuelle Frühreife. Das schlechte Einverständnis zwischen den Eltern... läßt es im zartesten Alter Liebe, Haß und Eifersucht intensiv empfinden. Die strenge Erziehung, die keinerlei Betätigung des so früh geweckten Sexuallebens duldet, stellt die unterdrückende Macht bei, und dieser Konflikt in diesem Alter enthält alles, was es zur Verursachung der lebenslangen Nervosität bedarf.«(305)

    Die Normalehe ist konstitutionell pathogen, neurotisierend. Auch und gerade im kirchlich geprägten Bereich heute sind solche Ehestrukturen noch so erschreckend häufig wie damals, sicherlich nicht der Opfer wert, welche sie erzwingen. Ekklesiogene Neurosen werden in den Familien produziert, die aus Sexualangst alles latent und tabuisiert sexualisieren.

    Bezeichnenderweise gelten solche Ehen als normal, während der Begriff der Perversion der ursprünglichen Vielfalt der Sexualäußerungen gilt. Wenn auch Freud sich dem diskriminierenden Begriff der Perversion unterwirft, so bleibt doch in den Beschreibungen des Perversen bei aller nüchtern sachlichen Zurückhaltung die Lust am genauen Schildern, die in der erotischen Literatur die sexuelle Sublimierung ins Wort erlaubt, unverkennbar. Im Konflikt von Moral und Sexualität schlägt er sich entschieden auf die Seite der sexuellen Freiheit, die er geradezu als Paradigma der ganzen sonstigen menschlichen Freiheit bezeichnet: »Das sexuelle Verhalten eines Menschen ist oft vorbildlich für seine ganze sonstige Reaktionsweise in der Welt.«(306)

    Nachdem Freud für seine »Drei Abhandlungen« so sehr in Anfeindungen geriet, hat er die Verteidigung der Perversionen als der eigentlichen Gesundheit des Sexuallebens verstärkt und ist seinerseits massiver zum Angriff auf die Tragfähigkeit der abendländischen Sexualethik übergegangen, der er den Ausverkauf prognostiziert(307), was die weitere geschichtliche Entwicklung durchaus zu bestätigen vermag. Die »sexuelle Revolution« von Beate Uhse bis zum »Männermagazin« ist zwar repressive, aber immerhin: Entsublimierung.(308)

    In den »Drei Abhandlungen« spricht Freud lediglich einmal von der »gegensätzlichen Beziehung zwischen Kultur und freier Sexualitätsentwicklung« und bescheinigt der arbeitenden Klasse einen freieren, weniger pathogenen Umgang mit ihrer Sexualität als dem intellektualisierten Bürgertum, aus dem sich seine Klienten rekrutierten.(309)

    Wenn Freud die Perversionen dann als Abweichung vom Sexualziel der genitalen Entladung und vom Sexualobjekt des gleichaltrig gegengeschlechtlichen Partners kennzeichnet, grenzt er sie zugleich von der gerade noch geduldeten leichten Abirrung durch die Momente der Ausschließlichkeit und der Fixierung ab.(310) Nur eine bestimmte, auf dem Weg zum Koitus steckengebliebene Praktik allein vermag den Orgasmus hervorzurufen; oder nur eine bestimmte Tiersorte oder ein homoerotischer Partner, nur orale oder nur anale Zonen, nur unter sadistischem Quälen oder masochistischer Qual, nur beim Kotlecken oder Leichenmißbrauch kommt es zur Entladung. Neurose als Betätigung verdrängter Libido im Symptom ist ebenso durch exklusive Fixierung markiert, sie ist »sozusagen das Negativ der Perversion.«(311)

    Dabei wiederum ist, im Gegensatz zur gerade noch nachvollziehbaren Kennzeichnung der Perversion durch ihre Fixiertheit, die genitale Fixierung, die der gereifte Sexualtrieb anstrebt, durchaus nicht als Perversion zu begreifen. Im Entwicklungsmodell infantiler Sexualität kommt es in der Abfolge oraler Ludellust(312) über analsadistische masturbatorische Kot-Einbehaltung(313) zum Primat der Genitalität(314) mit entsprechendem Wechsel der Bedeutung der dazugehörigen erogenen Zonen. Dabei stellen die beiden prägenitalen Stufen der Oralität und Analität in der Triebentwicklung Partialtriebe (315) dar, die noch nicht auf die volle genitale Ladung, sondern auf die angenehmen Vorlustgefühle erpicht sind.(316)

    1.2.1.4.5 Orale, anale und genital-phallische Phase und präpuberale Latenz

    Die Begrifflichkeit des Partialtriebes bescheinigt der nichtgenitalen Sexualität Unvollständigkeit und läßt orale oder anale Praktiken nur als Vorspiel des genitalen Endspiels gelten. Freud spricht zunächst nur von »Keimen sexueller Erregung« beim Neugeborenen und einer Latenzperiode bis zum vierten Lebensjahr(317), der eine weitere sexuelle Latenzperiode mit Verdrängung und Sublimierung von Sexualität folgt. In ihr gibt es vereinzelte Trieb-Durchbrüche, bis schließlich mit der Pubertät die Entfesselung der Triebkräfte voll einsetzt.(318) 1915 in der 3. Auflage der »Drei Abhandlungen« hypostasiert er eine Phasenentwicklung. »Eine erste solche prägenitale Sexualorganisation ist die orale, oder, wenn wir wollen, kannibalische. Die Sexualität ist hier von der Nahrungsaufnahme noch nicht gesondert, Gegensätze innerhalb derselben noch nicht differenziert... das Sexualziel besteht in der Einverleibung des Objektes, dem Vorbild dessen, was späterhin als Identifizierung eine so bedeutsame psychische Rolle spielen wird.«(319) »Eine zweite prägenitale Phase ist die der sadistisch-analen Organisation.«(320)

    Diese Phasen infantiler Sexualität sind charakterisiert durch drei Merkmale: 1. »Anlehnung an eine der lebenswichtigen Körperfunktionen«: Nahrungsaufnahme und -abgabe. 2. »Sie kennt noch kein Sexualobjekt, ist autoerotisch«. 3. Ihr »Sexualziel steht unter der Herrschaft einer erogenen Zone.«(321)

    Dabei kommt das erste Mal zwischen zwei und fünf Jahren, das zweite Mal in der Pubertät die Wahl eines Liebesobjekts hinzu, welches zur Erreichung der Befriedigung Hilfestellung gibt.(322) »Die Ergebnisse der infantilen Objektwahl ragen in die spätere Zeit hinein... Infolge der Verdrängungsentwicklung, welche zwischen beiden Phasen liegt, erweisen sie sich aber als unverwendbar... Die Objektwahl der Pubertätszeit muß auf die infantilen Objekte verzichten und als sinnliche Strömung von neuem beginnen.«(323) Die »Umgestaltungen in der Pubertät«, Thema der dritten Abhandlung, werden durch die Ausbildung der Geschlechtswerkzeuge und ihre beginnende Betriebsbereitschaft präludiert.(324) »Ein höchst komplizierter Apparat ist so fertig geworden, der seiner Inanspruchnahme harrt. Dieser Apparat soll durch Reize in Gang gebracht werden«(325): 1. durch Streicheln erogener Zonen(326), 2. durch den Überdruck des unentwegt nachkeimenden Geschlechtsprodukts(327), und 3. durch psychische Reize: Phantasien, Erinnerungsspuren, attraktive Sexualobjekte.(328)

    Im Zusatz von 1915 definiert Freud erstmals prägend den von A. Moll übernommenen(329) Begriff der Libido.(330) Hier knüpft Freud nach der Beschreibung seiner klinischen Erfahrung der Sexualität endlich wieder an die Energetik des »Entwurfs« und der »Traumdeutung« an. Er hat inzwischen »Zur Einführung des Narzißmus«(331) und »Triebe und Triebschicksale«(332) geschrieben. Der als Drang, als Kraft quantitativ »meßbare«, chemisch beschreib- und letztlich auch manipulierbare Trieb ist als Erregungssumme des psychischen Apparats in der Diktion des »Entwurfs« ein Unlustempfinden, welches aber subjektiv als lustvoller Drang nach noch mehr Berührung mit dem anmachenden Objekt empfunden wird. Die Paradoxie lustvoll erlebter Unlustspannung kann Freud in den »Drei Abhandlungen« indes nicht auflösen, er konstatiert sie notgedrungen.

    1.2.1.4.6 Hüllkurve des Orgasmus und Aporie des Lustprinzips

    Es ist auffällig, daß unter den erogenen Zonen fast nie die weibliche Brust auftaucht, aus deren optischer Präsentation eine ganze Industriebranche ihren Profit zieht. Brustmassage und Mamillenstimuli praktizieren 98 % aller Paare, 50 % aller Frauen werden dadurch erregt und viele kommen allein dadurch schon zum Orgasmus.(333) Freud beschränkt sich auf die Beschreibung libidinöser Eskalation im Falle, wenn »bei einer sexuell nicht erregten Person eine erogene Zone, etwa die Brusthaut eines Weibes, durch Berührung gereizt wird. Diese Berührung ruft bereits ein Lustgefühl hervor, ist aber gleichzeitig wie nichts anderes geeignet, die sexuelle Erregung zu wecken, die nach einem Mehr von Lust verlangt. Wie es zugeht, daß die empfundene Lust das Bedürfnis nach größerer Lust hervorruft, das ist eben das Problem.«(334) Hier führt die bisherige Energetikformel Erregungsstau = Unlust, Erregungsabfuhr = Lust zum Paradoxon, daß die Vorlust der Partialtriebe selbst als Lust wahrgenommen wird.

    Erst 1924, in »Das ökonomische Problem des Masochismus«, entwickelt Freud eine versuchsweise Lösung durch den Zeitfaktor der Biorhythmen, die eine komplexere Energieverwaltung betreiben, als die simple Konstanzhypothese des postulierten Primärsystems. Er konstatiert, »daß es lustvolle Spannungen und unlustige Entspannungen gibt. Der Zustand der Sexualerregung ist das aufdringlichste Beispiel einer solchen lustvollen Reizvergrößerung, aber gewiß nicht das einzige. Lust und Unlust können also nicht auf Zunahme oder Abnahme einer Quantität, die wir Reizspannung heißen, bezogen werden«.(335) Freud vermutet ein qualifizierendes Moment, welches den Ausschlag für die Bewertung lustvoll oder unlustvoll gibt.(336) Schon in »Jenseits des Lustprinzips« spricht Freud vom sekundären, gebändigten, erzogenen Lustprinzip.(337) Die primäre Unlusterregung, die als Unlust auch empfunden wird, wäre also in einem personalen Reifungsprozeß, dessen Ergebnis erst die voll entwickelte genitale Sexualität ist, durch eine qualifizierende Instanz einer neuen Bewertung unterzogen worden, die den psychischen Apparat befähigt, längere Zeit hindurch ein hohes Erregungsniveau zu halten oder sogar noch zu steigern, um damit einen längerfristigen Aktionsvollzug, wie es intensiver Sexualgenuß fordert, durchzuhalten. Erst am langen Ende kommt es zur Entspannung und die Spannungssteigerung antizipiert die erwartete Entladung. Damit ergeben sich neben den blitzhaften Reflexen und den primären kurzfristigen Reaktionen dann im Sekundärsystem langfristigere Zyklen der Wunscherfüllung, deren Länge mit wachsender Reife steigerungsfähig ist.

    1.2.1.4.7 Narzißmus, Selbsterhaltung und Objektbeziehungen

    Die Erkenntnisse seines Aufsatzes über den Narzißmus macht Freud schließlich in der Drittauflage der »Drei Abhandlungen« fruchtbar, wenn er von der anfänglichen Bündelung der Libido im Autoerotismus oder Narzißmus spricht, wo Ichlibido und Objektlibido noch deshalb eins sind, weil das Ich sich selbst als geliebtes Objekt hat.(338)

    Hier klärt sich die Funktion des Objekts als Hilfsmittel zur Befriedigung, als depersonalisierte, fungible Variable einer vom Primat des Triebziels der Erregungsabfuhr bestimmten Triebökonomie. »Das Objekt des Triebes ist dasjenige, an welchem oder durch welches der Trieb sein Ziel erreichen kann. Es ist das variabelste am Trieb, nicht ursprünglich mit ihm verknüpft, sondern ihm nur infolge seiner Eignung zur Ermöglichung der Befriedigung zugeordnet.«(339)

    Aus dem Für-sich-Sein der narzißtischen Ichlibido kommt es zur Benutzung zweckdienlicher Objekte. Muster dieser apersonalen Objektnutzung sind die Ich- oder Selbsterhaltungstriebe, mit dem Sexualtrieb die Urtriebe unter den Trieben(340), die sich nach dem Zufall ihr Objekt suchen.(341) Das Baby nimmt fast jede Brust, solange genug Milch kommt; die Amme wird akzeptiert. Für die Zeit der Partialtriebe, bei denen die Befriedigung der unmittelbaren Organlust im Mittelpunkt steht, sind die Triebobjekte austauschbar und so wenig frei gewählt wie die eigenen Eltern, zu denen so manches Kind verdammt ist. Erst mit der wachsenden Integration der Partialtriebe zu einem neuen Ganzen, mit der Entwicklung der Sekundärprozesse von Affekthemmung, Realitätsprüfung, mit der Fähigkeit der Sublimation, auf unmittelbare Befriedigung im Interesse einer späteren nachhaltigeren zu verzichten(342), kurz: dem gebändigten Lustprinzip, wird auch die Objektwahl als eine nicht nur die Organlust befriedigende differenzierter. »Das Liebesobjekt ist nicht mehr nur das Triebkorrelat, das dazu bestimmt ist, verbraucht zu werden.«(343) Die Stufen der Libido-Organisation erweisen sich als Triebschicksal, dessen Koordinaten beständigem Wandel unterworfen sind, der nicht unerheblich von der äußeren Not des Lebens, der »kulturellen« Realität beeinflußt wird. Produktionsverhältnisse waren für den Akademiker Freud nicht erkennbar.(344) Immerhin aber spiegelt die Unterscheidung der Ichtriebe zur lebenswichtigen Selbsterhaltung von den Sexualtrieben das Wissen um die Prävalenz der materiellen Basis Ernährung vor jeder weniger lebenswichtigen, wiewohl drängenden Liebeslust, was Perls in seiner Kritik an Freuds »Überbewertung des Sexuellen«(345) versucht, einzuklagen. So gewiß nun Freud den Fokus Sex traktiert, so gewiß war ihm zugleich jedoch die Tatsache, daß man zwar ohne Liebe, nicht aber ohne Essen leben kann. Er bemerkt zur Objektwahl des Kindes, »daß es seine Sexualobjekte seinen Befriedigungserlebnissen entnimmt. Die ersten autoerotischen sexuellen Befriedigungen werden im Anschluß an lebenswichtige, der Selbsterhaltung dienende Funktionen erlebt. Die Sexualtriebe lehnen sich zunächst an die Befriedigung der Ichtriebe an, machen sich erst später von den letzteren selbstständig«.(346) Die nährende Mutter wird auch erstes Sexualobjekt, und aus dieser Verwobenheit von Hunger und Sex emanzipiert sich möglicherweise einmal sexuelles Begehren auf andere Objekte, die nicht dem Anlehnungstypus angehören. Das Muster der primären Objektwahl und Sexualbefriedigung ist auch bei Freud die Hungerstillung. Wenn sein Aufmerken dem Sexuellen gilt, dann deshalb, weil im bürgerlichen Wien nicht der Hunger die Menschen zu ihm trieb, sondern die verwehrte Sexualausübung. Es ist klinischer Pragmatismus.

    Das große Reservoir der Ichlibido als innersomatische Triebquelle löste die Idee der Verführung ab, in der die lüsterne Verwandtschaft Wecker der Lust war. Die Triebstärke(347) und ihre entgegen dem Konstanzprinzip der Unlustabfuhr sich extatisch steigernde Hüllkurve unterliegt der wachsenden organischen Zusammensetzung(348), in der zunächst partikulare Körpersensationen zu einem integrierten Gesamtschema der Lustsensationen assoziiert werden. Die zunächst auf einzelne erogene Zonen und deren Organlust konzentrierten Triebziele(349) koordinieren sich unter dem Primat der Lust am Bewegen des Penis in der Vagina zu einem semiliturischen setting vom vorlustigen »warm up« bis zum orgastischen Endreflex, in dem die zerebrale Kontrolle an die Ganglien des unteren Rückenmarks abgegeben wird und die Wahrnehmungstrübung mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl einhergeht.(350) Mit zunehmender Integration der Partialziele entwickelt zunehmende Akkumulation der Sexualerregung die Steigerung der Orgasmusintensität. Das Triebobjekt(351) schließlich als einzige extrasomatische Zutat des Sexualtriebs, als möglicherweise soziales Moment, entäußert sich aus der anfänglichen Ureinheit(352) mit sich in die Beziehungshaftigkeit. In der Genese der Objektbeziehungen kommt es nach der anfänglichen schlichten Gegebenheit der Objekte immer mehr zur freien, gleichwohl von infantilen Mustern determinierten Wahl, erstmals in der Pubertät.(353) Peergroup-Petting als vorpubertäre Objektwahl ist Freuds Aufmerksamkeit wohl entgangen. Er übernimmt indes von Fließ die Idee anfänglicher, nicht auf eine göttliche oder natürliche Bestimmung bereits fixierter Bisexualität(354), die im homosexuellen Objekt die narzißtische Wahl einer Ich-Nachbildung trifft(355), im heterosexuellen Objekt nach dem Anlehnungstypus eine eher vom Selbsterhaltungstrieb her motivierte Wahl des mütterlich-nährenden oder väterlich-schützenden Elternimagos.(356)

    Es bleibt zu fragen, ob die anfängliche Objektlosigkeit des infantilen Narzißmus, gefolgt von reiner Funktionalität, korrekt beobachtet ist. Eriksons Beginn des Lebenszyklus mit Urvertrauen(357), welches pränatalem sensomotorischem Austausch der Mutter-Kind-Dyade(358) als apriorischer Beziehungshaftigkeit menschlichen Lebens schlechthin entspricht(359), weist eher auf narzißtische Konfluenzen zum Mutter-Objekt hin, spricht für archaische Beziehungserfahrung eines grandiosen Selbstobjekts.(360)

    So widmet Freud in seinem Narzißmus-Aufsatz ein wesentliches Stück der Verhältnisbestimmung zwischen Verliebtem und Geliebtem. Verliebtheit als Objektlibido ist permutierter Narzißmus, ein »Abströmen der Libido zum Objekt hin«. (361) Extrapolierte Selbstliebe liebt am überschätzten, idealisierten Objekt genau das, was gemäß sozial determinierter(362) Norm des Gewissens das tatsächliche Ich im Vergleich zur Norm des Ideal-Ich nicht hat.(363) Die Idealisierung des geliebten Objekts, seine Sexualüberschätzung(364), bewirkt als Objektvergrößerung(365) eine Ich-Verminderung, Ichverarmung, das Gefühl von Minderwertigkeit des eigenen Ich(366), welche die Demut des Liebenden ausmacht, die im akzeptierten Zustand, als ichgerechte Verliebtheit, gerade noch ertragen werden kann(367), im Zustand verdrängter Libido als extreme Selbstverarmung so unglücklich macht, daß erst ein Abzug der libidinösen Besetzung vom geliebten Objekt zurück auf das narzißtische Ich wieder zufrieden macht.(368)

    Freud unterscheidet Idealisierung als Vergrößerung des Triebobjekts von Sublimierung als Verschiebung des Triebziels auf außersexuelle Befriedigungsmöglichkeiten, besonders kulturelle.(369) Dabei ist ein wesentlicher Einfluß die Sexualeinschüchterung familialer und weiterer sozialer Kontrolle, die im Inzesttabu und dem Kastrationsdruck eine Verdrängung der primären Objektbesetzung bewirkt.(370) Strafangst vor Liebesverlust konsolidiert sich im Selbst als zensorische Instanz, die in der Aufrichtung eines normativen Idealich dem Narzißmus als einzige Möglichkeit die libidinöse, aber sublimierte Besetzung des Ich-Ideals erlauben(371), dem zu entsprechen das Ich sich bemüht.(372) Die Verliebtheit sucht also am Objekt, was der Zensor dem eigenen Ich abgesprochen hat, oder was er fordert und was das Ich offensichtlich nicht hat. Die Partizipation an dem zum Ideal erhobenen Zustand durch die Vereinigung mit dem idealisierten Objekt vermag dann die Selbstentwertung des Gewissens zu kompensieren.(373)

    Der der Verliebtheit reverse Prozeß der Trauerarbeit als »Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.«(374) offenbart auf andere Weise das narzißtische Wesen der Liebe. Trauerarbeit ist die schrittweise Ablösung vom geliebten Objekt durch Überbesetzung einzelner features, nachdem die Realitätsprüfung die Unmöglichkeit erwiesen hat, die Beziehung zum geliebten Objekt real und nicht nur psychisch fortzusetzen. »Jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war, wird eingestellt, überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen.«(375) Die Dialektik dieser »Ökonomie des Schmerzes«(376) führt unter großem Aufwand an Zeit und Besetzungsenergie zur Ledigkeit des Ich zurück, bereit, neue Objekte libidinös zu besetzen, andere Menschen zu lieben. »Tatsächlich wird aber das Ich nach der Vollendung der Trauerarbeit wieder frei und ungehemmt.«(377) Der Selbsthaß des Melancholikers beruht auf der Wut auf das verlorene Objekt, welches er per Identifizierung verinnerlicht hat und nun in sich den Konflikt perpetuiert.(378) Die Liebesbesetzung des Objekts wird also ersetzt durch die narzißtische Identifikation mit dem Objekt.(379) Der Masochismus des Melancholikers entpuppt sich als sadistischer Haß auf das Objekt im Status seiner Inkorporation.(380)

    In äußerster Verliebtheit, wie auch im Selbstmord, wird das Ich vom Objekt überwältigt.(381) Auf diese Weise überlebt das geliebte Objekt im Ich, und der einzige Unterschied von Trauerarbeit zur Melancholie ist, daß erstere der Versuch ist, das Objekt zu überleben in der Regression der Libido auf den Narzißmus: Das »Ich, gleichsam vor die Frage gestellt, ob es dieses Schicksal (der Nichtigkeit; M.L.) teilen will, läßt sich durch die Summe der narzißtischen Befriedigungen, am Leben zu sein, bestimmen, seine Bindung an das vernichtete Objekt zu lösen.«(382) Dabei ist beiden das regressive Moment gemein: »Die Liebe hat sich so durch ihre Flucht ins Ich der Aufhebung entzogen.«(383) Ist es vielleicht das Versagen der Energetik in der unaufklärbaren Ökonomie des Schmerzes(384), die Freud motiviert, ausnahmsweise einmal das Wort »Liebe« zu gebrauchen? Daß sie Einverleibung, Introjektion des Geliebten will(385), läßt die orale Identität von Lieben und Fressen aufscheinen. Perls hält die Introjektion und Identifizierung durchweg für neurotisch(386), Freud konstatiert sie ohne Wertung.

    1.2.1.4.8 Mannbarkeit &Weiblichkeit - Das Elend mit dem Penisstolz/neid

    Zur »Differenzierung von Mann und Weib«(387) versucht Freud, die sozial erlernten Geschlechtsrollen mit biologischen Koordinaten zu koppeln. Männlichkeit setzt er gleich mit Aktivität, muskulärem Körperbau, ungehemmter Intensität des Sexualtriebs.(388) Allerdings sei nach dieser Bestimmung kein Mensch rein männlich oder weiblich, sondern: »Mit Rücksicht auf die autoerotischen und masturbatorischen Sexualäußerungen könnte man den Satz aufstellen, das kleine Mädchen habe durchaus männlichen Charakter«(389), denn »der Trieb ist immer aktiv«.(390)

    Lustzentrum unter all den erogenen Zonen ist beim Knaben der Penis, beim Mädel die Klitoris; diese wird aber vom Mädel in der Latenzzeit skotomisiert. »Die bei dieser Pubertätsverdrängung des Weibes geschaffene Verstärkung der Sexualhemmnisse ergibt dann einen Reiz für die Libido des Mannes und nötigt dieselbe zur Steigerung ihrer Leistungen: mit der Höhe der Libido steigt auch die Sexualüberschätzung, die nur für das sich weigernde, seine Sexualität verleugnende Weib im vollen Maße zu haben ist.«(391) Nach anfänglicher »Anästhesie des Vaginaeingangs« wird die erogene Reizbarkeit von der Klitoris auf den Scheideneingang übertragen, ein »Wechsel der Leitzone« findet nach der »Latenzzeit« statt.(392) Von einer orgastischen Synergie zwischen Klitoris und Vagina kann Freuds phallisches Modell der Weiblichkeit nicht reden.

    Freud traktiert sozialgeschichtlich gewordene Geschlechtsrollenunterschiede im Disput gegen Horney 1923ff als »psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds«.(393) Er versteift sich später immer mehr in die Idee des weiblichen Penisneids aus dem Gefühl des Kastriertseins(394), ohne Männern Brustneid, Vaginalneid, Mutterschaftsneid auf den Babybesitz und Neid auf weibliche Schönheit, die sie kaum je erreichen, zu bescheinigen. Während Brüste meist einigermaßen straff sind, erigiert der Penis nur in Erregung. Während Männer oft nach 1-3 Orgasmen erschöpft sind, sind Frauen weit potenter, können dies aber kaum ausleben, wenn die Männer vorzeitig ermüden.(395)

    Der Penisstolz(396) des Knaben verschwindet denn auch bald, wenn er merkt, er kann die unersättlichen Anforderungen des sinnlichen Weibes nicht hinreichend erfüllen(397), sodaß jeder genitale Verkehr als Kompromißbildung aufzufassen ist zwischen der Omnipotenz der großen Mutter und der begrenzten Potenz des Mannes. Die patriarchale Version der Weiblichkeit in Freuds phallisch-ödipaler Theorie wirkt eher wie eine Konstruktion, die den männlichen Neid(398) gegenüber den biologischen Vorzügen der Frau kompensieren soll, den Freud zum Ausdruck bringt.(399) Ein »guter Teil der Unbefriedigung des verliebten Mannes, der Zweifel an der Liebe des Weibes, der Klagen über die Rätsel im Wesen derselben hat in dieser Inkongruenz der Objektwahltypen seine Wurzel. Vielleicht ist es nicht überflüssig, zu versichern, daß mir bei dieser Schilderung des weiblichen Liebeslebens jede Tendenz zur Herabsetzung des Weibes fernliegt.«(400) Es erstaunt, daß Freud sich wirklich glauben konnte, ohne Ressentiment diese Klagen zu referieren. Möglicherweise bedingen sich im Kampf der Geschlechter gegenseitig das soziale Patriarchat(401) und das psychische Matriarchat der omnipotenten Urmutter, die, stets dominant, aus sich allein heraus Kinder produziert, deren eines, der Gatte, sie gelegentlich befruchtet.(402) Die Geschlechtsunterschiede der Psychoanalyse sind Fixierungen, die zwar noch nicht gesellschaftlich überholt sind, aber längst kein anthropologisches Konstituum.

    Auch Freud äußert in den Vorlesungen von 1931 Zweifel am Schematismus der im Modus biologischer Invarianten exerzierten bürgerlich-patriarchalen Geschlechtsrollenzuschreibungen, denen er selbst in hohem Maßen verfallen ist: »Selbst auf dem Gebiet des menschlichen Sexuallebens merken Sie bald, wie unzureichend es ist, das männliche Benehmen durch Aktivität, das weibliche durch Passivität zu decken... Frauen können große Aktivität nach verschiedenen Richtungen entfalten, Männer können nicht mit ihresgleichen zusammenleben, wenn sie nicht ein hohes Maß von passiver Gefügigkeit entwickeln«.(403)

    Freuds Spitze war gegen die vorfindliche Form der Sexualität als eine vermeintlich aus göttlicher Ordnung veranlagte gerichtet. Im Polymorph-Perversen und der Bisexualität beschreibt er die Seele ja gerade als tabula rasa, die frei und offen ist für ein breites Spektrum von Reaktionsmöglichkeiten, was durch entsprechende Stimuli aktivierbar ist. So sieht er die soziale Bedingtheit der Geschlechtsdifferenzen durchaus: »Dabei müssen wir aber achthaben, den Einfluß der sozialen Ordnungen nicht zu unterschätzen, die das Weib gleichfalls in passive Situationen drängen. Das ist alles noch sehr ungeklärt... Die dem Weib konstitutionell vorgeschriebene und sozial auferlegte Unterdrückung seiner Aggression begünstigt die Ausbildung starker masochistischer Regungen, denen es ja gelingt, die nach innen gewendeten destruktiven Tendenzen erotisch zu binden.«(404)

    Dem weiblichen Penisneid korrespondiert beim Knaben die Angst vor der beim Mädchen als vollzogen vermuteten Kastration als Strafe für die ödipalen Inzestwünsche; eine komplementäre Rollenverteilung innerhalb inkongruenter Beziehungen läßt zwischen Penisneid und -stolz und Kastrationsangst das präödipale matri- und soziale patriarchale Machtgefälle jede Liebe durchsäuern. Freud attestiert nur die fundamentale Beziehungsstörung, die bis heute wiederholungszwanghaft abendländischer Liebe eignet.(405)

    Die stärkere genitale Zentriertheit männlicher Sexualität, die Freud als »Reife« bezeichnet, könnte als Desensualisierung des Restkörpers genauso einen Defekt ausmachen, der Folge der weiblichen Konzentration auf den Penis ist, ob nun neidisch oder im Wissen um die Gleichwertigkeit der eigenen Vorzüge mit genüßlicher Lust am Nichtidentischen, am kleinen Unterschied. So gleichen sich die Unterschiede der Geschlechtsrollen heute immer mehr an zu einem beiderseitigen Narzißmus.(406) »Die Tendenz zur Angleichung der Geschlechter erlaubt es Mann und Frau, die Bedürfnisse des Partners besser zu verstehen; zugleich verstärkt sie passive Verwöhnungsbedürfnisse, die Liebesverhältnisse in Beziehungen verwandeln, die vom Kampf um die wechselseitige narzißtische Ausbeutung geprägt sind.«(407)

    Im »Leonardo« zitiert Freud die in archaischen Gesellschaftssystemen und Religionen mit Fruchtbarkeitsritualen durchaus narzißtische Anbetung der Genitalien, die da Vinci »den Brüsten als Abzeichen der Mütterlichkeit das männliche Glied« hinzufügen läßt(408), als Ausdruck dafür, »daß die Genitalien ursprünglich der Stolz und die Hoffnung der Lebenden waren«.(409) Grund zur Neurosen erzeugenden Sexualverdrängung ist unsere sträfliche »kulturelle Geringschätzung der Genitalien und Geschlechtsfunktionen überhaupt«.(410)

    Das Modell der voneinander abgrenzbaren Entwicklungsphasen der sich vervollständigenden Sexualität in ihrer Erregbarkeit, Triebstärke, Objektbeziehung und der Bandbreite der zur Triebabfuhr herangezogenen Praktiken mag für die bürgerliche Mittelschicht des damaligen Wien zutreffen, indes haben die Entwicklungspsychologen keine empirische Bestätigung für eine kulturübergreifende Allgemeingültigkeit gefunden.(411) Zum einen ist die Abfolge konstruiert, da es schon in der oralen Phase genitale Säuglingsmasturbation gibt, sich die Phasen viel stärker durchdringen, als es das Modell beschreibt. Zum anderen ist das Primat der Genitalität als Herstellung einer Bedeutungshierarchie und Besetzungshierarchie Ausdruck phallischer maskuliner Machtwünsche, der die weniger genital zentrierte Erogenität(412) der Frauen nicht entspricht, wenn auch die Endlust (413) meist mit genitaler Entladung einhergeht. Schließlich: Ohne die Vorlusteffekte käme es überhaupt nicht zu genitaler Aktivität, sie sind zur Erregung und Vorbereitung des Koitus unabdingbar.

    Die Isolierung der einzelnen Phasen, Zonen und Praktiken impliziert im Nachgang die Konzentration auf die Genitalität. Ein Modell sexueller Entwicklung, welches auf die Verwobenheit aller sexuellen Erregungsweisen, Phasen, Zonen und Aktivitäten als Spielvarianten der einen polymorphen Lust an der Lust angelegt wäre, würde den Problemen der Klassifikation dieser genuin auf Verbindung, ja Verschmelzung ausgerichteten Macht der Liebe oder Libido kompatibler sein.(414)

    1.2.1.4.9 Verdrängung, Inzesttabu: Zur Entstehung des Ödipuskomplexes

    Die von Freud wie eine Invariante vorgetragene Phase der sexuellen Latenz und Verdrängung zwischen ca. fünf Jahren und Pubertätsbeginn, die quasi eingeleitet wird durch die ödipale Versagung, ist kulturbedingt. In der nicht nur ägyptischen, sondern sogar alttestamentlich-israelitischen Antike(415), im Adel(416) und der Sublimationsstufe literarischer Produktion(417) war Inzest etwas völlig Natürliches und durch Ehe sogar Geheiligtes.(418) Das kulturgeschichtlich späte Inzesttabu(419) mit der realen oder nur phantasierten Impression, durch die Existenz des gleichgeschlechtlichen Elternteils am Sexualverkehr mit dem gegengeschlechtlichen strukturell oder gar manifest behindert zu werden, nötigt zur Triebunterdrückung, zur Verdrängung, oder führt bestenfalls zur Verlagerung der Triebenergie auf eine lizensierte Aktionsebene: Sublimierung.(420) Auch hier finden wir eine keineswegs allgemeingültige Theorie der Sexualentwicklung, sondern die Erfolge der »kulturellen Sexualmoral« in ihrer Deformatierung der kindlichen Unbefangenheiten. Sehr viel angemessener bezeichnet Freud denn auch die Verdrängung, die am Inzestwunsch ihre quasi libidinöse Urszene hat, als Triebschicksal.(421)

    Die Verdrängung der frühkindlichen Sexualität, hysterogen und neurotogen schädigender Ausschlußprozeß gesellschaftlich nicht lizensierter Bedürfnisdispositionen und Triebstrukturen aus dem Bewußtsein, als Form verinnerlichter Interaktion, bildet denn als Übergang von Libidotheorie zur Neurosenlehre die Schwelle von Gesundheit und Krankheit, ist gesellschaftliche Zensur, die sicher keiner Kastration bedarf, um im Individuum sich manifest durchzusetzen.(422)

    Noch einmal kommt in der Verdrängungstheorie die Trieblehre ins Spiel, »sozusagen unsere Mythologie«(423), wie Freud 1931 sagen kann. Denn nicht der Trieb kann verdrängt werden, sondern nur seine Vorstellung, seine Repräsentanz im Bewußten oder Vorbewußten, um die Diktion der ersten Topologie zu gebrauchen. Die Ambiguität von Trieb und Vorstellung, als sprachliche Teilung eines die Unteilbarkeit von Körperlichem und Geistigem Bezeichnenden, führt Freud in die Schwierigkeit, die Schwelle »zwischen Seelischem und Somatischem« zu denken: Trieb »als psychischer Repräsentanz der aus dem Körperinneren stammenden, in die Seele gelangenden Reize«(424) ist noch im Dualismus von Leib und Seele gedacht. Die Phänomenologie in Frankreich hat später mit dem Begriff des Leibsubjekts(425) diese Grenze von Bewußtsein und Körpersein als rein gedankliche Trennung markiert, der die Verdrängung als Ausgrenzung vom Bewußtsein in den quasi somatischen Grenzbereich des Unbewußten im scheidenden Akt der Zensur nur scheinbar entspricht. »Es muß radikaler heißen, daß der Trieb selbst auf psychischer Ebene den Körper in der Seele repräsentiere, ausdrücke.«(426)

    Nicht der Trieb als somatisches Moment kann verdrängt werden, sondern lediglich die Vorstellung, die sich im Bewußtsein mit ihm verknüpft hat. Freud nimmt in seinem Aufsatz »Die Verdrängung« 1915 eine mit einem Originalvorfall ödipaler Art ausgelöste Urverdrängung an, bei der zugleich mit dem Bewußtseinsausschluß einer bestimmten Vorstellung die Fixierung des Triebes auf jene erfolgt.(427) »Die zweite Stufe der Verdrängung, die eigentliche Verdrängung, betrifft psychische Abkömmlinge der verdrängten Repräsentanz, oder solche Gedankenzüge, die, anderswoher stammend, in assoziative Beziehung zu ihr geraten sind. Wegen dieser Beziehung erfahren diese Vorstellungen dasselbe Schicksal wie das Urverdrängte. Die eigentliche Verdrängung ist also ein Nachdrängen.«(428)

    Damit entwickelt Freud das Modell eines Unbewußten, in dem genealogisch vom Stammbaum einer Urszene von »Abweisung und Fernhaltung vom Bewußten«(429) und anschließender fixierenden Symbolisierung des Triebes durch die mit ihm zunächst kontingent assoziierte Vorstellung eine weite Verästelung der Abkömmlinge ausgeht. Die ungestört im Dunkel des Unbewußten wuchernde Logik des Triebs bindet weitere und massivere Vorstellungen an den primären Vorstellungskomplex an, was den Anschein »einer außerordentlichen und gefährlichen Triebstärke«(430) erweckt. Die Exkommunikation aus der Lizenz des Sprachspiels entfernt und entstellt die Symbolisierung des Triebs immer weiter bis zu Klischees, die aufgrund ihrer Ferne zur verdrängten Primärvorstellung und ihrer scheinbaren »Harmlosigkeit« dann wiederum bewußtseinsfähig werden. An sie kann nun der Trieb sich heften als an seine entstellte Ausdrucksform. Die Technik des freien Einfalls in der analytischen Grundregel nutzt diese Kette der Entstellungen revers.(431) Gerade an diesem Modell der klinisch erprobten Rekonstruktion der Verdrängungsschritte und Verästelungen übt Perls die Kritik purer Stammbaumforschung, die gegenwärtige Determinanten und das teleologische Moment der Zielgerichtetheit momentanen Verhaltens vernachlässigt.(432)

    Als zweite Dimension des Verdrängten führt Freud nach der Vorstellung(433) die Triebstärke als den ökonomischen Aspekt der libidinösen Besetzung mit psychischer Energie ein. In physikalistischer Metaphorik nennt er ihn »Affektbetrag«.(434) Das Schicksal der verdrängten Besetzungsenergie ist nicht unbedingt analog zum Schicksal der verdrängten Vorstellung, beide nehmen vielmehr ganz unterschiedliche individuelle Verlaufsformen an.(435) Der »Affektbetrag«, im Prozeß der Verdrängung von den ursprünglich ihn begleitenden Vorstellungen abgespalten, hat drei Möglichkeiten: er wird »entweder ganz unterdrückt« ins Ubw, »oder er kommt als irgendwie qualitativ gefärbter Affekt« in die bewußte Empfindung und Motilität, »oder er wird in Angst verwandelt«.(436) Dabei ist diese Verwandlung in Angst sozusagen ein Spezialfall qualitativer Färbung, im Fall der Libido eine Art Verkehrung ins Gegenteil.

    Wenn »Motiv und Absicht der Verdrängung« die »Vermeidung von Unlust« sein soll(437), so ist aber die Konversion verdrängter Libido in Angst(438) eine höchst mißglückte Form der Verdrängung; kaum ist einzusehen, welchen dynamischen Vorteil der seelische Apparat aus dieser Verwandlung ziehen sollte, strebt er doch nach dem Lustprinzip immer tendenziell erleichternden Abgleich von Erregung an. Als Reizschutz gegen libidinöse Überflutung erscheint Angst wenig geeignet, da sie Beelzebul mit dem Teufel austreibt, Angst mehr Unlust erzeugt als sexuelle Erregung, die der Motilität zugeführt würde.(439)

    1926 verwirft Freud die Angsthypothese verdrängter Libido zugunsten der das Umfeld des psychischen Apparats einbeziehenden Theorie der antizipatorischen Signalangst, die mögliche Traumata aus schlechter Erfahrung in gemilderter Form phantastisch widerholt, um deren realen Ablauf vermeiden zu können und das dazu nötige Verhalten aktiviert.(440) Die Verdrängung als Reizschutz wehrt äußere oder innere Gefahren ab, die erfahrungsgemäß Folgen ungehemmter motiler Triebabfuhr wären.(441) Unlustverhütung muß zugleich Angstverhütung sein, will sie die Trennung von Affekt und Vorstellung als glückende Abwehr riskanter Triebfolgen erweisen.(442) So ist die Affektverwandlung eigentlich nur dann Zeichen glückender Verdrängung, wenn sie eben nicht als Angst empfunden wird, sondern sich an andere »Färbungen« der Empfindung heftet. Genau genommen ist sie dann schon Sublimierung. Während die verdrängte Vorstellung quasi Hausverbot im Bewußtsein erhält, darf die Triebenergie, sofern sie sich liiert mit einer »ungefährlichen« Vorstellung, die nicht zu tatsächlichen Gefahren führen kann, durchaus im Focus der Aufmerksamkeit bleiben: sie wird, mit einer Ersatzvorstellung gekoppelt, wieder gesellschaftsfähig, will heißen: bewußtseinsfähig. Freud unterscheidet bei Affektkonversionen Ersatzbildungen von Symptomen.(443) Beide sind entstellte Wunscherfüllungen im Status der aufgespaltenen Interaktionsfigur, Zeichen für den Wirtswechsel der von seiner ursprünglichen Vorstellungsrepräsentanz notgedrungen abgewanderten Besetzungsenergie.(444)

    Die Symptome als neben Träumen und Fehlleistungen weitere Art der »Wiederkehr des Verdrängten«(445) sind dann in der Neurose oder Hysterie eine Form des munteren Treibens, welches die quasi heimlich nach ihrer ursprünglich angetrauten Vorstellung suchende, ihr traurigerweise entzogene Energiebesetzung(446) unter anderer Flagge veranstaltet. Mit anderen, entfernteren Vorstellungen verbunden, führt das Symptom als unwillkürliche Eigenmächtigkeit des Unbewußten am Bewußtsein, oft unter Angst oder Peinlichkeit, scharf vorbei.(447) Dem in Symptome konvertierten Trieb, dessen kommunikative, symbolische Vorstellungsrepräsentanz ins Ubw exkommuniziert wurde, gelingt in der Verschiebung und/oder Verdichtung seiner Besetzungsenergie, möglicherweise per Regression, wenigstens die Abfuhr, die »Erledigung des Affektbetrages, die eigentliche Aufgabe der Verdrängung«.(448)

    Die Zwangsneurose als Konversion von Libido in Feindseligkeit transformiert die verwehrte, dann reaktiv sadistisch verkehrte Liebe in Gewissenhaftigkeit als Ersatzbildung.(449) »Die anfänglich gute Verdrängung hält aber nicht Stand, im weiteren Verlaufe drängt sich das Mißglücken der Verdrängung immer mehr vor... Der verschwundene Affekt kommt in der Verwandlung zur sozialen Angst, Gewissensangst, Vorwurf ohne Ersparnis wieder... Eine Tendenz zur intakten Herstellung der verdrängten Vorstellung ist meist unverkennbar.«(450)

    Diese unentwegte Rehabilitationstendenz der Wiederkehr des Verdrängten, eine Reunion von Triebvorstellung und Triebaffekt zur ursprünglichen Einheit in einer zur Motilität abführenden Interaktionsfigur zu finden, hat Perls aufgegriffen in seiner Lehre von Wiederholungszwängen als »kraftvolle(n) Versuche(n), wichtige Lebensprobleme zu lösen.«(451) Wenn Verdrängung die Aufspaltung der Interaktionsfiguren in Repräsentanz und Besetzung ist, so ist die Tendenz zur guten, geschlossenen Gestalt die Re-Integration der Abspaltung.(452)

    Der Verdrängungsbegriff ist subversiv. In ihm wird der Konflikt deutlich zwischen Trieb und Moral, als krankmachender Konflikt. Damit lastet Freud der Sexualmoral traumatisierende, schädigende Auswirkungen an. »Die Erziehung muß also hemmen, verbieten, unterdrücken und hat dies auch zu allen Zeiten reichlich besorgt. Aber aus der Analyse haben wir erfahren, daß gerade diese Triebunterdrückung die Gefahr der neurotischen Erkrankungen mit sich bringt.«(453)

    Die Sexualverbote führen zu Denkhemmungen auch auf anderen Gebieten. »Zur sexuellen Aufklärung der Kinder«(454) bemerkt Freud: »Ich glaube nicht, daß nur ein einziger Grund vorliegt, um Kindern die Aufklärung, nach der ihre Wißbegierde verlangt, zu verweigern. Freilich, wenn es die Absicht der Erzieher ist, die Fähigkeit der Kinder zum selbstständigen Denken möglichst frühzeitig zugunsten der so hochgeschätzten 'Bravheit' zu ersticken, so kann dies nicht besser als durch Irreführung auf sexuellem und Einschüchterung auf religiösem Gebiete versucht werden.«(455)

    So erweist sich die zunächst lediglich konstatierte Erfahrung der Latenzphase vor der Pubertät als Folge eines massiven sozialen Drucks, der die Kinder in der Entfaltung ihrer Sexualität bis zur biologischen Zeugungsfähigkeit in der Pubertät unterdrückt. Die besonders asexuelle Erziehung der Mädchen stabilisiert die soziale Vormacht des Mannes.(456) Die Verdrängung begegnet lebensgeschichtlich sehr früh schon als soziale Dressur der Kinder: Es »werden fast alle infantilen Sexualbetätigungen dem Kinde verboten und verleidet; man setzt sich das ideale Ziel, das Leben der Kinder asexuell zu gestalten!«(457) Freud sieht dahinter das ökonomische Motiv: »Die Gesellschaft muß es nämlich unter ihre wichtigsten Erziehungsaufgaben aufnehmen, den Sexualtrieb, wenn er als Fortpflanzungsdrang hervorbricht, zu bändigen... Das Motiv der menschlichen Gesellschaft ist im Grunde ein ökonomisches; da sie nicht genug Lebensmittel hat, um ihre Mitglieder ohne deren Arbeit zu erhalten, muß sie die Anzahl ihrer Mitglieder beschränken und ihre Energien von der Sexualbetätigung weg auf die Arbeit lenken. Also die ewige, urzeitliche, bis auf die Gegenwart fortgesetzte Lebensnot.«(458) Verdrängung ist Unterdrückung der inneren Natur aufgrund des sozial vermittelten, durch Klassenherrschaft verschärften Drucks der äußeren Natur.

    1.2.1.5 Aggression. Der Destruktionstrieb als Gegenpol der Liebe

    1.2.1.5.1 Narzißtischer Haß und Objektbemächtigung

    Zu den narzißtischen Anfängen der Triebgeschichte gehört die Einheit von Ichliebe und Haß gegen alle Außenwelt, die Unlustgefühle erzeugt und nicht vielmehr gefälligst zu stillen hat, wobei »die richtigen Vorbilder für die Haßrelation nicht aus dem Sexualleben, sondern aus dem Ringen des Ichs um seine Erhaltung und Behauptung stammen.«(459) Haß ordnet Freud den Selbsterhaltungstrieben zu, die objektbezogene Liebe als »motorisches Streben nach diesen Objekten als Lustquellen« ist dagegen »innig mit der Betätigung der späteren Sexualtriebe« verknüpft.(460) Haß ist »als Relation zum Objekt älter als die Liebe, er entspringt der uranfänglichen Ablehnung der reizspendenden Außenwelt von seiten des narzißtischen Ichs.«(461)

    Diese Hypothese vom nötigen Reizschutz wird relativiert von der klinischen Erfahrung, daß bereits Föten unentbehrlich auf Außenreize angewiesen sind.(462) Dabei ist die Alternative von An-sich und Für-andere in der Unterscheidung von Selbsterhaltung und Objektliebe ein monadologisches Modell, welches Hegels Dialektik von Entäußerung und Selbstbewußtwerden nicht mitvollzieht. Freud gerät in der Hypothese vom primären Narzißmus als dialoglosem Embryonentum in Gegensatz zur empirischen Säuglingsforschung: vom 5. Monat an besteht in Ferenczis j1lassa, dem uterinalen Urmeer der »dialogue tonique«.(463)

    Die oral-sadistischen Liebesimpulse des Strebens nach Einverleibung des geliebten Objekts durch Fressen oder die anal-sadistischen Machtimpulse der Objektbemächtigung dienen dagegen nicht der Objektabwehr, sondern seiner Bereitstellung als Lustquelle, wobei die »Schädigung oder Vernichtung des Objekts gleichgültig« ist; erst mit »der Herstellung der Genitalorganisation ist die Liebe zum Gegensatz von Haß geworden.«(464) Diese erste Unterscheidung von Haß als Objektabwehr und Sadismus als libidinöse Objektbemächtigung impliziert den Gedanken, daß in der Liebe Aggression der andere Aspekt der Aktivität ist, die jeden Trieb kennzeichnet: »jeder Trieb ist ein Stück Aktivität.«(465) So kennzeichnet sich Liebe durch Ambivalenz; immer auch sind ihr feindselige Impulse als Selbstschutzreflexe beigemengt und kommen der Bereitstellung des Objekts zur Befriedigung zugute.

    Perls adaptiert diese Polarität von Bindekräften als Libido und Spaltungskräften als Abwehr, die nie rein begegnen, sondern immer als Mischung.(466) Er ordnet es in die Gleichgewichtstheorie ein, folgt im Wesentlichen aber der Freudschen Dualität von Eros und Thanatos, die er als religiösen Rest des Atheismus erlebt.(467)

    1.2.1.5.2 Aggressionstrieb, Todestrieb und Nirwanaprinzip

    Freud reflektiert Aggression vor dem Ersten Weltkrieg kaum, wie er in »Das Unbehagen in der Kultur« 1930 zugibt.(468) Die Materialschlachten des Krieges zwangen zur Auseinandersetzung mit der Frage Einsteins: »Warum Krieg?«(469) So markiert denn auch »Jenseits des Lustprinzips« die Wende zur Annahme des Todestriebes.(470)

    In der »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben«, dem kleinen Hans(471), nimmt Freud 1909 zu Alfred Adlers Einführung der Begriffe Triebverschränkung und Aggressionstrieb Stellung. Die Angst vor dem Pferd mit seinem »Wiwimacher« als Substitut des väterlichen Schwanzes sei »durch die Verdrängung jener Aggressionsneigungen, der feindseligen gegen den Vater und der sadistischen gegen die Mutter, zu erklären«.(472) Die Generalität, mit der Adler Aggression zu dem macht, was Freud mit der Libido ebenso versucht hatte, sei eine »irreführende Verallgemeinerung«.(473) Freud kann sich »nicht entschließen, einen besonderen Aggressionstrieb neben und gleichberechtigt mit den uns vertrauten Selbsterhaltungs- und Sexualtrieben anzunehmen.«(474) Vielmehr sei jeder Trieb als Drang aggressiv.

    Diese Auffassung zieht sich durch bis 1920. In der Neufassung der Trieblehre zum Dual von Eros als Lebenselan und Thanatos, dem Todestrieb als Drang zur Vernichtung des Lebens, nimmt Freud die triebähnliche Struktur des Wiederholungszwangs als Beleg für die Annahme eines Destruktionstriebs, »Jenseits des Lustprinzips«.(475) Noch einmal nimmt darin Freud die Intention seines »Entwurfs« von 1895 auf, dem psychischen Apparat Streben nach Energiegleichgewicht zu attestieren, wobei die Minimierung von Erregungsenergie Lust heißt.(476) Beim Wiederholungszwang handelt es sich »natürlich um die Aktion von Trieben, die zur Befriedigung führen sollten, allein die Erfahrung, daß sie stattdessen auch damals nur Unlust brachten, hat nichts gefruchtet. Sie wird trotzdem wiederholt; ein Zwang drängt dazu.«(477) So erwächst die Annahme, »daß es im Seelenleben wirklich einen Wiederholungszwang gibt, der sich über das Lustprinzip hinaussetzt.«(478) Anfangs hatte ihn Freud als »geheimnisvolle(), masochistische() Tendenzen des Ich«(479) gekennzeichnet. Er »erscheint uns ursprünglicher, elementarer, triebhafter als das von ihm zur Seite geschobene Lustprinzip.«(480) Nach Reflexionen über Reizschutzmaßnahmen gegen innere oder äußere Reizüberflutungen, die traumatisch wirken können, wenn der Schutz versagt, leitet Freud das Wesen des Triebes vom Trägheitsprinzip des »Entwurfs« ab, später mit Barbara Low als Nirwanaprinzip bezeichnet(481): »Ein Trieb wäre also ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes, welchen dies Belebte unter dem Einflusse äußerer Störungskräfte aufgeben mußte, eine Art von organischer Elastizität, oder wenn man will, die Äußerung der Trägheit«.(482) Der angenommene Idealzustand des psychischen Apparats tendiert zur minimalsten Erregung, zur größten Reizlosigkeit. Diese ist offenbar im Tode oder in der tiefen Ruhe des Nirwana als eines transpersonalen Überwachbewußtseins gegeben. Der Trieb steuert quasi diese innere und äußere Reizlosigkeit als Bedürfnislosigkeit an. Diese Homöostase der Erregungshydraulik, später mit Perls: dieses organismische Gleichgewichtsstreben, bei Freud noch als innerorganismisches, organisches Gleichgewicht monadologisch begrenzt, ist die restitutive Funktion der Primärvorgänge, des Lustprinzips: »Wenn also alle organischen Triebe konservativ, historisch erworben und auf Regression, Wiederherstellung von früherem, gerichtet sind, so müssen wir die Erfolge der organischen Entwicklung auf die Rechnung äußerer, störender und ablenkender Einflüsse setzen.«(483)

    Der quasi früheste Zustand, in dem das Leben sich befunden hat, und den die »konservative Natur der Triebe« wieder anstrebt, ist die Einheit mit der Natur, die keine Individuation zu einem eigenständigen Lebewesen kennt, die prävitale Einheit mit der Kosmos, die erst im Tod wieder möglich wird, wenn alle Individuation zerfällt. »Der konservativen Natur der Triebe widerspräche es, wenn das Ziel des Lebens ein noch nie zuvor erreichter Zustand wäre. Es muß vielmehr ein alter, ein Ausgangszustand sein, den das Lebende einmal verlassen hat und zu dem es über alle Umwege der Entwicklung zurückstrebt. Wenn wir es als ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen, daß alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können wir nur sagen: Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das Leblose war früher da als das Lebende.«(484) So stellt der Todestrieb nur die sinngemäße Verlängerung dessen dar, was auf einer direkteren Ebene bereits die Primärvorgänge zur Aufgabe hatten, und was die Sekundärvorgänge auf einer über die Not des Lebens und ihre schmerzlichen Einbrüche ins Ich vermittelten realitätsorientierteren Ebene auch tun: Selbstregulation in immer weiter differenzierten und artikulierten Organisationsstufen individueller Entwicklung.

    Der Gedanke ist wenig messianisch den Möglichkeiten des Novum verschlossen und hat sein Maß eher im Mythos der ewigen Wiederkehr des Vergänglichen.(485) Daß Leben neuen Formen und Gestalten entgegenwächst, sich entwickelt, wäre dann nur autoplastische Anpassung an die störende, gefährliche Umwelt, nicht auch innere Logik der naturgeschichtlichen und menschlichen Entwicklung.(486) Freuds deterministische Anthropologie kann Menschen nicht als offene Systeme begreifen, deren Wachstum kreative Möglichkeiten von innen hervorbringt.(487) Ebenso schroff legitimiert er in seiner späten Kulturtheorie fast lutherisch die Zwänge der Moral als nötiges äußeres Regulativ für die Bändigung des genuin »asozialen« Trieblebens.

    1.2.1.5.3 Wiederholungszwang und Assimilation

    Die Spekulationen über den Tod als Ziel allen Lebens treten in der Tat mit nahezu theologischem Eros(488) zur physikalistischen Energetik hinzu; offensichtlich zeigt sich hier ein religiöser Interpretationsversuch Freuds und keine irgend klinisch induzierte Metatheorie seiner analytischen Praxis.(489) Die Gleichsetzung zwischen dem starren neurotischen Zwang zur Wiederholung und dem Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustands ist nicht plausibel: Die Wiederholung eines früheren Zustands als Regression ist eine Bewegung vom Jetzt ins Damals. Der Wiederholungszwang vermeidet gerade jede wirkliche Bewegung, Veränderung und verleugnet darin die Zeitlichkeit.(490)

    An diesem Punkt ist auch die Kluft zwischen Freud und Perls unverkennbar: Determinierte Regression auf den Urzustand versus expansives Wachstum des Organismus. Dies führt zu einer völlig anderen teleologischen Bewertung dessen, was der Wiederholungszwang zu leisten vermag: Trägheit zum Tode versus Lösung unerfüllter Sehnsucht. »Der Wiederholungszwang ist also nichts Mechanisches, nichts Totes, sondern er ist sehr lebendig. Es ist mir unverständlich, wie man hieraus einen mystischen Todestrieb ableiten kann. Dies ist der Punkt, wo Freud den festen Boden der Wissenschaft verlassen und sich in den Regionen des Mystizismus verirrt hat«.(491) Daß aber der Wiederholungszwang lebendig nach Befriedigung heischt, ist Freuds eigene These.(492) Immerhin, die Sexualtriebe sind als einzige nicht fixiert auf die Wiederherstellung vergangener Lust.(493) Denn dann würde es wohl schwerlich zum Genitalprimat kommen, denn dazu scheint kein äußerer Zwang zu drängen; Störungen erfolgen diesbezüglich gewöhnlich eher in umgekehrter Richtung.

    Mag der beginnende Carzinombefall Freuds(494) neben der Angst vor dem Kriegstod seiner Söhne den mit 63 Jahren das Altern Spürenden dem Tod näher gebracht haben(495): Die Theorie des Protoplasma, welches dem Tod durch beständige Zellteilung und -vermehrung entgegenarbeitet, den Todesweg verlängert(496), führt zur Feststellung, daß es den Zellen nur gelingt, gegen die Vergänglichkeit anzukommen, wenn sie sich verbinden mit ähnlichen Zellen.(497) Das VI. Kapitel über Weismanns Behauptung der Unsterblichkeit von Einzellern hat Freud 1920 nach dem Tod seiner Tochter Sophie geschrieben.(498) Dessen These, »der Tod sei eine späte Erwerbung«(499), will Freud keinesfalls als Gegenargument gegen die angenommene Universalität des Todestriebes gelten lassen. Vielmehr laufen in der lebenden Substanz »unausgesetzt zweierlei Prozesse entgegengesetzter Richtung ab, die einen aufbauend - assimilatorisch -, die anderen abbauend - dissimilatorisch.«(500)

    Das Motiv der Assimilation wird im Organismuskonzept von Perls Angelpunkt der Mensch-Natur-Dialektik.(501) Während bei Freud allerdings der Eros die assimilierende Kraft ist, ist es bei Perls der kräftige Biß des Hungrigen, der seine Aggression in die »Bereitstellung« der Nahrungspartikel investiert, um durch Essen zu wachsen. Die erotische Qualität der Lebenstriebe wird bei Perls substituiert durch die lukullische Qualität der alloplastischen Einverleibungen der Umwelt.

    Freud ist sich bewußt, daß er mit dem Todestrieb die Idee Schopenhauers variiert, der Tod sei »das eigentliche Resultat« und somit »Zweck des Lebens«, der Sexualtrieb aber »die Verkörperung des Willens zum Leben«.(502) Damit ist das konjunktive Prinzip des Eros beschrieben als gemeinsamer Kampf der Liebenden(503) gegen den von jedem einzelnen her drängenden Tod, der sich im solipsistischen Prinzip der Selbsterhaltung der Ichtriebe zu zeigen scheint.(504) Die Sexualtriebe »sind die eigentlichen Lebenstriebe; dadurch, daß sie der Absicht der anderen Triebe, welche durch die Funktion zum Tode führt, entgegenwirken, deutet sich ein Gegensatz zwischen ihnen an«.(505) Vorläufig hat Freud die sexuellen Lebenstriebe des Eros gegen die Todestriebe der Selbsterhaltung ins Spiel eines antagonistischen »Zauderrhytmus«(506) beider »Triebgruppen« gebracht.

    Die konservative Tendenz zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes markiert geradezu das Wesen der Triebe überhaupt, wobei Freud den Sexualtrieben eine Ausnahmestellung zubilligt von dem, was er wenig klinisch und mehr spekulativ in der problematischen Gleichsetzung von Wiederholungszwang und Regression den Todestrieben bescheinigt. Die Sexualtriebe als Erscheinung der Lebenstriebe lassen indes keine immanente Teleologie einer Reifung, Höherentwicklung von innen erkennen, wie die Darwinsche Evolutionstheorie und die vitalistischen Philosophien im Gefolge von Schopenhauer und Nietzsche im Modus säkularisierter Heilsgeschichte propagieren. Denn auch in Sexualtrieben ist das Moment der Regression zu früherer Lust enthalten; sie sind kein Motor eines »Trieb(es) zur Vervollkommnung«, einer »Entwicklung zum Übermenschen«(507); diese beruht vielmehr auf äußerer 2n1gkh, der Not des Lebens, vermittelt im gesellschaftlichen Zwang der sexuellen Triebunterdrückung.(508) Die Lebenstriebe des Eros sind also für Freud ebenfalls teleologisch taub. Wären nicht die Zwänge von außen, würden nicht einmal die Lebenstriebe die Überlebensfähigkeit und die Lebensqualität der Menschengattung steigern. Der Mensch erscheint hier als Wesen, dessen prinzipielle Trägheit nur durch gelegentliche sexuelle Anwandlungen ausnahmsweise überboten wird, eine Art Oblomow. Diese Anthropologie läßt sich empirisch kaum halten, zumal eine reine Aseität des in Stoffwechsel mit dem Außen verwobenen Organismus (Luft, Nahrung, Kontakt) sofort tötet. Ob Reifung nur durch Zerstörung freien Triebflusses erfolgt, ist sehr zu fragen.

    1.2.1.5.4 Todessehnsucht des Lebens und der Eros als Störenfried

    Die Zuordnung der Ichtriebe zum Todestrieb hier und der sexuellen Objekttriebe zum Lebenstrieb da ist jedoch vom Narzißmus her wiederlegt, der Dualismus von Ichtrieben und Sexualtrieben ist hinfällig.(509) So verlegt denn Freud nun die Dualität als eine von Liebe und Haß, Zärtlichkeit und Aggression in die ambivalente Polarität der Objektliebe selbst hinein.(510) Der Sadismus, der im Oralstadium noch die Objektvernichtung in Kauf nimmt, übernimmt im Genitalstadium zwecks Fortpflanzung die »Funktion, das Sexualobjekt so weit zu bewältigen, als es die Ausführung des Geschlechtsaktes erfordert.«(511) Die originäre Funktion der Bemächtigung des Objekts(512) fundiert den Sadismus in der Sexualität, nicht - wie bei Perls - primär im Hunger, Zahnbiß, der Selbsterhaltung der Ichtriebe.(513) Freuds erste Theorie leitet die Aggression - soweit folgt ihm Perls - aus dem Ringen des Ich ums Überleben im Kampf ums Dasein in der Ananke der Realität ab. Sie ist Verteidigung gegen Reizüberflutung traumatischer Größenordnungen. Später wird sie in die Liebe integriert und findet dort eine neue Funktion: orale Einverleibung, possessive anale Bemächtigung und schließlich genitales Eindringen in das geliebte Objekt in allen Formen des Gefügigmachens zur Kohabitation. Damit ist der Sadismus eine ambivalente Beimengung der Libido. Demnach wäre der Masochismus sekundär, die Rückwendung der Aggression mit Perls: Retroflexion - gegen das eigene Ich, welches bekanntlich ja auch erstes Objekt der Libido ist.(514)

    Die Annahme, der Sadismus sei das Erste, der Masochismus das Zweite als dessen bloße Retroflexionsform, revidiert Freud unter dem Eindruck des Todestriebes als einer apriorischen Triebgröße. Schon längst vor diesem in der Tat klinisch offenkundigen sekundären Masochismus, der Aggression des Ich unter der realen Unmöglichkeit, diese auf das zunächst gemeinte Objekt zu richten, gegen die eigene Person wendet, gibt es eine tiefe Sehnsucht nach Demut, Unterwerfung, Passivität, ja Bestrafung und Qual. Dieser primäre Masochismus(515) entspricht der narzißtischen Grundhaltung, einen Affekt auf sich selbst zu richten, dort allerdings ist es libidinöse und selbsterhaltende Energie, im primären Masochismus müßte man von autodestruktiver Energie der Todestriebe sprechen.(516) Es würde der narzißtischen Grandiosität eine ebenso primäre Lust am Leiden korrespondieren.

    Ricoeur weist auf die doppelte Akzentverschiebung hin: »einmal von der Tendenz der Wiederholung zur Tendenz der Zerstörung, zum anderen von mehr biologischen Ausdrücken zu mehr kulturellen Ausdrücken.«(517) Zugleich wächst im metapsychologischen Interpretationsrahmen äquivalenter Bezugssysteme von biologischem Trieb und intentionalem Sinnverstehen die Schwierigkeit, das Raunen(518) des Todestriebs in seinen Manifestationen zu erkennen: Während die Interpretation der Psychoanalyse aus Symptomen Kräfte herausliest, vergeht der stumme Sinn des Todestriebes, wenn er in den Lärm der Sprache überführt wird.(519) Freud versucht abschließend Begriffsklärungen: Libido oder Eros(520) gibt es in drei Manifestationsweisen: zwischen den Zellen, innerhalb des Selbstsystems als Narzißmus und gegen andere Personen, Objekte - hier erst spezifisch als dedizierter Sexualtrieb.(521) Der Mythos des Aristophanes in Platons Symposion von den entzweigeschnittenen anfänglichen Doppelmenschwesen in drei Geschlechtern, die fortan auf der Suche nach ihrer ursprünglichen Hälfte sind, dient Freud zur Illustration dieses erotischen Verlangens, zusammenzuwachsen.(522) Eros und Todestrieb, »der durch die Belebung des Anorganischen entstanden ist«, sind »von Uranfang miteinander ringende Triebe«.(523) Ichtriebe können nach Einführung des Narzißmus nicht mehr als Selbsterhaltung im Gegensatz zur Libido verstanden werden, sondern vermischen sich mit dieser.(524) Erstmalig bringt hier Freud Destruktivität ins Spiel.

    Dennoch gipfelt diese erste Spekulation über den Todestrieb als letzte Weitung des Lustprinzips der Reizminimierung in dem Gedanken, daß die Todestriebe die eigentlichen Stabilisatoren der Erregungshydraulik des psychischen Apparats sind.(525) Konsequent verrechnet wäre der Orgasmus als Erregungsabfuhr also eine Manifestation des Todestriebes.(526) Damit ist im Mittelpunkt der frühen Todestriebtheorie die Homöostase und der Aspekt des Nirwana, das stoische Motiv der Ataraxie oder die Verschmelzung mit dem Kosmos zur größtmöglicher Ganzheit, weitester Entgrenzung des Ich.

    1.2.1.5.5 Triebmischungen und -entmischungen im inneren Bürgerkrieg

    Erst in »Das Ich und das Es«(527) setzt Freud 1923 die Hypothese des Destruktionstriebes fort.(528) In Anknüpfung an die bisherige Dualität von Todestrieben und Eros mutmaßt Freud, »der Todestrieb würde sich nun - wahrscheinlich doch nur teilweise - als Destruktionstrieb gegen die Außenwelt und andere Lebewesen äußern.«(529)

    Hier gewinnt der Adlersche Begriff der Triebvermischung erneute Bedeutung. Freud thematisiert die Ambivalenz von Liebe und Haß, die neurotische Störung usw. als Triebentmischung, als Zerfall der Integration, der gesunden Legierung beider verschränkbaren Antagonisten. »Wir erkennen, daß der Destruktionstrieb regelmäßig zu Zwecken der Abfuhr in den Dienst des Eros gestellt ist«.(530) Diese Gedankenfigur, die sich als dualistische ausgibt, aber in Wirklichkeit die Integration des Dualismus als den Normalzustand beschreibt, die vom Triebgemisch mit einer großen Palette von Manifestationsmöglichkeiten ausgeht, kommt der monistischen Theorie nur eines elan vital mit einer alle Verhaltensextreme umfassenden Manifestationsbreite erstaunlich nah.(531) Mit der Verwischung klarer Zieltrennung beider Triebgruppen, mit gegenseitigen Amtshilfen, entsteht der Eindruck einer fast universell einzusetzenden Kraft, deren Anwendungsbereich nahtlos vom Vatermord über die Bereitstellung des Sexualpartners zum Verkehr bis zur Fülle der religösen oder künstlerischen Sublimierungsfacetten reicht.(532) Je weiter sich die hypostasierte Gestalt des Grundtriebes von den konkreten, klinischen und empirischen Manifestationen abstrahiert, umso spekulativer, ungreifbarer und phantastischer wird die Psychoanalyse. Der letzte Rahmen einer solchen Trieb-Interpretation wird zwangsläufig religiös.(533)

    1.2.1.5.6 Sublimierungsenergie und sekundärer Narzißmus im Ich

    »Verschiebung« und »Sublimierung« markieren die Austauschbarkeit nicht nur der Triebobjekte, sondern sogar der Triebqualitäten. Die Entmischung eines Triebes aus der Legierung von Liebe und Haß läßt leicht das Eine in das Andere umschlagen.(534) Alle Beispiele für solche Verwandlungen ins Gegenpolare gründen allerdings, sonst wäre die für Freud konstitutive Dualität selbst ja gefährdet, nicht in einer fundamentalen Einheit beider Pole, die indes beide dem Lustprinzip der Energetik gehorchen(535), sondern in einem Dritten, welches sekundierend auf der Waage des Konflikts von Liebe und Haß herumtanzt. Freud interpoliert hier »eine verschiebbare Energie, die, an sich indifferent, zu einer qualitativ differenzierten erotischen oder destruktiven Regung hinzutreten und deren Gesamtbetrag erhöhen kann. Ohne die Annahme einer solchen Energie kommen wir überhaupt nicht aus.«(536) Die Partialtriebe funktionieren geradezu nach dem Prinzip kommunizierender Röhren, die ihre Affektbeträge untereinander austauschen.(537) Diese undifferenzierte Energie, die sich verschiedenen Qualitäten der Grundambivalenz von Eros und Todestrieb zuschlagen kann, begreift Freud als »desexualisierten Eros«, der sowieso verformbarer ist als der Destruktionstrieb.(538)

    Freud vermutet, daß »diese verschiebbare Libido im Dienst des Lustprinzips arbeitet, um Stauungen zu vermeiden und Abfuhren zu erleichtern.«(539) Diese Wandelbarkeit der Triebqualitäten wird ergänzt durch die Wandelbarkeit der Objekte, von der Übertragungsliebe bis hin zur Sippenhaft.(540) Diese mangelhafte Differenziertheit legt den Schluß nahe, daß diese Vorgänge ähnlich den Primärvorgängen des Unbewußten ablaufen, und nicht bewußt, also in der Ich-Instanz vollzogen werden.(541)

    Jeder Ausdruck dieses Urkonfliktes stellt, vom denkenden Ich bearbeitet, eine Form der Sublimierung dar. Dabei »wird eben auch die Denkarbeit durch Sublimierung erotischer Triebkraft bestritten.«(542) Wie das Ich die zunächst an die ersten Liebesobjekte gebundene Besetzungsenergie narzißtisch ins Ich zurücknimmt, »an die durch Identifizierung hergestellte Ichveränderung bindet« und dadurch auch desexualisiert(543), so funktioniert Sublimierung überhaupt. Eine der vielen Sublimierungsformen der apriori im Es angehäuften Libido, die emaniert an die primären Objekte, ist diese, durch Trauerarbeit zurückgeholte, nun aufs Ich selbst gerichtete ehemalige Objektlibido: sekundärer Narzißmus.(544) Das Ich bildet sich mit den sublimierten Kräften des Es, stellt gewissermaßen selbst eine Sublimationsstufe der Libido dar. Mit der Einführung der im Triebdualismus gewissermaßen dritten Kraft der desexualisierten, sublimierten Libido, die universelle Verwendung findet, wird diese, auch Verschiebungsenergie genannt(545), der ökonomische Angelpunkt der radikalen Konversionen des Trieblebens.

    Die Manifestationen des Eros und des Destruktionstriebs erscheinen durch die Vermischung und die Sublimierungsenergie in raffinierter Verpackung durch alle Instanzen des Strukturmodells hindurch: als Krieg beider im Es, als Sexualsadismus oder als moralischer Masochismus, als reuiges Strafbedürfnis im Ich, als reudiger Sadismus des Überich in den Derivaten der Kastrationsangst: der Gewissens- und der Todesangst.

    1.2.1.5.7 Primärer Masochismus und seine Abkömmlinge

    Freud führt als untersten Repräsentanten des Todestriebs auf der Es-Ebene den primären Masochismus auf, der als Schmerzlust im Es das »Residuum« des Destruktionstriebes bleibt(546), auch wenn ein Großteil seiner mörderischen Kraft, amalgamiert mit Sexuallust, im erotischen »Bereitstellungs«-Sadismus nach außen muskulär abgeführt wird.(547) Interessanterweise kann die »Abstossung der Sexualstoffe im Sexualakt«(548) mit dem postorgasmischen Gefühl des »kleinen Todes« eben auch als »Kampf gegen den Eros«(549) gelten, da die energetische Intention des Todestriebes, die Befreiung von jeglicher Spannung, jeglichem Lärm, jeglichem Kribbeln, also der Vollzug des Lustprinzips identisch ist mit der Triebabfuhr der sexuellen Libido.(550) So gelangen wir zu dem seltsamen Schluß, daß der Orgasmus wesentlich keine Funktion des Eros ist, der ja die Stimuli der Wollust akkumuliert, die sexuelle Erregung steigern will, sondern ganz im Gegenteil ist der Orgasmus die Vollstreckung des Todestriebs.

    Die Repräsentanz des Todestriebes auf der Ich-Ebene ist der moralische Masochismus, das Strafbedürfnis.(551) Das Ich bildet sich aus Identifizierungen mit den primären Bezugspersonen, Vater und Mutter, als eine Art Emanzipationsstufe sowohl von der Triebmacht des Es als auch der Strenge der direkten Inkorporationen der Elternimagines im Überich.(552) Es ist synthetische Einheit der Apperzeption, koordiniert Wahrnehmungsdaten im Zeitkontinuum und unterzieht seelische Vorgänge einer Realitätsprüfung, hemmt denkend die motilen Reflexe und beherrscht die Zugänge zur Motilität.(553) Das »Ich als armes Ding« steht im Kraftfeld dreier Mächte, unter deren Drohungen es leidet und mit denen und zwischen denen es vermittelnd Kompromisse einzugehen versucht: der Realität der Außenwelt, der Lustbarkeit und Grausamkeit des Es und schließlich der Strenge des Überich.(554) Im Es versucht das Ich, die Libido mithilfe des Todestriebs zu binden, zu sublimieren und sich deren Kraft für seine eigenen Zwecke dienlich zu machen, wobei es zugleich den Eros vertritt und leben und geliebt werden will.(555) Gegenüber der Außenwelt vertritt es das Es verlogen und rationalisierend.(556) Gegenüber dem Über-Ich befindet es sich in Unterwürfigkeit. Es wandelt die lustvolle Besetzung von Vorstellungen in angstvolle, um den zu erwartenden Strafen des Über-Ich für den Vollzug des Lustvollen zu entkommen.(557) Solche schützenden Gegenbesetzungen der Lustvorstellung mit Angst, schon bei der Verdrängung als deren Reaktionsbildung erkannt, können auch Phobien werden.

    1.2.1.5.8 Kastrationsangst, Gewissen und strafendes Über-Ich

    Die Gewissensangst, die Strafe fürchtet, entspringt der Kastrationsangst, die ja wahrlich Todesangst sein kann.(558) Die Unterwerfung unter die Strafe mag die einzige Möglichkeit sein, die völlige Vernichtung zu verhindern - darin ist der moralische Masochismus, das unbewußte Schuldgefühl geradezu phantastisch realitätsgerecht, wenn man die Berichte über Kindesmißhandlung und Kindestötung als Meßlatte des Realen anlegt.(559) Es ist die charaktereologisch zur psychischen Instanz geronnene Rolle des schutzlosen Kindes vor der realen Übermacht der Schläge des Vaters, seltener der Mutter oder anderer. Freud führt es, und vom Außmaße des Gewalttätigen hat er durchaus die richtige Dimension getroffen, auf die väterliche Kastrationsdrohung im ödipalen Konflikt zurück(560), wenn auch die Entfernung des Gliedes wohl eher symbolisch zu verstehen ist für die totale Entmächtigung des Kindes und die völlige Abspaltung seiner Wünsche und Gefühle.(561) Freud geht allerdings von der buchstäblichen, nicht einer symbolischen Kastrationsdrohung aus, wenn nicht von der phylogenetischen Wirkung der einstigen Realgefahr in der Urhorde.(562)

    Das Strafbedürfnis dient also einerseits zur Abwendung völliger Vernichtung oder, und Freud betont hauptsächlich diese libidinöse Seite: zur Kontaktmöglichkeit mit dem geliebten Objekt, welches direkt sexuell nicht zu haben ist.(563) Eine solche »Resexualisierung der Moral«(564), Schläge als Liebeszuwendung einzuheimsen, ist die Umkehrung der normalen Gewissensbildung, in der der Ödipuskomplex des verliebten Kindes durch fortgesetzte Versagung und die väterliche Kastrationsdrohung, also durch Desexualisierung überwunden wird.(565) Daß in der Zwangsneurose für »anstößige Regungen, die außerhalb des Ich geblieben sind« und in der Melancholie für ichsyntone, bewußt gewollte, sündliche Verwerflichkeiten die entsprechenden Schuldgefühle durch das raffinierte Ich verdrängt und damit unbewußt gemacht werden, bildet für das Ich ein Moment des Schutzes vor der Grausamkeit des strafenden Über-Ichs.(566) Die Unbewußtheit des Schuldgefühls bewirkt auch den Effekt der negativen therapeutischen Reaktion: daß mit partieller Besserung in der analytischen Kur zugleich eine Verschlechterung auf anderen Ebenen eintritt, worin sich ein Mechanismus der Selbstbestrafung, ein Stück Lust am Leiden, zeigt.(567)

    Auf der Über-Ich-Ebene manifestiert sich der Todestrieb schließlich als Sadismus gegen das Ich.(568) Wegen der direkten Verbindung mit dem Es weiß das Über-Ich auch über dessen mörderische Impulse so gut Bescheid und kann darauf mit ebensolch mörderischer Grausamkeit das Ich bestrafen, welches weder von den destruktiven Impulsen des Es noch denen des Über-Ichs etwas mitbekommen hat.(569) Für den Zwangsneurotiker haben verwehrte Liebesimpulse des Es sich aggressiv gewandelt, wollen das Objekt vernichten; das Ich wehrt verdrängend mit Reaktionsbildungen und Vorsichtmaßregeln diese destruktiven Es-Impulse ab.(570) So ist das Ich eingekeilt zwischen den mörderischen Impulsen des Es und den Vorwürfen des strafenden Gewissens. Solange die Aggression nicht nach außen gerichtet werden kann gegen Objekte, wütet sie im Innern zwischen den Instanzen, was Freud früher als »Wendung gegen das Ich« und Perls als Retroflexion bezeichnete.(571) Für Freud indes liegt der eigentliche Grund dieses Sadismus im Über-Ich nicht im sadistischen Umgang mit Kindern, welchen man Erziehung nennt, sondern er stellt geradezu die einzige reinrassige, nicht mit Libido gemischte Form des Destruktionstriebes dar.(572)

    Der Reflex des Ich auf die entmischte, reine Destruktivität des Über-Ich mit dessen perpetuierter Kastrations-, ja: Vernichtungsdrohung ist Angst, Todesangst.(573) Nun ist beim Melancholiker, in der Depression, die Todesangst mit ihrer Lähmung Zeichen der Selbstaufgabe des Ich, welches sich vom Über-Ich tödlich gehaßt und bedroht fühlt.(574) Wenn diese Macht sich tödlich drohend gegen das Ich wendet, ist es von allen guten Geistern verlassen »und läßt sich sterben«.(575) Vielleicht ist es ein archaischer Totstellreflex, ähnlich dem der Maus in den Fängen der Katze, der zu dieser apathischen Teilnahmslosigkeit führt. Er entspricht der vorgeschobenen Todesgrenze der Klagepsalmen, dem Herausfallen aus allen schützenden Verhältnissen.(576) Die Selbstaufgabe, die sich im Extrem der Todesangst findet, eignet in diametraler Weise dem Orgasmus: dort ist sie die häufig eher, aber keineswegs notwendigerweise, vertrauensvoll hingegebene Ichentgrenzung, der Kontrollverlust, in dem der »Störenfried Eros« durch die extreme Steigerung der Lebensprozesse in der orgastischen Extase »nach den Winken des Lustprinzips zur Ruhe« gebracht wird: von den Todestrieben, »die Ruhe haben... wollen«.(577)

    1.2.1.5.9 Energetische Unvereinbarkeit von Konstanz und Trägheit

    Die verwirrende Verkehrung der Fronten liegt in der Verwechselung des energetischen Satzes von der Konstanz mit dem der Reduktion der Spannung gegen Null hin. Ist Null das angestrebte Ziel der Erregungsabfuhr im psychischen Apparat, so ist die Annahme eines Lustprinzips, welches letztlich sogar die optimale Spannungslosigkeit, nämlich den Tod, anstrebt, durchaus plausibel und die bisherige Gleichsinnigkeit von Todestrieb und Lustprinzip berechtigt. Geht es aber um die Erhaltung eines ganz bestimmten neuronalen Spannungsniveaus als Grundpegel, der über- und unterschritten wird in den Stoffwechselprozessen, so ist die Konstanztendenz des Lustprinzips, die homöostatische Selbstregulation, durchaus nicht kompatibel mit einer völligen Spannungsreduktion, wie sie das Ziel des Todestriebes zu sein scheint.

    Freud versucht 1924 dieses Dilemma zu lösen.(578) Am Phänomen sexueller Lust stellt er die Aporie der bisherigen Energetik fest: »Es scheint, daß wir Zunahme und Abnahme der Reizgrößen direkt in der Reihe der Spannungsgefühle empfinden, und es ist nicht zu bezweifeln, daß es lustvolle Spannungen und unlustige Entspannungen gibt.«(579) Sexualerregung ist im Gegenteil Erregungsvergrößerung mit Lustcharakter; also kann die rein quantitative Bestimmung von Lust als Erregungsabfuhr nicht stimmen. Es muß ein weiteres, qualifizierendes Moment hinzutreten. Freud vermutet es tastend in der Zeitkonnotation des Rhythmus.(580) So kommt er zu folgender Klärung: »das Nirwanaprinzip drückt die Tendenz des Todestriebes aus, das Lustprinzip vertritt den Anspruch der Libido und dessen Modifikation, das Realitätsprinzip, den Einfluß der Außenwelt.«(581) Also würde die Libido nach der Stabilität und Konstanz eines biologischen Grundpegels nervöser Erregung streben, was neurologisch durchaus zutrifft.

    Dennoch soll es daneben aber als zweites Regelsystem den Todestrieb mit der Nirwanatendenz völliger Spannungsreduktion geben. Beide Prinzipien sind schlechterdings unvereinbar. Dagegen war es noch plausibler, den Todestrieb in der reduktiven, den Lebenstrieb in der produktiven Richtung der Erregungskurve zu verorten und die Balance beider, sozusagen das gelungen Triebgemisch, als Stabilität, Konstanz, als Lustprinzip. Dieser »Klärungsversuch« Freuds scheint mehr zu verklären als zu erhellen. Fromm hält die Übertragung des in der anorganischen Materie feststellbaren Entropiegesetzes auf die Funktionsweise der organischen Systeme für irreführend und mehrfach widerlegt.(582) Ebenso wie der zweite Thermodynamische Hauptsatz der Physik sind auch biologische Anhaltspunkte für die Annahme einer Tendenz zu völliger Spannungsreduktion nicht gegeben.(583) Jones(584) vermutet hinter der Entstehung des Todestriebes bei Freud persönliche Motive. Ist die Einführung des Todestriebs ein geradezu klassischer Fall von Rationalisierung eigener Wünsche zur Metatheorie?(585)

    Wesentlich verändert hat Freud seine Aggressionstheorie nicht mehr, wenn er sie auch noch oft skizziert hat. Auch in »Das ökonomische Problem des Masochismus« geht er vom Triebgemisch und der gegenseitigen Bindung von Libido und Destruktivität aus. Die Libido trifft im Vielzeller auf den Todestrieb mit seiner Zersetzungstendenz in Richtung auf Stabilität anorganischer Materie. »Sie hat die Aufgabe, diesen destruierenden Trieb unschädlich zu machen, und entledigt sich ihrer, indem sie ihn zum großen Teil und bald mit Hilfe eines besonderen Organsystems, der Muskulatur, nach außen ableitet, gegen die Objekte der Außenwelt richtet. Er heiße dann Destruktionstrieb, Bemächtigungstrieb, Wille zur Macht. Ein Anteil dieses Triebes wird direkt in den Dienst der Sexualfunktion gestellt, wo er Wichtiges zu leisten hat. Dies ist der eigentliche Sadismus. Ein anderer Anteil macht diese Verlegung nach außen nicht mit, er verbleibt im Organismus und wird dort mit Hilfe der erwähnten sexuellen Miterregung libidinös gebunden; in ihm haben wir den ursprünglichen, erogenen Masochismus zu erkennen.«(586) Alles ist Triebgemisch. Und man hat nur die Wahl der Prozente: was nicht nach außen geht, wird innen agiert. Und je mehr libidinöse Anteile im Triebgemisch, um so unschädlicher geht es nur zur sexuellen Bemächtigung, nicht auch zur Vernichtung des Objekts. Eine traurige Bilanz.

    Freuds unterscheidet den erogenen, den femininen und den moralischen Masochismus als Einbehaltungsformen der Destruktivität: Schmerzlust, weibliche Unterwerfungslust inclusive Fesseln und Peitschen(587), und schließlich die Unterwerfung des Ichs unter die Strenge des Über-Ichs.(588) Es ist immer nur per Triebmischung mit Libido eine gewisse Bändigung der Destruktivität zu erreichen, nie eine Destruktivitätsfreiheit.(589) Ursadismus und Urmasochismus im »Residuum« des Es können außengeleitet in Haßrelationen und danach rückgewendet gegen das Ich zum sekundären Masochismus werden(590) - alles Wiederholungen des Früheren.

    1.2.1.5.10 Selbstzerstörung oder Fremdzerstörung und kein Ausweg?

    In der »Neuen Folge« der (nicht gehaltenen) Vorlesungen 1933 spitzt Freud das Dilemma der Destruktivität zu. Er schreibt, »daß der Masochismus älter ist als der Sadismus, der Sadismus aber ist nach außen gewendeter Destruktionstrieb, der damit den Charakter der Aggression erwirbt.«(591) Dabei verbleibt dem Destruktionstrieb nur die Alternative der Selbstzerstörung oder Fremdzerstörung. Findet nämlich Aggression keine Aktionsmöglichkeit in der Realität, weil etwa dies zu schweren Strafen führen würde, so wird sie »das Ausmaß der im Inneren waltenden Selbstdestruktion vermehren... es sieht wirklich so aus, als müßten wir anderes und andere zerstören, um uns nicht selbst zu zerstören, um uns vor der Tendenz zur Selbstdestruktion zu bewahren. Gewiß eine traurige Eröffnung für den Ethiker!«(592)

    1.2.1.5.11 Liebesgebot und Diktatur der Vernunft als Mittel gegen Krieg?

    Im selben Jahr 1933 äußert sich Freud in der Antwort auf Albert Einsteins Diskussionsbeitrag zum Thema »Warum Krieg?«(593) in sehr ähnlicher Weise. »Das Lebewesen bewahrt sozusagen sein eigenes Leben dadurch, daß es fremdes zerstört.«(594) Gegen die pathogene Einbehaltung der Aggression in die autodestruktive Interaktion zwischen mörderischem Es, moralisch-masochistischem Ich und sadistisch-strafendem Über-Ich, die die Menschen in die Freudsche Praxis trieb, hilft nur ein frisches Außenlenken. Er schreibt, daß »die Wendung dieser Triebkräfte zur Destruktion in der Außenwelt das Lebewesen entlastet, wohltuend wirken muß.«(595) Nun ist vielleicht nicht unbedingt kriegerisches Abreagieren der Aggression die Ideallösung: »man kann versuchen, sie soweit abzulenken, daß sie nicht ihren Ausdruck im Kriege finden muß.«(596) Freud geriert sich als »Pazifist«.(597) Der Eros soll in seinen kulturellen Formen Frieden stiften: Das christliche Liebesgebot führt Freud als gemeinschaftsstiftend zusammen mit der Identifizierung mit kollektiven Werten analog der Identifikation der Masse mit dem Führer als Ersatz des Ich-Ideals durch ein gemeinsames Objekt ins Spiel(598), ideal »wäre natürlich eine Gemeinschaft von Menschen, die ihr Triebleben der Diktatur der Vernunft unterworfen hätten... Aber das ist höchst wahrscheinlich eine utopische Hoffnung.«(599) Der Mensch ist sein eigener Dompteur: so sieht Freud den Prozeß der Zivilisation und Enkulturation überhaupt.(600)

    In »Die endliche und die unendliche Analyse«(601) von 1937 führt Freud die negative therapeutische Reaktion der Verschlechterung des Befindens bei Fortschritten in der Therapie auf den Destruktionstrieb im Über-Ich zurück und beruft sich, im Wissen, daß seine Todestriebhypothese wenig Anklang unter Psychoanalytikern fand, auf Empedokles' kosmologischen Dualismus von fil[a und ne@ko', Liebe und Streit, deren periodischer Wechsel in der Kontingenz der t»ch den Lauf der Welt bestimmt. Hierin sieht Freud vorsokratische Bestätigung für seine »Urtriebe Eros und Destruktion«. Im »Abriß der Psychoanalyse«(602) von 1938 betont Freud ebenfalls seinen Urtriebdualismus von Eros und Destruktion in der bereits entwickelten Form.

    Die bisherige Darstellung des Triebdualismus hat sich beschränkt auf das Individuum. Der letzte Horizont aber ist der Übergang Freuds zur Kulturtheorie, in der er die antisozialen Tendenzen der Aggression und die vernetzenden Gegentendenzen der Libido in ihren sozialen Gestalten reflektiert. Dies wird im nächsten Kapitel Thema.

    1.2.1.5.12 Perls' Einwand: Hungertrieb und Dental-Agression befriedigbar

    Die Kritik von Perls an der Hypothese des Destruktionstriebs hat ein biologisches Argument und ein soziologisches. Das soziologische nimmt die Freudsche Kulturtheorie auf und sieht im Neid der unterdrückten Klassen und den Winkelzügen der auch Moral prägenden Herrschereliten Kriege als Versuche, Klassenkampf abzuwenden durch nationale Konsolidierungen unter der suggerierten Bedrohung äußerer Feinde. Diese Kanalisierung individuell verbotener zu kollektiver erlaubter Aggression der Weltkriege lenkt die aufbegehrende Empörung gegen soziale Ausbeutung von der besitzenden Klasse ab. An dieser Stelle steht Perls Freud relativ nahe. Es ist die am meisten von Marx bestimmte Stelle der Freudschen Sozialphilosophie.

    Das biologische Argument hingegen ist eine entschiedene Ablehnung der Freudschen Idee einer primären masochistischen Selbstzerstörungstendenz, die sekundär sadistisch konvertiert und als Bemächtigungswunsch der Aneignung des Sexualobjekts dient. Zwar nimmt Perls auch einen Bemächtigungsdrang an, siedelt ihn aber weder analerotisch als Besitztrieb noch phallisch als Bereitstellungsaktivitäten zur Kohabitation an. Bei Perls ist die Bemächtigungstendenz der Destruktion primär ausgerichtet auf die Assimilation von Nahrung. »Die Zerstörungsfunktion ist zwar an sich kein Trieb, aber sie ist ein sehr mächtiges Werkzeug des Hungertriebes«.(603) Damit ist die Zuordnung zur Oralität der bestimmende Sitz im Triebleben geworden, »der Gebrauch der Zähne die wichtigste biologische Repräsentanz der Aggression«.(604) Wie Freud anale Widerstände in der Kotverhaltung sah, genitale in der Impotenz und Frigidität, so sieht Perls orale Widerstände in Anorexie und Ekel, dentale Widerstände im perpetuierten Säuglingsverhalten, der Verweigerung aktiver, durchkauender Aneignung der Nahrungen. Perls bestreitet, daß Aggression selbst ein Trieb ist. Vielmehr ist sie ihm eine Verhaltensfunktion eines anderen Triebes: des Hungertriebes. Im frühen Freudschen Modell der Triebschicksale würde er in den Selbsterhaltungstrieben zu verorten sein. Perls nimmt analog zur libidinösen Phasentheorie Freuds eine Triebgeschichte des Hungertriebes an. »Die verschiedenen Entwicklungsstufen des Hungertriebes kann man als pränatale (vorgeburtliche), prädentale (Säuglings-), inzisorische (Beiß-) und molare (Beiß- und Kau-)Stufen klassifizieren.«(605) Die biologische Funktion des Hungertriebes mit der sich erst allmählich entwickelnden destruktiven Funktion der Zerstörung und Zerkleinerung der Nahrung dient der Verdauung, der Assimilation, ist alloplastische Anpassung an das Umfeld und biologische Grundlage der Selbsterhaltung, des Wachstums.

    Während Freud eine triebhafte Mordlust annimmt, die per Triebgemisch mit Libido, etwa als Bereitstellungssadismus des Sexualobjekts kulturell domestiziert werden muß(606), nimmt Perls eine triebhafte Kaulust des Essens an, die paradigmatisch für das gesamte Kontaktverhalten des Organismus zum Umfeld ist. Sie ist Grundmuster der aktiven, intelligenten Aneignung der Welt und bedarf fast keiner kulturellen Unterdrückung, solange sie auf Nahrung gerichtet ist. Durch ihre kulturelle Tabuierung und Verdrängung bildet sie aber Sublimierungsformen, welche dann in der Tat außerordentlich antisozial werden, wofern sich die Destruktion auf andere Menschen richtet.(607) Was für Freud als Mordlust des Destruktionstriebes primäre Ausstattung des Menschen ist, biologisches Apriori, hält Perls eben für die Entstellung eines anderen, fundamentaleren biologischen Apriori, des Hungers. Allemale aber steht Aggression bei Perls immer als virtuell gesundes und kulturell wertvolles Verhalten im Dienste der Erhaltung und des Wachstums des nicht nur menschlichen Lebens, während die Todestriebhypothese Freuds Aggression in einem nur durch Interzession der Libido aufgeschobenen primären Streben des Lebens nach seinem eigenen Tod verortet.

    Interessanterweise übernimmt Perls die Freudsche Theorie der Triebmischungen, der Legierung von ihrer Natur nach recht disparaten Trieben. »Grundsätzlich kann Aggression Teil jedes Triebes sein«.(608) Als motiler und bewußtseinsfähiger Anteil des Hungertriebes oder der Libido zählt Aggression dann aber zu den Ich-Funktionen, nicht zur Welt des Es, wie es die Freudsche Theorie vorsieht. Aggression ist eine Kontaktfunktion des Organismus und als Interaktionsfigur oder Gestalt des Befriedigungsverhaltens eines Triebes eine Fähigkeit oder Möglichkeit bewußter Kontrolle des Ich. Das Ich konstituiert sich immer auch als Aggression.(609)