Standorte:
Die Universalhistorie des experimentum mundi ist durch den Wärmetod der Galaxien in ca. 3 Milliarden Jahren als ein zeitlich begrenztes, endliches Geschehen zu verstehen. Die Entropie korrigiert nicht nur die Unsterblichkeitshoffnungen, sondern auch die Hoffnung auf eine endzeitliche Vollendung, die immer so weitergeht. Das Leben des Kosmos ist durch und durch vergänglich und ewiges Leben immer nur geschenkte Jetztzeit.(1) Wenn dennoch der geschichtliche Gott in seiner Einheit mit der Vergänglichkeit(2) seiner in Evolution wachsenden(3) Schöpfung so einwohnt wie der genetische Code der Cromosomen schaffendes »Wort«, bestimmende Erbinformation der ersten Zelle ist, nach deren Prädestination sich die gesamte Evolution des Mikrokosmos Tier oder Mensch (als z*on l7gon 6con; Aristoteles) vollzieht, sofern von außen keine andersgerichteten Einflüsse einwirken(4); wenn Gott als verborgene, von der Kosmogenese an mitexistente Tendenz-Latenz der Materie(5) ab dem Punkt A über die Biogenese bis zu dem nach Noogenese denkbaren Punkt W der Christogenese im Werden ist(6), dann ist er immer schon inkarniert, solange es Fleisch gibt. Gott ist Materie und diese hat sich zu makromolekularen Strukturen des Lebens organisiert.(7) Gott ist Fleisch von der ersten Amöbe an, die Freud zum Gleichnis der energetischen Emanationen der Libido und Perls zum Grundmodell allen Verhaltens dient.
Wenn dennoch der historische Jesus von den christologischen Mythen des Neuen Testaments noch in ihren inflationärsten Hypertrophien als eine besondere Signifikanz Gottes behauptet wird, anders als Messiasse vom Schlage Davids oder Hitlers, widerstreitet dies nicht der Einwohnung Gottes in der Schöpfung, die Jesus als Sonne über Guten wie Bösen gepriesen hat. Zwar kann der christologische Mythos die Subjekthaftigkeit Gottes immer nur in einem auf wenige Akteure begrenzten Kultdrama veranschaulichen, doch ist das Kultdrama immer auch Paradigma eines universalen Geschehens: die heilige Hochzeit wird stellvertretend und exemplarisch zelebriert für alle Sexualität und Befruchtungsaktivität der gesamten Schöpfung. »Einer für alle« bedeutet im Mythos und seiner kultdramatischen Inszenierung im Lebenszusammenhang der wiederkehrenden religiösen Riten und Feste, daß der Protagonist Leitbild und stellvertretender Akteur für alle anderen ist. Er repräsentiert das, was sie auch tun könnten.
Erst in späterer Zeit setzte die Arbeitsteilung und die Privilegierung einer besonderen Priesterkaste zugleich ein Tabu über das Ritual: Es wurde vom Paradigma für jeden zum Numinosen für den besonders Auserwählten, den Priester und Eingeweihten. Gegen diese Teilung, aus der die Reinheitsgesetze resultieren, hat der historische Jesus sich immer wieder gewandt; er akzeptierte nicht ein exklusives Priesteramt als besonderen Ort der Offenbarung Gottes. Wenn er in die Nachfolge rief, suchte er Gemeinschaft, keine Ausgrenzung eines heiligen Bezirks. Dann ist es konsequent, seine Geschichte und seine Erzählungen als Paradigmen eines Menschenmöglichen, als Animationen zum Leben zu verstehen, und nicht etwa als das, was wir Sünder unter keinen Umständen erreichen können, als den heiligen Sonderfall eines sündlosen Lebens.
Während die Christologien der alten Kirche die Einzigartigkeit Jesu versuchten auszudrücken, indem sie die religiösen Rollmuster der Machthaber des alten Orients und ihre Königsideologie auf Jesus übertrugen, erscheint heute gerade umgekehrt ein Entzwiebeln der imperialen Larvenhüllungen im christologischen Mythos unumgänglich, um wieder zur Einzigartigkeit Jesu als eines realen Paradigmas von Menschlichkeit vorzustoßen. »Der Stall, der Zimmermannssohn, der Schwärmer unter kleinen Leuten, der Galgen am Ende, das ist aus geschichtlichem Stoff, nicht aus dem goldenen, den die Sage liebt. Trotzdem hat man versucht, wie Moses, so Jesus in lauter Legende aufzulösen, mit niemandem dahinter... Unzweifelhaft ist Jesus von Mythe umgeben, doch sie ist nur der Rahmen, in den ein Mann eintrat und der von einem Mann gefüllt wurde. Der Rahmen war einer der Erwartungen; als solcher gerade ist er auch für die Existenz Christi wichtig, für dessen Auftritt hinein in Unruhe, Weissagung, Jahrgott-Mythos.«(8)
Wir haben heute nicht mehr nötig, die Besonderheit Jesu dadurch zu demonstrieren, daß wir ihm einen christologischen Hoheitstitel(9) nach dem anderen verpassen. Wir wissen, daß menschliche Größe nicht am Lametta der Ordensbrust erkennbar wird, sondern - und gerade das hat uns Jesus gelehrt - an den zartesten Zügen, den leisesten und leichtesten Impulsen. Jesus ist immer auch in den Interpretamenten seiner Leidensgeschichte vereinnahmt worden, ob als Messias, Menschensohn, Gottessohn, präexistenter Erlöser oder Gott, ob als Prophet, Rabbi, Hoherpriester, schönster Herr Jesu mit Herz für Kinder oder Revolutionär.(10)
Wenn hier auf die gesundmachende Kraft des Handelns Jesu abgehoben wird, dann ist das Ziel nicht, Jesus zur Primadonna der Therapieszene zu stipulieren. Wohl aber zeigt sich bei Jesus die Kraft zur Integration und Annahme all dessen, was die jüdische Gesellschaft seiner Zeit exkommuniziert hatte. Jesus hat das von der Gesellschaft nicht lizensierte, das Verworfene, geliebt und ihm neue Geltung verschaffen. Das war der innere Grund seines ärztlichen Erfolges, der ihn als je@o' 2n=r berühmt gemacht hatte. Die Vollmacht Jesu, sein »volles Sprechen«(11) aus der Tiefe seines Unbewußten mit aller Sinnlichkeit des Leibes hebt die Sprachzerstörung, die Spaltung von Vernunft und Wahn, Erlaubtem und Verbotenem, Klischee und Symptom auf. Das abgespaltene Raunen der Unvernunft findet in Jesu Rede Eingang in die Vernunft und erst da schließt sich die Gestalt des Logos zu einer machtvollen Einheit: »Jesus ist der im Vollbesitz des Logos befindliche Mensch. So hat es Athanasius in seiner Schrift über die Fleischwerdung des Logos dargestellt, ähnlich vor ihm schon Irenäus und ähnlich noch die spätere alexandrinische Christologie. Erst durch die Inkarnation des Logos entsteht der wahre Mensch.«(12)
Daß Jesus »Repräsentant wahren Menschentums schlechthin geworden ist, wie es der paulinische Gedanke von Jesus als dem neuen Adam besagt«(13), ist nahezu Konsens der Theologie: Für die Antiochener ist Jesu (mo[wsi' jeÜ vollendete Sittlichkeit. Für Anselm ist die überpflichtige Leistung freiwilligen Sterbens Zeichen vorbildlichen Gehorsams in der Genugtuung nach Adams Fall. Für Luther ist Jesus Urbild der Rechtfertigung allein durch Glauben: Er gibt dem strafenden Vater noch am Kreuz recht. Für Schleiermacher ist seine unübertroffene Menschlichkeit in seinem urbildlichen, kraftvollen Gottesbewußtsein verwirklicht.(14) Für Barth ist Jesus der urbildliche Mensch, dessen Gehorsam gegen Gott sich in Hingabe an die Mitmenschen zeigte. Gogarten sieht in Jesus das, was alle Menschen sein sollten: in vertrauensvollem Gehorsam gegen den Vater verantwortliche Erben der Schöpfung. Für Ebeling ist Jesus Inbegriff des Glaubens an Gottes Zukunft, dem der Glaube an Jesus als Inbegriff des Werkes Jesu folgt.(15) Rahner sieht in der Nachzeichnung des Menschseins Jesu »Anthropologie in ihrer radikalsten Verwirklichung«.(16) Über die Offenheit Jesu für die Zukunft im Berge versetzenden Glauben erschließt sich der Zugang zu der die Welt umspannenden Wirklichkeit Gottes: »Und in der Tat wird man die Einheit Jesu mit Gott als Erfüllung der für den Menschen als solchen konstitutiven Weltoffenheit verstehen müssen, wenn anders diese ihren eigentlichen Sinn in einer Offenheit über die Welt hinaus auf Gott hin hat.«(17)
Der Ausgangspunkt aller Christologie ist der historische Jesus als Quelle, Grund, Vorbild, Lehrer, Verkündiger des selben Glaubens, dessen Gegenstand und Inbegriff er nach seinem Tod wurde. Der Anhalt am historischen Jesus ist der Schutz der Christologie von der Irrealität einer rein doketischen Mythologie.(18) Der Beginn der Christologie ist Jesus selbst, weil ohne seine Existenz als »Sein in der Tat des Wortes von der Gottesherrschaft«(19) keine Rede wäre von seiner Auferstehung, obschon die Osterbrille des Auferstehungsglaubens der Filter ist, durch den hindurch alles Wissen über Jesus überliefert ist. Sprachereignis ist der handelnde und durch Apophtegmata, Parabeln(20) und Dialoge dieses Handeln kommentierende Jesus insofern, als alles dialogische Leben, jeder Interaktionsprozeß zwischen Lebendem, Signifikanz hat, ob mit oder ohne Worte, ob im sensomotorischen Austausch im Mutterleib, im Blick ins Auge der Katze oder der entfremdeten Kommunikation, die sich in ritueller Weise in Werbespot, politischem Apell oder Kanzelrede vollzieht. Weil alle menschliche Arbeit als Naturstoffwechsel immer schon in Interaktion eingebunden ist, ist alle menschliche und tierische Äußerung in aller materiellen und organismischen Selbstregulation immer auch Sprache. Leibgeschehen ist Sprachgeschehen. Als beseelter Leib ist Jesus in Tat und Wort immer auch Sprachereignis. »Als Erlaubnis zur Freiheit ist Jesu Verkündigung zugleich die Befreiung zu dieser Erlaubnis, das Sprachereignis, das uns in die Sprache der Erlaubnis hebt, so daß uns mit dem Gesetz zugleich der Weg offenbar wird, auf dem Gott zu uns kommt und auf dem wir Gott entgegengehen.«(21) Die Evangelien beginnen mit dem Leben Jesus, selbst wenn sie nach vorn erweiterte Passionsgeschichten sind.(22) Dennoch zwingt der Glaube der Jünger an eine leibhafte Auferstehung Jesu die Christologie nicht, das, was darin über die visionäre Widerfahrnis hinaus in der Fülle spätantiker Legendenbildungen ausgesagt ist, als Tatsachenbericht mißzuverstehen. Nicht die Sensationen eines angesichts der Leiden dieser Welt viel zu selten zaubernden Gottes können Hoffnungsgrund geben, sondern nur die Tiefe der unabweisbaren Sehnsucht nach Gerechtigkeit, die sich in der Trauerarbeit der Ostervisionen ausdrückt.(23) In den Ostervisionen handelt der im Unbewußten der Jünger visionär wirkende Gott der Liebe als tröstende Macht der heiligen Geistes so, daß sie zum Glauben Jesu und seiner Botschaft den Glauben an Jesus hinzufügen als Glaube daran, daß er sie beruft, seine Sache weiterzumachen als die Sache Gottes selbst, der unter dem Haß der Welt leidend das Verworfene und Häßliche mit besonderer Vorliebe auszeichnet.
Indem die visionären Jünger Jesus mit Gott identifizieren, identifiziert Gott sich mit dem toten Jesus so, daß er die Verhältnislosigkeit des Todes durchbricht(24) und zur neuen Möglichkeit eines mächtigen Seins über allen Tod hinaus auswächst. Der Liebesakt des Identifizierens ist mutuell: Der Andere schreibt mir Attribute zu und ich ahme den Anderen nach und gebe damit meiner Identität eine Gestalt. Diese ist anfänglich immer die des Anderen: Die Liebe drängt zur Mimesis.(25) Die dogmatische Rede von der Identifikation Gottes mit dem toten Jesus ist das Ergebnis eines geschichtlichen Lerngeschehens, an dessen Anfang die Identifikation des Jüngers mit dem Meister, des leidenden Apostels mit seinem gekreuzigten Herrn steht.(26) Die Gemeinsamkeit der Introjektion eines religiösen Objekts stiftet zugleich sozialen Zusammenhalt, wie heilige Mahlzeiten als kollektive Introjektion des Totems zeigen. Der verinnerlichte Andere ist im seelischen Innern installiert als Praxisfigur, Rollenmuster, Gewissen und als zensorische Instanz der Abblendung von Wahrnehmung in Traum und Realität.(27) Gottes Identifikation mit dem toten Jesus auf dem Feld der Trauer der Jünger und ihrer aus dem Unbewußten in die Erfahrung und darüber dann in den Glauben einschießenden Revelationstendenz ist Enhypostasie als Bezogensein auf das Leben.(28) In der verzerrten Form der nachträglichen Solidarität mit Jesus, die sich in den Trauervisionen manifestiert, kann so das Handeln Gottes an Jesus erblickt werden: daß die Welt für Jesus nicht nur der Ort der Vernichtung war, sondern in der Jesusbewegung zugleich der Ort, an dem in aller apokalyptischen Naherwartung der Gottesherrschaft erkannt wurde, daß er Nähe zu Gott hatte, erlebte und vermittelte. Diese Erkenntnis zu bekennen hieße, Jesus als die Nähe Gottes(29), als die konkreteste und konzentrierteste Einwohnung Gottes unter den Menschen zu feiern.
Die Textforschung kommt bis zu gewissen Näherungen an den historischen Jesus heran. Er ist der Grund allen Christusglaubens, ohne seinen Tod, genauer: ohne sein Leben hätte es keine Inflation der Hoheitstitel, kein Kerygma gegeben.(30) Wenn irgend Offenbarung war, dann - so sagt die Christologie - in seiner wirklichen Geschichte.(31) Darum ist der innere Ausgangspunkt der Christologie nicht die kerygmatische Überbietung mittels der Mythen, sondern die Lebensgeschichte des Menschen Jesus, das Geschick Jesu. »Die besondere Weise, wie durch Jesus die Wirklichkeit Gottes, nach der mit dem allgemeinen Gedanken Gottes und dem darauf bezüglichen Wort 'Gott' doch eigentlich nur gefragt ist, geschichtlich begegnet, kann erst von der geschichtlichen Besonderheit Jesu selbst her in den Blick kommen.«(32)
Den letzten Erweis der Gottheit Jesu wird das Ende der Geschichte bringen - ein todsicheres Argument, so unbestreitbar wie vertröstend-abspeisend. Während Pannenberg damit österliche Aufgeschlossenheit der Glaubenden(33) für die parusiemäßige Vollendung der Gottesherrschaft meint(34) oder das Hineingenommensein unseres Todes in die Solidarität des Sterbens Jesu(35), wird eine die Irreversibilität der Zeit und damit die Vergänglichkeit des Menschen akzeptierende Theologie nicht in der - möglicherweise ja einmal technisch machbaren und gleichwohl grausigen - Aufhebung des Todes und aller Naturgesetze den Erweis der Gottheit Jesu sehen, sondern in der historischen Durchsetzung der Bergpredigt als der gelingenden Lebensform einer freien und friedlichen Weltgesellschaft. Es ist naiv, eine reale Auferstehung vorauszusetzen und vom pneumatischen Status transorganismischer Untoter ausgehend auf ein allgemeines Nicht-mehr-Sterben-Können der Menschen zu setzen.
Die Idee der Einwohnung Gottes in seiner Schöpfung ist die Idee der völligen Immanenz Gottes in der Welt. Sie bedarf keiner Vermutungen über das Außerkraftsetzen des natürlichen Gesetzes der Vergänglichkeit menschlichen Lebens.(36) Daher ist der Versuch Pannenbergs, Jesu Gottheit aus einer Verwandlung der irdisch-organismischen Substanz eines klinisch Toten in eine neuartige Form von Leben in einer leiblichen Gestalt im Medium des Geistes(37) abzuleiten, ungeeignet, Gott als Grund alles Wirklichen konsequent innerhalb der realen Möglichkeiten der Welt zu denken, sowenig wie die Apologie vom leeren Grab zur Begründung des neuen Lebens Jesu taugt.(38)
Statt der Unsterblichkeitsidee einer polizeiberichtmäßig mitverstandenen Auferstehungstheologie bildet das Verhalten des historischen Jesus den seinen Parabeln vom gnädigen Gott viel genauer noch entsprechenden Rahmen seiner Verkündigung. »Desgleichen ist es jetzt nicht mehr nötig, die in den Evangelien dogmatisch vorverlegte Herrenaussage oder etwa den Titel des Sohnes Gottes und den des kommenden bzw. gekommenen Menschensohnes als des Inhabers der göttlichen Gewalt heranzuziehen. Das alles sagt für sich genommen nicht mehr, sondern eher weniger als Jesu eigenes Verhalten... Es genügt, wenn wir in Wort und Tat Jesu dieselbe Richtung finden.«(39)
Im Folgenden versucht der Verfasser, das psychoanalytische Modell der Liebe als eines von anfänglicher Eigenliebe mit dem Übergang zur Objektliebe und der Rückholung der Liebe zum verlorenen Objekt in der Trauer zu übertragen auf die Heilsgeschichte, in der die Objektliebe Gottes sich in Christus manifestiert. Ob verlorene Brust oder verlorener Sohn am Kreuz: es ist beidemal die Geschichte von Verzweiflung, Einsamkeit und Sehnsucht nach Erwiederung der Liebe: Erlösung. Der hermeneutische Ausgang ist die Überzeugung, daß die Geschichte Jesu der Geschichte eines jeden liebenden und liebesuchenden Menschenkindes zutiefst entspricht, weil Jesus ein wahrer Mensch war. Wenn jede Liebe auch sadistische Anteile sublimiert, stellt sich die Frage, wo und wie der Sadismus der Liebe Gottes Gestalt annimmt.
Freud nennt in »Zur Einführung des Narzißmus«(40) die Besetzungen von Objekten mit Libido-Energie »Emanationen dieser Libido«(41). Wie die Amöbe ihre Pseudopodien aussendet nach dem, wonach und wovon sie zehrt, sehnt, existiert, so ist das »große Reservoir der Libido« vom Wechselspiel der Aussendung und Einholung geprägt. Streng genommen ist das liebende Begehren die Selbst-Aussendung. Und in der Tat wird diese Selbst-Aussendung der Liebe in den Gleichnissen vom aussendenden Herrn, den gesandten Knechten und dem gesandten Sohn als einer Neuauflage des Vaters beschrieben. Auch die vom Geist trosthaft erfüllten Apostel repräsentieren in ihrem Heilen die Gnade und in ihrem Lehren die Logik des fleischgewordenen Wortes. In seinem Leiden repräsentiert der Apostel Paulus das Leiden seines gekreuzigten Herrn.(42) Sendung ist immer Repräsentation des Senders. Repräsentation ist in der Bibel immer Verleiblichung. Die sich in ihren Tentakeln selbst aussendende Libido Gottes verleiblicht sich in ihren Gesandten. Darum können diese als der Leib ihres Herrn bezeichnet werden. Kirche als Leib Christi will Gott verleiblicht repräsentieren, darum tragen die Glieder dieses Leibes den Hoheitstitel Kinder Gottes und sind Geschwister.
Der leibliche Vorgang der Selbstaussendung umfaßt neben Eitergeschwülsten, Defäkation und Urinieren das Ausatmen und in besonderer Nähe zum Begehren des Anderen die Sekretion verschiedener Körpersäfte: Schweiß, Sperma, Gleitschleim, Speichel, Tränen und Milch. Eine Sekretion besondere Art stellt die Geburt eines Kindes dar: in dieser Sekretion erschafft das Tier sich selbst noch einmal. Von diesem Wissen ist die alttestamentliche Welt geprägt. Das Kind ist die einzige Sekretion, die unabhängig von dem, der sie ausgeschieden hat, wird leben können.
Die in »Totem und Tabu«(43) festgestellte Ähnlichkeit zwischen Kindern und »primitiven Völkern«(44) in dem Glauben an die Allmacht der Gedanken, an magische Kräfte von Zauberworten, mittels derer eine grandiose Einwirkung auf die Außenwelt möglich sei, offenbart für Freud eine mit Größenwahn vergleichbare Selbstüberschätzung, die er als Narzißmus, als Ichlibido und als das Urstadium einer durch und durch triebhaften Liebe erkennt. In dieser animistischen Phase der magischen Praktiken und Rituale geht es um eine Beeinflussung der mannigfachen Götter, mit denen beseelt die Naturphänomene auf dieser Frühstufe der Religionen erlebt wurden. Dem gegenüber bedeutet der Mythos der Sendung(45) in allen seinen Varianten eine wesentlich reifere Stufe der Entäußerung und der Öffnung hin zur Welt, zum Liebesobjekt, zum Dialog mit dem Anderen, Unterschiedenen, Nicht-Identischen. Sendung, Mission, extrapoliert den Bereich der liebenswerten Objekte auf das Fremde, in die Weite der Welt. Wie alle Liebe immer auch Bemächtigungswille ist, sublimer Sadismus, so hat auch die Sendung immer einen Bemächtigungsdrang gegenüber der missionierten Welt. Der Gesandte sagt, sein Herr sei Eigentümer des Weinbergs, der Welt. Die christliche Liebe ist von dieser Schattenseite der Mission nicht ausgenommen, und ihr Wunsch, die Welt mit der Liebe zu füllen und zu besetzen, ist oft in den Wunsch nach Besitz überhaupt umgeschlagen.
Eine Vorstufe zur aktiven Mission der Gemeinde ist »Christus« als das archetypische Paradigma der Mission: Der gesandte Sohn als Erlöser aus dem Jammertal ist zum Prototyp der christlichen Identifikation von Sendung und Heilsbringung geworden. Weil in ihm Sendung und Heil konvergieren, wird fortan jede Sendung, in der Christen sich selbst verstehen, als heilige Mission und als heilendes Handeln begriffen. Dieser Irrtum war geschichtlich folgenschwer. Christliche Mission war oft auf der Welt nur die Vorhut der imperialistischen Peitsche und die Botschaft vom Gott, der Liebe ist, bereitete die Heiden nur auf den Liebesdienst des eigenen Ausblutens für die Erste Welt vor.(46) Leiden als Gleichgestaltung mit dem gekreuzigten Erlöser wurde zum Angebot an die Ausgebeuteten, ihre Unterdrückung als besondere schicksalsmäßige Nähe zu Gott zu idealisieren. Dieses demütige Identifizieren mit einer Liebe, die zum Schinden und Zerstören der eigenen Leiblichkeit führt, ist unmittelbare Produktivkraft im internationalen Prozeß der wirtschaftlichen Ausbeutung geworden. Das Christusdrama und die besondere Beschäftigung mit dem Verhältnis zum gesandten Sohn sind für die Gläubigen die zentrale Motivationsquelle und Schaltstelle, an der sich ihr eigenes Sendungsbewußtsein prägt und speist. Darum ist die Christologie der paradigmatische Kern des gesamten Selbstverstehens der Christen: Wie sie ihn sehen und übersehen, so sind sie selbst oder wollen es werden. Nicht zufällig ist das Motiv der Brüskierung oder des Nicht-Verstehen-Könnens immer wieder in den Evangelien präsent. Jesus ist zum Spielball der Projektionen geworden.
Freuds Figur der »Emanationen« der narzißtischen Ichlibido in die Objektbesetzungen, in die Entäußerungsformen des primären Fürsichseins der Libido als der psychischen Manifestation dessen, was irgend Liebe zu nennen wäre, spielt auf die Kosmogonie der Gnosis an.(47) Das regt zu einer Reflexion über die zentrale Rolle der Gnosis für die Konstitution des Christentums an. Dabei wird deutlich werden, wie viel Material fremder Religionen die Gnosis und mit ihr das Christentum aufgesogen hat. Es ist für uns ein verwirrendes Gefühl, uns vorzustellen, daß unsere innigstes Zentrum des Glaubens, die Erlösungslehre, sich mehr vedischem Erbe und dem Zoroastrismus verdankt als dem Wirken Jesu, der kein Hellenist war.(48)
Versuchen wir eine erste psychoanalytische Annäherung, noch nicht detailliert: Die Gnosis ist eine indisch-iranisch(49) inspirierte noch nicht dogmatisch geronnene Pluralität verschiedenster Schriftsteller, die in gewisser gegenseitiger Toleranz einen Grundmythos narrativ variieren: »Die Schöpfung ereignete sich, indem aus der göttlichen Sphäre der reinen Lichtwelt ein Teil in die unteren Bereiche hinabfiel und sich mit der Materie verband. Weil die Welt durch einen Fall entstand, ist sie nicht das eigentliche, sondern das fremde Werk der Gottheit, das nun von feindlichen Gewalten regiert wird.«(50) Marcion hält gar den Schöpfer dieser gefallenen Welt selbst für einen bösen Demiurgen.
Die reine Lichtwelt als Quelle der Emanation im Schöpfungs- oder Geburtsakt der Weltwerdung mutet geradezu embryonal vollkommen an. Hier ist die Welt noch in Ordnung, der Mensch in ihr ist noch nicht vom Trauma der Geburt und Erziehung beschädigt und in den Taumel der Welt geworfen. »Der Urmensch, der am Anfang gebildet wurde, ist nicht durch seine Schuld in die Lage gekommen, in der sich die Menschen nun befinden, sondern durch einen schicksalhaften Fall ist er in die Welt hineingeraten und in ihr festgehalten worden. Die Mächte, die über die Welt wachen, haben ihn überwältigt, ihn trunken gemacht und eingeschläfert, damit er seine Herkunft aus der himmlischen Heimat vergißt und nicht mehr weiß, woher er kam.... Da im Menschen weiterhin ein göttlicher Funke schlummert, hängt alles davon ab, ob dieser Funke wieder zum Leuchten gebracht werden kann oder ob er erlöschen wird. Die kosmischen Gewalten haben ein vitales Interesse daran, ihn nicht aus Gefangenschaft, Schlaf, Trunkenheit und Selbstvergessenheit freizugeben.«(51)
Der Mensch in seinem Geworfensein ist verzweifelt auf der Suche nach der pränatalen Einheit und Heimat in der göttlichen Lichtwelt. »Angst, Sorge und Sehnsucht nach Befreiung bleiben vergeblich. Da das Tor zur Freiheit nur so aufgetan werden kann, daß Gott den Weg zur Heimkehr zeigt, schließt die Erkenntnis nicht nur das Wissen über die Geburt, sondern vor allem auch über die Wiedergeburt ein... Weil Gott, der in weiter Ferne über der Welt thront, und die göttliche Substanz, die in der Seele des Menschen ruht, auf Grund naturhafter Verwandtschaft zusammengehören, darum muß die Seele wieder aufsteigen in die obere Welt«(52). Wiedergeburt ist »nach gnostischem Verständnis Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes«(53), ist restitutio in integrum.
Im Perlenlied der Thomasakten erwacht der in die ägyptische Fremde ausgesandte königliche Perlensucher aus seiner Welttrunkenheit: »Ich gedachte, daß ich ein Königssohn sei und meine Freiheit nach ihrer Natur verlange.«(54) Hier wird die Grandiosität des Selbst, die dem Narzißmus eigen ist, als Teilhabe an göttlicher Natur, dem protologisch formulierten Ureins mit dem göttlichen Licht, geschildert. Assonanzen an Atman, die buddhistische Einheit von Seele und All, werfen die Frage nach religionsgeschichtlicher Homologie mit der indischen Religion und indoeuropäisch-avestischer Herkunft auf.(55)
»Die Erlösung vollzieht sich also in der Rückkehr zum Ursprung, indem der verborgene göttliche Kern des Menschen freigelegt und dadurch seiner eigentlichen Bestimmung zurückgegeben wird.«(56) Das Urbild der Erlösung ist das ins Kosmische übertragenen Imago embryonaler Geborgenheit, welche den bodenständigen unteren Schichten die Dorf- oder Stammesgemeinschaft vermittelte: Heimat mit Frühlingsbutter
Die proto-indoeuropäischen Stämme kamen aus der heutigen Ukraine und dem Donez-Becken. Ihre Tumuli- oder Kurgankultur datiert vom 5. - 3. Jt. v.Chr. Zwischen 4000 und 3500 v.Chr. wandern sie nach Westen, dringen ca. 3000 v.Chr. in den Balkan, nach Mitteleuropa, Anatolien und den Nordiran vor, in einer weiteren Eroberungsbewegung im 3. Jt. nach Nordeuropa, in die Ägäis und den nahen Osten. Bekannt unter dem Namen Hethiter, Luwier und Mitanni machen sie zwischen 2300 und 1900 v.Chr. in Griechenland, Kleinasien und Mesopotamien Eroberungs- und Plünderungszüge, zerstören Städte, unterwerfen die dortigen Bewohner und assimilieren ihre Kultur mit der eigenen. Ihre patriarchalische, sehr hierarchisch strukturierte Kultur umfaßt Ackerbau, Rinder-, Schweine-, Schaf- und Pferdezucht. Eine Kriegerkaste besorgt die Eroberungen. Ein Himmelsgott deiwos(57) ist Vaterschöpfer, der Donner(58) als Wettergott übernimmt allmählich seinen Rang. Daneben das vom Blitz erweckte Feuer: der vedische Agni(59) ist dort der Größte. Der Sonnengott, vedisch Surya(60) ermöglichte Homologien mit den orientalischen Kulturen. Wind wurde iranisch und indisch als Vayu divinisiert. Eroberter Raum wurde rituell-schauspielmäßig kosmisiert, die Welt periodisch erneuert im rituellen Kampf zweier Darstellergruppen.(61) Den im Fest anwesenden Göttern wurden im Freien Brandopfer gebracht, Tempel gab es nicht. Neben einer ursprünglicheren hethitisch-slawisch-baltisch-armenisch-germanischen Dialektgruppe steht eine iranisch-griechisch-keltische. Um 1200 v.Chr. dringen indoeuropäische Arier nach Indien ein, unterwerfen die Einheimischen zur vierten, versklavten Kaste neben Priestern, Kriegern und Ernährern. Die Religion und Kultur vom Iran und Indien hat aus dieser Zeit ihre tiefe Gemeinsamkeit. Von der sumerischen bis zur zoroastrischen Ausformung haben die Israeliten durch die assyrische Eroberung des Nordreichs 733/722 v.Chr. und das babylonische Exil 586-538 mit Austausch der ideologischen Eliten(62), zu denen Ezechil und Deuterojesaja gehörten, die religiöse Individualisierung und Spiritualisierung des Heils, den Äonendualismus Zarathustras und die sumerische Kosmogonie übernommen. Daneben gibt es die Beeinflussung der Griechen durch die chaldäische Frömmigkeit und Astrologie. Diese Assimilation iranischer Religion im hellenistischen Zeitalter durch die Vorsokratiker, Platon und die Stoa findet ihren Niederschlag in der Popularphilosophie des hellenistischen Judentums.
Als dritter, vergleichsweise unbedeutenderer, aber von der ideologischen Struktur her völlig gleichsinniger Faktor kommt die durch Handel und Wirtschaft ermöglichte, auch für China um 100 n.Chr. bezeugte brahmanische Missionstätigkeit hinzu. Alle diese Einflüsse führen gleichermaßen auf ihre indoeuropäische Vorstufe zurück und bilden in der Zeit der entstehenden Gnosis ein nahezu homogenes gedankliches Milieu.
Die Gnosis hat als sozialen Nährboden das Erstarken des Welthandels, die Karawanen bis nach Indien, einen wachsenden Kulturaustausch und die Entwurzelung der Händler oder politischen Gesandten von ihrer Stadt, ihrer Stammesgemeinschaft: erstmals sind hier Individuen ganz auf sich allein gestellt und müssen finstere Abenteuer in der Fremde bestehen.(63) Zugleich führt der Zerfall der kleinen nationalen Verbände und ihre fortwährende Umorientierung zu Provinzen der verschiedensten Großreiche zu einer tiefen Skepsis gegenüber der Weltkonstanz.(64)
Religiöser Synkretismus spiegelt nur den der ökonomischen Basis. In der Perserzeit und besonders unter Alexander dem Großen und Ptolemäern und Seleukiden vollzog sich eine wachsende interkulturelle Vernetzung auf dem Boden fortschreitender wirtschaftlicher Vernetzung. Die Taktik berittener Bogenschützen verschaffte Kyros II. 539 v.Chr. und später Dareios I. 513 und Xerxes I. bis 465 einen durch Königsstraßen ausgebauten Einfluß von Griechenland bis Indien und China.(65) Zarathustra's Dualismus beherrschte das iranische Denken. Unter Kyros waltete im persischen Großreich und seinen 20 Satrapien eine starke religiöse Toleranz. In dieser entspannten Situation konnte iranisch-zoroastrisches Erbe besonders effektiv in die jüdische Apokalyptik und später die Gnosis einfließen. Die Politik Alexanders des Großen (336-323) nach Issos und Gaugamela wollte griechische und persische Kultur amalgamieren. Sein Indienzug 327-25, motiviert vom Weltherrschaftsgedanken, festigte die Infrastruktur des hellenistischen Imperiums. Die Einführung des attischen Münzfuß als Einheitswährung ermöglicht statt der orientalischen Hofschatzpolitik nun erstmals universale Weltwirtschaftsbeziehungen. Das koin=-Griechisch als Weltsprache brachte die Kulturen ins Gespräch miteinander. Der Welthandel im Ptolemäerreich reichte ab 300 v.Chr. vom phönizisch etablierten Seehandel im Mittelmeerraum bis zur Seeverbindung durchs rote Meer nach Indien, zugleich zogen in Persien die Karawanen der Seleukiden von Seleukia über Ekbatana, Baktra auf der Seidenstraße bis nach China und über Alexandreia am Indus bis nach Indien.(66)
Alexandria am Nil wurde das Welthandelszentrum: »Der große Hafen mit den für ihre Zeit riesigen Im- und Exporten sorgte dafür, daß die blühenden Alltags- und Luxusgewerbe oft in Wucher und Spekulation übergingen. Das nach außen glitzernde Leben zog immer mehr Menschen an... Das Leben muß, namentlich für die kleinen Leute, sehr mühselig gewesen sein... Sicher gab es oft Grund, auf der Straße zu demonstrieren... Mit dem Neben- und Durcheinander der Menschen mischte sich das, was sie dachten und glaubten. Die mit dem Austausch zwischen den genannten Bevölkerungsteilen gegebenen Möglichkeiten, daß jeder alles meinen und vertreten konnte und durfte, wurden noch alternativer, wenn Neger, Inder, Chinesen und Germanen hinzukamen, wie sie in Bühnenspielen auftreten auf auf Terrakotten der Zeit erscheinen.«(67) Die Juden bewohnten in Alexandria ein ganze Stadtviertel.(68) Dort entstand auch die Septuaginta. Literatur, Kunst und Naturwissenschaft entfalten sich hier. In Elephantine nahe dem ägyptischen Assuan gab es im 5.Jh.v.Chr. schon eine eigenständige jüdische Gemeinde mit eigenem Tempel, in dem neben Jahu (Jahwe) eine Abwandlung von Isis und Osiris verehrt wurden - trotzdem hatte diese Söldnerkolonie gute Verbindungen nach Jerusalem.(69) Alexanders Truppen hatten nach Eroberung Samarias dort eine makedonische Militärkolonie anlegen lassen, wodurch, trotz Tempelbau auf dem Garizim als Auflösung der Zentralfunktion Jerusalems, eine rapide Hellenisierung der Stadt einsetzte.(70) Jüdische Gemeinden bestehen außerdem, durch assyrische und babylonische Deportation initiiert, in Babylonien. Die Seleukiden siedeln von diesen etliche in Kleinasien an, so in Lydien, Phrygien, auf Delos, in Sparta, Sardes, Damaskus und Antiochia.(71) Die Beziehungen dieses beginnenden Weltjudentums zum Mutterland und die Söldnertruppen und Händler aus fremden Ländern förderten diese umfassende Vernetzung der Kulturen.(72) Durch den Welthandel kamen neben indischen Söldnern auch vedische Brahmanen(73) in den Orient und ihre Gedanken und religiösen Mythen flossen mit dem zoroastrischen Dualismus bis in jüdische Apokalyptik ein.(74) Megasthenes schreibt als Gesandter Seleukos I. in Indien zwischen 304 und 292 v.Chr. eine stoische Darstellung brahmanischer Philosophie: Indika. Darin stellt er fest: »Alles, was bei den Alten über die Natur gelehrt wurde, wird auch bei den Philosophen außerhalb Griechenlands, einmal bei den Indern von den Brahmanen, zum andern in Syrien von den sogenannten Juden gesagt.«(75) Klearch von Soli, Schüler von Aristoteles und abhängig von Megasthenes, bezeichnet Juden als »Nachkommen der Philosophen in Indien«.(76) So hat es auch Dialoge des hellenistischen Judentums mit der indischen Veda-Religion gegeben.(77)
Aber der indische Einfluß ging auch über Pythagoras, Parmenides, Platon und die griechische Popularphilosophie in die Gnosis und das Christentum ein. Aristoxenos von Tarent stellt nicht nur Pythagoras als Zoroaster-Schüler(78) dar, sondern schreibt von der Zusammenkunft des Sokrates mit einem indischen Weisen, »der ihm durch seine Kenntnis göttlicher Dinge weit überlegen war.«(79) Platon, dessen 'Staat' in der gnostischen Bibliothek von Nag Hammadi gelesen wurde(80), hat das iranische Erbe über Plotin bis in die christliche Mystik weitergegeben.(81) Seine Idee der bei der Schöpfung erstgeschaffenen und fortan mitschaffenden Weisheit als Weltseele im Politicos und Timaios(82) wurde von der Stoa aufgegriffen und bei Kleanthes mit dem Logos identifiziert.(83) Damit ist eine Vorstufe der gnostischen und weisheitlichen sof[a gegeben, die im Johannesprolog auf Christus bezogen wird.(84) Wenn der Peripathetiker Aristobul von Alexandria als erster jüdischer Philosoph 170 v.Chr. mit Aristoteles Gott als unbewegten Beweger und die Weisheit als erstes Schöpfungswerk in einer stoischen Allegorese biblischer Mythologie zum gemeinsamen Thema philosophischer und theologischer Reflexion macht, zitiert er Orpheus, Pythagoras, Sokrates, Timaios und Platon neben dem Pentateuch.(85)
Wie Tales und Anaximander von Milet, Parmenides und andere Vorsokratiker als materielle Basis ihres philosophischen 'Müßigganges' den von Handarbeit freistellenden Status eines wohlhabenden Kaufmannes hatten, waren viele der Kaufleute und Handwerker religiös gebildet und so imstande, mit dem Warenhandel zugleich eine Art Austausch religiöser gn*si', sof[a und 5pist=mh zu betreiben. Zugleich führten sie ihre weiten Reisen in die orientalische Kultur, aus der sie ihre Grundideen bezogen.(86)
Zarathustra lebte über 70 Jahre , geboren zwischen 665 und 569 v.Chr. in Baktrien, jetzt Nordwest-Afghanistan. Er vertrat eine Weidewirtschaftskultur mit Rinder-, Pferde- und Kamelzucht, die vom Kriegerstand oder von räuberischen Nomaden, u.U. einer Abspaltung der arischen Viehzüchterkultur, bedroht wurde. Diese fröhnten, mit Haoma berauscht, orgiastischen Viehschlachtungen .(87) Zarathustra verbindet Gottesglaube und soziales Handeln zu einem bewahrenden Umgang mit Tieren und Umwelt.(88) In der Tradition weißer Schamanen hat er im Drogenrausch (xvamn) Gottesvisionen von Ahura Mazda, deren gebetsartige Aufzeichnung zugleich Verkündigung ist.(89) Die beiden ersten Geister (mainyu) der Schöpfung, die Zwillinge Spenta Mainyu als Heilsbringer und Geist der Wahrheit und Angra Mainyu (später: Ahriman) als Geist des Bösen, des Mordrausches (aê
Ziel des Weltprozesses ist die Ausrottung des orgiastischen Rinderschlachtens; in der Klage des geschundenen Rindes optiert Zarathustra für die gesamte niedergetretene Kreatur.(95) Dahinter verbirgt sich die Option für den niederen Hirtenstand gegen die schamanisch-ekstatischen, brutale Riten übenden Männerbünde des Kriegerstandes.(96) Zarathustra übte selbst den priesterlichen Opferdienst aus; seine Ritualtexte stammen aus indogermanischer Tradition.(97) Er hatte einen Schülerkreis von Wanderradikalen um sich geschaart, bettelarm in dunklen Lumpen mit Keule, die durch ihre Ausgelassenheit auffielen.(98) Er trennte Haoma-Ritual und Rindertötung, um die durch die Rausch-Exzesse bedingte grausame Qual der Tiere zu einem "schmerzarmen" (Betäubung per Holzklotz) Ableben zu mausern; auch sollte keine Einverleibung des göttlichen Himmelsstiers als selbstvergottende jeopo[esi' zelebriert werden.
Es gibt für die Lebewesen (gaêthâ) primär das Geistige Sein (daênâ). Die Überführung ins Knochenhafte Sein (astvant) ist quasi zweiter Teil der Schöpfung.(99) Zwischen Ahura Mazda und den Menschen stehen die heilwirkenden Kräfte, die Sponta Mainyu, die auch als Herren, Ahuras, angerufen werden.(100) Sie haben als Formen und Instrumente des Wirkens Gottes zugleich eine gewisse eigenständige Existenz, sind Hypostasen, Seinsweisen Gottes, teils als Geister personifiziert gesehen, teils als Kräfte abstrakt. Sie entsprechen weitgehend altvedischen Götterappellativen.(101) Die Abstraktion der Geister zu Kräften, zu Begriffen moralischer oder schicksalhafter Qualität, ist nur die andere Form der Personifikation zu Hypostasen oder Instrumenten des einen Gottes. Im Zurvanismus (Zurvân akarana = unendliche Raumzeit, mit Ahura Mazda bzw. Ohrmazd identifiziert) wird aller Weltlauf vom einen Gott prädestiniert gesehen und damit auch das Böse fatalistisch als Seinsmöglichkeit Gottes betrachtet.(102) Historische Basis des Dualismus war der soziale Antagonismus der Bauernkultur mit den Raubnomaden, ähnlich wie der Dualismus der Qumransekte sozialen Anhalt am Konflikt mit Hasmonäern und Pharisäern hatte.(103) Je krasser die soziale Bedrohung, um so schärfer die religiöse Scheidung des Guten und Bösen. Der Kampf des Guten gegen das Böse ist ja selten endgültig gewonnen, sodaß sich eine eschatologische Perspektive von selbst aus der Hoffnung auf künftigen Sieg des Guten ergiebt.(104) Festzuhalten bleibt, daß die Option Zarathustras für die Rinder und mit ihnen für alle Tiere und die natürliche Lebenswelt eine der frühesten Formen einer ökologisch bewahrenden Partnerschaft mit der Natur darstellt; allenfalls Jesajas Tierfriede von Wolf und Lamm, Bär und Kuh (11,6-9) und das in der Schöpfungsauftrag-Variante Gen 9,3f bei Noah schon wieder zurückgenommene vegetarische Fleischverbot Gen 1,29f fallen in der Sensibilität gegenüber der nährenden Umwelt radikaler aus; faktisch ist das Schächten der Tiere aber keineswegs Tierfriede. Das Rind hätte sich, bei freier Wahl, sicherlich eher für Zarathustra als guten Hirten entschieden als für einen israelitischen Hirten.
In der Zeit nach Zarathustra wurde Khwârezm Teil des Achämenidenreichs; Stadtkultur und Diversifikation des Ernährerstands von reiner Viehzucht auf nun auch Ackerbau, Weinanbau und Handwerk können vom auf das Rind focussierten Zoroastrismus nicht zu einer geweiteten ökologischen Ethik prophetisch assimiliert werden und führen zu einem Rückzug der Priesterschaft (âthravan) als Magierstand in den Kultus der Feuerheiligtümer, die hierarchisch gestuft, das Land überziehen.(105) Die Âthravan haben sogar Missionsreisen unternommen.(106) Feuer und Licht als Gleichnis Ahura Mazdâs und Pol des Guten im Dualismus motivierten bald schon die Verehrung der Sonne als die himmlische Gestalt Ahura Mazdâs.(107)
Das Wasser wurde als seine Gattinnen und Töchter gesehen; hieraus entstand die Idee des kosmischen Inzests, den der kernfamiliale Inzest unter Geschwistern und zwischen Vater-Tochter und Mutter-Sohn nurmehr nachvollzog, mit dem der Iran von ca. 150 - 1100 n.Chr. wohl einzig in der Welt die Universalität von Freuds Ödipuskomplex via Inzesttabu widerlegt.(108) Vermutlich kam der Inzest im Priesterstand auf, um ihre Gemeinschaft rein zu erhalten vom Ernährerstand und erbrechtlich die Besitztümer nicht zu zerstückeln und um kultisches Herrschaftswissen zu potenzieren.(109)
In der zoroastrischen Orthodoxie vertieft sich der dogmatische Gegensatz von Gut und Böse, Wahrheit und Trug als der von Licht und Finsternis, rein und unrein, Ohrmazd und Ahriman im Kampf zur Zeit der Materialisierung der präexistenten mênôk-Welt in den gêtîk-Zustand. Durch die Missionsreisen der M0goi hat dieser Dualismus sowohl die griechischen Philosophenschulen als auch die jüdischen Theologen in ihrer babylonischen Exilierung affiziert.(110) Der Zurvanismus (Gau
Anaximander hat, wie Thales, durch den milesischen Seehandel
weite Reisen
gemacht, vermutlich auch nach Phönizien und Ägypten.
Seine eherne
Weltkarte zeugt von der Bedeutung der Neuorientierung am Gesamt der
alten
Welt. Seine Sonnenuhr mag von den Babyloniern abgeguckt sein. Seine
Philosophie
greift entmythologisierend die babylonischen Schöpfungsmythen
des
Enuma Elish auf. Das Eine, t/ VEn, ist die Ursubstanz, die 2rc=, ist
das
Unbegrenzte, das 3peiron, unendlich und unvergänglich, ist in
ewiger
Bewegung, metabol= oder k[nhsi',(112) und geht über die drei
Elemente
Meer - Erde - Feuer aus den Tiefen des unterirdischen Wassers mit den
Fischen
als Menschen-Eltern über die Landbehausung bis zur Nutzung des
Feuers,
der Kultur. 6kkrisi' und 2llo@osi', Ausscheidung oder Verwandlung
resultiert
aus der inneren Bewegung des Urstoffs, bei Thales Wasser wie
Tiamat.(113)
Samen ist »das 'Zeugungskräftige', das sich vom
Unbegrenzten
abtrennte, ist die pr+th
Wenn das erste Paradigma für die Entstehung der Welt die des Menschen selbst ist, der Makrokosmos nach dem Vorbild des Mikrokosmos gedacht wird(122), sind in diesen kosmogonen Mythen die Teilungen des Chaos-Drachen-Schlangen-Urleibes(123) Verweise auf die Teilung der Schenkel und Lippen der Vagina, die sich unter orgastischem Zucken, später abermals unter Wehen und K(r)ämpfen auftut, um die Lebenden (Penis/Embryo) teilzeitweise zu beherbergen und aus sich zu entlassen. Früher starben viele Mütter bei der Geburt wie Tiamat. Eine kosmogone Reaktualisierung dieser Teilung ist dann die heilige Hochzeit des Königs mit der Hierodulen in einem geheimen Raum des Tempels als Weltmittelpunkt(124), wohl weil pünktliche Geburt zum Neujahrsfest schwierig realisierbar war.(125) Wenn Uranos in Gaia seine Brut eingesperrt hält, ist der Schöpfungsakt auch der Geburtsaspekt des sich ins Freie entwindenden Embryonen, ist ein aktives Ins-Sein-Treten des Säugers. Das Pflügen der Erde und Aussaat sind agrikolare Penetrations-Varianten dieser Syszygie. Wenn Schöpfung heißt: Chaos strukturieren, welches Anfang und Ende der Welt bezeichnet, sind Sintfluten, Frühjahrsüberschwemmungen zugleich tödliches Ende der alten Zeit und fruchtbarer Beginn der neuen Zeit.(126) Ob überschwemmender Samen aufs Land oder injiziert in die Damen: Beides ist Wiedergeburt der Schöpfung und kosmogoner Akt. Im persischen Neurôz-Fest wird das Neujahr Ahura Mazdah's 1) als Neubeginn der Zeit nach dem frühjährlichen Sintflut-Ende und 2) als Wiedergeburt gefeiert und mit Mithras Auferstehungsfest mihragân kombiniert.(127) Schöpfung ist Lebendigmachen und Lebendigwerden zugleich.
Die phönizische Ras-Schamra-Kosmogonie des Sanchunjaton setzt im Parallelismus membrorum als Urstoff »dunkle und windige Luft« mit »trübes und finsteres Chaos« zusammen: dieser Nebelabgrund sei das Apeiron.(128) War in Enuma Elish männliche Tiefe und weibliches Urmeer kosmogone Geschlechtspolarität, so wird hier die Ursubstanz als selbstbefruchtende Einheit beschrieben. Der Gott Pothos, der nach sich selbst begehrende Odem, ist eine zweite, ursprünglich eigenständige Kosmogonie im Phönizischen. Bei Hesiod werden Chaos und Eros zur Einheit.(129) Chaos ist gähnender, unendlicher Schlund, Ursprung von Himmel und Erde.(130) Der Kronos-Mythos ist in einer vorgriechischen Tradition auf Kreta beheimatet gewesen, dort wohl von den Phöniziern eingeschifft.(131) Es ergibt sich also als eine von vielleicht vielen weniger offensichtlichen Beeinflussungen der Griechen durch den Orient folgende Traditionslinie: Sumerer/Arier/Churriter - Phönizier - Kreta - Delphi - Hesiod & Anaximander und alle weiteren Vorsokratiker. Für die Anfänge der griechischen Philosophie ist also ihre orientalische Orientierung konstitutiv geworden.(132) Auch bei den Orphikern ist Nacht und Chaos der Ursprung aller Weltschöpfung.(133) Der Wind, bei Anaximander und Sanchunjaton durch den Brand der Sonne, bei Anaximenes(134) aus dem Wasser entstanden und das Feurige der Gestirne im Kreise treibend und entfachend zum Feuer, kann die indoeuropäische Windgottheit sein, iranisch wie indisch Vayu, L
In den Urmensch-Mythen findet die makrokosmische Einheit der Gegensätze ihr mikrokosmisches Korrelat. Der Anfang ist bei Tiamat als Urwesen gedacht, aus dessen gespaltenen Teilen die Welt entsteht.(139) Die Germanen hatten den Riesen Ymir, aus dessen zerstückeltem Körper die Weltteile entstehen.(140) In Indien gab es vier Typen Schöpfungsmythen: »1. Schöpfung durch Befruchtung der Urgewässer; 2. Schöpfung durch Zerstückelung eines Urriesen; 3. Schöpfung aus einer All-Einheit, die zugleich Sein und Nichtsein war; 4. Schöpfung durch Auseinandertreten von Himmel und Erde.«(141)
Der Urriese Purusha .....
Eine direkte Entsprechung zu Purusha.....
Daneben gibt es die andere Tradition vom Urmenschen Gayômart (=sterbliches Leben).(149) Dieser ist Protoplast, erstes Geschöpf Ohrmazd's zusammen mit dem Ur-Rind. Das Ur-Rind, hell wie der Mond, hilft Wassern und Pflanzen; Gayômart ist hell wie die Sonne, ein 15jähriger Jüngling. Sperma läßt Ohrmazd aus dem Glanz des Himmels in die Körper der beiden strömen. Das Ur-Rind wird vom bösen Geist Ahriman geopfert, als er in die Schöpfung kommt, damit die irdischen Tiere und Pflanzen aus seinem Samen hervorgehen können: Fauna und Flora entstehen. Ohrmadz erleichtert den Opfertod durch ein Narkoticum. Gayômart wird nur in Schlaf versetzt, aus dem er später erwacht. Er lebt dann noch 30 Jahre, kämpft gegen die todbringenden ahrimanischen Devs und die schändlichen Tiere. Als er stirbt, treten aus seinem Körper die Metalle hervor: Basis kulturellen Fortschritts. Außerdem geht sein Same in die Erde und Ma
Herodot teilt die mazdaistischen Opferpraktiken der Iraner mit, Zeichen griechischen Interesses an der iranischen Religion.(155) Mitra und Varuna, die beiden Herrengötter der irdisch-sozialen Sphäre, Asuras (=Ahura: Herren) gegenüber den eher kosmischen Devas wie Indra, Vayu oder Agni, bilden ein komplementäres Paar: Mitra schafft in lichter Morgenröte neue Kraft zur Entfaltung des Lebens, schafft ausgedehntes Weideland und so Reichtum, Freiheit, Bewegung; Varuna dagegen herrscht im ungestalteten Urmeer und der Nacht und wacht strafend und zurückhaltend über die kosmisch-soziale Ordnung, Rita.(156) Hier findet der indo-iranische Dualismus von Licht und Finsternis seinen Ausdruck.(157) Beide werden als Ganzheit verehrt, als Einheit der Gegensätze.
In China gab es P'an-ku, der ebenfalls zerstückelt wurde.(158) Bei Lao-tsu ist das Tao (der rechte Weg) als Einheit (Welten-Ei: hun-tun) aller Gegensätze (yang und yin) attributionslos.(159) Yin ist im Shih-ching kaltes, bedecktes Wetter, Yang Hitze. Zyklisch wechseln Zeiten des Lichts mit denen der Dunkelheit, Zeit des Lebens mit der des Todes.(160) Yin ist weiblich, Yang männlich, vereinigt in der heiligen Hochzeit, die im Frühjahr und Herbst das Kollektiv der Jünglinge nach oratorischem Foppen des Mädchenkollektivs in der freien Natur gemeinsam zelebrieren.(161) Das Tao als ursprüngliche schöpferische Totalität, ungeformt und namenlos-unbenennbare Chaos-Einheit von Himmel und Erde, wird auch bezeichnet als Leere (hsü), Nichts (wu), das Große (ta), das Eine (i). Zugleich ist es die große Urmutter, das dunkle Weib, was mit der talförmigen Vagina alle Gegensätze vereint.(162) Hiermit ist der fundamentale Konnex des Schöpferischen in der Weiblichkeit erkannt: der kreative Aspekt der Leere.(163)
Typisch für alle Urmensch-Charakterisierung ist eine Liste der Götter bzw. Naturelemente, die mit gewissen Körperteilen des Urmenschen identisch sind. Die Mikrokosmos-Makrokosmos-Mythen vom Urmenschen, der aus sich die Welt macht oder ist, entstammt frühem Kollektivgefühl als Idee einer Wesenseinheit von Stamm und Einzelnem, Welt und Mensch, All und Ich.(164) Daß im Indischen Âtman zugleich Weltall und Selbst meint, welches in der Praxis des Meditierens zu einem Verbindungserlebnis zwischen dem abgegrenzten Selbst und der Totalität des Universums führt, ist eine Explikation dieses Mythos zu einer außerordentlich ent-ängstigenden und als Basis einer tiefen Solidarität wirkenden Kontakterfahrung mit der Welt, die zugleich Selbst und Gott ist.
Zugleich repräsentiert die Zerstückelung des Urmenschen auch die schamanische Initiation.(165) Auch der für seine Heilfähigkeiten und Totenbegleitungen durch einen symbolischen Tod und eine Wiedergeburt gehende Schamane muß Krankheit, rituelle Bestattung, Foltern bis zur Durchbohrung des Körpers oder Amputation von Fingern etc. über sich ergehen lassen, ehe er fähig wird, seinen Körper zu verlassen und in Tiergestalt etc. die Reise ins Todesreich oder durch die Welt zu vollziehen.(166)
Parmenides von Elea (nahe Neapel) hat die schon von Hesiod hervorgehobene mehrfache Dualität des iranisch-zoroastrischen Denkens besonders prägnant entfaltet.(167) Die duale Struktur der Welt als di1kosmo' spiegelt sein großes hexametrisches Lehrgedicht per
Der zarathustrische Gedanke der geistigen daêna-Welt führt über Hesiod und Parmenides also zum das ganze Mittelalter bestimmenden aristotelisch-scholastischen Primat der Wirklichkeit und Notwendigkeit vor der Möglichkeit. Das ungewordene, unvergängliche und vollkommene Sein des kontinuierlich Einen, im Licht als Wahrheit der Göttin êAn1gkh oder Mo@ra erkennbar, birgt in sich alle Möglichkeiten, welche die werdende und vergehende, von Trug, Schein und nächtlich verdunkeltem Sinn menschlicher Verblendung gezeichnete materielle Welt zu verwirklichen imstande ist.(177) Diese physikalische Welt ist vom Widerspruch von Sein und Nichtsein, Licht und Nacht geprägt, der das geschichtlich Werdende und Vergehende als Sterbliches kennzeichnet.(178)
Die Einheit der Gegensätze im Urzustand der Welt ist das Thema des in Waldeinsamkeit zurückgezogenen Ioniers Heraklit von Ephesus (~540-480), der die Einladung des Perserkönigs Dareios I. ausschlug. Für den dunklen Aphoristen, der vermutlich von Anaximander und Xenophanes inspiriert war, ist in seinem dreiteiligen Werk(179) aller Welt Anfang und Ende das nach Maßen sich entzündende und verlöschende Feuer, t/ p«r, aus dem als pur/' tropa[, Wandlungen des Feuers, das Wasser hervorgeht und daraus alles übrige.(180) Während Anaximander den Blick auf den Anfang hält, steht für Heraklit die spiralförmige, walkerschraubenhafte(181) Entwicklung als Aufwärtsweg im Mittelpunkt: nichts bleibt, alles fließt und ist immerfort in Bewegung, deren Motor die innere Gegensätzlichkeit, der innere Krieg aller Dinge ist.(182) Heraklit redet in Gleichnissen, um Verhältnisse des Seins als Entsprechung im Widerspruch zur Sprache zu bringen.(183)
Alles ist durchwaltet vom l7go' als dem alles verbindenden und in allem wirkenden Formprinzip, der universal gültigen Ordnungsmacht.(184) Hegels Weltgeist ist hiervon inspiriert. Der Logos ist dialektisch Einheit aller Gegensätze. Während Feuer und Streit prozessual werden und vergehen, ist der Logos dem Wechsel enthoben, immaterielles und doch immanentes Steuerprinzip dieses Weltprozesses von Feuer zu Feuer. Der Logos ist einendes Kontinuum der Diskontinuität der Weltbewegung, ist coincidentia oppositorum.(185) Leben und Tod, Tag und Nacht, Entstehen und Vergehen, Männliches und Weibliches, ja Gut und Böse ist alles dasselbe.(186) Der Logos wohnt allen Menschen inne.(187) Auch die Seele ist eine Ausdünstung des Feuers, also materieller Kosmosteil, muß sich entscheiden zwischen erkennender Vernunft oder Lust.(188) Sie ist unsterblich.(189) Einerseits fallen die Anklänge an die Feueranbetung der Zoroastrier und ihre Emanationsvorstellung der Seele(190) auf, wenn auch der Streit zwischen Gut und Böse in der einenden Primordialität des Logos seine letzte Synthese erfährt. Damit wird das Chaos des Uranfangs als ein durch und durch strukturiertes behauptet. Zum Wesen dieses Logos aber gehört andererseits Hesiods Nachttochter Eris, der Streit, der Kampf, der Dualismus. »Der Gott ist Tag-Nacht, Winter-Sommer, Krieg-Frieden, Sättigung-Hunger - alle Gegensätze, das ist die Bedeutung - ; er wandelt sich, genau wie Feuer, wenn es sich mit Duftstoffen verbindet«.(191) Platon ist in seiner dialektischen Methode der Proportionalitäten von Heraklit nachhaltig geprägt.(192) Mit dieser Logos-Lehre war das gesamte Setting des Johannesprologs präpariert; auch Lenin sieht den DIAMAT hier erstmals formuliert, und Monods Unterschied von DNS-Code und jeweiliger Realisation dieser unveränderbaren Erbinformationen kann als weitere Illustration der Strukturiertheit des Kosmos gelten. Diese Logos war keine personale Schöpfermacht, sondern ein reines Formprinzip, reine nomologische Struktur, nach der sich das Eine in der Vielheit entfaltet.(193) »Während sich die Inder nur in die Betrachtung des Einen versenken, legt der griechische Philosoph den gleichen Nachdruck auf die tatsächliche Struktur der Erscheinungswelt, und er erhebt den Anspruch, durch eine Klassifikation nach natürlichen Prinzipien für jedes Einzelding seine Beschaffenheit und sein Verhältnis zu anderen Dingen genau erklärt zu haben.«(194)
Das Motiv der Reise, des Verschlagenwerdens, kommt bei Homer noch sehr irdisch, wird aber zu einem zentralen religiösen Paradigma: in der Himmelsreise der Seele, mag sie auch alten schamanischen Traditionen(195) entstammen, spiegelt sich der reale Lebenszusammenhang der reisenden Kaufleute verfremdet ab.(196) Für Homer ist Seele wie im AT gleich Leben; Hades oder Tartaros als Strafplatz für von Zeus besiegte Titanen ist nichtige, verdünnte Schattenexistenz. Die Sterblichen unterscheiden sich von den Göttern gerade durch ihre begrenzte Zeit.(197) Unsterblichkeit, philosophisch erstmals von Thales ins Gespräch gebracht, ist eine Vergottung des Menschen.(198)
Die thrakischen Orphiker singen vom Hadesgang. Orpheus vereint als schamanische Elemente den Abstieg in die Unterwelt, um eine tote Seele (Eurydike) wiederzuholen, Heilkunst, Liebe zur Musik und den Tieren, Zaubermittelbesitz und Wahrsagekraft. Schließlich schwimmt sein von Bacchantinnen abgeschlagenes Haupt singend nach Lesbos und orakelt dort, ähnlich dem germanischen Ymir oder sibirischen Schamanenschädeln.(199) Besonders das Hinabsteigen in die Unterwelt hat Parallelen in schamanischen Extasetechniken bei der Krankenheilung, wo es gilt, die schon in die Totenwelt hinabgeglittene Seele des Sterbenskranken wieder in die Welt der Lebenden herauf zu holen.(200)
Die Thraker, indoeuropäische Halbnomaden aus der Ukraine, sind gegen Ende des 8. Jh. v.Chr. nach Kimmerier-Überfällen mit kaukasischer Kunst und Bewaffnung vertraut. Später wurden Himmels-, später Kriegsgott Ares und die chtonische Artemis mit ihrem Sohn Dionysos oder Sabos bzw. Sabazios verehrt.(201) Dionysos, dessen Kult später den Hellenismus als populärster beherrscht, Tragödie und Komödie entstanden in seinem Feld, hat mit Weinkrug, Rebe, Ziegenbock oder Stier, Feigenkorb, Schlangen und dem hölzernen, efeuumwickelten Prozessionsphallus (j»rso') seine Zeichen der ekstatischen Fruchtbarkeit und ist immer von begeisterten Verehrerinnen umgeben. Sie kommen auf den Bergen in baccantischem Rausch bei nächtlichem Fackelschein und aufpeitschender Musik in Fuchsfellmänteln und Hörnermasken in ihren orgastischen Tänzen mit den Holzphalli zum Paroxysmus, hyperventilatorischen Krämpfen, zerreißen die Opfertiere und verschlingen das rohe Fleisch (Omophagie), wodurch die Einheit mit dem sterbend-unsterblichen Gotte hergestellt ist.(202) Aristoteles berichtet von den Anthesterien, bei denen am zweiten Tag nach dem Wettrinken eine Prozession zum Bukoleion (Rinderstall) zog, wo sich der Dionysosdarsteller mit der Frau des Stadtvorstehers paarte - auch hier wird Vergottung durch leibliche Einheit in einem Gemisch von Blut, Sperma und Rotwein angestrebt.(203) Die musikalische Assistenz der Satyre mit Doppelflöte, dildoartigem Lederpenis und Pferdeschwanz hinten ist oft zudringlich. Auch kehren die Seelen der Toten zurück aus der Unterwelt(204) und geben Fruchtbarkeit und Reichtum.
Die dionysische Ekstase im Paroxysmus, in vielem dem von Zaruthustra bekämpften Haoma-Ritual mit dem Rinderopfer der iranischen Indoeuropäer ähnlich, ist als kollektive passagere Divination, die in Thrakien auch noch mit der Mantik(205) kombiniert war, sowohl unio mystica als auch Erfahrung der Trennung der Seele vom Körper. Dies bildet die Grunderfahrung schamanischer Initiation und Himmelsreise der Seele: die Erfahrung einer relativen Autonomie der Seele gegenüber dem Körper.(206) Dabei ist allerdings in der dionysischen Kollektivekstase weder Krankenheilung noch Totenbegleitung noch professionelle schamanische Kunst erreicht oder bezweckt.(207) »Die Ekstase ist ein überbewußter Seelenzustand, der gekennzeichnet ist durch die völlige Entleerung der Seele von allen normalen Erlebnissen, nicht nur von Wahrnehmungen und Vorstellungen, von Affekten und Begierden, sondern auch von den Akten des Erkennens, Wertens und Wollens. Die Ekstase ist das Erlebnis der völligen Einheit der Seele.«(208)
Der Gebrauch halluzinogener Drogen für die Himmelreise der Seele ist nicht nur im Haoma oder Soma (indisch) und der skytischen Haschisch-Sauna nach Bestattungen(209) bestimmend, sondern auch etwa im Pilzkult der Sumerer(210), im Peyote-Kult in der Native American Church(211) oder in dem Weihrauchinhalieren tibetischer und katholischer Priester und Gläubiger.(212) Eine zweite Manifestation dieser Erfahrung ist der Umgang der Thraker mit dem Tod, der als Glück verherrlicht wird.(213) Herodot berichtet von Zalmoxis, der die Thrakerobersten auf einem Fest in seinem Saal belehrt, weder sie noch ihre Nachkommen würden je sterben, sondern nur an einen Ort vollkommener Glückseligkeit gehen, wo sie ewige Freude erleben; danach zog er sich drei Jahre in ein unterirdisches Gemach zurück, während die Thraker ihn als verstorben betrauerten. Im vierten Jahr kam er wieder nach oben: Auferstehung als Ende der Einsiedelei.(214) In späteren Jahrhunderten ist laut Poseidonios und Strabo Zalmoxis ein ehemaliger, reichgewordener Sklave des Pythagoras' noch auf Samos und der Zalmoxis-Kult in Thrakien mit einem in einer Höhle in den Bergen vegetarisch lebenden Großpriester-Eremiten sowohl ägyptischer Magie als auch der Mantik kundige Königs-Beratung.(215)
Pythagoras hat erstmals die orphische Lehre von der Seelenwanderung philosophisch entfaltet. 530 v.Chr. 40jährig von Samos wegen des Diktators Polykrates emigriert, wurde er 525 unter Kambyses aus Ägypten nach Babylon verschleppt, eine andere Version spricht von weiten eigenständigen Reisen. Die Eroberung der griechischen Städte 546 durch Kyros II. trägt entscheidend zur Ausbreitung des Zoroastrismus bei. Sowohl ägyptische als auch chaldäische Einflüsse sind hierdurch einleuchtend. Später gründet er im unteritalischen Kroton den j[aso'-Orden, dessen Akustiker und Mathematiker manche Tiere nicht essen, weil es vielleicht ehemalige reinkarnierte Verwandte oder Freunde sind.(216) Der logenmäßige Geheimbund übt in vielen unteritalischen Städten konservativ politische Macht aus; Pythagoras wird von politischen Oppositionellen zur Übersiedlung nach Metapont gezwungen. Die Pythagoreer behielten fast 200 Jahre politische Macht. Über die Wirklichkeit der Seele als unsichtbarem, nicht materiell faßbar vor-handenem Seienden kommt er zur Musik und zur Zahl.(217) Die Konsequenz der Seelenwanderung ist eine doppelte: Reinheitsregeln verbieten Blutvergießen und Fleischgenuß zur Vermeidung des Kannibalismus; für solches Verbrechen würde man ja selbst mit einer qualvollen Tierexistenz im nächsten Leben bestraft. Mystische Weihe wie im Demeterkult mit Fasten sichert flankierend ein gutes Zweit/Drittleben.(218) Auswirkungen dieser Lehre sind nicht nur auf Pindar und Platon, sondern auch ins Christentum hinein deutlich.(219) Pythagoras hat alle Merkmale eines Schamanen.(220) Alles wurde als Geheimlehre mündlich in der Loge tradiert, daher gibt es kaum Authentisches. A>t/' 6fa - er selbst hat es gesagt - war sprichwörtlich.(221) In seinem Katechismus wird die Insel der Seligen in Sonne und Mond verlegt, das Weiseste als Zahl und benennender Logos und irdisch als die Heilkunst bezeichnet, was die schamanische Dimension bestätigt.(222) Wenn Bohnenessen wegen Blähungen als verunreinigend gemieden wird, erinnert es an das zoroastrische Yast 22, Fargard III mit dem giftig-stinkenden Postmortalgeschick böser Seelen.(223) Die Bedeutung des Geruches als animalischer Erkenntnisweise wird später von Heraklit und Platon ebenso betont wie im Buddhismus.(224) Beidemale ist Rein-Unrein Zentralkategorie, beidemale ist das Tierleben aus der Perspektive eigener Subjektivität des Tieres erfaßt, weil der Schamane sich oft in Tiere hineinversetzt. Ehrfurcht vor dem Seelenleben der Tiere eröffnet dialogische Solidarität zu den Mit-Seelen. »Nicht umsonst treten bei Platon bedeutende Pythagoreer auf; er selbst war Anhänger dieser Verbindung, und kein Zweifel, daß die an sie anknüpfende Richtung von größter Bedeutung für das geistige Leben Griechenlands geworden ist. Aristoteles spricht dauernd von den Pythagoreern«.(225) Daß alles aus der die Leere einatmenden Eins entspringt, erinnert an Anaximanders Ureins im 3peiron.(226) Der Rechtsausgleich des Zuvielgenommenen durch den Tod des ans Nachfolgende Büßenden ist auch dort schon ein Zahlenungleichgewicht, welches die Zeitordnung durch das Vergehen des Seinsfülligen und damit den Zyklus des Werdens wieder ins rechte Verhältnis setzt.(227)
Die Orphik ersetzt die orgiastische Vergöttlichung der Seele des Dionysos-Kultes durch die kathartische Reinigungsintention Apollons. Damit ist eine Synthese zweier konträrer Mysterien-Initationen geschaffen. Nicht nur churritische Kosmogonie via Hesiod nimmt die Rhapsodien-Theologie der Orphiker auf, sondern auch phönizische und ägyptische.(228) Der Mensch hat Teil an der Macht des Göttlichen nicht mehr durch Essen seines Fleisches oder Einspritzung göttlichen Samens, sondern durch eine asketische Läuterungspraxis und stete Übung der Einsicht. Die Menschen haben konstitutionell eine animalisch-göttliche Doppelnatur als Gefangene ihres Körpers und aus Titanen-Asche Geschaffene und können sich durch Askese und Erkenntnis befreien.(229)
Kraft der kulturell durch mystische Weihe und asketische Reinigungspraktiken erlernten und geübten (relativen und vermeintlichen) Körperunabhängigkeit ihrer Seele sind die Menschen fähig zur Partizipation am Göttlichen. Die Autonomie der Seele gegenüber dem Tod formiert sich im Kampf gegen den sterblichen Körper und seine Äußerungen, im Vorrang des Denkens vor sinnlicher Wahrnehmung bei der Schau des Wahren.(230) Indem sie das Animalische: unersättliche Freß-Sauflust, zügellose Sexsüchtigkeit und krankhafte Versklavung an Begierden des Körpers(231) - gegen Platon im Plädoyer für eine integrierte Leiblichkeit gesprochen: ihre leiblichen Bedürftigkeit - bekämpfen und überwinden, bekommen sie Zugang zu Erfahrungen seelischer Autonomie gegenüber dem Körper, die dessen lüsterne Borniertheit und stinkende Vergänglichkeit zu transzendieren scheint. Die Techniken der Ablösung seelischen Erlebens vom körperlichen Wahrnehmen sind klinisch als gezüchtete, kultivierte schizoide Psychosen zu beschreiben, die bis zu einem gewissen Grad von den Ichfunktionen noch kontrolliert und manipuliert werden können.(232) Diese Erfahrungen archaischer Ekstase suggerieren die physische Unabhängigkeit der Seele gegenüber dem Körper und seiner Vergänglichkeit. Damit sind sie zugleich der empirische Grund für die mythologische Vermutung einer Weiterexistenz der Seele über den Tod des Körpers hinaus. Göttlichkeit verbürgt sich in Unsterblichkeit. Der wahre Erweis der Vergottung des Menschen liegt also in der Existenz über den Tod hinaus. Esse sicut deus, Sein wie Gott, Verheißung der Paradiesschlange, zielt nicht nur auf Wissen und Macht, scientistische gesellschaftliche Naturbeherrschung, sondern auf einer individuellen Ebene auf die Überwindung der Todesgrenze. Gegenüber hadesmäßiger Schattenexistenz im Totenreich ist die Auferstehung der Toten oder die Reinkarnation die Auflösung der Begrenztheit der Menschlichkeit.
Orphisch-pythagoräische Gold-Amulette zeigen wie tibetisches und ägyptisches Totenbuch eine Reiseroute des Frischverstorbenen. Man sieht auf ihnen neben Texten eine Zypresse an der Quelle der L=jh, aus der zu trinken alles vergessen macht und eine neue Reinkarnation bewirkt, während der Weg rechts vorbei zum bewachten See der Mnhmos»nh den Trunk des frischen Wassers der Erinnerung ermöglicht, wenn man sich den Wächtern als Kind der Erde und des Sternenhimmels zu erkennen gibt, und damit Herrschaft mit den Helden der Welt sichert.(233) Schamanisch ist ebenfalls die markante phantasmatische Schilderung der Unterweltgeographie.(234)
Herodot spricht von Wanderung der Seele durch alle Kosmosbereiche, dann wird sie von einem Neugeborenen eingesogen.(235) Die Erinnerung an die vorherigen Leben konstituiert die Kohärenz der Seele in den Kreisläufen der kerkerhaften Wiederverkörperung, die, bei Platons Makro-Mikrokosmos-Idee sehr deutlich, den Umläufen der Gestirne entspricht, die für Pythagoras die wahre Heimat und Insel der Seligen ist.(236) Damit sind babylonische Astronomie und Gestirnanbetung mit in die orphisch-pythagoreische Lehre aufgenommen.(237) Herodot berichtet über die Bestattung nicht in Woll-, sondern Leinenkleidern, die in den êOrfik1 und Bakcik1 vorgeschrieben, in Wahrheit aber ägyptisch und pythagoreisch seien.(238) Die Goldblättchen im unteritalischen Thurioi preisen die Blitzschlag-Getöteten als Götter-Anwärter selig.(239) Zu Platons Zeit haben Wanderpriester mit 'Büchern des Orpheus' ganze Städte zu spektakulären Reinigungsweihen für ein gepflegteres Jenseits beschwatzt.(240) Der Scheintod des pamphylischen Kriegers Er wird von Platons Politeia als Ausflug der Seele gedeutet.(241)
Zwar ist Zarathustra nicht primär himmelsreisender Schamane gewesen(242), aber die Verbindung schamanischer und prophetischer Revelation mit einer entscheidungsbetonenden Ethik, der Hinwendung zum Licht, dem Glauben an eine primordiale geistige Schöpfung der Welt in reiner Wahrheit ohne Verblendung und ihr Gegensatz zur sinnlich-knochenhaften Erscheinungswelt mit Trug und Leidenmachen und schließlich sein Glaube an eine eschatologische Entscheidungsschlacht zwischen Ahura Mazda und Ahriman mit Sieg der Wahrheit haben zu der von der griechischen Philosophie aufgenommenen, vertieften und im Hellenismus an die spätantike Welt weitergegebenen Rede von einer wahren Heimat des Menschen im Himmel der Gestirne geführt.(243)
Die jüdische Apokalyptik chassidischer Weisheitslehrer hat babylonische und persisch-griechische Himmelsreise-Motive reichhaltig aufgenommen.(244) Menippos hat als Phönizier (so Strabo) im judäischen Gadara des ausgehenden 4. Jh. v.Chr. satirische Unterwelt- und Himmelreisen verfaßt, Lukian von Samosata adaptiert ihn.(245) Damit war ein breiter Boden für den hellenistischen Glauben an Seelenwanderung und himmlische Seelenheimat mit einem göttlich-unsterblichen Charakter vorbereitet, der in der Gnosis zum Tragen kam. Die empirische Basis, auf der sich ein solcher spekulativer Glaube konstituieren konnte, war die Ekstase schamanischer und mysterienhafter Art als subjektiv empfundene Dissoziation der Seele vom Leib mit drogengestützter Erfahrung körperüberschreitender Macht trainierter Seelen. Der Schamanismus hat Grunderfahrungen gnostischer Sehnsucht nach der Himmelsheimat der Seele bereitgestellt.
Alles Erleben und Verhalten der frühen Menschen findet sein Paradigma in den Mythen; ihre Narrative und deren Initiationen im Kultspiel, Ritual und Extasen strukturieren die Formen der Anschauung und des Verhaltens zum Kosmos, zur Weltordnung, wie gute und böse Brust (M. Klein) die Elementarstrukturen des Welterlebens eines Säuglings konstituieren. Alles Menschenmögliche ist für ihr Empfinden nur Wiederholung göttlichen Tuns oder göttlicher Weisung.(246)
Schon bei Anaximander besteht die Ewigkeit des Einen durch periodische Wiederkehr der Weltzustände, der Kosmoi in Werden und Vergehen. Zum einen gab in Phönizien und später in Alexandrien Aion-Kulte, der ägyptische Gott Sarapis wurde als Aion benannt und verehrt.(247) Zum andern ist das Große Jahr, entstanden aus der chaldäischen Zeitberechnungen in seiner Vermischung mit dem Zervanismus der iranischen Magier über die Orphiker hier eingeflossen.(248) Während schon im 8. Jh. v.Chr. in Babylonien die Astrologie immer mehr von der chaldäischen Astronomie säkularisiert wird(249), dringen Bestandteile der chaldäischen Gestirnreligion in die pythagoreische Zahlenlehre, die orphische Metempsychosis-Lehre und in Platons pythagoreische Sternenlehre ein.(250)
Zarathustra kannte keinen obersten Gott Zrvan (Zurvan, Zervan = Zeit).(251) Zurvan ist westiranisch. Er wird, so der vermutliche Grundmythos, nach tausendjährigem Opfern und Warten endlich Vater von Ormizd (Ahura Mazda) und Ahriman, den konträren Zwillingen. Im Mutterschoß hört Ahriman, wie Zurvan für den Erstgeborenen die Königswürde verspricht, sprengt den Mutterschoß und will von Zurvan gekrönt werden. Dieser findet den rechtzeitig geborenen Ormizd wohlriechend, während der dunkle Ahriman stinkt, muß dem aber sein Wort halten und krönt ihn für 9000 Jahre als Weltherrscher unter der Oberherrschaft von Ormizd. Danach soll endgültig Ormizd allein regieren. Beide beginnen erstmal, Wesen zu schaffen, Ormizd nur gute, Ahriman nur böse.(252)
Den Grundstock des Zervanismus bildet also wieder der Urmensch-Mythos, der von der anatomischen Entsprechungsebene makrokosmischer Körperteilen mit Weltsubstanzen (Haare=Bäume) unter dem Eindruck primordialer planetarer, jahreszeitlicher und tageszeitlicher Zyklik auf die Ebene der Zeitfolge transformiert ist.(253) Schon vor Zarathustra gab es im Iran das Große Jahr mit 12000 Jahren in 4 Teilen: 3000 Jahre Mênôk als geistige, in sich ruhende gute Schöpfung Ahura Mazdas, 3000 Jahre Gêtîk als Materialisierung in paradiesischer Harmonie mit Urmensch Gayômart und Urrind, 3000 Jahre, in denen Ahriman aus seiner Betäubung erwacht und die gute Welt mit Bösem infiltriert, Urmensch und Urrind tötet, aus deren Samen das erste Menschenpaar und die Rinder erwachsen; darin leben wir. Die letzte 3000-Jahres-Periode ist geprägt durch Auflösung und Transfiguration mit Sukzession dreier endzeitlicher Sao
Seit der Churriter-Zeit mit arischer Oberschicht lebt im Westiran indische Mythologie.(258) Auch in Indien begegnet das Große Jahr: Prajâpati bricht in Stücke und die 5 Jahreszeiten entstehen aus seinen Teilungen.(259) Individuation des Urgeistes und seiner Schöpfungen als Selbstverfehlung, Verstrickung in die Folgen seiner guten und bösen Taten und seiner Selbsttäuschung über seine vermeintliche Eigenständigkeit gegenüber seinem Kosmos, also die Illusion der Einzigartigkeit und damit ein falsches Wissen, führen zum Karma, der fortwährenden Verirrung in kurzfristige leibliche Existenzen, die Lebewesen im unentrinnbaren Kreislauf der Geburten.(260) Daher erlöst die versprengten Irrläufer des Urgeistes nur Weihe, Meditation, Mantras sagen und die Lehre des Guru über jene Einheit aller mit Gott.(261) Meditation ist Gewahrung der letzten Einheit mit Gott und der Vorläufigkeit der Welt in ihrem Bann der Individuation als Verlust des Urgrundes. Die spätere ptolemäisch-valentianische Gnosis hatte für die Einheit der Welt in der Seele Gottes den Begriff des pl=rwma, der Seinsfülle des All in Gott selbst.(262)
Die iranische Stammesseele, im Osten Vêrêthraghana, im Westen Zurvan, kulminiert in Hegels absolutem Geist der Gemeinde.(263) Gutes und Böses, alles entspringt dem Urgrund, dem Schöpfer Zurvan. Die Gestaltwandlung Gottes als Entgrenzung von einem Ur-Individuum in die Fülle des Lebendigen und die Vielheit lebender Subjekte mit der letzten Identität aller mit Gott ist geeignet, Solidarität untereinander zu stiften.(264)
Diese persische Tradition wurde unter dem direkten Einfluß babylonischer Astrologie in der Stoa mit der platonischen zu einem astrologischen Fatalismus verbunden.(265) Das Große Jahr Heraklits(266) wird von den Stoikern in den Zyklus von Weltbränden alle 10800 Jahre gedeutet.(267) Empedokles vertritt in orphisch-pythagoreischer Tradition die ewige Wiederkehr der Weltzeiten.(268) Einflüsse babylonischer Astrologie sind deutlich.(269) Platon adaptiert die Periodizität des Empedokles und die Koinzidenz Heraklits.(270) In der Weltseele pulsiert das Weltganze in ab- und zufließenden Einzelverkörperungen.(271)
Es gibt neben der zervanistisch-pythagoreisch-platonisch-hellenistischen Traditionsfährte(272) auch direkte Einwirkung babylonischer Astrologie auf Israels Jahwismus und die syrischen Baalim, noch vor apokalyptischem Äonendualismus: Wie der Sonnengott die Seelen analog zur Sternenherde erdwärts aussendet und postmortal gen Himmel holt, sausen in der Gnosis die Gläubigenseelen durch die Galaxis.(273) Wie Babylons Sternenhirt Höchster und ewig Bewegender ist, so avanciert ab dem jüdischen Exil Jahwe vom Töpfer (Gen 2) zum Kosmokrator (Gen 1).(274) Jahwes Ewigkeit entspringt der Unendlichkeit der Gestirnläufe, die unendliche Raumzeit des Himmelsgeschehens überbietet die Attribute des nomadischen Vätergottes mit wachsender Interkulturalität der jüdischen Gemeinde in Stammland und Diaspora.(275) Simon Magus ist ein typisches Beispiel für persischen Einfluß auch in Judäa.(276)
Im Corpus Hermeticum ist eine Schöpfungssukzession Gott-Aion-Kosmos-Chronos-Werden entwickelt, in dem Aion die o>s[a jeo« ist, unbewegt und ewig um ihn herum; auch der Kosmos bewegt sich im Aion; selbst Christus wird zurvanmäß.(277) Die stoisch-babylonische Anbetung der Gestirne in ihrer erratischen Regelmäßigkeit schlug in der Gnosis um in Furcht vor ihrer tyrannischen und feindlichen Macht, der e
Platon schied Urbild und Abbild.(279) Im Höhlengleichnis sieht der Gefesselte auf der Hinterwand nur die Schatten der draußen vor einem Feuer vorbeigetragenen Schaustücke und wähnt die eódwla und fant1smata als wahrer als die ja»mata und eíkoi. l»si' ka
Die Urbilder, deren Abbild-Realisationen um so wirklicher sind, je adäquater ihnen die Dinge, sind im Ideenhimmel mit den obersten Idealen der Kalokagaj[a und 2lhje@a zeitlos eingeschrieben. Das Gute ist identisch mit dem Wahren und Schönen. Der einzelne Schöne, bei Sokrates der Alkibiades, ist nur ein Exemplar dieser Idee von Schönheit. Das Leitmotiv sokratischer Ethik ist die Stimmigkeit des Handelns mit dem Gesetz des Herzens, mit der Idee des Guten, die jeder präexistent geschaut hat und sich an sie zurückerinnern kann, mehr schlecht als recht allerdings.(284) Genetische Idee und somatische Realisation entsprechen einander wie Urbild und Abbild(285) oder wie das göttliche Sein des Anthropos-Urmenschen im Schöpfungsakt dem göttlichen Lichtfunken des auf die Erde versprengten Menschen im gnostischen Denken. Das Vorfindliche enthält eine präexistente Komponente.(286)
Wenn Erkennen für Platon 2namimn=skein, Sich-Erinnern und Wiedererkennen ist, verweist dies auf die präexistente Wesensschau der Seele, die demnach die Wahrheit, das Schöne und Gute schon einmal gesehen hat. In ihrem präexistenten Urbild ist die Seele invariant und so auch unsterblich(287), nicht aber in ihrer dinglichen, vorfindlichen Seinsweise im Abbildstatus. Hier spiegelt sich der iranisch-zoroastrische Dualismus von himmlischer, präexistenter Unvergänglichkeit und verderblicher irdischer Natur.(288) War im indoiranischen Denken Vâtar bzw. Vâyu Wind Psychopomp der gestorbenen Seelen und waren alle Lebewesen Vâtdâr, Windbesitzer, die ihn ein- und ausatmen, so erscheint in Indien Atman als Varunas Atem, der durch den Weltraum braust.(289) Auch pne«ma ist Lufthauch und wird als Trägerkraft der Seelen betrachtet. Die Orphiker lehrten, »daß die Seele aus dem All kommt und eingeatmet wird, getragen durch die Winde«.(290)
Welt als Gefängnis, trunkene Schläfrigkeit, Finsternis, Sinnestaumel und Rausch ist durchweg Verblendungszusammenhang: dies wurde Zentralthema der Gnosis.(291) Leiblichkeit als Getriebensein von Begierden hat keine immanente Tendenz zum Guten in sich, die Seele muß den Leib beherrschen, unterdrücken, gegen die Unersättlichkeit des Begehrens zu ihrer Selbstbestimmung finden.(292) Sokrates läßt sich vom schönen Alkibiades, wie dieser berichtet, nicht zum Sex verführen, weil die innere Schönheit des gealterten Sokrates, die Stimmigkeit mit der Idee des Guten und Schönen und Wahren, nicht mit der körperlichen Schönheit des attraktivisten athenischen Jünglings aufzuwiegen ist. Die Prävalenz über alle sinnliche Schönheit des Körpers behält in der platonischen Liebe die Idee der Schönheit und die Schönheit der Ideen.(293)
Die Erkenntnis als Aufhebung des weltlichen Verblendungszusammenhanges, der trügerischen Trunkenheit des sinnlichen Taumels der Lüste und Begierden, der Betäubung und Verdrängung des innersten Wissens um die Abkunft aus dem Reich des Wahren und Guten, ist zugleich die Aufhebung der Verdrängung dieses Wissens im Modus seines abermaligen Nachvollzuges. Die Welt hat die Verdrängung bewirkt. Sie hat das Subjekt von seinem eigentlichen Sein entfremdet. Wenn Welt das ist, was uns von unseren innersten Intentionen entfremdet, wird das Göttliche und seine Vermittlung durchs daim7nion zur Erlösung, zur Rückkehr in die Heimat. Die Schau der Wahrheit in der Präexistenz, die im 2nagign+skein nur mehr rekapituliert wird, bleibt lebenslang die Sehnsucht des philosophierenden Menschen: Suche nach der verlorenen Wahrheit, dem Ursprung allen Seins. Das Bemühen, aus der Weltverfallenheit, der Verfallenheit an sinnliche Begierden und körperliche Süchte und Leidenschaften, frei zu werden, sublimiert die Lust am Fleisch zur Lust an Erkenntnis, zur leidenschaftlichen Suche nach der Wahrheit, die - bei aller mythischen Gewandung - vor keinem Dogma halt macht.
Der Mythos des Aristophanes im 'Symposion', nach dem der 6ro' die Suche nach der verlorenen Hälfte des ursprünglichen doppelmenschlichen Kugelwesens ist, mannmännlich nach der Sonne, fraufraulich nach der Erde und androgyn nach dem Mond, deren himmelsstürmende Hybris Zeus' Götterversammlung mit der Schwächung durch Halbierung bestrafte, versteht das Wesen der Liebe als Sehnsucht nach der verlorenen Ganzheit, dem Ursprung.(294) Die Liebe will die Verletzungen der Trennung heilen, ist 2pokat1stasi', restitutio in integrum. So wird 6ro' zugleich die Sehnsucht nach der embryonalen Einheit, dem primärnarzißtischen Einssein der präexistenten Seele mit ihrem göttlichen Ursprung. Die Liebe ist Sehnsucht nach der verlorenen eigenen Ganzheitlichkeit, welche die volle Wahrheit des Subjekts darstellt. Die sexuelle Leidenschaft ist Abbild der Leidenschaft für die innere Wahrheit als Erkenntnis der Ideen. Beide können bis an den Rand des Wahnsinns reichen. Der 6ro' strebt nach innigster Entsprechung, Seelenverwandtschaft, seelischer Einheit, deren Abglanz lediglich die sinnliche körperliche Vereinigung ist. Ist die gnostische Erlösung Entweltlichung, so die platonische Liebe ebenso. Die Einheit von Erkennen und Lieben mit dem ganzen Körper und ganzer Seele, die das hebräische A9` beinhaltet, ist hier vom Dualismus zwischen Materialität und Idealität, Körperlichkeit und Wesenhaftigkeit durchwaltet.
Das Gute und Schöne ist immer auch das Wahre. Die zentrale Bedeutung von 2lhje@a hat die Gnosis mit Platon gemein. Wahrheit, noch nicht mit Platons Schüler Aristoteles als Sachnähe des Intellekts verstanden, ist für Sokrates innere Kohärenz, Entsprechung von Abbild und Urbild, Einholung der ursprünglichen Idee seiner selbst und damit Verwirklichung der Idee in höchster Vollendung, die über ihre Gegenständlichkeit hinausweist in das Reich der Ideen selbst. Im 'Phaidros' hat jede menschliche Seele präexististent das Wahre, Schöne und Gute geschaut. Jede menschliche Seele entstammt dem Ideenhimmel, dem Göttlichen, und ist mehr schlecht als recht dessen Abglanz. Der Unterschied zwischen den Menschen konstituiert sich nicht über ihre himmlische oder rein irdische Herkunft, womit in einigen gnostischen Strömungen die narzistische Gratifikation der eigenen Sektengemeinschaft gewährleistet wird, sondern nur durch die freie Wahl einer neuen Existenzform und eines fortan diese Existenz determinierenden Dämons(295) - und die unterschiedliche Erinnerungsfähigkeit der Menschen an ihre präexistente Herkunft. In dem Moment, wo sie die Erinnerung an ihr ehemals göttliches Sein in ihrer ideellen Präexistenz wiederherstellen, schauen sie das Göttliche und treten aus ihrer narkotischen Weltbefangenheit heraus: Ek-stasis. Das Verbindende zwischen Himmel und Erde, Idee und Abbild ist der Logos.(296)
Platon redet erstmals im 'Timaios' von einer Weltseele, die vom Demiurgen nach harmonischen Zahlenverhältnissen geschaffen wurde. Von der Ebenmäßigkeit der Planetenbahnen schließt Platon auf die Vollkommenheit der sie bewegenden Seele.(297) Einzelseelen haben metempsychotische Umlaufbahnen.(298) Im Spätwerk, den 'Nomoi', ist wieder von der Weltseele die Rede, welche in allen Dingen einwohnt und waltet.(299) Alles ist in Bewegung, also ist alles beseelt, also ist alles voller Götter, so folgert Platon, Thales zustimmend.(300) Werden und ewig strömendes Sein als Folge der Beseelung des Kosmos mit der Weltseele sind für Platon nicht mehr der Gegensatz, den sie für Parmenides bilden.(301) Seele ist apriori mit Bewegungsbeginn des Kosmos, ist unsterblich(302) und ewig, wie die Bewegung der Sterne unaufhörlich ist, und über alle Körper herrschend; ihre Vernunft waltet mathematisch wie musikalisch-harmonisch in den Planetenkreisbahnen - dies ist unverkennbar eine pythagoreische Theorie im Diskurs Platons.(303)
Ich will meine theologische Bewertung des indoeuropäisch-platonischen Dualismus von geistigem und materiellem Sein nicht verschweigen: Gott als in geschichtlicher Dialektik der Evolution übers Unbewußt-Leibliche zu menschlichem Bewußtsein gelangende Tendenz-Latenz oder Intentionalität der Materie ist mythisch begriffen in den makrokosmischen Urmensch-Spekulationen: Gott macht aus sich selbst die Welt und ist somit der Welt immanent, mit ihr eins.
Der Kosmos, besser: der galaktische Mikrokosmos Erde, Spezies Mensch muß zwar Christogenese als universale Heiligung allen Lebens erst in mühevoll erarbeiteter, erkämpfter und erlittener Verheimatung der Erde aus dem finsteren Chaos und gähnenden Schlund der Ohnmacht gegenüber den rohen Kräften der Naturgewalten, auch den innerseelischen, zu einem behausten Netz von Solidarität, Liebe, Gerechtigkeit und Frieden durchlaufen, aber er hat dieses Ziel als eine Art Kollektivtrieb der Herdenwesen genetisch engrammiert: dies ist auf einer behavioristischen Ebene gesehen der gute Hirte, Gott als organismische Tendenz des Nestbaus, der Beelterung, mutueller Fürsorglichkeit und weltinnenpolitischer Koalitionswilligkeit, aller strukturellen seelischen, juristischen, wirtschaftlichen Gewalt finsterer Nationalismen und Egozentrismen als Neuauflage des teuflisch stinkenden Ahriman zum Trotz.
Mag dieses Inkarnation dessen sein, was Platon Weltseele nannte, kosmisches Formprinzip mit subjektiver Intentionalität, so bleibt aber ein entscheidender Unterschied zur reinen Idee der immateriellen Menok-Welt des parmenidisch-platonisch Wahren: Die Wahrheit, der Logos, die Naturgesetze als Abstraktionen menschlichen Bewußtseins über die Kommunikation der Stoffe miteinander, sie haftet den Stoffen an und ist eben deshalb kein immateriell-geistiges Phänomen, sondern die geistige Entsprechung und Ausdrucksform zu einem materiellen Phänomen. Wahrheit, Logos, ist nicht jenseits der vergänglichen Sinnenwelt mit ihren Täuschungen und Verblendungen des Bewußtseins, sondern entfaltet sich mitten in dieser verblendeten Welt der Sinne vermittels eben dieser Sinne selbst. Diese Dialektik hat Platon nicht wahrhaben wollen und Parmenides' Skepsis gegenüber der Begrenztheit und Fehlbarkeit unserer Empirie und Wahrnehmungsfähigkeit geteilt.(304)
Nur aufgrund unserer begrenzten Sinne waren wir in der Lage, Instrumente zu entwickeln, mit denen wir Wahrnehmungen machen können, die die Bandbreite unserer Sinne wesentlich überschreiten. Nur aufgrund unserer Sinne gelangen wir zur Wahrheit unserer eigenen inneren Natur, unserer Wünsche, Bedürfnisse und Intentionen. Nur aufgrund unserer Sinne können wir die Welt im Sinne der Kalokagaj[a Platons gestalten, d.h. als Gestaltung der Welt, die der Natur ihre Würde zurückspiegelt in der zweiten Natur menschlicher Zivilisation und Enkulturation.
Der Irrtum Platons lag nicht in der Annahme von Ideen, von Wahrheit, Schönheit und Güte, sondern ihrer Diastase zu der Welt, in der wir leben und uns hineingeworfen sehen ohne irgend einen Ausblick oder Vorschein dieser Idee des Wahren, Schönen und Guten. Das Rettende, das Heil ist nicht dieser Alltäglichkeit transzendent in einer nur geistig erreichbaren und nur geistig bleibenden Sphäre philosophischer Imagination, sondern entspringt in allen seinen Momenten der Vermittlung durch eben die Alltäglichkeit, die es transzendiert. Gegen Parmenides: Ohne den betrogenen Zimmermann kein Haus, das den Philosophen vor Sonne und Kälte schützt. Jede schamanische Reise endet wieder am Ausgangsort des Alltagslebens, an dem sie zustandekam. Um es mit Fargard II als zoroastrischem Himmelsreise-Vorläufer zu sagen: Noch im rein geistenen Mênôk-Sein bekommt man Frühlingsbutter zum Einstand, flirtet man mit einer pretty woman und genießt die Wohlgerüche und den Festschmaus. Die iranische Geisteswelt war noch sehr sinnenfreudig und sah das geistige Sein nicht als Vernichtung des materiellen, sondern als ergänzende Entsprechung. Darum gilt es für die Weltflüchtigen und Liebhaber der Ideen, sich der Vermittlung ihrer Ideen bewußt zu bleiben und sie rückzubeziehen auf eben den Trug, dem die Wahrheit entwuchs. Ohne Trug keine Wahrheit.(305) Es geht nicht um die Auswanderung aus dieser Welt ins Reich Gottes als eine himmlische Gestirnswelt, sondern um die Niederkunft des himmlischen Jerusalem auf dieser Erde, um das Zimzum, die kabbalistische Einwohnung Gottes in der Welt, um die Entfaltung der Wahrheit und Erhellung der Klarheit der Kinder Gottes mitten in der Finsternis dieser chaotischen Welt. Eben diese Fluchttendenz haben nicht nur Theologie und Kirche, sondern oft auch die New-Age-Bewegung und die unüberschaubaren Arten der Psychotherapie als Arsenale einer käuflichen heilen Welt der Akzeptanz im Kontinuum universaler Verwertung der Menschen. Sie reicht bis hin zum TV-Trend zu Fantasy und Science-Fiktionen.
Das auf ein ideelles Seins hinter dem Schleier des Vorfindlichen ausgerichtete Erkenntnismodell ist mit der Einführung des Ideals des Guten apriorisch ein ethisches Modell. Erkenntnis zielt auf die Überwindung des Bösen, zu dem die Triebhaftigkeit des einfachen leiblichen Seins geschlagen wird. Mit Freud: die Es-Triebe sollen den Ich-Trieben unterworfen werden, wo Es war, soll Ich werden. Sublimierung der niederen Natur des Leibes soll die Kraft des Guten und Schönen in der Seele entsprechend ihrer präexistenten Selbstbestimmung fördern helfen; die reine Seele hat sich von der Macht der Lüste emanzipiert und sieht sich damit dem Bösen entkommen.
Mit der Konstruktion einer vorgängigen Selbstbestimmung der Seele im vorgeburtlichen Reich der Ideen im Anfangsstadium der Metempsychosen hat Platon einen transzendentalen Ausgangspunkt des Ego zum Leitbild der ethisch motivierten Erkenntnisbewegung gemacht. Was den Mysterien Weihe und Purgation, ist Platon der Erkenntnisvollzug als kathartisches Unterfangen. Ziel des Lebens ist, die ursprüngliche Selbstbestimmung der Seele zu erkennen und ihr zu entsprechen. Dabei ist allein die reine Erkenntnis selbst die Weise, dem Guten und Schönen zu entsprechen. Genau diese Entsprechung ist Wahrheit.
War Platons Refugium der seelischen Wahrheit die präexistente Selbstbestimmung, so wird es bei Freud die Aufhellung der frühkindlichen Intentionen in ihrem verlorenen Kampf mit der harten Not des Lebens, der Realität, sein; das Realitätsprinzip als gesellschaftliche Gewalt an und später in den Individuen ersetzt den abgetakelten Ideenhimmel und Ich-Bildung vollzieht sich in der Dialektik von Trieb und Gesellschaft zu einer überlebensfähigen, arbeits- und genußfähigen Synthese, die es nicht vorab als Fixum gibt, sondern als zu erarbeitendes, zu erkämpfendes Produkt. Genußfähigkeit heißt aber eben auch, den Trieben ihren Tribut zu zollen, ihre Befriedigung zu unterstützen: Sex, Essen, Schlafen.
Sind nach Paulus Rm 12 Leiber Gottes Tempel, so sind Triebe heilig. Nicht deren Unterdrückung, sondern Erfüllung ist die Erfüllung der Idee von Schönheit und Gutem als der letzten Wahrheit des Menschen: Wer glücklich ist, ist schön, erstrahlt in innerer Schönheit. Erst das Schließen einer offenen Gestalt führt zur Klarheit, zum Klarbewußtsein(306), und Verblendung ist nicht die Intentionalität des Lustprinzips, sondern deren Verwässerung durch ideologische Entwertung der fundamentalen Bestimmung des Menschen, ein bedürftiges, ein immer wieder wollüstiges, hungriges und müdes Wesen zu sein wie alles Leben auf dem Planeten Erde.(307) Wenn irgend die Rede von einer primordialen Bestimmung des Menschen ein Recht hat, dann konvergiert die platonische Kalokagaj[a mit der Schönheit der Liebenden, Essenden und Schlafenden. Das Gute besteht nicht in der Diskrimination leiblicher Lebensvollzüge, sondern in deren Erfüllung, Bekräftigung und Bewahrung, nicht im Triebverzicht, sondern im Hören auf die Stimme der inneren Natur, der Triebe und Träume im Dunkel des gelebten Augenblicks, angefüllt mit Bedeutung und Sinn, Sinnlichkeit und Anmut.(308) Die Idee des Schönen und Guten hat ihre Wahrheit in der natürlichen Bestimmung des Menschen zum Sexualspiel, Essen und Schlafen. Alles andere dient der Sicherung dieses höchsten Gutes, ist Reich der Notwendigkeit, nicht der Freiheit, und keine Sublimierung, die ihre Kraft nicht aus diesen Grundwürden des Menschen bezöge, aus der Hoffnung auf Erfüllung dieser vitalsten Grundbedürfnisse und Grundfreiheiten, in denen der Mensch zu seiner fundamentalsten Wahrheit vorzudringen vermag. Der Friede Gottes im AT, höher als alle Vernunft, m
Die platonische Idee einer Wissenschaft, die die Kraft zu ihrer Forschung aus dem Triebverzicht im sexuellen Bereich schöpft, scheint - aller Kritik der Aufklärung an monastischer Leibfeindlichkeit zum Trotz - im heutigen Wissenschaftsideal weitgehend realisiert zu sein: Entweltlichung und Entsinnlichung bedingen sich gegenseitig und der Weltgewinn hochspezialisierter Forschung ist selten nur einer, der der eigenen Sinnlichkeit zugute käme, wie vermittelt auch immer. Wo der Körper entsinnlicht behandelt wird, etwa in der universitären Medizin, gerät er zum Objekt eines Apparats, der in den Vivisektionen der Auschwitz-Ärzte nur seinen besonders reinen Ausdruck gefunden hat. Gegen solche Verdinglichung opponiert die Selbsthilfe-Bewegung, in der Menschen sich nicht mehr als Objekte behandelt wissen wollen und damit einen Rückgewinn ihrer Würde, sinnlichen Eigenleiblichkeit und Kompetenz erringen können.
Erkenntnis haben erlöst. Nur der Gnostiker mit seinem göttlichen Lichtfunken ist zu ihr fähig, wie er in skurriler Abgrenzung zum Rest der Menschen meint. Gn*si' ist ein elitäres Geheimwissen logenmäßiger Mysterienverbände. Von den arischen Männerbünden mit ihren Kollektivextasen und dem Erwürgen des halben Hofstaats beim Tode des Königs zu dessen Geleit im Totenreich(310), von dem Schicksal der guten und bösen Seele nach dem Tod in Zarathustras Lehre, von den Geheimzirkeln persischer M0goi über die Pythagoreer, Orphiker, über die Himmelsreise-Revelation des Parmenidischen Lehrgedichts bis in Platons Höhlengleichnis führt eine Tradition von Erkenntnis, verstanden als Wissen um eine der Welt verborgene, präexistente Wahrheit, an der im Rad der Metempsychosen nur der festhalten kann, der sich nicht dem See der L=jh nähert oder dem Rausch der Sinne verfällt in der Nacht und Finsternis der Begierden.(311) Von Indien bis Griechenland erstreckt sich eine nachgerade homogene Lehre von der Präexistenz der Seele in der göttlichen Geistwelt, dem Fall in die trügende Sinnenwelt und die Rückkehr der Seele zu ihrem geistigen-göttlichen Urgrund.(312) Die Hauptmotive der Gnosis entsprechen einem breiten hellenistischen Konsens, in dem die vedische Quelle des Buddhismus mit der gesamten antiken westlichen Tradition auf struktureller Ebene konvergiert.(313)
Die Wahrheit offenbart der Erlöser in seiner mystisch-weihemäßig mitgeteilten Geheimbotschaft an die versprengten Lichtfunkenträger im Gefängnis dieser Welt. Diese Gn*si' ist esoterisches und exklusives Wissen einer Minderheit über einen geschichtlichen Rahmen von präexistenter Wahrheit, Schöpfung, Kampf des Guten mit dem Bösen, Inkarniertsein in eine Welt des Bösen und postmortalem Rückweg in die Lichtwelt dieser präexistenten Wahrheit als eines Seins mit und bei Gott. Die Erlösung vollzieht sich im Finden des Rückweges in die Lichtwelt, der verstellt wird durch Mächte der Finsternis, durch ihre rauschhafte Bornierung des Blickes auf die materiell vorfindliche Welt als letzten Horizont des Seins. Gegenüber ihren Verblendungsversuchen hilft allein das Wissen, die Gn*si' als Überschreitung des Verblendungszusammenhanges.(314) Während die Gnosis Nichteingeweihte dem ungöttlichen Reich der Finsternis zuordnet, sind die Massenweihen orphischer Wanderprediger, die Verführung der Jugend zur Vernunft bei Sokrates und die paulinische Idee, daß alles Fleisch Gott schauen können soll, Elemente des Kontaktes zu dem Großteil der Menschen, denen im gnostischen Dualismus göttlicher Lichtfunke und Beziehungsfähigkeit zu Gott prinzipiell durch Zuordnung zum Reich der Finsternis aberkannt wird.(315) Damit wird das gnostische Verdammungsurteil über die außerhalb der eigenen Sekte lebenden Mitbürger relativiert und die Basis zu einem Kontakt geschaffen, der natürlich nicht in Anerkenntnis ihrer spezifischen Religiosität besteht, sondern in der missionarischen Hypothese, daß sie falsch leben, aber rechten Lebens fähig wären, würden sie entsprechend aufgeklärt.
Gnosis spiegelt den Aufbruch von religiösem Nationalismus zu einem quasi kosmologischen Internationalismus, von dem die Antike seit Alexander tiefgreifend geprägt wurde. Der babylonische Marduk, der semitische Baal oder El oder Jahwe ist ein Stammesgott, verbunden mit seinem erwählten Volk, dessen irdisch-politisch-ökonomisches Wohl er befördert. Im persischen Dualismus von Ohrmazd und Ahriman ist nicht mehr das Gute das Stammeswohl, sondern eine kosmische Ordnung, die von finsteren Mächten bedroht ist, von Sinneslust und Aggression. Hier findet eine Verlagerung der Räumlichkeit Gottes statt: sowohl im Makrokosmos als auch im Mikrokosmos ist er gleich präsent. Der Urmensch ist das Symbol, welches diese Identität von Makro- und Mikrokosmos vermittelt. Damit ist Gott in seinen beiden Gestalten des guten Gottes Ahura Mazda und des bösen Ahriman zugleich in die Seele des Einzelnen und den Gesamtkosmos verlegt, eine Ausweitung des Göttlichen nach Innen und Außen, eine Expansion der Seinsbereiche im Sinne fortschreitender Vergeistigung. Das Gute ist nicht mehr mit dem Stammeswohl identisch, sondern mit dem Wohl des Gesamtkosmos, zu dem neben den Menschen auch Tiere und Pflanzen gehören, die durch die Metempsychose mit dem Geschick des einzelnen Menschen verbunden sind als seine vergangene oder mögliche Gestalt. Sowohl in Indien (Atman) als auch im Iran (Vohu manah) ist Seele und All eine geistige Einheit, der Urmensch besteht aus dem Gesamt der Schöpfung. Die Mannigfaltigkeit der Welt konnte anfangs unter diesem Pantheismus symbolisiert werden, aber sowohl im indischen Mâyâ als auch im iranischen Trug- und Finsternisbegriff bis in den Parmenidischen Trug des Vergänglichen gegenüber der Wahrheit des geistigen Seins ist eine Diskriminierung der materiellen Sinnenwelt angelegt.(316)
Durch die Entgrenzung des Guten vom Ethnozentrismus zur harmonia mundi ist zugleich das Böse zur universalen Macht geworden, die die Kategorie des Feindes auf die eigene Zerrissenheit als permanente Anfechtung und permanenten Kampf um die Verwirklichung des Guten ausdehnt. Die Generationstreue Jahwes und seine Verheißung ist erweitert um Zurvans Verheißung an Ahura Mazda, nach langem Kampf mit Ahriman schließlich doch die endgültige siegreiche Macht in der letzten Zeit-Etappe des Weltgeschehens zu erlangen, wobei der Urgrund, aus dem das Sein in der Zeit entspringt, eine der Geschichte enthobene Präexistenz in einer ideellen Welt ist, die zugleich die erste und letzte Bestimmung, will sagen: Heimat der gebeutelten Seelen ist.(317) Die Sehnsucht nach der himmlichen, übersinnlichen Welt hat im alten Iran ihren Ursprung.(318) Die Beschäftigung mit dem Bösen in Anbetung und Ausrottung ist seitdem nicht nur Hexenzunft und schwarzer Magie am Herzen gelegen, sondern ebenso Zentrum kirchlichen Handelns.(319) Ein Schaubild erläutert die Verflechtung der Traditionen:
Im Diskurs um die Entstehung der Gnosis als jüdischem Synkretismus, ihre Spielarten, motivischen Quellen und innere Kohärenz als eigenständige Bewegung herrscht weitgehende Einigkeit über ihre vorchristliche Datierung.(320) Die Funde der gnostischen Bibliothek von Nag Hammadi 1947 bestätigen die Existenz einer jüdischen Gnosis im 2.-4. Jh. und schließen so christlichen Ursprung der Gnosis aus.(321) Gnosis ist eine Aufbruchsbewegung und so mehr als nur Summe iranischer, babylonischer, syrisch-ägyptischer, jüdischer und griechischer Mythologeme.(322) Ich meine, gezeigt zu haben, wie das Setting des gnostischen Erlösungsdramas(323) hellenistisches Allgemeingut gewesen ist. Dabei kann man sagen, »daß unter den Faktoren, die die Summe des 'Hellenismus' ergaben, die Orientalisierung des Hellenischen größer war als die Hellenisierung des Orients«.(324) Allein, daß die meisten Träger der Gnosis aus dem gärenden Osten stammten, erweist den starken östlichen Einfluß auf die gnostische Lehre.(325) Reitzensteins Hypothese einer Identität von Urmensch und Erlöser geht davon aus, daß der Urmensch die Summe aller emanierten Einzelseelen in sich enthält und Erlösung komplette Rücksammlung von der Erdversprengung in die Himmelsheimat ist.(326) Colpe zeigt, daß der gnostische m4ga' 3njrwpo' nicht »erlöster Erlöser«, sondern sich Erlösender ist.(327) Der 'Große Mensch', zu dessen Leib alle Menschen, alles Leben zählt, wird immer wieder mit historischen Erlösern identifiziert, ob Buddha oder Zarathustra.(328) Selbst wenn Jesus nirgends als neuer Urmensch explizit bezeichnet wird, ist die paulinische Lehre vom s*ma cristo« eine Wiederholung der indo-iranischen Urmensch-Lehre: Wir alle seien Teile dieses Leibes, dessen Tod ein schöpferisches Vollbringen war(329), ein Übergang von dem Einen zu den Vielen, die ihn nun repräsentieren.(330) Viele Dispute(331) über die Auferstehungsleiblichkeit Christi im s*ma pneumatik7' verweisen nur auf die gnostische Adaption der iranischen Menôk-Welt, des platonischen Ideenhimmels. Die pneumatische Licht-Materie, der Geistleib, ist nichts anderes als die iranische Menôk-Welt.
Paulus und Johannes sind nicht gnostisch infiltriert, sondern christlich infiltrierte Gnostiker. Es ist nur eine Frage der Gewichtung eines christlichen Akzentes in einem allgemein kommunizierten gnostischen Seinsverständnis. Die Ressentiments oder Anti-Haltungen des Paulus, ob gegen seine eigene jüdische und nie abgestreifte Herkunft oder gegen Gnostiker, sind keinesfalls Zeichen dafür, daß Paulus auf völlig anderen Traditionen fußt, gerade das von ihm Bekämpfte hat in ihm selbst eine besonders hohe Wirkmächtigkeit entfaltet und ist am ehesten im Rahmen paranoider Projektion der eigenen Vorlieben auf die Vorlieben anderer zu verstehen. Dies hatte in der Theologie erhebliche Verwirrungen ausgelöst, weil die Front, gegen die Paulus polemisierte (und im Polemisieren war er großartig), gar nicht vom eigenen Denken des Apostels so sehr weit entfernt lag. Der antijüdische Jude und antignostische Gnostiker Paulus ist also ein christlich infiltrierter Gnostiker.(332) In diesem Sinne ist der verschwindende Rest des historischen Jesus in der Lehre des Paulus ein Infiltrat, welches sich in ein gnostisches Feld eingelagert hat und dort als Irritation des Glaubens zu Assimilationsleistungen anregte: Jesus wurde nachträglich eingebaut in gnostische Erlösermythen. Wie Hoheitstitel aller religiösen Proveniance auf Jesus übertragen wurden, so also auch der gnostische Erlösermythos im Joh-Ev.(333) Dies nahm auch Bultmann an, indem er im Johannesprolog eine Täuferschicht ausmachte, in der Johannes als die Verkörperung des himmlischen Erlösers angesehen wird.(334) Die Mandäer sind dann die gradlinige Tradition, das biblische corpus johanneum die Verzweigung und Applikation des Erlöser-Mythos auf den Heros Jesus. Paulus bekämpft überheblich gnostische Weltverachtung als Überheblichkeit.(335)
In Jerusalem zur Zeit Jesu finden wir Parther, Meder und Elamiter (Apg 2,9) und die pfingstliche Atmosphäre ist ein multikultureller Hexenkessel.(336) Die einfachen Leute aus Galiläa waren sicherlich keine Hellenisten.(337) Die griechische Bürokratie hat die Ausbeutung der Landbevölkerung nur verstärkt.(338) Mit dem Übergang von dörflicher Einbindung zur Vereinzelung in der Metropole erstarkt ein esoterischer Individualismus, dessen Erlösungssehnsucht nicht mehr diesseitiges Wohl avisiert, sondern Ruhe vom hektisch-rauschhaften Weltgetümmel, welches die Städte rund um die Uhr entwickelten und was noch Heidegger(339) als 'Uneigentlichkeit' des 'Man' abtat und Eigentlichkeit eher in der Schwarzwaldhütte von Todtmoos als in Berlin zu finden hoffte. Das palästinische Judentum war zwischen Rezeption und Abwehr des Hellenismus gespalten.(340)
Das Ausmaß der narzißtischen Grandiosität ist in seiner Übertreibung signifikant: zeugt die Stärke des Wunsches von der Stärke des Mangels, aus dem er erwuchs, so kann man unschwer neben den entwurzelten gnostischen Intellektuellen eine tief gekränkte und angefochtene Jungchristenheit vor sich sehen, die verspottet wurde mit dem Zeichen des Esels am Kreuz: Euer Gott ist armselig, daß er nicht mehr Macht hat und sich fangen und kreuzigen läßt. Übertriebener Narzißmus als Reaktionsbildung auf übermäßige Anfeindung und Bestreitung des Selbstwertes durch Verhöhnung des Ich-Ideals ist durchaus verständlich: er kompensiert die fehlende soziale Anerkennung der Christen in der aufs Spektakuläre ausgerichteten Konkurrenzlandschaft der wundergläubigen Religionsgemeinschaften und Sektenkulte.(341) Ein kollektiver Narzißmus der Urchristenheit war wie die Bundestreue Jahwes in der Konsolidierung der nomadischen Amphiktyonie in der extremen Bedrohung durch Ägypter, Philister, Assyrer, Babylonier im geographischen Pufferraum der Großmächte notwendiges Glaubensmittel zum Überleben.
Es ist zugleich eine Form des Kommunikationsabbruchs mit der feindlichen Welt als Reaktion auf erfahrene Exkommunikation und Verfolgung.(342) Die xenophobe Weltverachtung ist eine Form, das, was einen ostinat demütigt und die eigene Wahrnehmung, Vernunft und den eigenen Glauben bestreitet, zu relativieren, indem es im System des eigenen Glaubens den Platz des Gegners zugewiesen bekommt.(343) Mag dieser christlich-gnostische Narzißmus auch Resultat tatsächlicher Verfolgungserfahrungen sein(344), heute sind Christen schon lange nicht mehr verfolgte Radikale, ist das Wort vom Kreuz schon lange weder mehr Ärgernis noch Torheit, sondern integrales Kulturgut einer pluralistischen Kulturindustrie, die Johannespassionen auf CDs zum Supersonderpreis offeriert. Die Paranoia der frühen Christen ist heute unangemessen.
Die Jesusbewegung selbst war noch nicht von der späteren Weltverachtung geprägt. Das Gebot der Feindesliebe Mt 5,43f sprengt die Grenzen sozialer Exkommunikationsverfahren. Zöllner (Mk 2,14) und Zelot (Lk 6,15) gehörten wie Syrophönizierin und römischer Hauptmann zum Kreis der Anhänger Jesu: hier kamen verfeindete Gruppen in Frieden zusammen. 77 Mal zu vergeben (Mt 18,21f) als Pointe gegen 77malige Rache (Gen 4,24) kanalisiert die Aggression in den »irenischen Grundzug der Jesusbewegung«.(345) War der Täufer vor dem unheilvollen Volk asketisch in die Wüste zurückgezogen, wo sich die dem Zorngericht Entrinnenden sammelten, so feiert Jesus Mt 11,18f eschatologische Freudenmahle: der Bräutigam ist da.(Mk 2,19) Die bei Tauf-Johannes radikalisierte Thoraverschärfung wird bei Jesus von einer radikalisierten Gnadenvision des Gute und Böse liebenden himmlischen Vaters sekundiert. »Introjizierte Aggression schlug um in Selbstannahme aufgrund göttlicher Liebe. Wichtigste Voraussetzung dafür war jene angstfreie Atmosphäre, die in den Gleichnissen so deutlich hervortritt. Es ist, als hätte das Urvertrauen zum Leben einen neuen, mächtigen Impuls erhalten.«(346)
Von diesen Impulsen der Wanderradikalen um Jesus herum bleibt beim hellenistischen Judenchristentum des Apostel Paulus nicht viel übrig. »Paulus zitiert kaum Herrenworte. Und selbst wenn er mehrere gekannt hätte -, der ethische Radikalismus der Jesusbewegung, ihr Ethos der Familien-, Heimat-, Besitz- und Schutzlosigkeit hätte in den von ihm gegründeten Gemeinden keinen Lebensraum gehabt. In diesen Gemeinden entstand vielmehr ein gemäßigter Liebespatriarchalismus, der sich an den Bedürfnissen sozialer Interaktionen im christlichen Hause orientierte: an den Problemen des Zusammenlebens von Herren und Sklaven, Männern und Frauen, Eltern und Kindern... Während die Menschensohnchristologie von einer aszendenten Bewegung bestimmt ist - der jetzt Verachtete und Verfolgte wird zum Weltenrichter -, tritt in den hellenistischen Gemeinden eine deszendente Bewegung hinzu: Der präexistente Sohn Gottes entäußert sich in unsere Welt... Die Erniedrigung des Gottessohnes ist freiwillige Armut... An die Stelle sozial entwurzelter Wandercharismatiker traten in wachsender Zahl sozial höherstehende Christen«(347) und es geht mehr und mehr um einen »Kompromiß des effektiven Ausgleichs«.(348) Diek4nwsi' des Taufliedes Phil 2,5ff ist schon Herrenperspektive.
Die Welt wird in der Gnosis - recht anders als bei Jesus - als Gefängnis asketisch vermieden, oder: »Die Verachtung der Welt kann... auch eine libertinistische Haltung hervorrufen«.(349) In der Weltverachtung findet eine gleichzeitige Aufwertung des eigenen Ich statt, »weil nichts Weltliches das Ich des Gnostikers, das der göttlichen Sphäre angehört, zu berühren vermag.«(350) Diese Dissoziation der Welt vom Ich ist klinisch von Schizophrenen her bekannt; dort geht die Ataraxie bis zur Schmerz-Unempfindlichkeit.(351)
Die Diskussion an deutschtheologischen Fakultäten fällt weit hinter die religionsgeschichtliche Schule zurück. Immer noch traktiert man die Singularität christlicher Motivbildung und ihre Einzigartigkeit gegenüber allen anderen religiösen Strömungen. Die synkretistische Übernahme von Motiven anderer Religionen wird schöngeredet zu einem "Reden in der Sprache der Zeit". Geleitet wird solch ein Betrugsmanöver von Verlustangst. Wenn das Eigentliche des christlichen Glaubens nicht mehr erkennbar ist, wenn Gott sich als buntes Gemisch aller Götter der Antike entpuppt, zerfließt auch die eigene Identität der Christen in ihrer Abgegrenztheit gegenüber den angeblichen Heiden, die in Wahrheit ihre Lehrmeister gewesen sind. Lohse: »Die ersten Christen, die in Palästina und Syrien, bald aber auch in anderen Teilen der alten Welt das Evangelium verkündigten, redeten die Sprache ihrer Zeit. Daher sind sehr bald auch gnostische Motive aufgenommen worden, um sie zur Verdeutlichung der christlichen Predigt zu verwenden.«(352) Die Illusion, sich einer Sprachwelt zu bedienen, um sie zu unterwandern, verkennt, daß den Unterwanderer diese Sprachwelt unterwandern wird.(353)
Paulus redet von den dämonischen Gewalten, die sich trennend zwischen Gott und Mensch schieben wollen.(354) Im glossolalischen Geistbesitz der korinthischen Enthusiasten »hat sich alsbald gnostisches Selbstverständnis mit christlichem Freiheitsbewußtsein verbunden und in dem stolzen Gefühl derer ausgesprochen, die vom Geist erfaßt und getragen sind.«(355) Gnostische Gegenwärtigkeit der Heilszeit, von Paulus 1 Kor 4,8 proklamiert und sakramental präsentiert, führt immer wieder zur unbequemen Wahrnehmung christlicher Freiheit(356) der Kinder des Gottes, der alles in allen ist und wirkt (1Kor 15,28; 12,6), so gern Paulus enthusiastische Ausbrüche dieser Freiheit zügelt.
Johannes redet von dämonischen Gewalten der Welt, von der Finsternis als eigenständiger, gegengöttlicher Macht, die den Glaubenden ängstigen und verblenden.(357) Anstelle der Urverbundenheit tritt die Versöhnung durch den Glauben an Jesu Gottgesandtheit als Sohn und Hypostase des Vater. Jesu Tod ist der geheime Sieg des Offenbarers der d7xa über die Mächte dieser Welt; diese wird der Gemeinde in den Abschiedsreden verdeutlicht. Lohse konstruiert einen johanneischen Antignostizismus: »Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe stehen in deutlicher Front gegen die gnostische Verfälschung des Evangeliums.«(358) Abwegig und inkompetent gegen die Gnosis polemisierend bezeugt auch er, wie sehr damals die Gnosis und ihre narzißtische Grandiosität des Glaubenden gegenüber der feindlichen Welt verbreitet war.(359) Simon Magus' jüdische Gnosis hat neben der christlichen Gnosis über Stephanus' universalistisches Christentum Paulus und seine Schüler, aber auch die johanneische Gemeindetheologie beeinflußt. Damaskus ist Treffpunkt beider Gnostiker. Daneben steht der zweite Traditionsstrang des NT: die Linie Jesus, Jesusbewegung, Kerygma und Logienquelle, palästinische Urgemeinde mit Abzweig Jakobusbrief, Petrus' hellenistisches Judenchristentum mit 1 Pt, Jud, Apk, Heb und den Synoptikern. In das Johannesevangelium ragt neben Wunder- und Zeichenquelle synoptische Tradition hinein.(360)
Daß alles durch den l7go' geschaffen ist und er in Christus Fleisch wurde, sich mit der Welt verbunden hat, entspricht im mythischen Bild der Kontaktfähigkeit des historischen Jesus und seiner Tischgemeinschaft mit der sündigen Welt. Mission hätte keine Chance gehabt, hätte sie in radikaler Abgrenzung zur ihrerseits eher toleranten und pluralistischen religiösen Konkurrenz auf der Reinheit einer Lehre(361) bestanden, die sich nur zu einem Bruchteil den Logien des historischen Jesus verdankt und überwiegend von Anleihen nicht nur von den altorientalischen Königsideologien und ihrer alttestamentlichen Rezeption, sondern auch von der Baals-Tradition via Dan 7,13 in der Konstitution des Himmelsaufstieges des Menschensohns, den wir Auferstehung, Himmelfahrt oder Parusie nennen, profitiert hat.(362)
Der Gedankengang führte von den Emanationen narzißtischer Libido ans Liebesobjekt zur Gnosis und könnte weiterführen zu Plotin, dem Cusaner, Michael Servet, Giordano Bruno oder der Leibnitzschen Monadologie.(363) Die Entäußerungsfigur der Liebe begegnet, ob Emanation genannt oder nicht, schon in der Weisheit. Ihre Adaption altägyptischer Traditionen der Schöpfungsmittlerschaft der Tochter Maat mit ihrem Vater, dem Schöpfergott Atum, zu dem sie ein ausgesprochen erotisches Verhältnis hat(364), bringt die Erotik dieser archaischen Inzest-Dyade der Himmelseinheit mit der Sendungstheologie in Beziehung: Die Weisheit kommt aus ihrer Intimität mit dem Schöpfer zu den Menschen, um sie das rechte Leben zu lehren, wobei Kern ihrer Botschaft die Ordnung des Kosmos ist, eine Ordnung, die die beste Werbungsaktion für ihren Urheber darstellt.(365) Die Sendungserotik der Weisheit, in der gnostischen Pistis Sophia(366) aufgenommen, erfährt eine christologische Uminterpretation im Johannesprolog, im Heb, bei Lk und bei Paulus.(367) Paulus identifiziert Jesus mit der Weisheit.(368) »Doch während die Gnosis wie der urchristliche Hymnus von der Präexistenz des Logos reden könnte, würde sie niemals in das Bekenntnis einstimmen können, daß der Logos Fleisch wurde«.(369) Die johanneische Inkarnation des göttlichenl7go' hat nach Lohse eine antignostische Pointe. Eben darum spiele sie auf dem Feld der Gnosis.
Dennoch ist das Sehen der Herrlichkeit des Einziggeborenen, voller Gnade und Wahrheit(370), nach Lohse kein fleischliches Schauen, mit infektiösem Befühlen der Wunden des Auferstandenen, »sondern allein im Sehen des Glaubens wird erkannt, daß Jesus der vom Vater Gesandte ist.«(371) Lohse's Argumentationsfigur ist typisch für jene theologische Überbietungs-Logik, die mehr verspricht, als sie einlösen kann. Für Liebhaber des Fleisches, die das zentrale Argument gegen die Gnosis in der fleischlich-empirischen Greifbarkeit Jesu gefunden zu haben dachten, ist die johanneische Bescheidung auf die gar nicht empirische gn*si' cristo« allein im Glauben, nicht im Schauen nur behauptete, nicht durchgeführte Inkarnation.(372) Damit ist Christus kein Stück weiter in die empirische Welt verleiblicht worden als in der dem Fleisch zusprechenden Gnosis selbst. Als nur zu glaubende, nicht empirische Fleischlichkeit des vom Schöpfervater geliebten, in die Welt gesandten und nicht aufgenommenen Sohnes ist die Realität Gottes im Gekreuzigten kaum evidenter und weltfreundlicher als der Doketismus des verborgen einschleichenden Erlösers der Gnosis. Folgt man Bultmann und Lohse, so ist 1) das Ärgernis des l7go' to« stauro«, der Idee der Fleischwerdung des Wortes, 2) die (nicht nur schein-)leibhaftige Kreuzigung Jesu und 3) die Präexistenz und Weltgeworfenheit der den göttlichen Lichtfunken Beherbergenden der Unterschied zur Gnosis.(373)
Die gnostische Abwertung der Welt ist von Paulus bis Johannes gleich. Erlösung ist Entweltlichung. »Beide stehen im Raume des von der gnostischen Strömung durchsetzten Hellenismus, so daß eine gewisse Übereinstimmung in der dualistischen Terminologie nicht verwunderlich ist. Beide gebrauchen den Begriff k7smo' in dem dualistisch abwertenden Sinn... Vor allem ist bei Joh wie bei Paulus die Christologie nach dem Muster des gnostischen Erlösermythos ausgestaltet...: Sendung des präexistenten Gottessohnes in der Verkleidung eines Menschen«.(374) Jesus wurde von Gnostikern als greifbare Heldenfigur mit 'ihrem' Erlöser identifiziert. Im Stephanuskreis und der Damaskusgemeinde in Syrien liegt die Quelle der Konvergenz von Joh und Paulus: Heterodoxes Randjudentum > Täuferjünger > Jesusbewegung > Hellenistengruppe der Jerusalemer Urgemeinde > Johanneischer Kreis.(375) Bergers Versuch, die Größe Gnosis aufgrund ihrer Multiplizität durch 'Hellenismus' zu ersetzen, kratzt nur am Mythos von der Geschlossenheit eines gnostischen Lehrsystems, nicht aber am Doketismus der johanneischen Pointe des Sehens im Glauben, nicht im Schauen.(376)
Mit Käsemann ist von der doketischen Zweigleisigkeit der Doxa-Welt und der Sinnenwelt bei Johannes auszugehen.(377) Die Fleischwerdung ist Vehikel zur Offenbarung, Stippvisite in der Sinnenwelt, die prinzipiell für den Glaubenden irrelevant und zu überwinden ist. Immerhin ist das Heilsgeschehen Zuwendung zur Welt, in die Joh 17 auch die Jünger gesandt sind, um die d7xa zu offenbaren, damit Glauben zu wecken und Haß zu ernten, sofern die Welt ihn nicht aufnimmt.(378) Die Welt spaltet sich vor der Offenbarung in Glaubende und Hassende; hier kommt ein Entscheidungsdualismus ins Spiel.(379)
Im Corpus hermeticum, 100 - 200 n.Chr. entstanden, ist das erste der 18 Traktate der Poimandres.(380) In diesen Revelationsberichten gibt es keine Spur von Jesus. Babylonische, alttestamentliche, iranische, pythagoreische, platonische und stoische Motive sind offensichtlich. Der vom androgynen Gott geschaffene androgyne Urmensch geht in seiner unendlichen Schönheit herab zur ihm übergebenen Erde und will noch Besseres schaffen als Gott selbst. Er verliebt sich in sein Spiegelbild im Wasser und vereinigt sich sexuell mit ihm, wird so zur himmlich-irdischen Doppelnatur. Das ist der Fall aus der oberen Welt in die Lüste der unteren Sinneswelt. Nur Erkenntnis des himmlischen Selbst-Teiles ermöglicht eine Abkehr von den Lüsten der irdischen Welt. Postmortale Himmelsreise durch 7 Sphären schließt sich an, wobei in jeder Sphäre eine negative Eigenschaft abgelegt wird, läuterungsmäßig: Wachsen, Bosheit, Wollust, Herrschsucht, Hybris, Besitzgier, Lüge. In der achten Sphäre preisen alle Seelen miteinander Gottvater und sind vergöttlicht. Hier ist eine Mystagogie entwickelt, die durch extatische Schau das Weltgefängnis zu verlassen anstrebt - ohne jeden christlichen Einfluß. Damit ist der vorchristliche Charakter der Gnosis erwiesen.
Die Gnosis des Magiers Simon (Acta 8,10) hat sich von Samaria bis Rom ausgebreitet. Hier steht dem Vater des Alls die 5nno@a (Gedanke) als weibliches Prinzip zur Seite, wird von den Dämonen der Finsterwelt gefangen und wandert von einem Frauenkörper zum anderen bis sie aus einem Bordell in Tyrus als Helena vom herabsteigenden Hochgott selbst befreit wird - durch Simon und die in ihm inkarnierte göttliche Macht. Nach dem Einfall der Parther ca. 40 v.Chr. in Palästina haben sich gerade im weniger orthodoxen Samaria persische Elemente gut entfalten können.
Die Mandäer sind neben anderen Täuferbewegungen ebenfalls um 50 n.Chr. entstanden und hoffen, mit dem Wissen, der Taufe, den Ölsalbungen und Kommunionsfesten des Erlösers Manda d' Haije durch die Verwirrung der bösen Weltregenten, der Planeten zur Himmelsheimat hindurch reisen zu können; Weltabkehr ist auch hier der Weg. Johannes der Täufer wurde erst später in die mandäische Tradition eingefügt.(381)
Eine Exegese, die die gnostische Terminologie von Johannes und Paulus lediglich als begriffliche Hülle einer in Wahrheit völlig antignostischen Tendenz traktiert, verfällt ihrerseits einem Doketismus auf der Sprachebene: sie konstruiert einen sprachlichen Scheinleib, der als bloße Hülle nicht identisch ist mit seinem gelegentlichen Insassen. Mit welchem Recht terminologische Übereinstimmungen auf den Zeitgeist zurückgeführt werden und damit inhaltliche Übereinstimmung fast schon abgetan sind, verblüfft. Ist denn das Evangelium zeitlose Botschaft mit einem je und je wechselnden Sitz im Leben und Zeitgeist, der seinerseits beliebig oder gar belanglos ist? Heißt nicht Inkarnation, in die Zeit, in die gegenwärtigen Mythen und Moden, Aggressionen und Ängste hineingeboren oder geworfen zu sein? Die Rede von einer »je und je« ergehenden Botschaft des Wortes Gottes versucht, sich über die einzelnen Aktualisierungen zu stellen und eine heilsgeschichtliche Gesamtperspektive zu ergreifen. Sie relativiert die »je und je« gesagten Worte Gottes. Inkarnation meint aber, daß Gott sich nie anders zeigt als in der Verwirrung, Verblendung und Verfälschung seiner Aseität. Er zeigt sich immer nur im »verfälschten« Menschenwort, in der unter der großen universalgeschichtlichen Perspektive zur Belanglosigkeit verblassenden Aktualität eines modischen Mythos, in den er hineingeboren wird wie Jesus in einen Futtertrog. Aus diesem Grunde ist der methodisch Joachim Jeremias' Argument des Echten als des Singulären folgende Versuch, die »ipsissima vox« des Paulus oder Johannes als Pointe gegen den Zeitgeist, mit der sie sich artikuliert, abzugrenzen, so undankbar gegen die generierende Tradition wie die Bemühung, nachzuweisen, daß Jesus kein Jude war. Wenn Gott sich mit den Sprachmoden des Zeitgeistes offenbart, ist es müßig, an der angeblichen doxologischen Differenz zwischen Gott und seiner menschengemäßigten Offenbarung herumzupuzzeln.
Man kann nicht gnostisch reden, aber etwas antignostisches meinen, die Hüllen des Mythos mit Interpretamenten zersprengen.(382) Das mythische Medium, in dem sich solch eine Aussage mitteilt, ist gegen solche Sprengung resistenter als die Transformationen. Solange sich christlicher Glaube gnostischer Terminologie bedient, heute noch, ist er immer schon der Gnosis verfallen. Weil sich das Wort Gottes durch Paulus und Johannes glaubensgeschichtlich in das Selbstverständnis der Gnosis eingeboren hat, ist es nicht nur eine Psychologie der Gnosis, sondern auch eine der Christologie als dem zentralen Paradigma der christlichen Anthropologie, die Stellung des Gläubigen zur Welt, zum Kosmos, zum Erlöser und zur eigenen Person auf ihre Ökonomie der Libido-Besetzungen hin zu reflektieren. Paulinische Christologie hat am historischen Jesus kaum Anhalt bis auf 4 Herrenworte und diffuse Entsprechungen in der Überwindung ethnischer Grenzen durch Mission. Es hätte auch jeder andere wundertätige Messiasprätendent als persona des gnostischen Erlösers dienen können. Eine Einzigartigkeit der Gestalt Jesu ist eskamotiert durch das nackte »Daß des Gekommenseins« und den Reigen mythischer Schemata, die dem Glaubenden das Grundgefühl grandioser Partizipation an der göttlichen Erlösermacht geben. So sehr Paulus' Theologie wirkungsvoll gewesen ist: der Anhalt am historischen Jesus und damit das, was heute Christologie allererst zu einer solchen zu machen imstande wäre, ist bei ihm bis zur Unkenntlichkeit vernebelt, weil Paulus Jesus, den er zu verkündigen glaubte, nur als dritter Hand gekannt hat.(383)
Narzißmus ist gesund.(384) Wenn es unserem, am Johannesevangelium geprägten Glauben, wie gnostisch auch immer, gelänge, den Selbstwert eines Menschen zu regulieren im Sinne des Liebesgebots Jesu, das ja Selbstliebe als Basis jeder Nächstenliebe voraussetzt, so wäre der christologische Mythos eine heilsame Gestalt des Glaubens.(385) Der faktische Gnostizismus kirchlicher Sozialgeschichte ist als selbstbestätigende(386) Weltverachtung Ausdruck des narzißtischen Rekurses auf die Grandiosität der eigenen Identität, die als Emanation göttlicher Substanz selbst gotthaft ist, indem sie einen göttlichen Lichtfunken in sich trägt. Wenn der Sohn Gottes 'für mich' gestorben ist, muß ich Gott unermeßlich viel wert sein, weiß mich geliebt und muß mich in meinem Sein nicht mehr meines eigenen Wertes vergewissern. Ich wäre damit frei zur Liebe.
Zunächst entspricht dieser schroffe Dualismus von Gut und Böse der paranoiden Position des Kleinkindes, welches noch nicht die Zusammengehörigkeit von Lust- und Unlust-Erfahrungen mit derselben Mutter begreifen kann und eine archaische Spaltung von Lust und Unlust vollzieht.(387) Die Spaltung des gnostizistischen Dualismus Licht-Finsternis, mit der sich das paranoide Ich von der als böse projizierten Welt zurückzieht, führt zu einem 'hermeneutischen' Zirkel. In ihm führt jede Hypothese der Dogmatik zu jenem in aller anerzogenen Demut heimlich doch sehr hybriden 'christlichen' Verhalten, welches dann Erfahrungen einträgt, die die Ausgangshypothese zu bestätigen geeignet sind.(388) Innerhalb dieses pseudo-hermeneutischen Zirkels des Glaubens(389), in den tiefer hineinzugeraten als Wachstum im Glauben gelobt und gefördert wird, läßt sie die Welt dann tatsächlich als feindliche erleben, nachdem die als »Welt« verachtete und vom Glaubenden gedemütigte Gruppe von Menschen sich gegen diese Demütigung mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gewehrt hat: der Attestierung von Torheit, psychopathischer Klassifikation, Marginalisierung bis hin zur Kriminalisierung. Verfolgtwerden von den Vertretern der finsteren Welt ist per se immer schon Martyrium, egal, worauf sich die Verfolgung gründet. Eine Selbstkritik ist damit apriori unnötig; der allgütige Hochmut der Christen und ihre wilde Zwangsbeglückungslust gegenüber geeigneten Opfern wird immer als caritas durchgelassen und kaum jemals kommt ein tätiger Christ auf die Idee, daß seine milde Güte den anderen zugleich in seiner Freiheit entmachtet. Die Welt-Menschen wehren sich gegen die Christen dann mit aller verbliebenen Macht.
Diese Konfrontation kann sich schließlich zu einem Glaubenskrieg auswachsen. Von 1.Kor 1,18ff führt der Weg gegenseitiger Dämonisierung über die christliche Verachtung der Vernunft und den Antisemitismus zum christlichen Antikommunismus bis zur Kasernierung der Christen in die psychiatrischen Institutionen des Bolschewismus. In den Christenverfolgungen des römischen Imperiums läßt sich kaum erkennen, daß es um die Behinderung tätiger Liebe ging, das strittige Moment war nicht die Liebe, sondern der Glaube, der die Welt, die römische Welt mit ihrer Staatsreligion des Kaiserkults als feindliche Welt unterminieren wollte. Auch wenn das Leiden der Märtyrer die Grausamkeiten der damaligen Regierungspraktiken zeigt und Achtung verdient, besteht Grund genug zu der Frage, was an mehr Menschlichkeit, an mehr Gerechtigkeit, an mehr Frieden, an mehr menschlicher Freiheit, an mehr verwirklichter Liebe durch diese unsäglichen Leiden der mutigen Christen in die Welt gekommen ist. Der Kampf der frühen Christen diente trotz der allerbesten Intentionen im Endeffekt nicht dem Mehr an Humanität, sondern einer sozialen Ausweitung ihres Glaubenssystems in der verwirrenden Pluralität und Konkurrenz der spätantiken Religionsgemeinschaften.
Der Teufelskreis der Weltverachtung, paranoid-narzißtischer Grandiosität der eigenen Sphäre, führt zu einer gedemütigten und dann verachtenswürdig reagierenden Welt und verhindert Kontakt, Austausch, gegenseitiges Geben und Nehmen, Bereicherung und damit Wachstum. Statt dessen gibt es ein Pseudowachstum des Glaubens, der Dissoziation, der neurotischen Abgrenzungsmanöver, der Vereinsamung der Lichtmenschen, der Austrocknung der Kirche. Der Vorteil dieses Systems ist eine unbegrenzt funktionierende Perpetuierung der pseudohermeneutischen Vorannahmen kirchlicher Lehre.(390) Das Freund-Feind-Schema des Gnostizismus ist unerschütterlich und läßt keine Irritationen zu; diese würden im Zweifelsfall unter die feindliche Welt subsumiert.(391) Christliche Theologie hat aus diesem paranoiden Gnostizismus heraus sich von Anfang an als abgrenzende, ressentimentgeladene Apologetik(392) eingebracht und nicht als dialogbereite und weltoffene Haltung des Gesprächs auf dem Markt der Möglichkeiten.(393) In der Regel ist Mission keine gewinnende Werbung gewesen, sondern Abwerbung mit lauteren und oft sehr unlauteren Mitteln.(394) Wie Kinder oft die Eltern bekämpfen, um eine eigene Identität zu entwickeln, so hat die christliche Tradition ihre semitischen und hellenistischen Ursprünge und Quellen verraten und verleugnet, jedenfalls selten als Erbe mit Dankbarkeit anerkannt. Christen sind gnostisch.
Fazit: Religionswissenschaftlich ist Gnosis ein Zeitgeistgemisch der damaligen großen Religionen. Sie setzt interkulturelle Begegnung voraus, Assimilation und Integration fremder Mythen. Sie ist Protest gegen die vorfindliche Weltordnung und verleiht jedem der Beherrschten die Königswürde eines Gottessohnes.(395)
Glaubensgeschichte ist Fortschreibung der eigenen Geschichte mit den Impulsen anderer Religionen, Impulsen des Zeitgeistes, die den damals höchsten Plausibilitätswert hatten, allgemein anerkannte Paradigmata waren. Damit wird zugleich um Anerkennung des eigenen Glaubens gerungen. Es hat nicht gereicht, einfach nur die Geschichte Jesu zu erzählen, wie sie war.
Psychoanalytisch ist Gnosis paranoide Dissoziation des Ichs von der feindlichen Welt. Sie ist in sich so geschlossen wie das Wahnsystem Schizophrener. Paranoia wird ja selten vererbt. Was also hat die Leute motiviert, ein System für plausibel zu halten, was die Welt als böse Feindmacht beschreibt? Es muß psychischen Bedürfnisse befriedigt haben, die Welt als Finsternis zu fürchten: Verortung des Bösen außerhalb des Ichs.
Religiöse Paradigmata der Stammesreligionen waren in der Wirtschaftsvernetzung des Hellenismus am Ende. Es gab für viele Migranten keine Geborgenheit mehr im Stamm oder Dorf. Es gab den Einzelnen in einer riesig gewordenen Welt, die fremd und unheimlich ist, die keine Heimat mehr ist. Die wachsende Interkulturalität zieht das Erstarken der kosmologischen Perspektive nach sich. An die Stelle der Lagerfeuergeschichten aus dem eigenen Stamm treten Narrationen über das Gesamt der Welt in den Horizont des Bewußtseins. Man blickt mehr über den Tellerrand hinaus, die Verwissenschaftlichung des mythischen Weltbildes wird transterritorial und transmortal: Auch die Grenze des Todes wird angetastet und die Reisetätigkeit dehnt sich auf das Große Weltjahr und alle Metempsychosen aus. Die Grenzen der menschlichen Existenz werden hinterfragt und mythisch überschritten in einem regressus ad infinitum. Diese fortschreitende Vernetzung der antiken Welt wird erkauft durch eine fortschreitende Vereinsamung der Menschen, die an dieser Vernetzung als Händler oder Söldner direkten Anteil haben. An die Leerstelle des Stammes tritt dann die Gemeinschaft der religiösen Sekte. Sie schafft Familien-Ersatz. Die innere Konsolidierung dieser Wahl-Kollektive, die die natürlichen Kollektive abzulösen begannen, wird verstärkt durch das äußere Feindbild einer widrigen, finsteren Welt. Individuelle Weltangst motiviert die Menschen damals also zur Zusammenrottung in Sekten, in denen vorzugsweise eben jene Weltangst zelebriert, anerkannt und ausgelebt werden kann. Als Mysterien Enklave treten diese Geheimbünde aggressiv und offensiv missionierend gegen die feindliche Welt an. Dabei wird die Sehnsucht nach dem Eins-Sein mit der Stammesseele zum Mythos von einer Weltseele, zu der jeder von Haus aus gehört, selbst wenn er kein Haus mehr hat. Internationalismus der hellenistischen Weltstädte Seleucia, Antiochia, Ephesus, Alexandria führt zum religiösen Synkretismus, zur kosmologischen Perspektive im religiösen Denken.(396)
Diese Aufgabe ist ein Bestandteil des mittlerweile begonnenen interkonfessionellen Dialogs der großen und kleinen Religionsgemeinschaften dieser Welt(397), der sich in den ungezählten Gesprächen und wißbegierigen interkulturellen Begegnungen unserer zu einer Weltinnengesellschaft zusammenrückenden Kulturkreise anbahnt. Wo immer Menschen engagiert über die letzten Gründe ihres Fühlens, Denkens, Handelns miteinander aufrichtig kommunizieren, bereit, das zunächst nicht Kompatible der gegnerischen Anschauung zumindest einmal zur Kenntnis zu nehmen, da entsteht der Kontakt, der nach Jesus schmeckt, dem Jesus, der bei dem heidnischen Hauptmann mehr Glauben diagnostizierte, als in ganz Israel zu finden sei.
Wie der Kampf gegen Götzen zum Lieblingsspiel der Dialektischen Theologie gehört, als »intellektueller Dauerkampf gegen sie«(398), findet sich in einer Auflistung der liebsten Götzen fast alles wieder, was uns unbedingt angeht, ausgenommen Theologie: »Das waren einmal die Götter der Macht, der Fruchtbarkeit und der eigenen Gruppe: Moloch, Baal, Astarte, Amon und andere. Das sind heute die Götzen des Vaterlands, der Rasse, der Klasse, des Profits und des Konsums oder antigesellschaftliche Affekte. Das sind aber auch Gegenstände, Gesetze und Riten der christlichen Religion.«(399)
Zur Schwachheit des gekreuzigten Gottes gehört, daß er mit dem besten Argument nicht unterschieden werden kann von dem, was Götzendienst ausmacht: Entfremdung, fanatische Versklavung an eine fixe Idee, unbedingtes Engagement bis hin zum Einsatz des eigenen Lebens. Zur Schwachheit des Gekreuzigten gehört auch, daß er prinzipiell auf den Erweis einer höheren Plausibilität gegenüber anderen Religionen, Mythen und Götzen verzichtet hat.(400) Es gibt keine Parusiegarantie eines glücklichen Endes, keinen Gottesbeweis, der andere Seinsentwürfe überbieten kann. Daß Gott alles zu einem guten Ende führt; daß Gerechtigkeit und Frieden die Erde erfüllt, Wolf und Lamm miteinander weiden, Mensch und Natur versöhnt zur Symbiose gelangen, bleibt Hoffnungsgut und credendum. Auch eine mythenkritische Perspektive biblischer Hoffnungsmotive wird, weil sie auf die Utopie, die zukünftige Geschichte abzielt, nicht zu mehr als Prognosen kommen, die gewisse Wahrscheinlichkeiten für sich haben, noch größere aber gegen sich.
Es wird für den Wahrheitsgehalt der Sache Christi bis zu ihrem historischen Sieg in einer versöhnten Weltinnengesellschaft keine andere Garantie geben als wiederum nur die unsichere, gegen den Strom der bisherigen Geschichtsverläufe anhoffende Kraft eines Glaubens, ohne den, hätten ihn Forscher nicht aufgebracht, keine einzige wissenschaftliche, technische, künstlerische oder soziale Innovation vollbracht worden wäre. Aller Fortschritt war immer zunächst eher unwahrscheinlich. Das Unwahrscheinliche zu glauben, bleibt der Sache Christi nicht erspart, und ohne dies kommt sie nicht zum Ziel. Daher gehört es zur Schwachheit des gekreuzigten Gottes, daß man seine Sache nicht wird beweisen können, ohne nicht vorher an sie geglaubt zu haben und in diesem Glauben sie historisch entscheidend befördert zu haben.
Zur Niedrigkeit Christi gehört, daß fast nichts für sie spricht, sie nicht sensationell reklamewirksame Erfolge zeitigt. Zur Niedrigkeit Christi gehört die Fähigkeit, auf Gottesbeweise und die besseren Argumente ganz zu verzichten. »Der gekreuzigte Gott aber verzichtet auf diese Privilegien eines Götzen. Er durchbricht den Bann des Über-Ich, den Menschen auf ihn legen, weil sie diesen Selbstschutz brauchen.«(401)
Hier beginnen die Schuldzuweisungen in der Theologie. Warum brauchen denn Menschen diesen Selbstschutz, sofern man eine religiöse Zwangsjacke überhaupt als einen »Schutz« bezeichnen darf? Scharfenberg moniert die Diastase von perpetuiertem Kontrollgott in der durch Kindertaufe aufgezwungenen religiösen Kindererziehung und einem Erwachsenwerden, in dem diese infantilen Gottesbilder nicht aufgelöst werden, sondern bestenfalls mit den Attributen eines gnädigeren Gottes belegt oder vollends verdrängt resident bleiben.(402) Wie soll denn ein religiös erzogener Mensch jetzt auch noch die Schuld dafür auf sich nehmen, daß ihm Gott als Idol, Ideal-Ich und Über-Ich aufgezwungen wurde, als er noch nicht genug Ichstärke(403) hatte, sich gegen diese Zwangsjacke des Allwissenden zu wehren? Moltmann schiebt die Schuld der Täter auf das Konto des Opfers: Selbstschutz wird der zugerichtete Glaube erst, weil die Glaubenden von ihren Erziehern zugerichtet wurden.(404) Der sozialisatorische circulus vitiosus eines permanent auflauernden Kontrollgottes vererbt sich weniger durch kirchliche sekundärsozialisatorische Einflüsse als vielmehr durch das primäre familiale Input. Aber dieses ist in Jahrtausende währender kontinuierlicher traumatisierender Stimulation durch kirchliche "Verkündigung" (z.B. StGB § 218) reglementiert. Wenn dann ein dermaßen zugerichteter Mensch nicht mehr ohne die Zwangsvorstellung von einem strafend-liebenden Gott(405) in Kampf gegen die verdrängte Mordlust am Vater und seinen Doppelgängern in Staat, Kirche und Arbeitswelt auskommt, ist dieser usus legis oder »Bann des Über-Ich« natürlich lebensnotwendiger »Selbstschutz« geworden, um den Ausbruch einer aggressiven Psychose oder Devianz zu verhindern.
Solange die Kirche noch den kleinen Katechismus predigt, ist der Mißbrauch des gekreuzigten Gottes als Ungeheuer in einem rigide strukturierten Über-Ich das Konstituum der missionarisch gezüchteten ekklesiogenen Neurose. Der ekklesiogen deformierte Neurotiker ist der ideale Dauerabonnent der kirchlichen Verkündigung. Ihm wird die Gnadenbotschaft immer wieder partielle Erleichterung verschaffen, solange der internalisierte Strafgott in seinem Unbewußten rumort.(406) Cremerius hat geschildert, welche Unerreichbarkeit das sadistische Über-Ich im Status seiner Verdrängung bekommt.(407) Die Schuld an dieser psychischen Katastrophe einer schier über den gesamten kirchlichen Einflußbereich gestreuten Angst- und Gesetzesreligion liegt in der kirchlichen Verkündigung begründet, die immer wieder und immer noch in den Idiomen von der Allwissenheit, Allmacht, bergenden Stärke und schöpferischen Machtausübung Gottes ein grandioses religiöses Objekt heranzüchtet. Die tatsächliche Macht, die die Kirche in der Öffentlichkeit ausübt, entspricht dem Bild eines eifersüchtig-zornig bis gütig mahnenden Übervaters. Pfarrer predigen auf erhöhter Kanzel. In Wort und Tat implantiert die Kirche die Vision des grandiosen Imperators mundi.(408) Daß er sich kreuzigen ließ und dann weiterlebt, unverwüstlich ist, macht ihn zum Supergott, nicht zum Menschen. Seine Erniedrigung war ein weiterer Beweis seiner Machtfülle, geeignet, ihm den Namen über allen Namen und die Proskynese des gesamten Kosmos einzutragen.
Diese Lesart der theologia crucis ist tatsächlich das, was die Bevölkerung versteht, wenn ein Pfarrer vom Kreuz predigt. Die Folie Draculas schiebt sich vor die Wahrnehmung Christi in unserer Gesellschaft. Wo science fiction Tote reanimiert aufleben lassen kann, in einer beispiellosen Vermischung von Realität und Utopie, werden die Phantasien der potentiellen Christen aufgemischt durch Horrorfilm, Spiritismus und ein reiches Repertoire eines schwarzmagischen Wunderglaubens mit Gläserrücken. Es ist unter dieser Marktlage kirchensteuersenkend, vom wirklich ohnmächtigen Gott zu sprechen. Ein machtloser Gott ist im Zeitalter des wiederkehrenden Animismus unattraktiv und vom Standpunkt narzißtischer Selbstwertregulation ist die Partizipation an einem Stärkegott trotz neurotischer Inzest- und Angst-Implantate leichter als die Predigt eines Gottes, der über Jerusalem nur weint und nicht als Messias kräftig auf die Römerhelme knüppelt.