Standorte:
1.6 Von der Therapiegruppe zur Solidargemeinschaft 390
1.6.1. Verbilligte Gruppentherapie und Therapeut als Heiland 390
1.6.2. Perls' Einzeltherapie vor der Gruppe als apolitische Nabel-Show 394
1.6.3. Psychiatrische Unterschichtsversorgung als asoziale Therapie 395
1.6.4. Proletarischer Lebenszusammenhang und psychisches Elend 399
1.6.5. Dem Volk aufs Maul: Reale Not in bifokaler Therapie 403
1.6.6. Sozialdarwinismus versus Solidarität in der Therapiegruppe 407
1.6.7. Streetwork, Platte, Kenosis des Therapeuten und Selbsthilfe 410
1.6.8. Neuer Patiententypus und Warencharakter der Therapie 412
1.6.9. Individualfokus als Verblendung gegen die universale Rivalität 418
1.6.10 Aufsteigertherapie versus Randgruppenbegegnungen 423
1.6.11 Therapeutische Gemeinschaften, Selbsthilfe- und Aktionsgruppen 426
Die Psychoanalyse Freudscher Prägung focussiert auf die intrapsychischen Vorgänge im Analysanden, konzentriert sich auf die frühkindliche Sozialisationsgeschichte und faßt die dort konstituierte Strukturbildung als quasi Naturgegebenes auf. Die klassische Form des analytischen Settings besteht daher in der Einzelanalyse. Eine Weitung zur Therapiegruppe verläßt im Grunde schon die dyadische Axiomatik der Freudschen Hermeneutik.(1)
Die Entstehung von therapeutischen Gruppen ist nicht einer immanenten Logik der Erkenntnis sozialer Genese individueller Identität bzw. Pathologie entsprungen, sondern einem ökonomischen Faktum: Mangelnder Therapeutenzahlen und mangelnder Liquidität der Patientenschaft. »So wurden die beiden englischen Therapeuten Foulkes und Bion während des 2. Weltkrieges als Armeepsychiater psychotherapiebedürftigen Patienten großer Anzahl konfrontiert; die amerikanischen Psychotherapeuten Wolf und Schwartz sahen sich vor das Problem der psychotherapiebedürftigen Patienten mit geringem Einkommen gestellt.«(2)
Ist der Einzelanalytiker der in der dyadischen Übertragungssituation die freie Assoziation des Patienten auf verdrängte Anteile hin beobachtende Hermeneut, so ist der Gruppentherapeut noch massiveren Übertragungen ausgesetzt, die Freud in »Massenpsychologie und Ich-Analyse« als hypnotisch-suggestive Identifikation der Horde mit dem Führer beschreibt: »Wir ahnen bereits, daß die gegenseitige Bindung der Massenindividuen von der Natur einer solchen Identifizierung durch eine wichtige affektive Gemeinsamkeit ist, und können vermuten, diese Gemeinsamkeit liege in der Art der Bindung an den Führer.«(3) Wenn Freud dabei Verliebtheit und Hypnose als Modell der Idealisierung heranzieht(4) und von Introjektion der geliebten oder hypnotisierenden Person ins eigene Ich spricht(5), wird man die »demütige Unterwerfung, Gefügigkeit, Kritiklosigkeit gegen den Hypnotiseur«(6) in der alltäglichen Therapiegruppenarbeit leicht wiederentdecken können. »Die Idealisierung und Blindheit der Patienten geht manchmal ins Unermeßliche. Es wird alles idealisiert: die Einrichtung, das Haus, die Stimme und das Aussehen des Therapeuten, der in meinem Fall objektiv häßlich war... Die Patienten partizipieren gleichsam an der Besonderheit des Therapeuten, hängen sich an sie an und werden selbst zu etwas Besonderem... Sie halten sich für etwas Besseres als die dummen anderen, die nicht die Bedeutung, den Erkenntnisgehalt und die Heilwirkung der Psychotherapie erkannt haben. Deshalb müssen sie sich auch gegenseitig erzählen, was sich alles gebessert hat, obwohl es ihnen immer noch dreckig geht...«(7)
Phyllis Greenacre führt diese Überidealisierungen des Analytikers - wie allgemein die »in menschlichen Beziehungen allgegenwärtige« Übertragung von Imagines der grandiosen archaischen Selbstobjekte auf den mächtigen Anderen - zurück auf die narzißtisch-anaklitische Position des von der Mutter genährten und vor äußeren Schadreizen Leibes und der Seele, vor Kälte und Einsamkeit behüteten Säuglings.(8) Auch wenn die Stimulation durch Brust und Körperwärme und das überlebenswichtige körperliche Anklammerungsgeschehen(9) in der Therapie modifiziert wird in sublime Formen voller Aufmerksamkeit und verbalem Sympathierapport, bildet das an der Brust entwickelte Urvertrauen die Basis für das therapeutische Arbeitsbündnis.(10)
Während die ständigen Körperkontakte mit der Mutter und ihr ständig wiederholter Verlust allmählich zur Entwicklung eines Gefühls der Eigenständigkeit zweier getrennter Wesen führt(11), tritt die anfängliche Hintergrundsgestalt Vater nach Morgenappell und Zapfenstreich, Ferien und nächtlichen »Einbrüchen« als »Ungeheuer« im Kinderzimmer dann später mit den üblichen Vaterspielen des Hochwerfens und Wiederauffangens, Huckepacktragens usw. als kraftvolles Allmachtswesen in Erscheinung, mit dessen Muskel-, ja später, falls vorhanden: Geisteskraft sich das motorisch agile Kind begeistert identifiziert und an seiner Machtfülle introjektiv partizipiert (12) - eine nicht nur vom »Essen der Kraft« beim Bullenopfer im Mithraskult, sondern »auch« von Paulus' Tauftheologie Rm.6,5, dem s mqutoi cristÜ, der Gleichgestaltung und dem eucharistischen Leibesschmaus der trauernden Gemeinde her bekannte Vorstellung.
Während Leute, die früh zärtliche Wärme missen mußten, gar keine positive Übertragungsgrundlage zum Analytiker entwickeln können und damit praktisch nur durch Menschen vom Hoffnungsgrade Ferenczis analysierbar sind; während nach schweren Säuglingskrankheiten bei guter Pflege an die Analyse eine Art »Erwartung magischer Heilung« entsteht, sind die, die trotz früher Unlusterlebnisse die Pflege einer guten Mutter hatten, von der Tendenz zur Idealisierung besonders gepackt. Sie bemühen sich dann »dem Analytiker zuliebe, 'mitzumachen' und fürchte(n) sich, irgendwelche feindseligen Gefühle zuzugeben. Charakteristischerweise bleibt der Analytiker dann nahezu vollkommen, aber die Welt draußen ist heimtückisch und feindlich, und der Analysand wird sich seiner eigenen Fähigkeit, mit störenden Situationen selber fertig zu werden, nicht genügend bewußt.«(13)
Diese Menschen haben früh lernen müssen, ihre Aggression ob der Unlust umzumünzen ins Gegenteil, in Sanftmut, Eifer, Fleiß, Ruhe; Mordlust gegen den Unlusterzeuger wird zur Idealisierung.(14) Sie sind besonders gute Patienten, träumen und assoziieren deutungsgemäß, arbeiten ihrem Analytiker in die Hände. Sie »haben nicht vor, ihren Analytiker jemals wieder loszulassen. Ihr Anklammerungsverlangen äußert sich z.B. in Plänen, selbst Analytiker zu werden oder wenigstens etwas der Analyse Verwandtes zu tun.«(15) Analytiker und Analyse werden »in die besondere, magische Allmachtswelt hineingezogen«, die ihre Kindheit kennzeichnete; die Deutungen werden nicht wirklich assimiliert, sondern rationalisierend als lageorientierte, nicht aber handlungsorientierte Abwehr gegen das Selbstständigwerden benutzt.(16)
Das Analysiertwerden und Hobby- bis Profi-Analysieren anderer wird zur grapschenden Religion, Rückbindung an die Ersatzbrust Analyse »mit einer Intensität, die an Fanatismus grenzt«.(17) Ferenczi beschrieb den asexuell-überbehütenden Kindesmißbrauch durch die Mutter als Vaterersatz oder Schutzvorwand gegen die eheliche Penetration; solche Kinder neigen zum Helfersyndrom, wollen nicht nur die Mutti retten, sondern bilden jenen »besonderen Typus der Objektwahl beim Manne«, der in allem nach vor Vaters frecher Hand zu rettenden Müttern Ausschau hält, die ganze Welt zu Rettungsobjekten macht; ein Motivationskomplex, von dem sich kein Analytiker gänzlich freisprechen kann.(18)
Die Gegenübertragung des ehrgeizigen, narzißtischen Analytikers, unter dem Deckmantel therapeutischer Hingabe die Bewunderung und Abhängigkeit des Patienten einzusacken, kann zur Gluckenpose des allmächtigen Beschützers gegen externe Widrigkeit und Fährnisse geraten.(19) »Der Analytiker wird dann zum Erlöser, der dem Patienten das Heil bringt... Die Folge ist jedoch, daß der Patient in einem Zustand anhaltender Abhängigkeit oder sogar Übertragungshörigkeit gehalten wird.«(20)
Diese, in der Einzeltherapie renommierter Therapeuten erlebten Mechanismen gelten in der Aufweitung zur Therapiegruppe mit dem Zusatz, daß sich hier zugleich die Konkurrenz der Geschwister um die Gunst der Eltern reaktualisiert. In dieser Familiengemeinde herrscht eine vom Druck der »Klatsche« her nicht ganz frei konstituierte »Wahlverwandtschaft«, eine Heilsuchende congregatio peccatorum um den liberalen »Hordenvater« als Neuauflage des je@o` 2n=r oder Medizinmannes.
Indes ist diese heikle, ihn narzißtisch gratifizierende Stellung des Gruppentherapeuten - als das Einzige, was er außer dem Honorar von der Gruppe für seine Bemühungen »kriegt«(21) - sogar ideologisch aufbereitet: An der an ihm vollzogenen Übertragung reaktualisiert sich wertvolles analytisches Material früher Kindheit, welches dann leicht zu bearbeiten ist. Der Therapeut ist nicht nur analytisch vorgreifender Hermeneut, sondern geht szenisch im Gruppenprozeß in die Rolle des »Hordenvaters«, in der er verständlicherweise leicht auch die Vaterübertragungen auf sich zu ziehen vermag, an denen er nicht ganz unschuldig ist. Repressionsfreiheit in Therapiegruppen dürfte pure Ideologie sein: »Die größte Macht übt der Therapeut aus, weil er ein Wissender unter Nichtwissenden ist. Diese Machtausübung funktioniert allerdings nur, wenn das Wissen akzeptiert und für relevant gehalten wird. Aber gerade das ist die Überzeugung, mit der die Patienten in Therapie kommen.«(22)
Diese monarchistische Position wird allerdings mit wachsender »Prävalenz der Demokratie«(23) ideologisch egalisiert. Die Gruppentherapie lebt gewissermaßen von der Zwitterstellung, daß letztliche Kompetenz und Verantwortung der Therapeut als Gruppenleiter hat, konstruktiv begleitet von einem Co-Therapeuten möglichst anderen Geschlechts, den »einfachen« Gruppenmitgliedern aber eine beschränkte Kompetenz als therapeutischen Handlangern zuerkannt wird. Der Therapeut »stellt die Zukunft und die Norm der Mitglieder der Gruppe dar. Er ist nur ein Delegierter, und er wird - in dem Maße, wie sich die Gruppe selbst aktualisiert - der Gruppe selbst das Feld überlassen: statt «leader-centered» wird die Therapie «group-centered», und am Schluß ist der Therapeut nur noch ein Ich in einer Republik von Ichs.«(24) Oder anders gesagt: »Die Patienten werden zu wilden Analytikern.«(25)
Das Ziel der Aufmerksamkeit bleibt bei aller Gewärtigung gruppendynamischer Prozesse die individuelle psychische Genese und Konstitution der einzelnen Gruppenmitglieder. Die abstinente Haltung der Psychoanalyse benutzt Gruppenprozesse, um Individualprozesse prägnanter und in szenischer Aktualität zu evozieren. »Der Therapeut deutet die Kompromißbildungen in der Gruppe zwischen Normen, die Sicherheit gewähren und Gefahren abwehren, einerseits und triebgesteuertem Verhalten, das zunächst abgewehrt, in abgeschwächter Form aber zugelassen wird, andererseits. Die Bewußtmachung dieser Kompromisse ermöglicht die Arbeit an den darunterliegenden pathogenen Konflikten der einzelnen im Rahmen des Gruppenprozesses.«(26)
Die »künstliche Masse« Therapiegruppe, ein Zweckverband individuelles Heil Suchender, ist als asozial-sozialer Zwitter zwangsläufig konfliktuös. »Es herrscht der schiere Sozialdarwinismus... Einerseits geht es also darum, wie gut man sich unter Mitpatienten durchsetzen kann, zum anderen darum, wieviel man vom Therapeuten 'kriegt', d.h., ob und wie lange er das Reden zuläßt, wieviel Verständnis er zeigt, ob er den Patienten aufmuntert oder kritisiert. Dies führt unweigerlich zu Aggressionen unter den Patienten.«(27)
Mitunter funktionieren dann solche Gruppen unter dem Motto: Besser hacken lernen, und perpetuieren damit im Bemühen um Awareness bewußtlos die Attitüden des »Divide et impera«, der Vereinzelung zwecks einfacherer Beherrschung, welche in einem curricular integrierten Existentialismus für jeden den warenästhetischen Trost therapiebewußter Exklusivität für den realen Niedergang der individuellen Autonomie bereitzuhalten bemüht ist. »Man kennt sich nicht, hat nichts außer irgendwelchen seelischen Problemen gemeinsam. Diese äußerst artifizielle Gruppensituation erschwert zusätzlich jede Solidarisierung.«(28) Daß gerade Manager auf den Geschmack an Psychotrainings gekommen sind, liegt sicherlich nicht in ihrer Krankheitseinsicht begründet, sondern in dem Wissen, gute Menschenführung und psychologisch raffinierte Verkaufsstrategien bedürfen guter Schulung: Die Stärkung der Durchsetzungsfähigkeit in therapeutischen Gruppen ist eine für sie äußerst attraktive Ware. Daß der schmeichelnde Verkäufer und der verständnisvolle Firmenchef unmittelbar den Umsatz fördern, gibt der gesamten Branche der Supervisionstrainings Auftragsrekorde.
Der Arbeitsstil von Perls war ebenfalls individualistisch zentriert. Sein »Zirkus«(29) war dedizierte Einzeltherapie vor einer Gruppe, die kaum mehr war als Reservoir der Klientel, zahlendes Publikum und das Forum von Öffentlichkeit, welches durch seine bloße Existenz den Stuhl in der Mitte des Kreises »heiß« machte, zum Mittelpunkt formierte. Die im »Gestaltgebet«(30) formulierte Begrenzung der Verantwortlichkeit auf lediglich die eigene Person entspricht der narzißtischen Persönlichkeit von Perls.(31) Diese, für die überkontrollierte amerikanische Familie durchaus korrektive Insistenz auf dem Vorrang autonomer Wahrnehmung und selbstbestimmten Verhaltens kann aber unter der Bann der Konkurrenzideologie, jeder solle seines Glücks Schmied sein, umschlagen in eine Art Hühnerhof, in dem die Therapiegruppe Transmissionsriemen der universalen Hackordnung der bürgerlich liberalen Gesellschaft wird.
Die politische Zurückhaltung der Seelenkulte, zu denen auch eine individualistisch fixierte Form von Gestaltgruppentherapie gehört, darf als Bestätigung für gelungene Integration gelten: Apolitische Nabelschau als Lockmittel narzißtischer Esoterik ist an die Stelle vernünftiger Weltverantwortung getreten, die basieren müßte auf sinnlicher Gewahrung des unlöslichen Lebenszusammenhanges, in dem das Leben jedes Einzelnen gegründet, behütet und bewahrt wird. Die Mühe und Arbeit anderer Menschen, zunächst der Eltern, in einem weitblickenderen sozioökonomischen Kontext dann die arbeitsteilige Gesamtgesellschaft, noch universaler: Weltinnengesellschaft, gerät psychisch Interessierten dabei vollends aus dem Blick oder bleibt tatenloses Wissen.(32)
Wie über internationale Klassenherrschaft eine unermeßlich durch ungleichen Tausch ausgebeutete Bevölkerung der herunterentwickelten »Dritten Welt« Rohstofflieferant und Billigproduzent für die Luxusgüter der Industrienationen geworden ist und damit auf Umwegen auch Miternährer der gesamten Psycho-Szene, ist kein Thema der meist recht kostspieligen Therapie.(33) »Sogar der unangemessen hohe Preis wird nicht nur akzeptiert, sondern als Qualitätsmerkmal angesehen.«(34) Speziell die nicht kassenfinanzierte Klientel der Gestalttherapie, die allein dadurch schon sich abhebt von den unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen, daß sie sich die zumeist erheblichen eigenfinanzierten Aufwendungen für Therapie leisten kann, reflektiert kaum solche »rationalisierenden« Ablenkungen von der erhofften Awareness im Fokus der Therapiegruppe, die sich mit den Leiden ihrer Mitglieder selbst genügt. »Seit Anbeginn war dieser Diskurs für die besseren Kreise und deren Seelen konzipiert, und nach wie vor kommen die Analysanden aus den gebildeten Ständen.«(35)
Auch die Gestalttherapie von Perls, der 1918 auf Räterepublik schwor(36), ist ein »Wirtschaftszweig«.(37) »Über die gesellschaftlichen Konsequenzen der Therapie zerbricht sich... auch kaum ein klassischer Gestalttherapeut den Kopf.«(38) Eberhard Buhl faßt seine empirische Studie zusammen: »Die Ausbildung zum Gestalttherapeuten scheint auf die Entwicklung eines sozialen und politischen Bewußtseins sowie einem daraus resultierenden Engagement keinesfalls hindernd, aber auch kaum fördernd einzuwirken.«(39) So hatte Perls als Focus nicht die strukturelle Gewalt sozialer Ausbeutung in ihren psychischen Verelendungseffekten, sondern das Assimilationsmodell: Anpassung oder Nichtanpassung, das ist seine Frage.(40) Die vielschichtige Verwobenheit individueller Struktur mit dem nahen und fernen sozialen Umfeld ist nicht Thema der Therapie und gilt in der Psycho-Szene gemeinhin als met1basi' e]' 3llo g4no'.
Dabei wäre kritisch festzuhalten: Psychotherapie heute in allen ihren Formen gehört zur Luxusgütersphäre der reichen Nationen. Sie ist noch auf lange Sicht kein Teil einer medizinischen Grundversorgung aller Bevölkerungsgruppen.(41) »Patienten aus unteren Sozialschichten werden in aller Regel nicht von Psychoanalytikern behandelt, obgleich seit 1967 die Ortskrankenkassen, wie es in deren Terminologie heißt, 'große Psychotherapie' (in der Regel höchstens 300 Stunden) zahlen...«(42) Die Bedingung dazu wäre, die Bildungsnormen des mittelschichtigen Analytikers zu akzeptieren als neues Über-Ich und Grunbergers Über-Ich-Revolte als totalen Bruch mit dem Unterschichtsmilieu zu riskieren, was einer sozialen Entwurzelung gleichkommt.(43)
Psychoanalyse ist Mittelschichtstherapie.(44) Die bürgerlich-liberale Idee, den Patienten zur Vernunft zu bringen, ist, falls im Sinne der Beherrschung eines »elaborierten Codes« oder gar als Autonomie, sozial manifestierte Freiheit gemeint, für den Arbeiter, dessen materielle und soziale Existenz gerade von seiner Fähigkeit zur Anpassung im Betrieb und der Familie abhängt, keineswegs mehr die von Freud intendierte Arbeits- und Genußfähigkeit, sondern eine Art Katapult in die Asozialität, der Bruch mit dem rigiden, machtorientierten Regelsystem seiner Klasse, so schädigend es auch immer sein mag.(45) Freuds Einsicht, Perls' Wachstum der Persönlichkeit sind Entwicklungsziele für den Mittelstand, einen durchsetzungsfähigen sozialen Aufstieg, den die Avancierung zum Analytiker möglicherweise bedeutet.
Kunst- und Tanztherapie ist Interesse der Akademikerfrau, weniger der Arbeiterfrau mit ihren drei Kindern.(46) Mittelschichtige »Normdurchsetzer« wie Wissenschaftler, Richter, Polizisten, Politiker und Psychiater nehmen »unterschichtskonformes Verhalten häufiger als Verletzung ihrer eigenen Mittelschichtsnormen« wahr und sanktionieren es mit der ihnen verfügbaren strukturellen Gewalt.(47) Der rigiden Normorientierung der Unterschicht korrespondiert jedoch eine nicht weniger rigide Machtausübung im »herrschaftsfreien Reservat« der emanzipatorisch aufgemachten Psychoanalyse.(48) Selbst in der Analytiker-Ausbildung: in den Abkömmlingen des »Kommiteés der IPV« erscheint die Autonomieidee als contradictio in adjectio zur nach mittelständischen Normen ausgrenzenden Institutspolitik.(49)
Der der analytischen Theorie und Praxis immanente Autoritarismus der Psychoanalyse neigt zur Diskriminierung der Unterschicht. Freud: »Es gibt eine Psychologie des gemeinen Mannes, die von der unserigen ziemlich unterschieden ist.«(50) Der massiven psychischen Verelendung der Unterschicht gegenüber gibt er pragmatisch der Psychoanalyse kaum Hilfschancen.(51)
Daran hat faktisch auch die Kassenabrechnung nichts geändert, die prinzipiell als Chance für die minderverdienende Mehrheit gedacht war: Nach detaillierten Statistiken über psychotherapeutische Inanspruchnahme in Krankenkassen, Beratungsstellen und privaten Therapiepraxen stellt sich ein vom Standpunkt gerechter Verteilung der Therapiechancen her nachgerade haarsträubendes Mißverhältnis heraus. »Zusammenfassend kann anhand der Daten von Psychotherapieanträgen und ärztlich honorierten Leistungen eindeutig erhärtet werden, daß erstens Unterschichtsangehörige um ein vielfaches weniger von psychotherapeutischen Leistungen profitieren und daß zweitens die größere Zahl von Unterschichtsangehörigen eher somatisch untersucht und behandelt wird«.(52)
Reglementierte Arbeitsverhältnisse in Betrieben und Fabriken führen in den Seelen der Industriearbeiter zu fatalistischer Ergebenheit ins unabänderlich Vorgegebene, zu autoplastischer Passivität.(53) »Im Gegensatz zu den Arbeitern, die in der Regel nur eine instrumentelle Arbeitsorientierung ausbilden können (Arbeit als Mittel der Reproduktion), bedeutet für die Mittelschichten Arbeit ein Aspekt der Selbstverwirklichung. Individuierung, berufliche Genugtuung und Erfolg sind Werte, um deretwillen die Mittelschichten, ihrem Selbstverständnis nach, arbeiten.«(54) Perls' existentialistische Selbstverantwortung oder Freuds Autonomie geraten unter dem Druck einer in Terminierung, Bewegungsablauf, Lohntarifgestaltung, Aufstiegschancen bis hin zur streßbedingten Berufskrankheit hochgradig vorentschiedenen »proletarischen« Arbeitsgestalt zu blankem Zynismus.
Die traumatisierende Wirkung der lebensnotwendigen Arbeit therapeutisch zu thematisieren, führt den Therapeuten vor die Erkenntnis seines eigenen privilegierten Status und die unabänderliche Geworfenheit des Arbeiters in eine traumatogene Arbeit, deren Immergleiches einer gestaltmäßigen Neuorientierung nach Initial-, Aktions- und Integrationsphase im Therapieprozeß nur minimalste Spielräume läßt. Auf die kommt es aber vielleicht an. »Das Ausblenden des Arbeitsgeschehens als Störungsfaktor schützt die Psychotherapeuten vor Schuldgefühlen und Auseinandersetzungen mit sozialen Ungerechtigkeiten. Schließlich könnte es zu einer Konfrontation mit der Tatsache kommen, daß Psychotherapie in der Regel eine Anpassung oder 'Reparatur' bedeutet, darauf gerichtet, den erkrankten Klienten wieder in den Arbeitsprozeß einzugliedern.«(55)
Die »krankhafte« Arbeitsstörung kann bisweilen durchaus als ein gesundes Sich-wehren des »weisen Organismus« gegen monotone oder unzumutbare Härten des Arbeitsprozesses verstanden und geachtet werden, ein Reizschutz des Ichs, eine Form des Coping, ein Streßbewältigungspotential.(56) Der heimgekehrte Arbeitervater will zuhause essen, schlafen, Ruhe vor seinen Kindern haben, Fernsehen, speziell Fußball gucken und zur Entspannung sein Bier genießen.(57) Sehr von Solidarität und gegenseitiger Hilfe geprägte Kontakte unter Kollegen oder mit den engeren Verwandten lockern neben Schrebergarten, Sonntagsausflügen und Fußballplatz das Leben auf.(58)
Die Kinder sollen lernen, prompt zu funktionieren und sich anzupassen: »Maulhalten« ist Überlebensweisheit der Unterschicht. Klappt es nicht, dann klatscht es, meist gleich »aufs Maul«.(59) Merksatz: Das Leben ist hart.(60) Und der Streit laut, hier drängt der Buchstabe nicht nur im Unbewußten, sondern schreibt sich auf der Haut ein: die Gürtelschnalle ist aus schmerzend hartem Metall.(61) Das weiche Ende des Gürtels zu benutzen kommt einer besonderen Vergünstigung gleich.
Das Über-Ich von »Unterschichtlern« ist durch die rigide, machtorientierte Erziehung weniger von idealisierender und dadurch wertsetzender Verinnerlichung der eben auch weniger geliebten archaischen Objekte geprägt. Die Normen der Eltern werden eher opportun aus Angst vor Strafe befolgt als aus gewissenhafter Überzeugung: defensive Identifikation mit dem Aggressor.(62)
Eine wesentlich höhere, fast dörflich-klösterliche gegenseitige Observanz ist die Kehrseite einer starken, auch solidarisch schützenden, sozialen Einbindung. Der »generalized other«(63) als Inbegriff heteronomer Sollforderungen muß nicht »verinnerlicht« werden, weil er permanent präsent ist. Die gewöhnlich irreversiblen harten Strafen zu antezipieren, ist als ein auf den Anderen projiziertes Gewissen schon völlig ausreichend für den Effekt »kruppstahlharter« Selbstbeherrschung: ein Mann kennt keinen Schmerz, aber auch keine Hingabe; er ist stechuhrpünktlich.(64)
Die Aggression wird nicht, wie beim flexiven Über-Ich des Mittelschichtlers, gegen die eigene Person, gegen das Ich gerichtet als Retroflexion, sondern vorwiegend extrapoliert in soziale Aggression.(65) Eine Reinkultur solcher »Gruppen-Über-Ichs« bilden subkulturelle Randgruppen wie Rocker oder Skinheads.(66) Die interne Bandennorm konfligiert mit der Rechtsnorm, obgleich sie trotzig-getreuer Spiegel der gesamtgesellschaftlichen Unrechtsverhältnisse ist.(67) Oft bedeutet die Außenlenkung der aus eigenen Verletzungen resultierenden Aggression die Triebabfuhr durch deliquentes Verhalten, Schlägereien, Brutalität gegen wehrlose Schwächere.(68) Der »Kriminelle« agiert dabei, stellvertretend und über die Massenmedien voyeurhaft »angeeignet«, das aus, was der Angepaßte auch gerne einmal täte, sich nicht traut und nach ausgiebig-fasziniertem Studium des Tathergangs im empörten Brustton der Überzeugung verurteilen kann: Gelungene Ausgrenzung mit hinreichend Lustgewinn. Sein legales Pendant, der Polizist, knüppelt dann die Gerechtigkeit herbei, ihm ist die Vollmacht der Herrschenden deligiert, die sich ihre Hände nur noch mit Geldwäsche beschmutzen.(69) Der deliquente Normverstoß steht als bewußtloses Aufbegehren eines mangelhaft strukturierten, oft dann auch »psychotischen« Ichs in der forensischen Kontinuität eines hochgradig autoritär geprägten, auf soziale Repräsentanten des nicht integrierten, extern angesiedelten Über-Ichs angewiesenen, gehorsamen Ichs.(70)
Die Selbstabwertung des rigiden Härtekurses läßt psychisches Leiden erst im extremen Ausmaß bewußt werden.(71) Ein Gang zum Psychiater ist von eben der Unterwürfigkeit geprägt, die als Überlebensstrategie den »Herrschern hinter den Schreibtischen« von Arbeitsamt, Wohnungsamt und Sozialamt entgegengebracht wird und dort eine Vorbedingung materieller Hilfe ist.(72) Mißtrauen und die negative Übertragung auf den Therapeuten entsprechen nur allzu realitätsgerecht kontinuierlicher Vorerfahrung des Unterschichtspatienten. Er weiß aus den Erfahrungen von Kollegen und Familienkreis, daß wahrscheinlicher als eine ambulante Psychotherapie für ihn psychiatrische Internierung ist. Dies zum einen wegen der Bemängelung seiner Verbalisierungs- und Reflexionskompetenzen durch den Mittelschichtspsychiater und zum anderen auch wegen der leidvollen Schwere der Symptomatik, die ihn, oft demütigend per Einweisung durch »Experten«, zur Therapie zwingt.(73)
Basil Bernsteins Rede vom »restringierten Code« der Unterschichtsleute(74) im Sinne der 300 Grundworte aus Hitlers »Mein Kampf« unterliegt dem Irrtum, grammatikalische und semantische Diversifikation sei mitteilsamer als die emotional hoch angereicherte, gesturalexpressiv-szenische Narration des semiotischen Habenichts an der Theke.
Daher ist statt von einer Sprachbarriere beim »Unterschichtler« besser von einer Verständnislosigkeit beim »Mittelschichtler« zu reden, der ebenso Inkompetenzen im Sinnerfassen der Schicky-Sprache der Oberschicht aufweist, von Bayrischplatt oder Swizerdytsch einmal völlig abgesehen.(75) Der gute Therapeut schaut also dem Volk aufs Maul, ist den Juden ein Jude, spricht kurze, prägnante Sätze.(76)
Im Problemlösungsverhalten und der kognitiven Kompetenz gibt es zwischen Mittel- und Unterschicht keine intelligenzmäßigen Differenzen; Arbeiterinnen lösten technische und soziale Problemstellungen handlungsorientiert, mechanisch pragmatisch, emotional und spontan unter Einbezug ihrer gesamten Vorerfahrungen auf jenem Sektor und mit hohem Identifikationsgrad, während Studentinnen distanziert, abstrakt und mit angelesenen Konfliktanalysen der Situation entgegentraten.(77) Die Reflexivität der psychoanalytisch geforderten Fähigkeit, sich und sein eigenes Verhalten in einer Nachschau metakommunizierend aus einer quasi neutralen Distanz einsichtiger Vernunft auf die erkennbaren Interaktionsstrukturen der Übertragungssituation hin zu objektivieren, also auf zwei Ebenen gleichzeitig zu denken und zu erleben, ist für die Menschen aus unterprivilegierten Schichten ungewohnt, weil es dort nicht praktiziert wird oder nötig wäre. Rollendistanz, Metakommunkation, Reflexivität und therapeutische Ich-Spaltung und die probeweise spielerische Übernahme einer anderen Perspektive sind für Unterschichtler neu und stellen auch eine Bedrohung dar, werden als Angriff und Abwertung erlebt.(78) Der Wechsel von Übertragungsebene und Deutungsebene in der therapeutischen Kommunikation ist eine therapiespezifische Spielregel, die allererst einmal nahegebracht werden muß, ehe mit ihr souverän umgegangen werden kann. Viele Therapeuten lassen es an der nötigen Transparenz dieses doppeldimensionalen Geschehens missen. Wenn Freuds einfache Hysterikerinnen in ihrer »Suppenlogik mit Knödelargumenten« sich nicht mit Verschmähung ihrer Leidenschaft zufriedengaben, so ist dies Ausdruck eines ungleich realistischeren und gesünderen Zugangs zu ihrer Libido, als es Freud in seinem ödipalfixierten Triebunterdrückungsprogramm eines perpetuierten Als-ob-Spieles lieb war.(79)
Eine wie auch immer im Apelschen Apriori der Kommunikationsgemeinschaft(80) vermittelte Unmittelbarkeit jenes tautologische, aber klare »Ich bin ich«(81) auch ist: muß es allein deshalb immer schon eine falsche sein? Ist wirklich aller Anfang falsch? Ist »Mutter Mathildes« warmherzig-fuselgeschwängertes Kneipenleben (Franz Josef Degenhardt) nicht wenigstens ein kleines bißchen wahres Leben im Kontinuum des falschen? Ist Psychoanalyse als Selbstreflexionsprozeß der Gattung als eines nach Mustern Lebenden nicht ebensosehr Verblendung?
Schon allein das in der Übertragung gegen die Macht der Übertragung therapeutisch »geforderte« Für-Sich-Werden als gelehriger »Liebesgabe« an den bewunderten Therapeuten, für den »man« für-sich wird, weil es einem überhaupt nicht einsichtig ist, wieso man nur sich selbst zu Gefallen in die Selbstbeobachtungshaltung eintreten sollte, - ist nicht dieses Für-sich-Werden aufgrund eines Seins-für-einen-Anderen die falsche Form des Selbstbewußtseins; keine Dialektik, sondern heteronomes Wollen, contradictio in adjectio? Ist sie nicht die Kuschelform von Gehirnwäsche, ein Produkt anamneseorientierter Identifizierung durch den Therapeuten nach dem Modell pathologischer Interaktionsinvarianz? »Woher kennst du das? Hast du dieses Muster schon einmal bei dir erlebt?« Wieviel freier ist dagegen das »unbedarfte« Menschenkind, was jeden Tag auf seiner Weltbühne spontan, beherzt und einfältig seine Rollen spielt, ohne Rücksicht und Wissensdrang, wieweit sie alte Muster sind. Gerade in der Unfähigkeit zur therapeutischen Ich-Spaltung offenbart sich ein Moment des Gesunden, der neurotogenen Hyperreflexivität bescheiden Entsagenden. Die Nabelschau des dressierten Klienten nimmt sich dagegen oft vindizierend aus. Gegenüber der anamnetischen Schmetterlingsjagd nach dem dieser Reflexion immer schon vorauseilenden vitalen Impuls des dunkelen Gefühlsaugenblicks hat Perls diesen als awareness dem reflektierten mindfucking des Psychologisierens vorgezogen.
Das von Ferenczi vertraute Oszillieren zwischen den verschieden Perspektiven der Kommunikationsebenen hat Rauchfleisch zum Konzept der Bifokalität zwischen therapeutischer Übertragungsanalyse und einem sozialarbeiterischen Problemlösungsbemühen in den Realkonflikten im Lebenskontinuum des Patienten weiterentwickelt.(82) Der Therapeut ist immer auch schon reale Bezugsperson, nicht nur Träger und Deuter der übertragenen Imagines.(83)
Wenn Petzold Freuds »Wo Es war, muß Ich werden.« umdisponiert zum Leitsatz: »Wo Übertragung war, muß Beziehung werden.«(84), sollte phänomenologisch ergänzt werden: Alles ist immer auch Übertragung, sonst könnte man keinen vertrauensvollen Schritt tun. Und alles ist immer auch mehr als Übertragung, Abklatsch und Neuauflage des Bannes der Kausalität. Die Fokussierung auf die Kontinuität stiftet Identität im Zeitfluß, begrenzt aber die wahrnehmbare Persönlichkeit auf ihre stereotypen Muster. Nach Marx ist es schon ein kritischer Eingriff, den Verhältnissen ihre eigene Melodie vorzusingen, um sie zum Tanz zu bringen: Hauptmelodie der Rogerschen Spiegelmethode oder Aufgabe der dissonanten Kunst in einer verwalteten Welt.(85) Nach Zinker ist sowohl der Therapeut als auch der Klient Künstler im Gestalten neuen Lebens.(86)
Die Fokussierung auf das Gegenwärtige und das Neue, die reale Erlebensperspektive, die schlichte Unmittelbarkeit der Realwahrnehmung festigt die leibliche Einwohnungsgewißheit im faktischen Lebenszusammenhang. Dies ist die primäre Identitätsebene des Patienten, hier leidet er unter Konflikten, hier agiert er das versteckte Begehren und erfährt die realen Bedrohungen seiner Existenz durch ausbeutende Intensivierung der Arbeit in der reelen Subsumption der Ware Arbeitskraft unter das Kapital. Hier erfährt er die entfremdende Zerlegung und Entqualifizierung der Arbeit und ihre familialen Auswirkungen bis zur Wertlosigkeitserfahrung unverwertbarer Arbeitsloser oder Rentner. Diesen Realnöten gegenüber hat die künstliche Situation des therapeutischen Probehandelns eher phantasmatischen Realitätsgrad, auch wenn sie des Therapeuten reales Arbeitsfeld ist. Phantasien wirken aber.
Die universal eskalierende Konkurrenz der Einzelwaren Arbeitskraft in ihren multiplen Ausformungen kehrt schließlich als Gerangel der Therapiekinder um die Liebe des Leiters in der Gruppentherapie wieder. Sozialdarwinistische Überlegenheitsideologien prägen als hidden curriculum der Therapie(87) die Vortanzmotive der Protagonisten. Wer sich imponierend mit seinen unerledigten Geschäften zeigt, sich »seinen Platz nimmt«, nimmt soziographisch einen wesentlich höheren Status ein als graue Mäuschen: er wird zur heimlichen grauen Eminenz neben dem Hordenvater oder der Urmutter. Die Horde ist anthropologisch allerdings eher als eine von Wölfen, präziser noch: Hühnern zu bestimmen. Die sozialen Aufstiegsinteressen als typische Implantate des Mittelschichtlers bedürfen einer Lehre, nach der der Einzelhandel gegen die Mit-Wolfsmänner/frauen mehr Erfolg verheißt als eine Verbündung mit den Rivalen um die Trainergunst, die nur ein surrogatives Übungsziel im zentralen Kampf um den besserdotierten Arbeitsplatz und die dortige Anerkennung ist. Für den Mittelschichtswolf ist die gebrauchswertanaloge »(Wieder)-Aneignung der je eigenen Wesenskräfte« und die tauschwertanaloge »(Wieder)- Verwertbarkeit der je eigenen Ware Arbeitskraft«(88) zumeist ja dasselbe: er kann seine Kreativität beruflich verwerten; sie fördern dient der Karriere.
Dabei findet eine konstitutionelle Entsolidarisierung durch das Setting statt. Ist in der Gruppendynamik noch der eigene Beliebtheitsgrad bei den anderen von Interesse, so können alle Fürsorglichkeiten der Gruppenteilnehmer untereinander leicht vom Therapeuten auf- und abgegriffen werden als eine Art Problemfall im Gruppenprozeß. »Was hat das mit dir zu tun?«, so lautet der Rückwurf der sozialen Impulse auf das Ich des allzu fürsorglich Agierenden, dem oft als geheimes Einverständnis aller anderen unausgesprochen eine liebeheischende Kompensation eigener Schwierigkeiten unterstellt wird - und es wird immer etwas passendes gefunden, um sich diese unpassende Einmischung in die Belange eines anderen zu erklären, welcher nicht in der Gruppe ist, um hier »den Hintern abgewischt zu kriegen«, sondern um endlich »für sich selbst sorgen zu lernen«, jargongetreu ausgedrückt.
Solidarische Impulse haben nach Ansicht von Perls' Gestaltgebet bestenfalls kompensatorischen Charakter, gehören bei Reich als Reaktionsbildung gegen die destruktive Verachtung der Anderen zur oberflächlichsten Maskenschicht der Charaktervorbauten und zeugen von wenig Zugang des Klienten zu seinen aggressiven Gefühlen. Nach Freud ist der Mensch als perverses und asoziales Wesen nur durch einen ungeheuren Triebverzicht zu sozialen Impulsen sublimierungsfähig, die therapeutisch gefragten und höherdotierten Impulse aber sind die archaisch-regressiven, etwa Ärger, Mißmut, Trauer, Wut, Wollust oder Ekel. Der heimliche Lehrplan verzeichnet kein Lernziel Solidarität, weil ein solches in der Persönlichkeitslehre der Psychoanalyse allenfalls als sexuelles Begehren vorkommt. Ist dann nach eingehender Untersuchung des Störfalles Solidarität in der Gruppe die egoistische Wurzel der Maske enttarnt, so tritt eine gewisse Beruhigung ein über das eben doch primär asoziale Wesen des Menschen, der zur Gruppe kommt, um hier einmal kräftig zubeißen zu lernen zur Selbstverwirklichung.
Eine Form der Wahrnehmung der politischen Verantwortung des Therapeuten für die Veränderung des pathogenen Umfeldes ist gerade die Skotomisierung des Gesamtzusammenhangs im Fokus der Schadstellenreparatur in der Einzelfallhilfe. Schon im offiziellen Curriculum der Fokaltherapie erzeugen sozialtechnologische Termini(89) die Anmutung, es gehe um die landwirtschaftliche Sanierung der Viehbestände: »es ist nur die außerordentlich realistische Beschreibung jenes variablen Kapitals, das die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse aus den lohnarbeitenden Menschen gemacht haben.«(90)
Wenn die Gestaltreinszenierung dann hinter der Maschinerie, die auffordert, immer noch schneller und schneller zu arbeiten, die Infantilszene der unter Androhung der Entlassung antreibenden früheren Dienstherrin, einer kranken Pfarrfrau, aufdeckt und kathartisch die Wut auf die Pfarrfrau abreagiert, wird es im Angesicht des damit erzielten Behandlungserfolges unwesentlich, daß die Maschinerie tatsächlich das letzte aus den Menschen herausholt, daß die drohende Arbeitslosigkeit, entgegen der der Therapeutin, durchaus eine reale Basis hat, wenn man sich ein wenig in den branchenspezifischen Rationalisierungstendenzen auskennt.(91) Wenn das Oszillieren zwischen Arbeitsrealität und Infantilszene in der Kindheit hängen bleibt, hat es die tatsächliche traumatische Gewalt der Arbeitswelt auf sogar therapeutisch wirksame Weise defokussiert und desensibilisiert. Immerhin »hilft« solche Katharsis, während humanisierte Fließbandplätze therapeutisch nicht machbar sind.(92)
Dabei ist diese regressionsorientierte Entgegenwärtigung der Arbeitswelt durch ein Hier und Jetzt, welches die therapeutische Situation selbst als realere Realität hinstellt, die Geheimkunst des Therapeuten: eine heilsame Gegenwelt zu organisieren und zu strukturieren, mit der dem Druck der übermächtigen Arbeits- und Lebenswelt partiell zu entrinnen ist. Dieses besondere Wissen, welches branchenintern als Arkandisziplin tradiert wird(93), sichert durch die Arkanisierung den Arbeitsplatz des Therapeuten.
Die geschickte Ausblendung der Arbeitswelt durch partielle Einbeziehung in den Produktionsprozeß psychischer Gesundheit als einer Restitution der Arbeitsfähigkeit hat die halbe Wahrheit für sich. »Was einmal als eine Wahrheit gedacht war, die dabei helfen würde, die Welt zu verändern, wird zum Kunstgriff, Menschen in der Welt, wie sie ist, zufriedener und leistungsfähiger zu machen... Die Psychoanalyse steht darum in Gefahr, das Schicksal aller siegreichen Bewegungen zu erleiden: mit der Maschinerie des Bestehenden ihren Frieden zu machen, ihren philosophischen Impetus einzubüßen und sich aus einem Instrument der Kritik in eines von vielen Hilfsmitteln und Techniken der alltäglichen Berufsroutine zu verwandeln.«(94)
Leidensersparnis geschieht hierbei auf Kosten von Erkenntnisfortschritt als eben auch einer Einsicht in die gesellschaftlichen Verblendungszusammenhänge und ihre Vermittlung bis in die intimste seelische Zelle.(95) Eine solche Erkenntnis im Medium leiblicher Leidenserfahrung wäre die Voraussetzung einer alloplastischen gemeinsamen Veränderung traumatogener Produktionsverhältnisse, wobei Erkenntnis im Sinne »proletarischer Öffentlichkeit« doch noch umfassender ist als die narzißtische Nabelschau der Einsichtnahme in die unbewußten, inneren Vorgänge allein.(96)
Eine Kritik an den politischen Ideologien, sie führten zu Unrecht die Konflikte auf exogene Faktoren, speziell Sexualtabus, zurück, wie Grunberger und Chasseguet-Smirgel sie an Reich und der freudomarxistischen Schule üben, wird die Muskelverspannungen vom Streß des »flinken« Fließbandes nur mühsam aus dem Todestrieb ableiten können.(97) Es gilt wohl, Autoplasie gegen Alloplasie zu vertauschen, Ursachen individueller Pathologie nicht im Subjekt zu verorten, sondern »zugleich die historischen, gesellschaftlich relevanten Verformungen des menschlichen Daseins aufdecken« zu lernen.(98) Das ist kein pauschales Schuldigsprechen der Gesellschaft, welches sich ja der Mit-Verantwortung für die Aufhebung der pathogenen Faktoren begäbe, sondern bestimmte Negation im Kontext von Leidensgemeinschaft.
Das Arbeitsbündnis ist zugleich eine »Einigung« über die Methode. Patienten suchen sich die ihnen liebste Heiltechnik über das Akzeptieren des Therapeuten mit seinen unbewußten Angeboten im Erstinterview aus.(99) Und da zeigt sich in vergleichender Therapie-Evaluations-Forschung, daß jede Methode und Schule irgendwie »wirkt«, wie immer auch »Wirkung« definiert wird.(100) Aus dieser gegenseitigen Auswahl von Therapeut und Klient im Sinne der »Wahlverwandtschaften« fallen allerdings jene Personen heraus, die entweder gar keine Wahl haben oder ausgemustert werden als unbehandelbar, obwohl empirisch gesichert werden konnte, daß Unterschichtspatienten psychoanalytisch ebenso erfolgreich behandelt werden können wie Mittelschichtler.(101)
Streetwork und »vor Ort gehen« in die Brennpunkte der psychischen Verelendung, in Familien, Gefängnisse oder auf die »Platte«, den fixerseparaten Drogentreff dicht neben dem Babystrich im Stadtkern, dies sind anders als die »Komm-Struktur« der Beratungszentren mit abschreckend langen Wartezeiten auf Therapieplätze eine wesentliche Voraussetzung, um die Menschen zu erreichen, die selbst nicht mehr die Kraft haben, ihren Leidensdruck als Motiv zum Therapieantritt umzulenken.(102) Hier werden Gemeinwesenarbeit mit informellen Treffs, Kinderfesten und Straßenfesten als Kontaktanbahnung anvisiert.(103) Die geschützte Situation des Analyse-Settings schützt besonders den Therapeuten selbst vor dem Unbill der realen Außenwelt des Unterschichtspatienten. Die Stützung muß in einem bifokalen Oszillieren zwischen szenisch-rekonstruktiver Übertragungsdyade und Bearbeitung der Realitätskonflikte besonders auf der realen Ebene Supporthilfe entwickeln. Empirische Untersuchungen über Behandlungsdauer und Therapieerfolg zeigen klar, daß es - bis auf schwere Störungen - keine besseren Heilerfolge bei hochfrequenten Langzeitanalysen gegenüber einer gut angesetzten fokalen Kurzzeittherapie gibt.(104)
Arbeitslosengruppen kann Therapie zur Selbsthilfe ermutigen.(105) Die Abstinenz des Analytikers hat in der Mühe um die Reinheit der Übertragung nie die edukative Identifikation mit dem Therapeuten als neuem Über-Ich verhindern können, wenn sie nicht, wie Ferenczi, sowieso schon die Nacherziehung im Sinne der Nährung biografischer Nachholfbedarfsdispositionen als zweite Aufgabe neben der Erkenntnis begriffen hatte. Die Alternativerfahrung eines wärmenden, verständnisvollen, aber persönlich auch sich deutlich repräsentierenden Therapeuten bieten besonders dem Unterschichtspatienten eine Art »Hilfs-Ich«, ein Modell der Orientierung, das als Kontrast zu seiner eben auch defizitären rigiden Über-Ich-Struktur fungiert.(106)
Damit ist sicherlich ein Machtaufkommen verbunden, welches ein anderes Gefälle hat als bei Lacans Analytiker mit zugenähtem Mund.(107) Es bleibt aber zu überlegen, wie sehr das Schweigen des Analytikers in der Aktivierung der Gotteskomplexe in der Übertragung nicht auch wieder eine Machtausübung ist, wie Perls kritisierte; noch dazu eine, die nicht unwesentlich zur kostspieligen Verlängerung der Therapie beiträgt.(108) Aktive, lenkende Interventionen, direkte Ratschläge und ein nicht affenmuttermäßig zudringlicher körperlicher Kontakt in Stützung, Trost, bei Gehemmtheiten auch einmal provokativ aktivierend-aufmischendem Antippen oder Puffen, bei Entgleiten aus der Realität feinfühligem »Wachrütteln«, all das erleben Unterschichtspatienten als hilfreiche Anteilnahme, während nondirektive Passivität für sie lebensfremd und gleichgültig wirkt.(109) Konkrete Zentrierung auf den unmittelbaren Lebenszusammenhang des Patienten, auf seine Sprache, auch seine Leibsprache und Leibbefindlichkeit, die oft den als Arbeitsinstrument geschundenen Körper erst mühsam neu zu entdecken hat, und schließlich eine behutsame, mit den Anforderungen der Arbeitssituation noch vereinbare Zentrierung auf Verselbständigung gelten in der Integrativen Therapie als Ausrichtungen der Kur.(110) »Eine Direktivität, die Antworten möglich macht und Fragen stimuliert, wird erforderlich. Verselbständigung erfolgt nicht durch Nondirektivität; durch Zurückhaltung kann vielmehr Unsicherheit und Verwirrung ausgelöst werden.«(111) Therapienormen sollten im Kontext entfremdeter Arbeit nicht kompromißlos »wahres Leben im falschen« spielen: Kathartisches »Rauslassen der Wut« etwa führt am Arbeitsplatz vermutlich zur Kündigung; hier wird eine therapeutische Gegenwelt schädigend, weil mit der Arbeitsrealität nicht mehr vermittelbar.(112)
Wenn der ödipale Anteil der Neurose die Angst vor dem schnauzenden Vater ist, die sich aktuell reaktiviert am schnauzenden Chef, verschränken sich genetischer und aktualneurotischer Anteil unlöslich; mit der verbesserten Neuauflage der Urszene, dem Vater via Kissen tatkräftig hinlangendes Paroli zu bieten, ist der schnauzende Chef noch lange nicht abserviert.(113) »Es ist falsch, soziale und politische Agitation beim Patienten zu beginnen, und ihn - Opfer, Verwundeter, Belasteter gesellschaftlicher Umstände - für die Frustrationen und das politische Unbehagen von Mittelstands-Therapeuten an 'die Front' zu schicken, wobei diese selbst in der Etappe blieben... So wird es wichtig, daß der Therapeut von seiner Ebene her selbst politisch aktiv wird, und daß er Patienten aus benachteiligten Schichten Hilfen gibt, Solidargemeinschaften zu bilden..., ja daß er in derartigen Solidargemeinschaften selbst tätig wird und lebt.«(114) Eine Weise, das Lernziel Solidarität(115) in nicht kassen- oder institutionenfinanzierten Therapiegruppen zu organisieren, ist, daß jeder Teilnehmer 1,5 Prozent seines Monatslohnes pro Sitzung einbringt: eine kirchensteueranaloge Staffelung.(116)
Das Hauptklientel der Humanistischen Psychologie macht Portele im einem »neuen Patiententyp« ausfindig, welcher derselben »neuen Klasse« der Intelligenz(117) angehört wie die Therapeuten auch.(118) Nachdem Gorz und Bahro dem Proletariat den Abschied gegeben haben(119), sieht Portele im Unbehagen der emanzipatorisch gestimmten Mittelverdiener-Intelligenz an einer Entfremdung von sich selbst, den Mitmenschen und von der Natur ein sowohl unspezifisch leidbewußtes als auch veränderungsaktives gesellschaftliches Potential: Protest gegen die Unerfülltheit und Unerfüllbarkeit der auch auf gerechte soziale und ökologische Verhältnisse ausgedehnten Lebenswünsche nach nicht behinderter und vereinseitigter Produktions- und Interaktions-Identität.(120)
Verrechtlichung, Bürokratisierung und Expropriation der Intelligenzleistungen als disponibler Ware in den unteren Rängen der Wissenschaft, Technik und Sozialtechnologie führen zu einem Zerfall der Produktions-Identität und lösen berufliche Krisen aus bei aufgeweckteren Vertretern sozialer Berufe, die statt ihres Ideals gelebter Liebe Vorschriftshüter sein müssen.(121)
Das bauernfängerische »We are family«, welches in der Zirkulationssphäre des Kapitals unter produkt-anpreisenden »keep smiling«-Charaktermasken(122) Harmonie zwischen Betriebsmanagement und Beleg- und Kundschaft vortäuschen soll(123), beruht auf dem harten, erbarmungslosen Umsatz-Interesse größtmöglichsten Profits, bei dem der Lieferant der Rohstoffe oder der Arbeitskraft sowie der Kunde weitestmöglich »abgelinkt« werden muß, ohne daß er das auch mitbekommt. Der Verkäufer, gleich welchen Ranges, muß mit werbepsychologischer Empathie den Kunden »ausloten«, um ihm geschickter das Produkt als ein gerade seinen Bedürfnissen entsprechendes gut aufzuschwatzen: die Ware wirft ihren Liebesblick.(124) Als »Gesundheit zum Tode« skizziert Adorno jene Charakterprägung des erfolgreichen Yuppys: »Die libidinösen Leistungen, die vom Individuum verlangt werden, das sich gesund an Leib und Seele benimmt, sind derart, daß sie nur vermöge der tiefsten Verstümmelung vollbracht werden können, einer Verinnerlichung der Kastration in den extroverts, der gegenüber die alte Aufgabe der Identifikation mit dem Vater das Kinderspiel ist, in dem sie eingeübt wurde. Der regular guy, das popular girl müssen nicht nur ihre Begierden und Erkenntnisse verdrängen, sondern auch noch alle die Symptome, die in bürgerlichen Zeiten aus der Verdrängung folgten. ...Keine Forschung reicht bis heute in die Hölle hinab, in der die Deformationen geprägt werden, die später als Fröhlichkeit, Aufgeschlossenheit, Umgänglichkeit, als gelungene Einpassung ins Unvermeidliche und als unvergrübelt praktischer Sinn zutage kommen... All ihre Bewegung gleicht den Reflexbewegungen von Wesen, denen das Herz stillstand. Kaum daß gelegentlich einmal die unseligen Stirnfalten, Zeugnis furchtbarster und längst vergessener Anstrengung, daß ein Moment pathischer Dummheit inmitten der fixen Logik, daß ein hilfloser Gestus störend die Spur des entwichenen Lebens bewahrt.«(125) Petzold spricht von »Amputation des expressiven Leibes«: Die Verkrüppelung nützt dem Kapital, weil fühllose Leiber besser funktionieren.(126) Blankertz nennt dies in Aufnahme von Paul Goodman die »Selbstkolonialisierung des Menschen«.(127)
Solche Selbstinstrumentalisierung zur gefälligen Warenreklame affiziert auch den Beruf des Therapeuten, dessen Produktionsidentität in der Reproduktionssphäre zerstörter psychosomatischer Fungibilität der Ware Arbeitskraft identisch ist mit einer reinen Interaktionsidentität der analytischen Dyade, wie sie ebenfalls die familialen Beziehungen kennzeichnet im Zeitalter der Wohnsilos fernab der Fabriken.(128) Der Therapeut als »sein eigenes Instrument«(129) verkauft sich mit seiner »Ware«: Gegenübertragung, Empathie, Intuition und seine technische Kompetenz sind Vorbedingung der therapiedyadischen Produktion psychischer Gesundheit.(130) Gerade zum Familien-Über-Ich der Bourgeoisie gehört, sich zu kaufen, was schick ist. Zu Swimmingpool und Solarium gehört als psychische Auffittung Therapie hinzu. Sie dient nur zur narzißtischen Vergoldung des seelischen Image, nicht zur Änderung des realitätsgerechten neurotisch-machthungrigen Verhaltens.(131) Diese Metalität haben, wie die Hollywoodschaukel, unter pädagogischer Anleitung der Cola-Reklame, die Mittelschichten der Bourgeoisie abgeborgt, selbst wenn ihnen die reale Macht fehlt, aus der solche Mentalität erwachsen ist. Diese Kundschaft ist in der Psychoszene in gemilderter, ökologisch versierter Form im Betrieb der Praxen vertreten. Zweifellos ist auch die Psychotherapie »genauso von Kapital und Macht, Wissen und Tradition bestimmt wie die Patienten, die von ihr behandelt werden.«(132) Der gekaufte Therapeut lebt von dieser Kundschaft, die häufig, mit der Sprache der Symptome nach Liebe hungernd, weil familial nicht geliebt, seine Sympathie verlangt und nicht primär lederstudiohafte Publikumsbeschimpfung. »Die berufsmäßige Güte fingiert des Profits wegen Nähe und Unmittelbarkeit dort, wo keiner vom andern weiß. Sie betrügt das Opfer, indem sie in seiner Schwäche den Weltlauf bejaht, der es so macht, und tut so viel Unrecht ihm an, wie sie von der Wahrheit nachläßt.«(133)
Die psychoanalytische Ware der Ichstärke ist in ihrer »Doppelfeindschaft gegen Geist und Lust« als »Durchstreichung seiner selbst« ein Beitrag zur wachsenden Selbstinstrumentalisierung(134): »Denen Lust und Himmel gleichermaßen verekelt wird, die taugen dann in der Tat am besten zu Objekten: das Leere und Mechanisierte, das an erfolgreich Analysierten so oft sich beobachten läßt, kommt nicht nur aufs Konto ihrer Krankheit, sondern auch auf das ihrer Heilung, die bricht, was sie befreit.«(135)
Nicht minder verdient die Ware Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung in der Gestalttherapie als eine späte Ausformung dessen, was Freud neben der Arbeitsfähigkeit als Genußfähigkeit propagierte, Kritik. In der Regel wird diese Lebensfreude in ländlicher Idylle fernab der Fabriken, mit Seeblick und Sauna im Sanatorium, auf erlesenen Trauminseln oder mit Thermalquellen (Esalen) teuer (v)erkauft als verordnetes Glück einer postkathartischen Neuorientierung ohne Störfaktor Alltag, Hunger und Krieg. »Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten, und ein gerader Weg führt vom Evangelium der Lebensfreude zur Errichtung von Menschenschlachthäusern so weit hinten in Polen, daß jeder der eigenen Volksgenossen sich einreden kann, er höre die Schmerzensschreie nicht. Das ist das Schema der ungestörten Genußfähigkeit.«(136)
Der therapeutisch erworbenen Lebensfreude haftet auch noch in ihrer reflektierten Form des »partiellen Engagements« die Kunst des Sich-Raushaltens an, wenn der Andere auf seinen Tod zugeht: Vielleicht hat der überlebende Therapeut beim nächsten Todeskandidaten mehr Erfolg. So wenig der Therapeut außerhalb der geschlossenen Stationen für das Geschick des Patienten Verantwortung übernehmen kann, darin dem Autonomieideal treuer als die totalen Institutionen von der Psychiatrie bis zu jenen tief in Polen, so sehr ist er doch mit dessen Geschick per Arbeitsbündnis verbunden und damit in der Solidarität der Menschlichkeit verpflichtet, auch wenn er sich bemüht, diesem unangenehmen Druck durch Aufrichtung distanzierender Prinzipien zu entkommen.(137)
Darin schlägt sich der Funktionswandel der Psychotherapie nieder: Waren die Pioniere des Anfangs Entdecker, vom Forscherdrang und ärztlicher Leidenschaft am individuell Gesundenden beseelt und unter minimalem Honorar als Vorkämpfer einer Theorie des Subjekts engagiert, deren Akzeptanz durch die Gesellschaft ihrer Hoffnung nach geradezu revolutionäre Humanisierung unter den Menschen hervorzurufen geeignet war, so ist mit der Zerschlagung dieser Bewegung durch den Hitlerfaschismus und die Verfolgungserfahrung der Emigranten eine Identifikation mit dem staatlichen Aggressor eingetreten, wo Therapeuten gelernt haben, sich im Bestehenden einzurichten, ihre sozialtechnologische Pufferarbeit gegen das unbewußt-symptomatische Aufbegehren der psychosozial Überforderten und Unterdrückten als einen einträglichen Job zu verstehen.(138) Ihre Bereitschaft, sich mit dem psychischen Elend zu konfrontieren, dient der Vermeidung eigenen sozialen Elends. War für Marx Religion Opium fürs Volk, so hat sich seither die Palette der Betäubungsmittel diversifiziert. Psychotherapie tritt in die Marktlücke des Trostes, die die Kirchen, durch ihre eigene Praxis unglaubwürdig geworden, hinterlassen. Das psychische Elend des Volks ist das Brot des Psychotherapeuten.
Diese berufliche Konfrontation mit der Not nötigt den Therapeuten eben auch zu überlebensfähigen Abwehrmechanismen. »Er macht sich so hart wie die versteinerten Verhältnisse, um sie zu brechen. Die Möglichkeit einer Wendung wird nicht befördert durch die Lüge, daß wir doch alle Brüder sind, sondern einzig indem die bestehenden Antagonismen ausgetragen werden. Freuds Kälte, die jede fingierte Unmittelbarkeit zwischen Arzt und Patient von sich weist und das beruflich vermittelte Wesen der Therapie offen bekennt, tut der Idee von Menschlichkeit, indem sie deren Schein unerbittlich ausschließt, mehr Ehre an als tröstlicher Zuspruch und Wärme auf Kommando. In einer Welt, wo Liebe zu einem psychotechnischen Instrument unter anderen geworden ist, wird der Liebe die Treue gehalten durch ein Denken, das darauf besteht, daß der Arzt den Patienten heilen müsse, ohne 'menschliches Interesse' zu heucheln.«(139)
Der Einsatz der Psychotherapie ist so falsch wie der pathogene Lebenszusammenhang des Patienten und ist nicht per se wahrheitsträchtig, weil »weder auf die Scheidekraft eines der Verblendung entzogenen Reflexionsvermögens noch auf den Konsens einer ideologie-resistenten Forscher- und Interpretationsgemeinschaft zu setzen ist. Psychoanalytische Erkenntnisbildung präsentiert sich uns vielmehr eindeutig als ideologisch formiert.«(140)
Kritische Theorie hält in Reflexion der objektiven Bedingungen des Subjekts und seiner ökonomischen, familial-sozialisatorischen und biologischen Beschädigungen das Bewußtsein der objektiv inhärenten Schuld nicht nur im Entstehungszusammenhang der Pathologie, sondern auch noch im professionellen Aktionszusammenhang seiner praktischen Aufhebung wach, ohne die Helfer damit in ihre persönlichen Schuldgefühle fesseln zu wollen.
Vielmehr prägt der objektive, transsubjektive Schuldzusammenhang das Arbeitsfeld des Psychotherapeuten als Feld eines gesellschaftlich nicht (mehr) notwendigen Unheils. Notwendig nach der Logik kapitalistischer Arbeitskraftverwertung ist psychisches Elend zusammen mit dem globalen materiellen eben gleichzeitig auch nicht, mißt man Notwendigkeit am Stand der Produktivkräfte und ihren faktischen Versorgungskapazitäten.
Mit dem Leid ist jeder auch mit der Schuldfrage und der Verflechtung in sie konfrontiert. Sich ihrer zu entschlagen ist so ignorant wie umgekehrt Verzweiflung über die Unmöglichkeit richtigen Handelns und Lebens im falschen den Blick auf den möglichen Ausweg verstellt. »Die strukturelle Deformation, der wir unter gegenwärtigen Bedingungen einer beschädigenden Herstellung ausgesetzt sind, bildet in den Individuen den Teufelskreis der Stabilisierung der schlechten Objektivität. Kritische Hermeneutik als praktisch-änderndes Verfahren wird in Aufhebung der hergestellten Beschädigung paradigmatisch für die Möglichkeit einer emanzipativen Diskussion...: Aufhebung der strukturellen Defekte, die wir mit den Begriffen inkonsistente und konsistente Praxisfigur als gesellschaftlich produziert begreifen können; heißt Etablierung eines praktischen Änderungsprozesses mit dem Ziel, die Blockade von solidarischem Handeln wie strategischer Planung der Selbstbefreiung zu beseitigen.«(141)
Es hängt von der Reflexionsfähigkeit der Therapeuten über ihre gesellschaftliche Funktion im Verwertungsprozeß der Arbeitskraft ab, ob ihre Psychotherapie sich als Inszenierung heiler Gegenwelten geriert oder politische Kraft des Eingriffs ins Kontinuum der Macht und des Leides wird. Dann würde wirklich gelten: »Die 'sinnliche' Erfahrung eigenen Leidens und die betroffene Teilnahme an der Beschädigung der anderen wendet sich zur politischen Aktivität«.(142)
Es geht unter dieser Perspektive der Weitung von Psychotherapie zur politischen Weltverantwortung um solche pragmatischen Dinge wie etwa gewerkschaftliche Durchsetzung von Forderungen nach weniger pathogenen Arbeitsplatz-Bedingungen, einer weniger repressiven Familienpolitik, einem anderen Umgang mit Arbeitslosigkeit als dem Wegrationalisieren der Arbeitsplätze und schließlich einem dedizierten Eintreten für die Bewahrung der ökologischen Überlebenschancen der Menschen.
Die Kraft solcher politischer Veränderungen erwächst aus dem gemeinschaftlichen Eintreten für gemeinsame Interessen der Vielen, aus Solidarität. Die Frage ist, ob die Therapiegruppen eine Möglichkeit bilden, die vom staatlichen divide et impera und der kapitalistischen Konkurrenz zur politischen Apathie dressierten Menschen im Angesicht ihres offensichtlichen Leidens an eben jenen gesellschaftlichen Bedingungen zu der Solidarität zu motivieren, die neben der Einsicht Voraussetzung praktischer Veränderung wäre.
Therapiegruppen bieten sich oberflächlich gesehen ja geradezu als ideales Lernfeld für Solidarität an; Perls' Projekt des Kibbuz basierte auf der räterepublikanischen Idee gemeinsamen Lernens und einander Helfens. Doch ist gerade in Therapiegruppen der konsolidierende Faktor eines gemeinsamen Themas, praktischen Kampfziels oder eines gemeinsamen Feindes kaum gegeben, anders als im Sportverein, Wehrsportgruppen, K-Gruppen oder kirchlichen Formationen. »Da Gruppen nicht in jedem Fall 'heilende Wirkung' haben im Sinne der Überwindung von Störungen und Wiederherstellung der Beziehungsfähigkeit des Einzelnen, sondern primär der Ort sind, in welchem Menschen ihre mitgebrachten Sozialisationsmuster reproduzieren, können sie ebensogut in solcher Wiederholung Austragungsort heftiger Destruktionen und Verletzungen werden.«(143)
Daher bleibt die Frage an die Gruppendynamik: »Ist eine Praxis ethisch vertretbar, die darauf hinausläuft, daß die Stärke des Einzelnen daran geprüft wird, ob er die Traumata oder Interventionsfehler, welche wir mit unseren (doch Verbesserung von Beziehung versprechenden) Gruppenansätzen verursachen, gesund zu überleben weiß.«(144)
Verletzungen in Gruppen geschehen durch böse Blicke, Entziehung oder Verweigerung des Wortes, durch Wundschweigen, aber auch durch repressive und gewalttätige Sprache im Kasernenton, durch double binds und »nicht zuletzt Deutungen, die zuweilen etwas Unbarmherziges haben«.(145)
Die Therapiegruppe als Sozialisationsagentur übt auf jedes ihrer Mitglieder erhebliche Macht aus, entweder heilsame oder zerstörerische. Sie richtet Normen mit Gruppendruck auf und sanktioniert Verstöße.(146) Autonomie muß sich der Einzelne gegen das Abweichler fürsorglich kontrollierende Gruppen-Über-Ich erst erkämpfen.(147)
Ist die »unsichtbare Gruppe« als Imago der »großen Mutter« und zugleich »ordnende, sichernde Vaterinstanz« wirklich der Schutzraum, der »defizitäre und geminderte Ich-Leistungen für den Einzelnen« übernimmt und die so seine Identität »stabilisiert«?(148)
Die sichtbare Gruppe destabilisiert durch ihr abwehrendes, widerständiges Echo auf die sie störenden abweichenden Verhaltensmerkmale und die ihr unverständlichen Narrationen des Einzelnen mit seinen »defizitären oder geminderten Ich-Leistungen« mindestens ebenso und evoziert über ihre Identifikationen, die nicht mit dem Selbstbild des Einzelnen konvergieren, Identitätskrisen. »Kontakt bedeutet Veränderung; wieviel Angst durch die Wahrnehmung einer Veränderungsmöglichkeit entsteht, hängt davon ab, wie kontrastierend die sich neu bildenden Figuren vor dem Hintergrund der Erfahrung erlebt werden, wie gut der Einzelne imstande ist, sich nach außen abzugrenzen.«(149) In diesem Modell wird Begrenzungsfähigkeit als Grundlage der Beziehungsfähigkeit verstanden.
Daß aber die Abgrenzung zugleich eine (ausgesprochen gesunde) Abwehr der Fremdidentifikationen bis hin zu analytischen Deutungen und damit auch eine Abwehr des in ihnen sich regenden Kontaktwunsches der Anderen ist, diese Diastase von Individuation und Sozialisation fällt aus dem Blick, wenn die Züge der Individuation, die mit der Gruppennorm kollidieren, vorab schon als defizient und krankhaft problematisiert werden - dasselbe Problem wie bei der vermeintlichen Unbehandelbarkeit der Unterschicht. »Das therapeutische Geschehen ist Handeln um Grenzen auf der Basis von Akzeptanz und Wertschätzung von Unterschiedenheit und Andersartigkeit.«(150)
Der Konsens der Sprachgemeinschaft in der Korrespondenz über die Beziehungen, den dialogischen Sinn der Handlungsmuster der Einzelnen im Selbst- und Fremdverständnis erfährt immer auch Grenzen, die eine wirkliche Akzeptanz und Wertschätzung des Fremden, Unverständlichen durchaus nicht gewährleisten, auch wenn diese zum Ziel erklärt wird neben dem, Kontaktgrenzen »anzuschmelzen« und »flexibler« zu machen im Nachsozialisations-Geschehen der Gruppe beim Erwerb von personaler, sozialer und lebenspraktischer Kompetenz und Performanz.(151) Oft muß man auseinandergehen in gegenseitigem persistenten Angefochtensein.
Im Spektrum zwischen autistischer, schizoider Selbstisolation des Idiosynkraten über grenzbetonte Kontakte bis hin zu Konfluenzformen wie Orgasmus, symbiotischer Abhängigkeit und therapeutischer Empathie wird die Dialektik, daß jede Berührung zugleich Grenzung ist(152), oft im Gruppenkodex von Therapiegruppen zur Apotheose des gesunden Mittelmaßes: Weder leidenschaftliche Erotik in der Gruppe noch in der Ecke schmollen sind anerkannte Anzeichen des Gesunden und Normalen, eher schon ein gleichschwebend interessiertes »Offensein für den Gruppenprozeß« nach Art des Therapeutenleitbilds.(153)
Die Idee radikaler Selbstverwirklichung der »Human Potential Movement« als unreflektierter Nonkonformismus einer eher gar nicht so großen »Weigerung« führt nicht automatisch zur anarchistischen Republik freier Individuen in bohemischen Landkommunen, sondern unter der mittels Störung des narzißtischen Gleichgewichts universal andressierten paranoiden Konkurrenz primär zu solipsistischer sozialer Distorsion.(154) In radikaler Konsequenz, die im Schutzraum therapeutischer Gruppen besonders prägnant wird, bedeutet ein rivalisierender Individualismus eben oft das Ende von Solidarität, vom Zurückstecken eigener Wünsche zugunsten Anderer in Not.(155)
Im üblichen Spiel der Schuldzuweisungen an andere zur Bewältigung eigener, oft massiv internalisierter Schuldgefühle und auf dem Hintergrund der nicht nur in der Arbeitswelt üblichen Form der Kritik als einem mit manchmal sehr harten Sanktionen verbundenen Rechtfertigen der beabsichtigten Strafmaßnahmen ist nur zu verständlich, daß kritische Äußerungen selten als Hilfe aufgefaßt werden. »Der Kritisierte pflegt zu meinen, sein Kritiker wolle ihn nur angreifen und schädigen. Und dagegen muß er sich verteidigen. So wird dann eben der Schwarze Peter in der Gruppe herumgereicht, bis man eventuell einen 'passenden' Sündenbock gefunden hat, gegen den sich die übrigen solidarisieren.«(156) Das Anprangern ist dabei stets von Projektionen geprägt. Jede Gruppe polarisiert sich zunächst in die »Starken«, die wenig von sich erwähnen und keine Hilfe brauchen, und in die »Schwachen«, die teils symbiotisch ihre wunden Punkte bloßlegen und mit dem Sich-schwach-Zeigen zugleich Leidensgenossen suchen und signalisieren: »Bitte komm, aber tu mir nicht weh!« Beide Subgruppen haben oft ihre zentralen Exponenten im je Stärksten, oft einem Mann, und je Schwächsten, oft einer Frau.(157)
Die Starken ärgern sich meist über die Selbstentblößungen der Schwachen und diskreditieren die allzuschnellen Öffnungsakte als »infantil, wehleidig und unemanzipiert«, oft aus schmerzlich erworbenem Mißtrauen, mit ihren eigenen Problemen nicht auf Verständnis zu stoßen. Dafür werden sie zunehmend isoliert: Sie »zeigen zuwenig von sich«. Bisweilen wartet dann der Starke zwecks Abwendung der Isolation mit einer krassen Geschichte auf, die ihm Verständnis und Mitgefühl der anderen einbringt; aber bevor sie auf ihn eingehen können, hat er sich schon wieder von der emotionalen Offenheit in die bedeckte Distanz dessen, der cowboyartig allein mit allem fertig wird, zurückgezogen. »Die Gruppe fühlt sich getäuscht und blamiert: nun haben wir endlich gedacht, er habe uns nötig, und wir könnten für ihn etwas Wertvolles tun. Jetzt stehen wir mit unserer Teilnahme da und er ist längst wieder turmhoch über uns. Man ist gekränkt:... Wenn wir dir unwichtig sind, dann bekommst du eben auch nichts von uns. Und wir wollen auch nichts mehr von dir haben!«(158)
Die »Schwachen« halten eine bedeckte Atmosphäre mit großen Distanzen, »das Versteckspiel des Schweigens und des Mißtrauens« nicht aus, wollen »sagen, wen sie in der Gruppe fürchten, wen sie gern haben, über wen sie und warum sie wütend sind.«(159) Sie brauchen »emotionelle Interaktion und Wärme« und »haben die Phantasie: wenn wir uns alle schnell emotionell entblößen, dann brauchen wir uns doch voreinander nicht länger zu fürchten.«(160) In solcher Hoffnung auf vertrauensselige Nettigkeit, Geborgenheit und Freundlichkeit und auf eine »harmlose Spielatmosphäre« verleugnen sie die Dimension der faktischen Rivalität um Macht und Anerkennung, beschwichtigen sie die Mitrivalen durch übereilte Wehrlosigkeit, ohne deren Bedrohungsqualität in eben diesem Spiel um Anerkennung zu realisieren.(161) Dieser mit zunehmender Encounter-Gruppen-Routine immer bizarrere emotionale Exhibitionismus unterläuft die Schamschranke und die Takttabus der anderen und inszeniert ein Vertrauen auf Kommando, ohne sich der Vertrauenswürdigkeit der anderen genügend zu versichern, als sei Offenheit prinzipiell in jedem Kontext, in jeder Gruppensituation das höchste Gut.(162) Solche blindlings auf Gruppenkatharsis fixierten, oft von Encounter zu Encounter reisenden Gruppensüchtigen realisieren auf ihrer Kindheits-Ich-Ebene nur schwer, »daß man sich in irgendwelchen geschützten Zonen nur gewaltsam eine heile Gefühlswelt antrainiert.«(163)
Unkontrollierte, dilletantische, in der grauen Therapieszene offerierte Schnellkurse in Gruppendynamik, Selbsterfahrung oder auch Gestalttherapie und Bioenergetik bringen regelmäßige Belieferung der Landeskrankenhäuser mit Dekompensierten als Folge forcierter, über die Grenzen tappender »Kontakt-Anbahnungen« zuwege.(164) Solche unqualifizierten Trainer verwechseln Heilungsprozesse mit kräftigem Aufmischen und Abenteuerurlaub: »Je mehr die Teilnehmer labilisiert und aufgewühlt werden, um so besser ist nach Meinung dieser fragwürdigen 'Spezialisten' die Veranstaltung gelungen... Die Teilnehmer erleben das ganze als eine schmerzhafte Tortur, die späterhin die Genugtuung hinterlassen soll, daß man sie überstanden hat. Man läßt sich panische Rivalitätskämpfe entzünden, aus denen die Mitglieder sich, wenn sie es überstehen wollen, in eine symbiotische Pseudo-Solidarität flüchten müssen. Die Hektik der angestachelten Prozesse erlaubt es den Gruppenteilnehmern nicht mehr, ihre Impulse wirklich zu durchschauen, zu gestalten, zu verarbeiten und als neue Elemente in zwischenmenschliche Kommunikationen einzubringen.«(165) Solche Mentalität ist seelische Stahlbadehose. Das Erlernen von Solidarität an der gemeinsamen Schwäche geht jeder anderen Möglichkeit von Solidarität voraus; moderne Härtetests, bei denen die »Belastungsfähigsten« sich austoben auf Kosten der Dekompensierenden, vollstrecken nur den Bann der niedertrampelnden Herrschaft des asozialen Gesamtsystems.(166)
Es zeichnet sich in der Therapieszene eine Spaltung ab in Aufsteigertherapien und Absteigertherapie: Die »Selbstverwirklichungsmanager« lassen beim Gruppenhobeln die Labileren als Späne fallen, weil sie für ihre berufliche Durchsetzungsfähigkeit trainieren und sich das die kostspieligen, kreativen und elitären Kurse kosten lassen, die schon vom Klientel her die zahlungskräftige, berufliche stabil eingebundene »Psychoschickeria« unter sich versammeln. Das gemeinsame Interesse dieser Kreise, der Punkt, an dem hier »Solidarität«, genauer: Einverständnis möglich ist, ist gerade das soziale Aufstiegsinteresse, die Durchsetzungsfähigkeit gegen Kollegen am sozialberuflichen oder führungsorientierten Arbeitsplatz. Wer hier auf der Strecke bleibt, hat das heimlich (v)erklärte Klassenziel eben nicht erreicht: Sich hochkämpfen.(167) In diesem Milieu nimmt die Hegelsche Dialektik von Herr und Knecht mustergültig Gestalt an.(168) Die Fesselung des eigenen Begehrens, die List des an den Mast seines Schiffes gefesselten Odysseus, der die Sirenen hört und herausfordert und ihrem Reiz nicht tödlich verfallen kann(169), verleiht ihm Macht über das Begehren des Anderen, davon lebt die Kunst der Abstinenz in Erotik und Therapiegruppe: Sich rar machen, die Angebote klein halten, steigert den eigenen Marktwert. Die protagonistische Präsentation ist für therapiegewandtere Gruppenkonsumenten weniger ein Akt vertrauensvoller Hingabe, als eher die »Mutprobe«, sich auf den heißen Stuhl vor den »Zirkus« zu wagen, die eigenen Wunden vorzutanzen und nach dem Feedback als der Neuauflage des Beifalls sich wieder zurückzuziehen in die Sicherheit der revidierten Charaktervorbauten, dem zielstrebig gesteigerten Selbstwertgefühl als purem Selbstzweck.(170) Der Klassenfeind dieser neuen Klasse ökologiebewußt-friedensbewegter Repräsentanten der »neuen Sensibilität« mit dem duftigen Strohblumenstrauß im adretten WC sind nur noch die Kassen, die nicht zahlen wollen.(171) Die Intelligenz macht der alten Besitzerklasse den Kuchen streitig. Daß daneben Leute in Armut und schrecklichen Verhältnissen leben, nehmen sie nach ihrem Abschied vom Proletariat nicht mehr wahr.
Dagegen steht der Flügel der Absteigertherapien: Wie kann ich mich als Therapeut solidarisch mit sozial Deklassierten, Unterprivilegierten verhalten? Wie kann ich etwas von der objektiven Schuld wiedergutmachen, daß ich materiell ungleich mehr privilegiert lebe als die Menschen in den Randgruppen?(172) Wie bekomme ich Kontakt zu ihnen, was kann ich bei ihnen finden, was ich selbst nicht kann, habe, weiß? Wie kann ich mich in ihrer Andersartigkeit wiedererkennen?(173) Wo entdecke ich bei ihnen eine Authetizität mitten in ihrem Elend, zu der ich gar nicht fähig wäre? Wie kann ich mich mit ihnen verstehen, mit ihnen zusammen an Auswegen aus ihrer schier ausweglosen Misere experimentieren?
Paulo Freires Team ging in die chilenischen Poblaciones zu den Ärmsten hin, lernte von ihnen im Miteinander-Leben als Gäste, ermittelte die Konfliktfelder und Bedürfnisstrukturen der Menschen dort und kam mit einem Alphabetisierungsprogramm zurück, welches aus den generativen Themen in konzentrischen Kreisen ihnen geschriebene und objektivierbare Welt erschloß.(174) Am Anfang kam der Schreiblehrer als Lernender, als Gast. So wurde der kulturelle Imperialismus missionarischer Selbstanpreisungen vermieden und es kam zum gegenseitigen Lernen. Die Fähigkeit des Lesens und Schreibens bedeutete für die Menschen im »Dorf« zugleich die Erfahrung der Veränderbarkeit. Das Voraus der Sprache vor der Wirklichkeit in Phantasie, Planung, Projekt, Traum und Utopie gab den Menschen Hoffnung, daß nicht bleiben muß, was schlecht ist. Damit wurde auch die Artikulation des Begehrens angeregt als erster Schritt auf dem langen Weg bis zur Erfüllung.(175) Die Menschen wurden politisch wach, verloren die defaitistische Apathie der fragwürdigen Gottgegebenheit ihres Ausgebeutetseins und begriffen sich als Subjekte ihrer Dorf-Geschichte. Sie begriffen die Möglichkeiten, die ihnen gemeinschaftliches Handeln immer schon gegeben hatte und die bisher noch ungenutzten Möglichkeiten des gemeinschaftlichen Durchsetzens von lebensnotwendigen Forderungen nach dem, was ihnen gerechterweise zustand.
Ein solches gemeinsames Entdecken der Möglichkeiten von Solidarität, die Kooperation dialogischer Aktionen, praktizierte schon in der Lernstruktur die Ziele der Befreiung: daß keiner den anderen bevormundet, manipuliert und ihm eintrichtert, wo es wie lang geht. Die kulturelle Invasion, die die Armen in Angst, Ehrfurcht und Haß vor den Unterwerfern und ihrer gebietenden Rede erstarren läßt, wird ersetzt durch einen gleichberechtigten, ebenbürtigen und gegenseitig mit neugierigem, achtungsvollen Interesse motivierten Austausch der Kulturen, Traditionen und Lebenspraxis. Eine solche Mutualität, Wechselseitigkeit, deren Modell vielleicht der Reigen der orientalischen Geschichtenerzähler in der Karawanserei von Hauffs Märchen ist, von denen jeder etwas zum gemeinsamen Abend beizusteuern weiß, versteht die Äußerungen anderer nicht mehr nur als »analytisches Material«, sondern als Narrationen eines Schicksals, das sich fortspielt in die Gegenwart.
Ehrfurcht vor dem Leben der Menschen in ärmlichsten Verhältnissen konfrontiert mittelschichtige Helfer mit der Ekelschwelle, der Leibgrenze der Verachtung gegenüber extremen Gerüchen des Leibes. Armani, Chanel oder Lagerfeld und aromatherapeutische Duftöle werden nicht vom Sozialamt übernommen. Der hungrige Griff in die Mülltonne oder das Einkaufsregal, wenn die rotierende Videokamera im Supermarkt gerade wegschwenkt, all diese Überlebensstrategien ohne Disqualifikation wahrzunehmen, nicht mit dem Ettikett kriminell, pervers, pathologisch vorzeitig und voreilig aufzuwarten, bevor nicht die Gesamtstruktur des Lebenszusammenhangs präsent ist, das gehört zur Gastrolle des Therapeuten, der sich die sozialarbeiterische Mühe des Kontaktes zu den Menschen macht, an denen das leibliche Elend am deutlichsten in Auge springt. Was hier wirklich leidvoll ist, und was nur für den Level des Therapeuten eine Leidensvermutung erweckt, bedarf einer säuberlichen Scheidung, um von einer manipulativen Einredung einer Pathologie wegzukommen, die subjektiv in keiner Weise leidvoll erlebt wird, weil durch eine andere Abhärtung andere Belastungskapazitäten als Stützpotentiale erworben wurden.
Der Therapeut ist nicht derjenige, der weiß, was für den Klienten gut ist. Er ist bestenfalls der, der danach fragt, der in den Grenzsituationen dieser Begegnungen als Gast generative Themen ertastet.
Dabei ist zugleich eine gewisse Demut in der Kontaktaufnahme und im Selbstverständnis Bedingung der Vertrauensbildung angesichts der Normalerfahrung mit »Helfern«, die nur das Randgruppenelend verwalten und in bevölkerungstechnisch zumutbaren Grenzen halten müssen, wollen sie ihrem institutionellen Auftrag gerecht werden.(176) Gegen die Heilandsmentalität der Helfer gilt: Nicht der Therapeut ist derjenige, der hilft, daß der Patient besser leben kann, sondern der Patient ist derjenige, der hilft, daß der Therapeut besser leben kann und sein Brot verdient.(177)
Wäre nicht durch die Bezahlung des Therapeuten das Verhältnis zum Klienten ein käufliches, könnte man den Beziehungscharakter glauben. Vielleicht ist die Tatsache, daß der Therapeut sein Geld auch anders verdienen könnte, aber seine Kraft gerade so investieren will, eine gewisse Bürgschaft für ein mehr als kundschaftliches Interesse an den Menschen, die sich ihm anvertrauen. Je mehr eine solche menschliche Bereicherung in der Korrespondenz zwischen Therapeut und Klient offensichtlich wird, umso deutlicher gelingt hier die Überwindung des Warencharakters.
Vielleicht müßte der Therapeut seine Motivation: seinen Lebenshunger, seine Suche nach Anerkennung, seine Freude am Entflechten von Verwicklungen, seine Lust am Spielen, an Theater, am Experimentieren mit Alltagsszenen, seine sadistischen Impulse nach Macht, Beherrschung und seine Star-Allüren nach dem Triumph erfolgreichen Heilens deutlich machen.(178) Auch dies gehört zum mutuellen Helfen, zur konsequenten Solidarität. »Zartheit zwischen Menschen ist nichts anderes als das Bewußtsein von der Möglichkeit zweckfreier Beziehungen, das noch die Zweckverhafteten tröstlich streift«.(179)
Wer nicht fasziniert ist von der sensitiven Extremerfahrung eines Charles Baudelaire, wird kaum das Zeug zur Drogentherapie haben. Wer nicht selbst ein Cowboy ist, wie sollte er den Berber verstehen? Die Basis therapeutischer Randgruppensolidarität ist die Differenz zwischen dem ausgelebten Extrem und der nichtgelebten Wunschstruktur des Therapeuten, also die Wahlverwandschaft beider. Ohne diese ist jeder Verständigungsversuch zum Scheitern verurteilt. Ziel der Begegnung zwischen der gelebten extremen Wunscherfüllung und dem ungelebten Wunsch ist, eine mögliche menschenwürdige Realität der Lust unter den Zwängen der gesellschaftlichen Einpassungs- und Ausgliederungstendenzen zu entwickeln.
Archaische Alles- oder Nichts-Schemata, Grandiositäts- und Vernichtungsphantasien können in langfristiger Gruppenarbeit und therapeutischen (Wohn-)Gemeinschaften zu weniger paranoider Extremität weiterentwickelt werden, die auf Verläßlichkeit des Partners bauen, auf ein Bestehenbleiben der Beziehung auch über die augenblicklichen Trennungen hinaus.(180) Ein Vier-Stufen-Modell: über Entscheidung zur Mitarbeit, Begegnung mit den anderen, Verwandlung bis hin zum Schritt der Übernahme von Verantwortung für sich und die Anderen charakterisiert dieses »Nachreifen in der Gruppe«.(181)
Hier werden, wie im Anarchismus Gustav Landauers, den alternativen Free-School-, KDV-, Schwulengruppen- und Lebensgemeinschaftsprojekten Paul Goodmans(182), wie im Vernetzungsprogramm sozialer Atome von Moreno und im Gestaltkibbuz von Perls, die Selbsthilfepotentiale der Gemeinschaft aktiviert. »Ausgehend von dem Gedanken, daß zerstörte Zwischenmenschlichkeit, entfremdete Kommunikation, fehlende Intersubjektivität auslösend für seelische Erkrankung sind, soll die therapeutische Gemeinschaft oder Wohngemeinschaft ein nicht entfremdetes zwischenmenschliches Milieu bereitstellen.«(183) Solche alternativen Gegenerfahrung von Gehaltenwerden, Ausgehaltenwerden in der Gruppe eröffnet Chancen zur Erfahrung von Grundvertrauen. »Will sie dieses sein, müssen die Mitarbeiter ein Klima von Lebendigkeit herstellen, das Eigenschaften einer gewährenden und auf ihre Grenzen bedachten Primärgruppe verkörpert, in der Identitätswachstum erlaubt und möglich ist.«(184) Ist Klima »herstellbar«?
»Exchange learning« und »Exchange helping« als basale Überlebensstrategie tierischer und menschlicher Kollektive überhaupt ist dabei nicht nur für Selbsthilfegruppen konstitutiv: »Menschen können insgesamt nur existieren, wenn sie wechselseitig voneinander lernen und sich wechselseitig helfen. Wo immer die wechselseitige Hilfeleistung zerstört wird, muß dieses Phänomen als Resultat von Entfremdungsprozessen gesehen werden.«(185)
Das fortschreitende Desinteresse der Ausbildungskandidaten im Fritz-Perls-Institut (FPI) in ihren Ausbildungsgruppen und Seminaren für Geschick und Belange der anderen Teilnehmer und den süchtigen Hang zum individuellen Fokus führt Petzold neben der pflichtmäßigen Auflage solcher therapeutischen Zusatzausbildungen bei vielen sozialen Trägern und Arbeitgebern auf die »Zunahme kontaktgestörter, frühgeschädigter Leute« mit »Angst vor Nähe« zurück.(186) Wenn die Konstitutionsbedingungen individueller und sozialer Pathologie als Strukturen sedimentierter Gewalt nur im gemeinsamen Handeln aufzuheben sind, erfordert dies die Fähigkeit, vom eigenen Leid und Narzißmus zu universalisieren auf die Notwendigkeit, auch das Leid der andern zu wenden in den verschiedenen Subsystemen der Weltgesellschaft. Diese empathische Kraft der Solidarität entfaltet sich in der Gruppe nur, wenn sie vom Therapeuten und den Teilnehmern selbst als Solidargemeinschaft begriffen und gestaltet wird. Eine Einzeltherapie vor der Gruppe ist unter diesem Aspekt ein entsolidarisierender Therapiestil. »Förderung von sozialem Engagement« als Richtziel der FPI-Ausbildung beginnt in der Ausbildungsgruppe.
Eine der sozialen Ursachen psychischer Not bewußte Soziotherapie beschränkt sich dabei nicht mehr in einer die reale Not von Armut, familiärer oder beruflicher Ausweglosigkeit zynisch ignorierenden »Abstinenz« auf den intrapsychischen Fokus, sondern wird selbst aus dem narzißtischen Reich der Innerlichkeit stillen Seelenlebens heraustretend »realitätsgerecht« durch praktische Eingriffe im »Reich der Notwendigkeit« und realen Not. Petzold nennt dies unter Anspielung auf Freuds Verdrängungslehre »zweites Realitätsprinzip«: Nach der Beschneidung der Persönlichkeit durch die Versagungen, die die äußere Realität in ihrer zunächst familialen Vermittlung den Menschen aufnötigte und in dieser Begrenzung des Lusterlebens ein erstes Realitätsprinzip konstituierte, kann einem mit seinen vormals verdrängten Bedürfnissen wiedervereinten Ich die äußere faktische Not der Anderen, das Leiden der Therapiegruppen-Mitglieder, das Leiden der psychisch und sozial verelendeten Bevölkerungsgruppen, dermaßen angelegen werden, daß es aktiv wird zur Linderung oder Aufhebung dieser Leiden.(187)
Dies überschreitet das einfache Awareness-Konzept der auf vollständige Leiblichkeit bedachten Gestalttherapie. Zum komplexen Bewußtsein, Wachbewußtsein, Ich-Bewußtsein und dem philosophischen Klarbewußtsein der eigenen leiblichen Verwobenheit in die teils dysfunktional-depravierenden, teils lebenserhaltenden Netze des sozialen Gefüges(188) muß als praktisches Moment der sinnlichen Vergewisserung eine eigene Erfahrung und Praxis der Solidarität hinzutreten, um die psychopathogenen Sozialkonstellationen als veränderbare Strukturen wahrzunehmen. »Solidarität muß im praktischen Tun erfahren werden: zwischen Therapeut und Patient, zwischen den Mitgliedern einer Therapiegruppe, in Solidargemeinschaften des Alltags und der politischen Aktion.«(189) Nur so kann die soziale Determination da, wo sie traumatisiert, erfolgreich erkannt und aufgehoben werden. Jeder ist ein Teil des »Social Body«, der wiederum mehr ist als der »gesellschaftliche Gesamtarbeiter« der Marxschen Ökonomie. Darum gehören die »vier großen W's« der anarchistischen Tradition zum Zielkatalog Integrativer Therapie: »Wachheit, Wertschätzung, Würde, Wurzeln«(190) eines jeden Menschen zu restituieren bis hinein in die eigene Körperwahrnehmung, die Haltung, den aufrechten Gang.
Gerade für die psychisch destabilisierten Menschen ist oft das Fehlen eines Gruppengefühls so typisch. Sie leiden unter Vereinzelung und haben in ihrer Geschichte selten das Eingebettetsein und Solidaritätserleben in Aktionsgruppen und Arbeitsbündnissen erlebt. Daher ist die Solidaritätserfahrung, die innerhalb einer Therapiegruppe entsteht im gegenseitigen empathischen Einstehen füreinander, das Modell, an dem sich politische Solidarität im kleinen kommunalen und regionalen Rahmen und möglicherweise auch in umfassenderen Handlungsbezügen und Optionen für diese Menschen heranbilden könnte. Eine solche Gegenerfahrung gegen die mit dem Zerfall von Großfamilie und Dorfgemeinschaft universaler werdende Vereinzelung und Vereinsamung eröffnet die Perspektive, mit der Durchsetzungskraft der Gruppe die apathische Aporie individueller politischer Ohnmacht zu durchbrechen. Bezeichnend allerdings für diese Überlegungen bleibt, daß sich wenig empirisches Material findet für gelungene Beschreitungen dieses »vierten Weges der Heilung« in regulären Therapiegruppen, wie Petzold ihn beschreibt. Die programmatische »Kultur des Narzißmus«(191) der Gestaltgruppen erlaubt zumindest keine Regung, die einen Teilnehmer in den Verdacht altruistischen Denkens bringen könnte. Das, was Petzold sich idealiter für seine Therapiegruppen wünscht, ist realiter hier gerade am unwahrscheinlichsten, weil der egozentrischen Persönlichkeit von Perls und seiner gesamten Konzeption völlig zuwider. Die Orte, wo Solidarität möglich und praktisch selbstverständlich ist, früher der Arbeitsplatz, sind heute am ehesten, wiewohl nicht unangefochten von der konkurrenzhaften Sozialdynamik des Kapitalismus, alternative Produktionsgenossenschaften, grün-bunte Gruppierungen und ein Großteil der Selbsthilfegruppen. Anthropologischer Ausgangspunkt ist also: nicht das stärkste Tier überlebt, sondern die am besten sozial vernetzte Tiergattung. Darwin hat sich in diesem Punkt geirrt.
Je weniger Energie ein Mensch mit der Sicherung seiner Identität in den Anfechtungen durch ihre Kritik und Identifizierung der Anderen aufwenden muß, je regulierter sein Selbstgefühl, umso mehr Kraft kann er freisetzen, um seine Kompetenzen dem Ganzen der Aktionsgruppe zukommen zu lassen. Je mehr sein innerer Reichtum sich entfalten kann, weil er nicht mehr einer dubiosen, verinnerlichten Abwertung gebunden unterliegt, umso mehr Kompetenzen und Kräfte fließen der gemeinsamen Aktion zu, umso mehr Phantasie und praktische Fähigkeiten zur Ausführung, umso mehr an sozialer Performanz und Durchsetzungsfähigkeit gewinnt die solidarische Aktion. Der introspektive, individualzentrierte, regressive Gang in die Nachnährung personaler Defizite ist für ein solches Erstarken der Solidarität sogar konstitutiv und außerordentlich hilfreich. Indes ist überhaupt keine psychodynamische Logik, daß eine unterm Kapitalismus trainierte Seele, einmal kompetent und performant geworden, sich automatisch dem Wohle der anderen zuwendet, so gerne eine Theologie der Hoffnung die Kraft des Heiligen Geistes darin erblickt, so klar Meister Eckhardt vom selbstverständlichen Umschlag der contemplatio in caritas sprach. Um diese Kraft des Heiligen Geistes als Netzwerke gegenseitiger Hilfe zu erwecken, brauchen wir immer auch Vorbilder, ob Christus und alle Heiligen, oder die kommunistischen Helden. Wenn Lernen am Modell nicht mehr Modelle hat als den Set von schönen Schicki-Männern und selbstbewußten Styling-Girls aus der Fernsehwerbung, wird sich in Richtung solidarischer Veränderung wenig tun. Buhls empirisches Ergebnis, daß Integrative Therapie zwar Solidarität nicht hemmt, aber bei ihrer rennomierten Kundschaft auch nicht nennenwert forciert, obwohl Petzolds Ausführungen hierzu auf dem fortschrittlichsten Stande sind, zeigt, wie machtlos Theorie ist, wenn das Sozialisationsklima, durch viele von Perls inspirierten Therapeuten und Instituts-Schüler geprägt, im Individualismus des Gestaltgebets hängen bleibt. Die Umsetzung des Netzwerk-Konzepts gegenseitiger Bereicherung hängt stark von der sozialen Phantasie des Therapeuten ab. Wir brauchen Therapeuten, die solidarisch sind. Sie entfesseln die solidarischen Potentiale in einer Gruppe. Man muß den Psychoegoismus als Masche in Gruppen thematisieren, sobald er auftaucht. Gerade der Therapieszene muß man dies vorhalten, moralisch einfordern, da sie ja nicht ohne Moral angetreten ist. Man darf sich, gerät man einmal in solche Egotrip-Gruppen hinein und bekommt ihre Moral zu spüren: Kümmere dich zuerst um dich selbst! - man darf sich davon nicht irritieren lassen und von einer Perspektive abbringen lassen, die immer auch das Ganze im Blick hat. Nur gemeinsam sind wir stark, und wenn ich die anderen wie heiße Kartoffeln fallen lasse, gibt es keinen mehr, der mich tragen kann, wenn ich einmal hilflos bin. So sehr dieser Psycho-Egoismus als Reaktionsbildung auf den autoritären Charakter unterm Faschismus ein korrektives Gegenmoment war, so wenig ist er geeignet, eine Überlebenskultur angesichts von ökologischen, militärischen und ökonomischen Super-GAU's zu konstituieren.
Gegenüber der egozentrischen Psychokultur hat die Selbsthilfebewegung erwiesen, so kann man schon jetzt mit großem Recht behaupten, daß die Möglichkeiten des Empowerment solidarisches Handeln gerade unter solchen Menschen entstehen lassen, die von ihren Belastungen her eigentlich am wenigsten dazu in der Lage zu sein scheinen. Paulus sagt 2 Kor 12,9, Gottes Kraft sei in den Schwachen mächtig. Diese Kraft des Heiligen Geistes ist die Solidarität der Armen.