Dr. phil. Dr. theol. Michael Lütge, Pfarrer, Gestalttherapeut, Religionsphilosoph, Religionswissenschaftler
fußnotenloser Auszug aus:
"Wachstum der Gestalttherapie und Jesu Saat im Acker der Welt. Psychotherapie als Selbsthilfe"
Lang-Verlag Frankfurt, 1997 824 Seiten ISBN 3-631-32666-1

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    Seite 570-597

    2.3.9. Jesu Sendung als Therapie 570

    Zum Impressum

    2.3.9.1 Versöhnung mit dem Feindlichen als Rücknahme der Projektionen 571

    2.3.9.2 Jesus der Erotiker und die Gestaltwerdung der Liebe Gottes 573

    2.3.9.3 Integration der eigenen Aggressivität und Vollmacht gewinnen 577

    2.3.9.4 Solidarität mit den Fremden: das Fest der Verlorenen 579

    2.3.9.5 Neues Sein als Liebeskommunismus 583

    2.3.9.6 Entscheidung für ein neues Leben 589

    2.3.9.7 Ganzheitlichkeit in radikaler Entsprechung von Wort und Tat 592

    2.3.9.8 Zeit als Geschenk: Jesu Hier- und Jetzt 593

    2.3.9.9 Das fleischgewordene Wort und die Leiblichkeit der Menschen 594

    2.3.9.10 Das Sprachereignis als Hoffnungsphantasie 595

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    2.3.9 Jesu Sendung als Therapie

    Was kann die Rede vom gekreuzigten Gott zur psychischen Befreiung der Menschen beitragen, die von der Rede vom allmächtigen Gott gefesselt wurden? Moltmann erhofft einen Zuwachs an Empathie und Sympathie mit dem Pathos Gottes und dem realen Leiden der Anderen.(Anmerkung) An dieser Stelle finden wir uns unversehens in der Konzeption Ferenczis oder der Narzißmustherapie von Heinz Kohut wieder: Ohne Sympathie und Empathie keine Heilung, und hätte ich Engelszungen, aber keine Liebe, so wäre es tönerne Kälte. Jesus war therapeutisch aktiv, aber in freier Praxis und nicht Sklave einer psychoanalytischen Schulrichtung.(Anmerkung) Damals waren fast alle Juden 'ganzheitlich'.

    Wunderheilungen aufgrund des Glaubens des Kranken gehören zum historischen Jesus so sicher wie die Gleichnisse. Jesus hat Menschen geheilt, hat für die »Wiederherstellung der Integriertheit und Zentriertheit des Selbst« der Mühseligen und Beladenen gesorgt.(Anmerkung) Er erklärt diese Wunder: Dein Glaube hat dir geholfen.(Anmerkung) Glauben kann Berge versetzen und richtet sich nicht auf die Berge, sondern auf Gott, dessen Macht der Glaubende zur Erfüllung seiner Verheißung herausfordert im Schrei nach Rettung.(Anmerkung)

    Mag es Magie gewesen sein wie bei den persischen magoi, mit der Jesus auf allen (Un)Bewußt-Seins-Ebenen auf den Kranken einwirkte als theios anär, das Gesundheitsziel der »Integration des persönlichen Selbst ist nur möglich durch seine Erhebung in das, was symbolisch das göttliche Selbst genannt werden kann.«(Anmerkung) Leider ist der Bultmann-Schule vor lauter existentialer Interpretation das leibliche Wirken Jesu als Wunderheiler entgangen, weil sie eine schamanische Medizin charismatischer Wunder-Rabbinen wie Hanina ben Dosa oder Honi dem Kreiszeichner mit voll funktionsfähigen Exorzismuspraktiken nicht erklären konnten und darum als Mythos ins Reich der spätantiken Wundergläubigkeit und Legendenbildung verweisen mußten.(Anmerkung) Aber Schamanismus wirkt auch durch Wortvollmacht im Glaubenden. Jesus hat nicht repariert wie unsere Medizin, sondern in ein Neues Sein versetzt. »Blinde werden sehend und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote werden auferweckt und Armen wird die frohe Botschaft gebracht.«(Anmerkung) »In dieser Beziehung sind Erlösung und Gesundheit identisch, denn beide sind Ausdruck für die Erhebung des Menschen in die transzendente Einheit unzweideutigen Lebens.«(Anmerkung) Freilich bleibt alles Heilen fragmentarisch, die Todesgrenze bleibt, auch Jesus hat nicht unsterblich machen wollen. Die Frage einer endzeitlichen Verwandlung der Welt zu ewigen Reich Gottes bleibt offen.

    2.3.9.1 Versöhnung mit dem Feindlichen als Rücknahme der Projektionen

    Die Narrationen von Jesus demonstrieren einen Therapeuten, der, weil er seine Genervtheit und seinen Drang nach Einsamkeit des Gebets ebenso zulassen kann, wenn er mit Kranken, Aussätzigen, Huren, Zöllnern, Frauen oder Kindern konfrontiert ist, dann auch in unverstellter Aufrichtigkeit seine Sympathie manifestiert. Damit wird die narzißtische Xenophobie gegenüber einer vielleicht ja gar nicht so feindlichen Welt aufgehoben, Kontakt hergestellt. Jesus kann für sich selbst sorgen, er kann Nein sagen und den allzu kleingläubigen Hilfesuchenden seine Hilfe verweigern. Er ist nicht allzeit bereit. Er ist bereit für den kairos, von dem er in Gleichnissen die Unberechenbarkeit beschreibt in der Animation zur Wachsamkeit. Im Sturm auf See aber schläft er tief. Jesus kann Nein sagen. Darum wiegt sein Ja doppelt, ist sein Kontakt um so tiefgehender und eingreifender. Weil Jesus zu seinen eigenen Bedürfnissen Ja sagt und Kontakt hat, kann er auch die Bedürfnisse anderer erkennen und erfüllen. Er ist mit Bedürfnis und Begehren vertraut und ihm schieben sich nur wenig den Anderen dämonisierende Phantasmata als Balken ins Auge. Trotzdem erkennt er, wenn Andere ihn angreifen wollen und geht weder Streit noch militärischer Gewalt aus dem Wege. Sein Standpunkt steht fest, er steht dafür ein mit seinem Leben. An diesem Punkt hat sich Perls und haben sich die meisten Psychoanalytiker zum Flüchten entschieden, während Bonhoeffer bei Beginn des Hitler-Terrors extra aus den USA zurückkam und Nachfolge als Widerstand mitverantwortete. Die Kontaktfähigkeit Jesu war stärker als seine Todesangst. Sie basierte auf dem Glauben an einen Gott, der für ihn und alle anderen alles zum Besten wirkt.

    Die Paranoia einer in se curvatus verkrümmten autistischen Reflexivität - Sünde ist mit der Entfremdung vom anderen immer auch Entfremdung von sich selbst - hat damit einen produktiven Ausgang in die liebende Gemeinschaft der Welt gefunden. Bindungen und Bündnisse werden möglich, mit denen die feindliche Welt »gezähmt« werden kann in behutsamer gradueller adaequatio fidendis ad mundum.(Anmerkung)

    Dieser Weltkontakt mit dem Grundgefühl, in der Welt von guten Mächten wunderbar geborgen zu leben, zeichnet Jesu Lebensart aus: Gott läßt seine Sonne über Gute und Böse aufgehen, nährt die Lilien auf dem Feld und die Vögel unter dem Himmel ohne deren eigenes Verdienst oder selbsteigne Pein. Weil niemand aus der Gnade Gottes herausfallen kann in dieser Welt Jesu, deshalb gibt es auch keine vernünftigen oder gottgewollten Ausgrenzungen unter den Menschen selbst. Rein und unrein, gesund und krank, gut und böse ist kein Klassifikationsmerkmal mehr. Das rüttelt an der sozialen Grundordnung, in der beständig ausgegrenzt wird, um das marode Binnengefüge kriselnder Gesellschaften notdürftig zu konsolidieren.

    Die Welt als Welt Gottes ist nicht mehr bedrohlich und kann angstfrei in das eigene Ich hineingenommen werden, es gibt reale Introjektionen, reale Kontakte. Daher ist es nicht mehr nötig, die Projektionen der eigenen Feindseligkeit, die man der feindlichen Welt angehängt hatte, ins Ich zu reintrojizieren, wie es Perls als Eigenart des Paranoiden beschreibt. Jesus sprengte die jüdische Rassereinheit und Glaubensgrenze: auch die Syrophönizierin und der römische Hauptmann sind gut, haben zu Gott Zugang. Ichgrenze, Kulturgrenze, nationale Grenze werden irrelevant unter der Gnadenperspektive Gottes. Die Öffnung der Grenzen zerstört nicht mehr die eigene Substanz. Eine solche Zerrüttung der fundamentalen Grundordnungen von Ich, Religion, Moral, Medizin und Politik ist dem Synhedrium Gotteslästerung und das skandalon des Paulus.

    Ricoeur beschreibt eine solche Aufreizung der Grenzen mit dem Paulus-Argument, Gott sei »alles in allem«, als Allversöhnung der feindlichen Gegensätze. Mitten in seiner Provokation gegen die religiös-politischen Bretter vor den Köpfen ist Jesus von der Versöhnung des Gegensätzlichen geleitet. In dieser Versöhnung besteht für ihn das Wirken Gottes. »Somit hat sich ein Weg eröffnet, der Weg der nicht narzißtischen Versöhnung: ich verzichte auf meinen Standpunkt; ich liebe das Ganze; ich bereite mich darauf vor zu sagen: 'Die geistige Liebe der Seele zu Gott ist Gottes Liebe selbst, womit Gott sich selbst liebt' (quo deus seipsum amat).«(Anmerkung)

    2.3.9.2 Jesus der Erotiker und die Gestaltwerdung der Liebe Gottes

    Jesus war Libertinist. Er genoß Gottes Freiheit. So präsentierte er Gott. Auch die Lust des Begehrens hat Jesus zugelassen und bejaht, wenn auch im Rahmen der strengen jüdischen Sexmoral, in dem außerehelich alles als Hurerei oder Ehebruch mit Steinigung (Lev 20; Joh 8) geahndet wurde, wenn auch Polygamie bejaht wurde und ein Mann, der auf eine junge attraktive Frau geil war, diese einfach dazuheiraten konnte.(Anmerkung) Jesus ließ sich von einer Sünderin, einer Prostituierten, die Füße salben.(Anmerkung) Die Syrophönizierin im Badehafen Tyrus beeindruckte Jesus durch hellenistisches Denken.(Anmerkung) Wenn schon der Blick zu einer fremden Frau der vollzogene Sexualakt ist(Anmerkung), dann weiß Jesus etwas von erotischen Blicken und der Macht der erotischen Attraktion. Für ihn ist schon der Blick Ausdruck des Sexuellen und Vollzug der Bemächtigung. Darin finden wir Freuds Rede von der Universalität des Sexuellen und der phallischen Bedeutung der Augensymbolik in Traum und Unbewußtem vorweggenommen.(Anmerkung) Die umfassende Tabuierung des Sexuellen seit der paulinischen Schelte auf griechische Orgien kann sich nicht auf Jesus berufen.(Anmerkung) Ein asexueller Begriff von agapä ist eher vom Inzesttabu in der als Großfamilie begriffenen Christengemeinde geprägt. Die Liebe Jesu zeigt mehr Leidenschaft, mehr ungebremstes Handeln mit dem Herzen. Vielleicht war er auch verheiratet, aber er forderte, auch die Frau zu verlassen, wohl wegen ihrer Reiseunlust.(Anmerkung)

    Er war auch nicht der Familien-Mensch, der seinen Eltern Freude machte, sondern forderte zum Bruch mit der Familie auf. Jesus redet vom Feuer und Schwert, was er bringt, vom Haß gegen die Familie um der Kreuzesnachfolge willen und tauscht höchsten Wert mit schändlichster Hinrichtung.(Anmerkung) Es geht dabei nicht um andressierte Abneigung, sondern um die faktische Trennung von der Familie und ihrer saugend-neurotischen Verstrickung.(Anmerkung) Die Trennung von der Familie ist verbunden mit der Trennung von Besitz, weil dort der eigene Besitz liegt. Die Wanderradikalen haben ihre gesamte Existenz aufgegeben, Familie, Besitz, Arbeit, soziale und materielle Säulen der Identität. Sie sind angewiesen auf freundliche Gastgeber, wissen nicht, wo am nächsten Tag eine Bleibe für sie sein wird. Daher Jesu Bild von den Vögel unter dem Himmel, die der Vater ernährt; jedem Tag seine eigene Sorge, die Zukunft wird Gott köstlich und fein bereiten. Jesus ist ausgebrochen aus der Familie, die ihn einen Fresser und Säufer, einen Sünder(innen)freund und Zöllnergünstling schimpfte.(Anmerkung) Nur seine Mutter zieht mit ihm.

    Für heutige Therapie ist daran der Tod der Familie(Anmerkung) als Entmachtung des generalized other in seiner Beschneidungsfunktion natürlicher coenästhetischer Wahrnehmung von größter Bedeutung. Der Haß gegen die Familienmitglieder dient der Befreiung von ihrer verdummenden Verinnerlichung.(Anmerkung) Über-Ich-Therapie zielt immer auf die Befreiung von den eingelagerten sadistischen Familien-Konserven. Der Haß gegen die Familie ist für Jesus die Prämisse der Ehrfurcht vor dem eigenen und fremden Leben.(Anmerkung) Die völlige Trennung von der neuroto- oder schizophrenogenen Familie ist in der klinischen Praxis oft Voraussetzung für eine gute Prognose längerer Psychiatrie-Aufenthalte.

    Wenn in den Exorzismen die Dämonen Stimmen haben, mit denen sie aus dem Besessenen sprechen, dann haben sie auch eine eigene Person im Besessenen. Diese quälen den Patienten in gleicher Boshaftigkeit wie die Familienmitglieder oder die gehässigsten Exemplare des sozialen Umfeldes. Was Freud zur Melancholie sagt: Inkorporation einer geliebten Person, das findet faktisch nicht nur bei einer Person statt, sondern der generalized other besteht aus einem Bündel von verschiedenen Personen(Anmerkung), die oder deren Gehabe, Getue und deren Sprüche mimetisch assimiliert wurde, selbst wenn man es nicht aktiviert, die aber im Unbewußten überichmäßig tonangebend das eigene Verhalten dirigieren, zensieren, legitimieren.(Anmerkung) Diese Personen machen verrückt und irritieren die freie Entfaltung eines Menschen. Sie auszutreiben ist nicht möglich mit den Mittel psychoanalytischen Durcharbeitens, wie Cremerius einräumt(Anmerkung), sondern bedarft regelrecht magischer Praktiken, die Magie der inneren Gouvernanten, Richter und Tanten muß mit ebenso starker Magie bekämpft werden.(Anmerkung)

    Exorzismus bedarf der Vollmacht des handelnden Schamanen. Diese hat offensichtlich Jesus wie Elia und Elisa besessen und konnte so die Besessenheitsverhältnisse umkehren zugunsten des Ichs der Besessenen. Wenn es hier um die Befreiung von den im Innern des Kranken engrammierten und personierenden: durchtönenden Familienbande geht, so bedeutet also der Exorzismus nur eine weitere Art des Kampfes gegen die Verstrickung in die Familie. Die Antithesen sind nicht abstrakt gegen irgendwelche Paragraphen eines verstaubten Gesetzes der Juden gesprochen, sondern sie sind das, was von der Tora in den Familien aufgenommen ist, resoniert und ihren Umgang miteinander bestimmt. Es sind die inneren Stimmen. Darum wiederspricht Jesus gerade da, wo Tora zur inneren Stimme wird, sich als Fremdkörper im eigenen Leib ablagert und nicht mehr als Spielregel der Nächstenliebe evident ist. Nur aus der praktischen Erfahrung, wie sehr die tiefe Übertragung von Praxisfiguren, die Einschreibung der Anderen ins eigene Selbst, zur Zerstörung des Lebensmutes führen kann, haben Perls und seine Schüler den Introjekten den Kampf angesagt zugunsten einer Assimilation und Integration des innerlich gespeicherten Teils der nötigenden Realität.

    2.3.9.3 Integration der eigenen Aggressivität und Vollmacht gewinnen

    Wenn die paranoiden Projektionen auf das angeblich Feindliche der Welt durch die Kontakterfahrungen des sich öffnenden Glaubenden zurückgenommen werden und als feindliche, sadistische, neidische und empörte Gefühle des Glaubenden selbst ein Recht bekommen, gefühlt zu werden, artikuliert zu werden, ausagiert zu werden, werden sie den Glaubenden auch nicht mehr so verbiestert allgütig machen, daß sich seine Umwelt über ihn amüsiert und dann tatsächlich im Auslachen zur »feindlichen Welt« wird. Je weniger Aggressivität im eigenen Selbst entwertet oder verdrängt wird, um so mehr kann sie in der feindlichen Welt erlebt werden ohne den Schutzmechanismus sofortiger Ablehnung und sofortigen Rückzuges. Jesus hatte Zugang zu seiner Aggression. Er konnte wütend werden, Peitsche schwingen und freche Widerworte geben. Er hatte mit dem Verzicht auf militärische Gegenwehr und gewaltloser Auseinandersetzung zugleich den Schlüssel gegen die Eskalationsspirale der Gewalt gefunden und gelehrt. Die Feindesliebe erfordert natürlich ungleich größere Kraft und Macht als der Griff zum Messer und die Zahn-um-Zahn-Behandlung. So war ihm eine differenzierte Bewertung von Aggression möglich statt einer pauschalen Abwertung schlechthin, die dann unter der Gürtellinie zur Wiederkehr des Verdrängten in sadistischen Gottesphantasien führen muß.

    Zur vieldimensionalen Einheit des Lebens gehören Sex und Aggression als Begehren des Menschen in seiner geschichtlichen Zweideutigkeit, in Mischung von Erbauung und Vernichtung, Heiligkeit und Dämonie.(Anmerkung) Wenn die eigene Aggressivität bejaht wird als Aspekt der Kraft Gottes, die uns bewegt, so kann sie verwandelt werden von einem Fremdkörper des Bösen, von Wut und Haß, in Vollmacht des Selbst, in Performanz, die die eigenen Kompetenzen nach außen hin trägt in sie in der Welt wirken läßt.(Anmerkung) Dann findet eine Selbst-Integration der eigenen Charismen statt, in deren Spektrum die Aggression notwendig ist für die Durchsetzung von Gerechtigkeit und Frieden in einer Welt, in der Oligarchien vom Schlage der Hure Babylon die Macht haben und zuteilen.(Anmerkung) Wenn Gottes Reich »weniger ein Reich, in dem Gott herrscht, als die herrschende Macht selbst, die Gott gehört und die er nach dem Sieg über seine Feinde ergreifen wird«, ist, stehen Frieden und Gerechtigkeit nicht im Gegensatz zur Macht, sondern sind auf sie angewiesen.(Anmerkung)

    Feindesliebe und eine universale Friedensordnung ohne das Durchsetzungsmittel der Gewalt erfordern gerade die Ausübung von Macht und massiver gezielter politischer Einflußnahme, bei der Jesus sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, ohne das anderer zu vernichten. Gewaltlosigkeit und Protest gegen strukturelle Gewalt in Religion und Politik bedürfen einer ausgesprochen starken Macht, die stärker ist als die der Schwerter und Kanonen. Gewaltfreie Formen politischen Kampfes für Gerechtigkeit und Menschenwürde können Boykotte sein und die phantasievolle Logistik des zivilen Ungehorsams von Bürgerinitiativen und Selbsthilfebewegungen. Ihr Erfolg wächst, je mehr die Vernunft die Politiker, die wiedergewählt werden wollen, zur Kooperation mit den Beherrschten bringt. Es ist ein Unterschied, ob der Katholizismus den Faschismus wegen seiner rigiden Gewaltsamkeit angebetet hat, oder ob von der in den Schwachen mächtigen Kraft Gottes gesprochen wird. Tillich meint bei aller »Zweideutigkeit der Macht«, »daß, da Gott als die Macht des Seins die Quelle jeder einzelnen Seinsmacht ist, Macht ihrem Wesen nach göttlich ist.«(Anmerkung) Die Triebmischung von Sex und Aggression ist die Liebe als Macht, die das Getrennte zu einer glückhaften Einheit zusammenzieht.

    Bonhoeffer hat unter dem Eindruck der Ohnmacht gegenüber dem Faschismus die Nähe Gottes zur Welt im Verzicht auf die Hypothese einer nicht intelligiblen Transzendenz zu einer völligen Diesseitigkeit des Glaubens weitergedacht in dem Paradox von der Gottverlassenheit der Kinder Gottes, deren eines Jesus war.(Anmerkung) Die Macht der Liebe ist eben auch die Macht des Leidenden, die stärker sein kann als die dessen, der auf die andere Wange auch noch draufschlägt.

    Weil Jesus in seiner Aggression die Macht Gottes wußte und fühlte, konnte er sie in Streit, Kampf, Klage, Drohung, Exorzismen, Heilkraft und der vollmächtigen Apodiktik seiner Lehre nach außen tragen. Die Macht Gottes hat hier die Verhältnisse fragmentarisch so deutlich geändert, daß man die Nähe Gottes spürte und als sein Reich bekannte.

    2.3.9.4 Solidarität mit den Fremden: das Fest der Verlorenen

    Mit welcher veränderten Grundhaltung ist Jesus auf die Menschen zugegangen. Nicht paranoid, narzißtisch, autistisch. Dem Anderen gegenüber offen. Paulus etc haben Mission als Hineinholen der Proselyten in den Bannkreis der eigenen heilen Welt verstanden. Jesus hat den Bannkreis überhaupt transzendieren wollen. Nicht Mitgliedschaft in Vereinen ist das Ziel, sondern die interkulturelle Begegnung der Vereine. Sich einlassen auf das Fremde, Andere, Nicht-Identische, darin zeigt sich die Kraft Gottes als universale Solidarität. Das war die Stärke Jesu: sich auf das einzulassen, was die Gesellschaft exkommuniziert hatte, das Unreine, Verstoßene, Häßliche, was von sich aus nicht attraktiv und liebenswert erschien.(Anmerkung) Den Gleichnissen vom Verlorenen, was der Vater oder gute Hirte mit allergrößter Liebe sucht, entsprechen dem Outlaw-Umgang Jesu.(Anmerkung) Jesus hat Randgruppenarbeit betrieben, nicht als Sozialarbeiter, sondern spontan, wie es gerade auf seiner Wanderradikalen-Tour kam.(Anmerkung) Er nahm die verlorenen Söhne so an, wie er, sich selbst rechtfertigend, in seiner Parabel vom vergebenden Vater erzählt, als stünde er selbst an Gottes Stelle.(Anmerkung) Der Fresser und Säufer Jesus treibt als Sünder-Freund senfkornmäßiges Gottesreich mit einer durch den Magen gehenden Liebe, die nicht im Sättigungswunder besteht, sondern im Ertragen, falsch: Genießen der Gegenwart von Gesetzlosen, Kranken, Krüppeln, Exkommunizierten, Abgeschobenen.(Anmerkung) Damit versteht Jesus sein Lebenswerk als Vorschein der Herrlichkeit Gottes. Im Fluß der Geschichte konditioniert wird seine Gegenwart »zur Quelle einer neuen Geschichte«.(Anmerkung)

    Vergebung steht gegen das Lohnprinzip und Käuflichkeit der Gnade Gottes, selbst wo in vielen Gleichnissen vom Geschäftstüchtigkeit und Zuverlässigkeit des treuen Sklaven gegenüber dem verreisten Herrn die Rede ist: Die zwei Stunden Kurzarbeit der letzten Tagelöhner werden wie ein Tagwerk bezahlt, denn auch sie wollen satt werden; Bedürfnisse gehen vor Proportionsrechnung und Gerechtigkeit ist nicht abstrakte Gleichbehandlung, sondern zielt darauf ab, daß alle satt werden.(Anmerkung) Das Marxsche Motto, »jedem nach seinen Bedürfnissen« als Distributionsformel mutterrechtlicher Gesellschaften kann durchaus in dieser Praxis Jesu als realisiert betrachtet werden.(Anmerkung) Jesus läßt die Sünder Sünder bleiben. Er verlangt keine Heiligkeit durch ein kultisch korrektes oder häretisch-radikales Leben, werder Pharisäismus noch Qumran-Konsequenz. Er läßt sie das sein, was sie sind und auch nur sein können durch die Enge ihres Möglichkeitsspielraumes. Im Glauben zu leben heißt dann tatsächlich: tapfer sündigen(Anmerkung) im Blick auf den, der sie so will, wie sie sind, ohne jede Verstellung, ohne jede geschminkte contritio und Auffittung. »Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.«(Anmerkung) Er will sie glauben machen, daß Gott sie trotz, ja in ihrer Sünde annimmt, die nur das äußere Zeichen einer tiefen inneren Bedürftigkeit und Folge eines lebensgeschichtlichen Mangels, einer Depravation ist, wie ihn auch Ferenczi in seinem Vorhaben der Nachsozialisation versuchte, auszugleichen. Die Gnade Gottes stellt keine andere Vorbedingung als nur den Hunger, die Bedürftigkeit. Weil Gottes Gnade nach Bedürftigkeit vergeben wird, fallen die Reichen und Wohlbehüteten heraus, denn sie haben schon alles. Daher ist Jesus parteilich gegen Reiche, empfiehlt dem reichen Jüngling die Besitzlosigkeit als Einsteigerhilfe in Gottes Reich.(Anmerkung) Ist Sünde nicht nur »Drang in die Verhältnislosigkeit«(Anmerkung), sondern die Ver-Drängung von Stigmatisierten in die Aussätzigkeit, die Randzonen der Dörfer, so ist die Umkehr, das metanoe@te im Angesicht der Nähe Gottes(Anmerkung) die Entsprechung des Menschen zu einem in Jesus vollzogenen Umdenken des göttlichen Geistes, der nicht mehr nach Gesetzestreue den Gerechten und Gehorsamen Güter verschafft, sondern sich solidarisiert mit denen, die nicht mitkommen, nicht erfolgreich, schön, stark und funktionsfähig genug sind, um in der jeweiligen Sozialordnung die besseren Ränge, Stati und Gehälter einzustreichen. Gott kehrt sich den Verlierern zu, die aufgrund von Krankheit oder römischer Besteuerung alles verloren haben, was Leben Qualität verleiht. Gott ändert die Qualifikation von gutem Leben. Er nimmt die Verlorenen als neuen Maßstab: rechtlos, ausgegrenzt, hilflos und verzweifelt oder machtlos und unbefangen wie die Kinder - so liebt er Menschen. Vergebung ist keine Amnestie, kein Vergessen von Straftaten. Vergebung ist keine Verrechnung von Schuldbergen der Vielen gegen den Sühnetod des Einen am Kreuz, keine Annullierung aufgrund einer spektakulären Hinrichtung, sondern die Weitung dessen, was Gott mit dem Aufgang seiner Sonne bestrahlt und wärmt: Gute und Böse, Integrierte und Fremde, Behütete und Verdammte. Nur aufgrund des Selbstausschlusses der Behüteten aus dem Gastmahl Gottes bleiben die Verdammten dieser Erde als Gäste Gottes übrig und bekommen seine Freundlichkeit ganz zu spüren. Indem die Behüteten und Termingestreßten Gott abgesagt haben zugunsten der eigenen Profitgier und Pflichten, haben sie ihn in die Ecke der Leute von der Straße gedrängt, so wie sie Jesus kriminalisiert haben. Das Leistungsprinzip, nach dem die Gesunden funktionieren, ist dem göttlichen Prinzip der Bedürfnisorientierung, des solidarischen Essens und der Gastfreundschaft sehr feind. Noch die paulinischen Sündopferdoktrin denkt im Schema der Leistungsberechnung, operiert mathematisch vom Tauschhandel her denkend, ist geschäftstüchtige Kaufmannsideologie. Wort und Tat Jesu zeigen den ausgegrenzten, den gekreuzigten Gott, der sich der Verlorenen annimmt, mit ihnen lebt und dabei selbst zu einem Verlierer am Kreuz wird. Die Buße, die Umkehr des Gottes, dem die Reichen und Frommen den Rücken zukehren, ist das Fest der Verlorenen: indem die Penner, Krüppel, Stigmatisierten, Huren, Kranken, Arbeitslosen, Verarmten und Vertriebenen miteinander einen neuen Bund schließen, miteinander ein neues Leben beginnen in der Nachfolge und Gemeinschaft mit dem Wander- und Wunderrabbi Jesus, bricht Gottesreich als soziale Manifestation des göttlichen Geistes mitten unter ihnen an, am Rand der Gesellschaft, halb in der Wüste.

    Dieses Prinzip funktioniert nicht in der Therapie. Psychotherapie geschieht von und für sozial Gutsituierte, wenn sie nicht gar Zeitvertreib der Reichen ist, die sich ein bißchen außersexuelle narzißtische Gratifikation zugestehen wollen, indem sie ihren inneren Schweinehund mit dem Leckerbissen rennomierter Psychospezialisten füttern.(Anmerkung)

    Die Annahme des Verlorenen als Gastmahl der Outlaws in der kostenintensiven Einzeltherapie ist schlechterdings ausgeschlossen, kommt grundsätzlich nicht infrage. Hier kann der gütige Therapeut in freier Praxis nichts von Jesus lernen. In allen Gleichnissen Jesu kommt es niemals dazu, daß der Reiche den Armen annimmt. Er zeigt ihm seine Verachtung und die Brosamen unterm Tisch. Die Annahme des Verlorenen durch den Behüteten ist die »unmögliche Möglichkeit« (Barth). Die Jesusbewegung bestand aus lauter Verlorenen. Darum kommt für die Verlorenen nur die Selbsthilfe infrage, als die sich auch die Jesusbewegung formierte: Solidarität der Schwachen.

    Wenn Marx die Folge der Expropriation mit der vierfachen Form der Selbstentfremdung beschreibt(Anmerkung) und Tillich daraufhin Selbstentfremdung als das Wesen der Sünde erkennt(Anmerkung), manifestiert in allen Formen existentieller Selbstzerstörung, Leiden, Einsamkeit, Zweifel, Sinnlosigkeit, Vergleichgültigung des Lebens und des Todes, Mechanisierung des Begehrens nach Geliebtwerden zur Begierde des Sich-am-Anderen-Befriedigung-Verschaffens, so hat die Aufgabe der Therapie als Aufhebung der Entfremdung von Wunsch und Willen, Unbewußtem und Bewußtsein, Es und Ich als Folge des gesellschaftlichen Ausschlusses nicht lizensierter Bedürfnisdispositionen zugleich die Qualität der Arbeit an der Sünde. Es gibt keine totale Aufhebung der Verdrängung und Sünde, aber es gibt Solidarität der Sünder, die Hilfe suchen und einander geben im Neuen Sein.

    2.3.9.5 Neues Sein als Liebeskommunismus

    Die Jesusbewegung probierte ein neuen Leben. »Der göttliche Geist ergreift den menschlichen Geist, aber er ergreift das Psychische und das Physische im Menschen nur indirekt und in begrenzter Weise. Das Universum ist noch nicht verwandelt; es 'wartet' auf Verwandlung. Verwandlung durch den göttlichen Geist ist aktuell nur im menschlichen Geist; die Menschen sind die 'Erstlinge' des Neuen Seins. Das Universum folgt. Die Lehre vom Geist führt zu der Lehre vom 'Reich Gottes' als ewiger Erfüllung.«(Anmerkung)

    Gerechtigkeit auf der Grundlage der goldenen Regel, die Nächstenliebe in der empathischen Entsprechung der menschlichen Wünsche untereinander narzißtisch gründet, ist wohl auch in der Jesus-Bewegung eher Maxime als Realität gewesen. Der Ansatz beim eigenen Wunsch wird auch für Jesus zur Basis der Moralität. Was ich mir von anderen wünsche, werden sich andere auch von mir wünschen. Also behandele ich andere so, wie auch ich gerne behandelt werde. Gesetze werden so zu Prothesen für die, die ihre Wünsche nicht mehr wissen. Hier liegt das Maß für die Anfertigung von Gesetzen.(Anmerkung) Dieser Maßstab ist der eigene Narzißmus eines Menschen, das Lustprinzip als eines der Unlustvermeidung(Anmerkung): keiner will Schmerz, Hunger, Folter, Gewalt, Demütigung, Vergewaltigung und Bevormundung am eigenen Leib erleben. Also kann er dieses sein Interesse an Achtung der Menschenwürde auch als Wunsch des Anderen annehmen und ihn probeweise bis zum Erweis des Gegenteiles so behandeln, daß auch ihm keine Entwürdigung widerfährt. Die vitalsten Interessen der Einzelwesen in der Schicksalsgemeinschaft der Menschen sind universalisierbar; keine Frage, daß ein universaler Konsens aller Menschen besteht, daß keiner gefoltert, keiner getötet, vergewaltigt oder verhungern gelassen werden sollte. Die goldene Regel ist unmittelbar evident und zugkräftig als generatives Prinzip aller Moralität überhaupt.(Anmerkung)

    Das erste Problem ist dabei die gesellschaftliche Deformation des Wünschens, des Begehrens und die daraus resultierende Verblendung über die wahren Bedürfnisse und die, welche aus dem Verzicht kompensatorisch anstelle der ursprünglichen Bedürfnisse getreten sind, bis hin zur Perversion. Das zweite Problem sind jene, die lautstark Menschenrechte im Mund führen, klammheimlich aber ihre Mafiosi und Geheimdienste zu Konterrevolutionen ansetzen und mit großer Ruhe über Leichen gehen. Jesus hat gegen Heuchler einen tiefen Haß gehegt. Kein Wunder, daß sie ihn haben liquidieren lassen.

    Goldene Regel und Nächstenliebegebot sind auf die Weisheit des Organismus gegründet, der weiß, was er will. Weiß er das nicht mehr, weil Familie, Haus und Hof ihn verrückt haben aus seiner narzißtischen Spontaneität, muß er sich aus gebotenem Abstand - und seien es 40 Wüstentage - regenerieren. Das Leben der Wanderradikalen bot dazu eine Möglichkeit: Jesus berief Menschen aus den Verstrickungen ihres Alltages heraus in die Nachfolge, in das Wanderleben, in ein Leben, in dem alles, was kommt, unvorhersehbar und abenteuerlich ist wie der Dieb in der Nacht.(Anmerkung) Die Schubladen der Familie verlieren ihre Gültigkeit und die Jünger sind gezwungen, hinzusehen auf das, was sie vor Auge, Nase und Händen erleben: das Offensichtliche und Naheliegendste. Sie werden wieder fühlig, fähig zur Mystik, in der die Wand zwischen Mensch und Transzendenz, genauer: zwischen Bewußtsein und Unbewußtem, einreißt.(Anmerkung) Dann bricht eruptiv, mit visionärer Macht, das Unbewußte als Macht und Kraft Gottes wieder hervor und dieser Geist führt in die Wahrheit über die Herrlichkeit Gottes und die Vision einer Gesellschaft, der man seine Vorliebe für die Verlorenen anmerkt.

    Das Motiv des Kleinglaubens, der Blindheit für die Wunder Gottes, durchzieht die Evangelien: Jesus hat hier mit dem Block im Erkennen zu tun, der in Freuds Terminologie Widerstand heißt: Abwehr bedrohlicher Wahrnehmungen durch Derealisation, Entwirklichung, zum Schutz des Selbstsystems. Seine - etwas verärgerte - Art, über die Blindheit der Jünger zu meckern, ist weit entfernt von der ewigen gleichschwebenden Geduld des klassischen Analytikers und seiner programmatischen Dauerakzeptanz. Aber Jesus arbeitet mit den Grenzen der Wahrnehmung, die er als Grenzen des Glaubens, als Horizontweitung des Für-Möglich-Gehaltenen betrachtet. Spießigkeit und Kleinglauben bestehen darin, nur das für möglich zu halten, was man allgemein als wirklich konstatiert hat; alles andere ist eben schlechterdings unmöglich. Gerade das zu bestreiten durch seine Wundertaten und wunderbaren Gleichnisse, ist Jesus ausgezogen. Die Arbeit am Widerstand ist genau das: dem Patienten die Augen öffnen, daß es noch viel mehr gibt, als er jetzt sieht; daß es noch viel mehr Wünsche gibt, als er glaubt, zu haben; daß es noch viel mehr Lösungen für seine Sorgen gibt, als seine momentanen, begrenzten, neurotischen Spielregeln ihm erlauben. Wenn das Unsichtbare der göttlichen Transzendenz Gestalt gewinnt, ist dies ein Schöpfungsakt des Ubw. Ob in Heilungswundern, in großen Sättigungsfesten und ihren geronnenen Formen als Sakrament: Jesu Lebenspraxis, urchristliche Kultpraxis und gestalttherapeutische Praxis rekurrieren auf die Weisheit des Organismus, der satt werden will und Liebe sucht, und erfinden spontan aus der Not der Gegenwart die Gestalten der Heilung, der Wunscherfüllung, des Glücks, einer Liebe, die mehr will als mal eben etwas oder immer nur Sex und sonst gar nichts.

    Nächstenliebe nach dem Maß der Selbstliebe macht Selbstliebe notwendig.(Anmerkung) Jesus besteht - allen Sprüchen vom Kreuztragen zum Trotz - auf dem basalen Akt der Selbstliebe. Er erkennt den Zusammenhang und die Übertragungslogik von Selbst und Anderem, die Verschränkung der inneren Objekte mit den Äußeren, die Konversion von autoaggressiver Demut in beißende Hochmut, die lediglich kaschiert ist beim jüdischen oder christlichen Normalverbraucher. Er will keine Heuchelei, sondern gradlinige, klare Gefühle. Weil eine vom Selbsthaß getragene Nächstenliebe nur Selbstunterdrückung ist und keine andere Triebquelle anzapfen kann als die heimliche Verachtung dessen, dem man mit seiner Hilfsaktion nur demonstriert, wie armselig er doch ist, darum ist Nächstenliebe nur tragfähig, dauerhaft und emanzipatorisch den Anderen in seine Freiheit führend, wenn aus dem Reservoir der eigenen Libido, der eigenen Freiheit, des eigenen Glücks geschöpft werden kann. Und ich sage dazu: wenn aus Gott geschöpft wird. Nur darum steht das Gebot, Gott zu lieben als gleichbedeutend neben dem der Nächstenliebe in Mt 22,37-40par Lk 10,27.

    Luther und seine zwanghaften Orthodoxie-Jünger haben die Bergpredigt aus unerfüllbares Gesetz zur Überführung der eigenen Sündhaftigkeit angesehen.(Anmerkung) Der usus elenchticus legis soll zerknirschen und nach der contritio über die eigene Unzulänglichkeit die Gnade des sündenvergebenden Gottes erst so recht im Lichte seiner Herrlichkeit erscheinen lassen.(Anmerkung) Als Glanzverstärker des Evangeliums zeigt die verteufelte Bergpredigt, wie man eben nicht leben kann; mit seinem Leben hat Jesus den Weltrekord in Menschlichkeit unüberbietbar gebrochen und deprimiert alle potentiellen Nacheiferer eines besseren Lebens, womit nach Luther Jesu Leben bestenfalls noch als repressive Norm taugt, im usus civilis oder coercendi das Böse in Schranken zu halten. Der Teufelskreis von überzogener Forderung, Versagen, Schuldgefühl, verdrängter Wut und Widerstand führt dazu, daß die inneren Kräfte die Gesetze zugleich hassen und glorifizieren. Luther verarbeitet damit die Ungleichzeitigkeit und Diastase von Wanderradikalismus Jesu und fürsten- oder papsthörigem Kirchenbeamtentum des Mittelalters, die auch heute noch so gilt: Die Kirche, wie sie ist, kann nicht wie Jesus leben, obwohl sie sich legitimiert als Gemeinde derer, die ihm nachfolgen. Man kann heute so leben wie Jesus: viele leben wohnungslos auf die Gunst der Sozialamtsangestellten angewiesen, als Säufer, wenn auch nicht bei Finanzbeamten zu Gast. Man kann auch als Pfarrer leben, dann lebt man aber nicht wie Jesus. Kirche und Jesusbewegung sind prinzipiell unvereinbar, das hat der usus elenchticus schmerzlich festgehalten: Angesichts des Lebens Jesu kann ein Mann der Kirche immer nur konstatieren: es geht nicht. Es ficht ihn an. Die Rechtfertigung der Sünder, die an der Rigidität für sie konstitutionell zu hoch gesetzter Normen scheitern, funktioniert als Unterwerfung. Die völlige Selbstentehrung in der Buße wird zur proskynetischen Prämisse der Akzeptanz durch Gott via Absolution durch den Priester. Das Muster des kriechenden Lakaien vor des Königs Thron bestimmt den Weg zum Heil; Gehorsam wird zum Heilsweg schlechthin und der Buckel des Frommen Insignium seiner Chancen auf einen Platz im Himmel. Auf Erden das herabgesunkene himmlische Jerusalem zu gestalten, sich eine mit den Kinderwünschen vereinbare und den Heiden ins Herz geschriebene gute Ordnung zu setzen und auszuhandeln, auszuprobieren, ist nicht das Ziel des depressiven Mönches Luther.(Anmerkung)

    Für die therapeutische Praxis gerade mit Depressiven, mit Über-Ich-Patienten, ist gegen die autoaggressiven Stimmen der verinnerlichten Feinde - meist inkorporierte Familienmitglieder - die Entwicklung von Selbstachtung und Freude am eigenen Leib, der eigenen Person und den eigenen Kräften, Fähigkeiten und Neigungen konstitutiv. Auch hier ist Jesu rigide Herauslösung aus der Familie stimmig, selbst wenn es heute Sanatorien als therapeutische Kommunitäten sind und keine Wanderradikalen, die heute als Berber oder Penner kaum die Kraft haben, der Familie eine Alternative entgegenzusetzen. Der Hippyrest fährt in umgebauten Altbussen und Campingmobilen von Stadt zu Stadt und hier gibt es in der Tat ein Potential, was zur Familie lebbare und traumhafte Alternativen herausexperimentiert.(Anmerkung)

    Wenn Jesus aus der Verstrickung der Familie herauslöst, bildet er zugleich ein neues Kollektiv als Lebensbasis: Jüngerkreis, Ortsgemeinden, Weltkirche, Klostergemeinschaften als Innovationsträger der Kirche sind frühe Form von Selbsthilfegruppen mit dem Grundsatz des exchange helping und exchange learning, herrschaftsfreier Bruderschaft.(Anmerkung) Therapiegruppen, Kibbuzim sollten ebenso Lebensgemeinschaften sein. Im Zuge der Kommuneprojekte der Protestbewegung von 1968 haben Perls und Petzold ihr Gespür für den social body entwickeln können. Für viele Menschen kann Therapie nur wirken, wenn sie aus ihrem Milieu herauskommen, ob Fixer oder Sekten- und Kirchengeschädigte; Milieudruck hat massive Mächtigkeit gegenüber einem Individuum.

    Angesichts der bundesdeutschen Beschwörung der Familie als Keimzelle der Gesellschaft haben die Kirchen ihr Reservoir in der frühen Übertragung von Praxisfiguren durch die Eltern erkannt und von Taufelternschulung bis Krabbelgruppe und Elternnachmittage im Kindergarten das Punktziel Primärsozialisation ins Visier genommen; deren Verkündigung prägt solider als die sporadischen Berührungen mit dem Täufer, Konfirmator, Trauer und Beerdiger - von der Sexbeichte der Katholiken abgesehen, die massiven Seeleneinfluß hat. Die beste missionarische Gelegenheit ist die abergläubige Antwort auf kluge Kinderfragen vorm Gute-Nacht-Kuß: hier wird der allmächtige Kontrollgott mit Rauschebart, Himmel und Hölle verkauft, um die Kinder vom Mopsen und Naschen abzuhalten.

    Daß auch heute die Familie ein antichristliches Übel sein kann, erscheint den Kirchenoberen unmöglich, obwohl sie teils zölibatär oder monastisch auf der Suche nach Alternativen stecken geblieben sind in einer muffigen Ehe- und Sexlosigkeit. Jesus predigte keine Sexaskese oder Eremitage, sondern eine Gemeinschaft, in der auf der Basis der Selbstliebe mit gegenseitiger Empathie und Sympathie ohne Rangordnung gemeinsam die Welt durchwandert wurde mit der Botschaft von der Güte Gottes und Kostproben von dieser Güte, deren Vollendung die Zukunft bringen sollte.

    Besondere Kostproben bildeten die Gastmahle Jesu und der Apostel als Ort der Begegnung. Sie waren ja angewiesen auf die Gastfreundschaft der Fremde gegenüber den Wanderradikalen. Zugleich bildeten diese Feste einen Ort des Austausches der Traditionen.(Anmerkung) Hier fand durch Wandermissionare die Übergabe der Gerüchte und Stories über Jesus statt, hier verzweigten sich die Überlieferungen in regional verschieden gefärbte und gewichtete Verästelungen. Hier wurden in späterer Zeit aber auch die diversifizierten Traditionsstränge neu miteinander konfrontiert und verknüpft, harmonisiert, kanonisiert.(Anmerkung) Das Gastmahl ist der ideale Ort des Synkretismus, weil man hier zusammen trinkt und im betrunkenen Zustand weniger Abwehr gegen das Neue, Fremde hat.

    Das Gastmahl ist säkulare Form der alten Opfergemeinschaft, in der ein Tier, beim altiranischen Rinderopfer, bei Mithras, Demeter und Dionysos, auch bei Baal Repräsentant der Gottheit selbst, getötet und von allen gegessen eine divinisierende Verbindung mit dem Gott und untereinander schuf. Der induzierte Rausch gehörte zu dieser Kollektivdivinisation konstitutiv dazu. Das Feiern des Passah, des nomadischen Lammopfers vorm Weidewechsel mit Blutstreichung zwecks Herdenschutz vor bösen Geistern und Krankheit(Anmerkung) vereinigte den Clan. Die Exodustradition fügte dem Motiv Aufbruch ins neue Weidegebiet neben Milch und Honig die Befreiung aus Fronsklaverei hinzu, unter der Knute der Römer ein messianisch brisantes Fest. Verhindert das Schächten den Genuß von Blut als Saft der Lebenskraft, so bedeutet die Einsetzung des Weines als Blut Christi ein Affront gegen Gen 9,4, gegen das Monopol Jahwes auf alles Blut, auf alles Leben.

    Es besteht eine völlige Inkompatibilität der Vergebungspraxis Jesu im neuen Leben der Wanderradikalen mit der justifikatorischen Verrechnungsscheck-Ideologie der inquisitorisch-purgatorischen, Sühnopfer propagierenden und zelebrierenden Kirche und ihrer beamtenrechtlich besoldeten Hauptfunktionäre. Das Beicht- und Bußsakrament hat nichts mehr mit dem Hilfeschrei der Mühseligen und Beladenen zu tun, die zu Jesus kamen. Vergebung ist eben gerade nicht die Wiedereingliederung der Verworfenen in die verwerfende Gesellschaft, keine Reintegration, sondern die Erfindung eines Lebens am Rande der Gesellschaft, im Stande des Ausgegrenztseins und -bleibens. Das Neue Sein ist nicht das Alte Sein, die Konformität mit den Zielen Arbeitsfähigkeit, Produktivität und Genußfähigkeit zwecks Produktivitätszugewinn. Vergebung ist das Draußenbleiben mit dem stolzen Bewußtsein, daß es noch allemale die Frage ist, wer draußen und wer drinnen ist (Mt 25). Eine Therapie, die der Sendung Jesu zu den Verlorenen in ihrer Ausrichtung folgen wollte, muß sich vom freudschen Programm der Arbeits- und Genußfähigkeitsrestitution gründlich verabschieden. Damit riskiert sie natürlich ihre Anerkennung bei den Krankenkassen, mit der es sowieso nie weit her war. Aber das neue Sein gilt es dann mit jedem einzelnen hilfesuchenden Menschen mutuell zu ergründen und zu entwerfen und der Tenor liegt kaum darin, daß er sich ändern muß und umdenken muß, sondern darin, daß er vor Gott und vor dem Therapeuten so bleiben darf, wie er ist, damit er werden kann, wie er will und wünscht und wie es der seinem innersten Begehren entsprechende stillende Nippel Gottes will und wünscht. Die Vorbedingung der inneren Integration von Wunsch und Wille, Unbewußtem und Bewußtsein, ist der völlige Verzicht auf äußere Integration in eine pathogene Gesellschaft. Im Neuen Sein darf man total komisch und absonderlich sein. Alles ist erlaubt. Man muß prüfen, was einem nützt, was die eigene Gesundheit befördert, die Entsprechung von Wunsch und Wille, das es-gemäße Ich. Jesus hat nie gesagt: "Ich habe dir geholfen." Er sagte: "Dein Glaube hat dir geholfen." Daß unter der Akzeptanz des Gegebenen und dem Druck der Leidensverhältnisse Gott wirkt, indem er Einstellungen in uns verändert, ist auch für Jesus ein Wunder, therapeutischer Machbarkeit gänzlich entzogen.(Anmerkung)

    2.3.9.6 Entscheidung für ein neues Leben

    Jesus hat Gott wandelbar gedacht. Er sagt nicht immer das Selbe. Gottes Sein selbst ist im Werden.(Anmerkung) Nur darum konnte Jesus der Tora die Antithesen der Bergpredigt/Feldrede entgegensetzen, das Wort Gottes revidieren und seine Geschichte fortschreiben mit einer auf der Tora fußenden erneuerten Ordnung des Seins vor Gott als einem Sein in der Liebe. Nachfolge bedarf der Entscheidung.(Anmerkung) Nachfolge in der Randgruppe der Wanderradikalen war keine Lämmerschwänzchenerhebung für höhere Priestertöchter, die sich mit biederem Schikimickitum hätte vereinbaren lassen. Darum steht am Anfang der Nachfolge der von Bultmann so geliebte Ruf, der, anders als in Heideggers Schwarzwaldhütte, kein Almjodler war. Wo immer alte Spiele, Hüte und Hütten aufgegeben werden, steht eine Entscheidung an, scheiden sich Geister und Holzwege, Abwege und Auswege. Haus und Hof verlassen ist ein Sprung ins kalte Wasser.(Anmerkung) Es gehört sehr viel Mut dazu, sich auf den Abweg der Wanderradikalen einzulassen - auch noch für die, die all ihr Hab und Gut durch die Ausbeutung der Römer verloren haben. Gerade der reiche Jüngling zeigt, daß die Entscheidung besonders für die Gutsituierten, die zum Gastmahl wegen Kaufs eines Ackers eben nicht kommen können, für die ewig Verhinderten und Termingestreßten mit ihren spätantiken Mobiltelefonen unmöglich ist. Sie haben zu viel zu verlieren, darum können sie sich nicht für Jesu Leben von der Hand in den Mund entscheiden.(Anmerkung) Es handelt sich um den Selbstausschluß der Reichen vom Gastmahl Gottes.

    Die schönsten deutschen Entscheidungstheologen haben aufgrund ihrer politischen Kraft zum freien Gehorsam gegen das Naziregime solche Entscheidungshürden nie nehmen müssen; ohne Eigenerfahrung von Flucht und Vertreibung läßt sich sehr gut über Anrufverstehen reden. Wer den Ruf von oben willig annimmt, für den ist Jesu Ruf in die Nachfolge der Marschbefehl und Entscheidung zum neuen Sein Gehorsam gegen den neuen Diktator. So sehr dies im Munde gutbesoldeter Theologen nach Schattenboxen(Anmerkung) klingt: das Wagnis des Glaubens ist für den reichen Jüngling zu groß.(Anmerkung) Wer zuviel hat, zuviel zu verlieren hat, kann nicht an den Gott Jesu glauben. Er ist nicht frei, sich zu entscheiden, er kann sich nicht entscheiden. Diese Möglichkeit wird meist vergessen bei allem Gerede von Indikativ des Zuspruchs der Gnade und Imperativ des Anspruchs der Pflicht. Diese paramilitärischen Floskeln sind in der gesamten 'dialektischen Theologie' eine Zumutung. Neuerdings, nach dem großen Krieg, werden sie im Zuge der Verwandlung der Welt vom Kommandoton in die universale Werbungsideologie übersetzt und freundlich und adrett tritt die normalerweise keineswegs unwiderstehliche Einladung(Anmerkung) nach dem Vorbild des emsig Gemeindeaufbau betreibenden protestantischen Gemeindepfarrers anstelle der zwingenden Bitte, der ohnehin heute keiner mehr folgt.(Anmerkung)

    Eine der abgedroschensten pfäffischen Doktrinen ist die von der täglich neuen Entscheidung für Christus. Sie verkennt, daß Jesus nicht täglich gesagt hat: Folge mir nach! Entscheidungen haben ihren kairos. Sie können versäumt werden und sind dann passé. Für eine attraktive Frau entscheidet mann sich auch nicht täglich neu; der Fund nimmt dem Finder die Entscheidung hier ab. Wer permanent von sie Neu-Entscheiden redet, vernebelt gewöhnlich nur, daß er keine Wahl hat und in der faktischen Vorentschiedenheit seines Alltages den Trott heiligt, indem er ihn auch noch will. Zur Entscheidung gehört also die faktische Offenheit der Situation als lebensgeschichtliche Krise.

    Es gibt auch in der Psychotherapie Situationen, in denen jemand nicht mehr mit Einsicht weiterkommt, sondern sich aktiv für ein neues Verhalten entscheiden muß. Im Gestalttherapieprozeß ist dies nach dem Durchleben des Perlsschen Impass, bei Petzold die Phase der Neuorientierung.(Anmerkung) Auch hier ist die Entscheidung für ein neues Verhalten, eine neue Sicht des eigenen Lebenszusammenhangs und seiner Verflechtungen, mit ungeheuer viel Angst verbunden, mit Abschiedsschmerz von alten Vorlieben und Illusionen, mit Trauerarbeit. Die Entscheidung steht auf dem Zenit lebensgeschichtlicher Krisen und beinhaltet nicht selten die Möglichkeit des Suizid als letztem Ausweg. Entscheidung ist hier keine Briefwahl, sondern die letzte Kraftanstrengung eines vom Sog der Gefühle oder Ereignisse in die Haltlosigkeit Gerissenen.(Anmerkung) Petzolds Kriseninterventionstechnik eruiert neben den Schädigungen der Identität die verbliebenen Potentiale und knüpft mit ihnen ein neues Netzwerk der Identität. Die Gleichnisse Jesu zeigen immer das Rettende, die Kraftquellen des neuen Seins als eines Seins in der Liebe.

    2.3.9.7 Ganzheitlichkeit in radikaler Entsprechung von Wort und Tat

    Jesus war kein Gemeindepfarrer, Organisationsmanager oder Vereinsgründer. Wer mit ihm kam, fühlte sich als Salz der Erde, Senfkorn und Sauerteig im Weltlaib, nicht reine Gemeinde gegenüber der unreinen Restbevölkerung, sondern Ferment, Animator und Impulsgeber mitten unter den Leuten. Genau dort hielt sich Jesus auf: auf den Straßen, in der Öffentlichkeit der Dörfer und nicht in geschützten Zonen esoterischen Sonderdaseins. Die Armen, selbst noch die pneumatisch Minderbemittelten, die Leidtragenden, Sanftmütigen, Gerechtigkeitsdurstigen, Barmherzigen, Reinherzigen, Friedenschaffenden und Verfolgten als die zu preisen, die einmal satt mit Landbesitz das Himmelreich mit Gottesschau haben werden, darin liegt nicht etwa Jammertaltrost, sondern eine grandiose Gottesnähe der Armen und Elenden, die Jesus erlebt hat.(Anmerkung) Sie haben so gelebt, wie sie selig gepriesen wurden, Jesus und die Jünger.(Anmerkung)

    Der Radikalismus der Jesusbewegung ist ein doppelter: die Tora wird da verschärft, wo es ihre Wurzel, die Liebe, drängt; die Gnade Gottes wird nicht mehr den Gerechten vorbehalten, sondern einseitig-provokativ in Sonderheit den Sündern angeboten.(Anmerkung) Entritualisierung, Konkretion auf den jetzt Begegnenden, Prinzipienlosigkeit unkasuistischer Nächstenliebe kennzeichnen die Toraverschärfung.(Anmerkung) Vor einer radikal genommenen Tora ist keiner gerecht, sind alle Versager und nicht nur die, denen die Einhaltung der strengen Regeln schon ökonomisch gar nicht möglich ist. Damit dient die Toraverschärfung nicht einem forcierten Über-Ich-Drill der Sünder, die eh chancenlos gegenüber der Fülle der Toraweisungen stehen, die sie oft kaum kennen, sondern der Entlarvung der Selbstgerechtigkeit des bürgerlichen Judentums mit seinen exklusiven Ressentiments gegenüber dem Pöbel, mit dem Jesus lebt.(Anmerkung) Entscheidung zum Austritt aus dem normalen Absurren der kleinen bequemen Kompromisse und neurotischen Verquickungen verlangte das Leben mit Jesus zweifellos, darin spätjüdischem Radikalismus von Qumran in der Stringenz sehr ähnlich, wenn auch mit größerer Freiheit.(Anmerkung) Man kann nicht ein bißchen nachfolgen, sondern nur ganz oder gar nicht; aber Nachfolge ist keine Selbstkasteiung mit harter Zuchtmeisterei, sondern Ausbruch in die Freiheit der Kinder Gottes unter einem Himmel, der über allen aufgeht. Klarheit und Entsprechung von Tun und Denken, Wünschen und Wollen, zeigen Jesu Leben als geschlossene Gestalt.

    2.3.9.8 Zeit als Geschenk: Jesu Hier- und Jetzt

    Jesus gibt Zeit, eine neue Zeit, in der die Gegenwart zählt. Er öffnet die Gegenwart zur Freiheit der Entscheidung. Er öffnet die Möglichkeiten für ein neues Sein.(Anmerkung) Es gibt zwei Zeiten für Jesus: seine Gegenwart im Vertrauen auf Gott, der alles Nötige gibt, und die Zukunft Gottes, in der es heiß her geht mit Heulen, Zähneklappern und Jubilieren. Jesu Handeln steht unter diesem Doppelaspekt von Apokalyptik der Endzeit und einer mystischen Zeit, in der nur und ganz und gar das Hier und Jetzt zählt, in dem die Chancen der Stunde (kairos), der Situation ergriffen oder verfehlt werden können. Jesus hat beide Perspektiven vertreten und nicht gegeneinander ausgespielt oder zum Paradox gemacht, sondern multiperspektivisch oszillieren können, ohne bei einer präsentischen Eschatologie schon erfüllter Endzeit anzukommen.

    Die Schweitzersche Interimsethik ist gerade nicht an der Gegenwart orientiert, sondern sieht in Jesus den Apokalyptiker, der nur aus der Naherwartung heraus sein Verhalten motiviert und die Entbehrungen und Leiden kompensieren kann durch den Blick nach vorn, aufs Reich der Himmel. Diese Entbehrungen und Leiden sind aber ganz und gar aus der Gegenwart der Verarmung und Vertreibung zu verstehen als Überlebenslist der Wanderradikalen im unruhigen Judäa, waren völlig Gebot der Stunde und nicht das des bevorstehenden Gerichts. Fuchs hat das Zeitverständnis Jesu als eine Offenbarung der Nähe Gottes zu den Sündern in der Verwandlung der Gegenwart durch das verführende Wort von der Gottesherrschaft beschrieben. Gott wirkt, in dem er in uns Einstellungen bewirkt und verändert. In seinen Gleichnissen versetzt Jesus seine Hörer in ein neues Sein hinein. Das ist das Wunder des Glaubens als eines veränderten Blicks auf Welt und Ich: In uns ist Gott uns zugute bereits am Werke, indem wir uns von der Perspektive der Parabeln seiner zuvorkommenden Güte verführen lassen zur Vorannahme einer in gütigen Vaterhänden aufgehobenen Welt, allem Leid zum Trotz.(Anmerkung)

    2.3.9.9 Das fleischgewordene Wort und die Leiblichkeit der Menschen

    Jesus hat sich den Kranken als Heiler ausgeliefert und sich berühren lassen. Körperlich. Das war das Entscheidende seiner »Technik«: die Begegnung. Bei Freud und vielen Schulen danach ist wiederum ein Ritual zwischen die Menschen getreten, als Flucht des Therapeuten vor der ansteckenden Sinnlosigkeit, Traurigkeit und Lähmung des Patienten, durch den er sein Brot verdient. Das Heil liegt nicht im gekonnten Ritual der Gestalttherapie, sondern in den kleinen Fetzen von diesem so seltenen und so begehrten Gefühl, vom anderen gesehen und geachtet zu werden. Das konnte Jesus geben und nehmen und darin lag das, was die Lähmung löste.

    Man darf von den Gastmahlen opulente Dimensionen annehmen, waren doch Symposien der hellenistischen Antike meist mit dem Thema Liebe geziert. Angesichts all der Wort-Theologie, der Sprachereignisse über Anspruch und Zuspruch, angesichts der eskamotierten Leiblichkeit der existentialen Interpreten und ihrer aufs Wort zentrierten Seinsmächtigkeit sei hier die Erinnerung beansprucht, daß Jesus ein Säufer war, der dem Wein, seinem Blut, gut zugesprochen hat mit dem Anspruch: so, hier, jetzt ist Gott bei uns. Das schmeckt den akademischen Abstinenzlern nicht. Wenn uns an Jesus etwas ärgert, versuchen wir es zu interpretieren und damit zu entschärfen. Was aber, wenn Jesus wirklich gerne Wein 'gesoffen' hat? Der Sohn Gottes - Alkoholiker? Im Fritz-Perls-Institut wäre er als Therapeut herausgeworfen worden. In der Kirche wäre ihm eine Entziehungskur angeboten worden. Immerhin: das 'Fressen' ist erlaubt. Bei Luthers Gastmahlen war das Rülpsen und Pfurzen nachgerade geboten.

    Jesus hat sich berühren lassen, von Reinen und Unreinen, Kranken.(Anmerkung) Er hat damit seine eigene Reinheit nur deshalb nicht riskiert, weil für ihn das wahrhaft Ansteckende und Ungesunde aus den finsteren Gehässigkeiten des Tratsches und Geredes kommt, nicht durch Berührung mit Tod, Krankheit, Menstruationsblut. Man wird durch Kontakt nicht unrein, sondern das Unreine wird rein. Von einer Prostituierten läßt er sich die Füße salben und massieren und man weiß nicht genau, ob es bei den Füßen blieb. Jesus hat sich küssen lassen. Auch von Judas. Und er hat sich den Berührungen ausgesetzt, die den Tod durch Ersticken zur Folge hatten: das Durchbohren der Handwurzeln oder Unterarme und Fersenbeine mit ca. 11,5 cm langen Eisennägeln am Kreuz.(Anmerkung) Und Jesus hat auch berührt. Die Kinder liebkoste er, den Kranken legte er seine Hände auf, schmierte Spucke in Augen, nahm ihre Hände und richtete sie auf.(Anmerkung) Er hat gerne geküßt.(Anmerkung) Den Jüngern hat er die Füße gewaschen. Die Geldwechsler und Opfertierhändler im Tempelbereich griff er tätlich an.(Anmerkung)

    2.3.9.10 Das Sprachereignis als Hoffnungsphantasie

    Glauben und Leiden aktiviert das Wünschen unterm Entzug des Glücks.(Anmerkung) Die Kategorie Möglichkeit wird da zentral, wo die Wirklichkeit unerträglich geworden ist, den Menschen in Krise und Krankheit treibt, therapiebedürftig macht. Phantasiereisen sind psychotherapeutisches Medium zur Exploration der verborgenen Wünsche, öffnen die Schwelle zum Unbewußten und damit - so behaupte ich - zu Gott selbst. Genau diese Funktion hatten die Gleichnisse Jesu von Gottes neuer Welt, sie sind Narrationen, die eine Bewußtseinsschwelle überschreiten, eine Realitätszensur deaktivieren und so eine Veränderung der Situation im Sinne des experimentellen Spieles mit möglichen Szenen herbeiführen. So wird in den Probeszenen der Gleichnisse der Bann der Alltagszwänge außer Kraft gesetzt, genau wie in der monodramatischen oder psychodramatischen Arbeit in der Therapie Hoffnung aufgerichtet wird durch das Ausprobieren neuer Möglichkeiten des Verhaltens und Erlebens, durch Sprachereignisse.

    Das Wünschen kommt aber nicht nur aus der Not, sondern auch angesichts von Überfluß und Reichtum(Anmerkung) - wobei die Attraktivität von Frauen eben aus solchen Signalen besteht: die scharfe Brust verspricht dem Baby im Manne reichlich Milch und einen gut saugbaren Nippel.(Anmerkung) Sieht sich der Gestalttherapeut als sein bestes Instrument, als seismografische Therapiemaschine(Anmerkung), so versteht sich Jesus quasi auch als Instrument der Liebe Gottes, ist Vorbild in einer zweiten Naivität des Glaubens, der überall Gottes Überfluß sieht, in aller Armut. Darum ist tatsächlich alles erlaubt in der Freiheit Jesu. Er nimmt sich Freiheiten heraus und sagt, dem Glaubenden sei alles möglich, er partizipiert an Gottes Fülle. Sicher nimmt sich der Psychoanalytiker in seinen neurotischen Analyse-Spielen vor allem nicht die Freiheit der Berührungen, innerlich und äußerlich, und züchtet Inzesttabus und mechanisierte rituelle Erinnerung des gewünschten Verdrängten. Perls hat sich dagegen verwahrt und seine Person ins Spiel der Therapie gebracht, genau das tat auch Jesus. Seine Unbekümmertheit könnte die Vorbildfunktion haben, die bei Freud jeder Therapeut automatisch hat.(Anmerkung) Die Fülle der Freiheit Jesu und sein Urvertrauen auf den bewahrenden, gütigen, in vielen Menschen waltenden Gott ist ansteckend, provokativ und verführt die, die es sehen, zum Schlemmen, Ährenraufen am Sabbat und Leben ohne Angst in oder vor der Welt. Jesus macht Kranke weltlich und weltoffen, weil überall in der Welt die Güte Gottes zum Vorschein kommt. Mimesis seiner Praxisfiguren, Nachfolge in seinem Verhalten setzt das Reich Gottes in Szene, so wie er beansprucht, daß es mit ihm über seine Gleichnisse anhebt.(Anmerkung)

    Sprachereignis meint bei Fuchs die Seinsveränderung, die ein gesprochenes Wort beim Hörer hervorrufen kann.(Anmerkung) Das Senfkorngleichnis etwa kontrastiert Unscheinbarkeit des Samens und wunderbare Größe des Baums: »Gerade der allerkleinste Same - als Glaube - entspricht dem Allergrößten - der basileia.«(Anmerkung) Makrokosmos und Mikrokosmos korrelieren, das All Gottes ist âtmân-mäßig inwendig in der Seele. Jesus schließt sich im Gleichnis mit seinen Zuhörern zusammen, vertraut darauf, daß sie Frucht bringen und die Szenen der Gleichnisse in ihnen auferstehen zu lebendigen Praxisfiguren eines veränderten Miteinander, welches eben nicht geboten ist, sondern lediglich erzählt - und darin die Freiheit läßt, mögliche Geschichte zu werden.(Anmerkung) Die Wahrheit des Gleichnisses, die Wahrheit der Hoffnung, die Wirklichkeit der basileia ist angewiesen auf die Aufnahme dieser Phantasien unter den Zuhörern, auf ihren Glauben, auf ihr Mittun.(Anmerkung)

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