Standorte:
Acht Jahre leben die Perls inzwischen mit Tochter Renate und Sohn Stephan in Johannesburg, als das erste Werk von Fritz in Durban 1942 erscheint, wo die Perls oft ihre wundervollen Sommerurlaube verbringen.(1) Beide arbeiten psychoanalytisch in eigenen Praxen. Fritz hat das »South African Institute for Psychoanalysis« schon am Anfang seiner Zeit in Johannesburg gegründet.(2) Marie Bonaparte, eine angesehene Schülerin und Freundin Freuds, führende Analytikerin in Kapstadt, bekommt ein Exemplar von »Ego, Hunger and Aggression« zu lesen und antwortet: »Dr. Perls, wenn Sie nicht mehr an die Libido-Theorie glauben, reichen Sie doch besser Ihre Austrittserklärung ein.«(3) Perls tritt nicht aus dem von ihm gegründeten »South African Institute for Psychoanalysis« aus, läßt aber diese Kontakte langsam im Sande verlaufen. Seine Abnabelung von der Freud-Orthodoxie wird durch diese schockierende Erfahrung von wissenschaftlich geriertem Dogmatismus bestärkt.(4) Als Hitlers Rommel-Corps durch Nordafrika zieht, nimmt es eine südafrikanische Division in Tobruck gefangen. Perls meldet sich darauf freiwillig als Arzt für die südafrikanische Armee, um den Kampf gegen Hitler mit seinen Mitteln weiterzuführen. Zunächst wird sein medizinischer Doktortitel nicht anerkannt, und er fällt durch eine Nachprüfung. Als Südafrika eine vorübergehende Anerkennung aller im Ausland erworbenen Titel im Militär bis zum Kriegsende ausspricht, wird Perls dann doch noch Sanitätsoffizier und arbeitet von 1942 - 1946 im 134. Militärhospital als Psychiater.(5) »Die Patienten waren natürlich nach Rassen getrennt. Nach der Apartheid 1946 nahm die Trennung von Schwarzen und Weißen zu, aber glaubt bloß nicht, daß unter dem liberaleren Regime von Jan Smuts auch nur ein Hauch von Gleichheit bestand. Die Weißen wurden als Europäer und die Schwarzen als Eingeborene bezeichnet. Ein Eingeborener durfte nicht im selben Haus mit einem Europäer schlafen, oder die selbe Toilette benutzen. Sie hatten getrennte Busse und getrennte Stadtteile.«(6) Perls stellt bei den meisten eingelieferten Schwarzen eine eher schizophrene Phobieform fest, die er bei Medizinmännern im Heimatstamm mit bestem Erfolg heilen läßt. Engländer leiden unter Charakterneurosen, Juden unter Hysterie, Buren unter zwanghaftem Verhalten.(7)
Ein erster markanter Therapieerfolg verhilft ihm zu Anerkennung, als er einen ehemaligen KZ-Häftling aus Deutschland, dessen flächendeckende Hämatome keine somatische Ursache hatten, an die Verzweiflungserfahrung im Konzentrationslager zurückführt, unter Pentothal. »Er weinte sich wirklich die Augen aus... Er erwachte in einem Zustand der Verwirrung und dann erwachte er wirklich und hatte die typische Satori-Erfahrung, vollkommen und frei in der Welt zu sein. Schließlich ließ er das Konzentrationslager hinter sich und war bei uns. Die blauen Flecken verschwanden.«(8) Die Technik des Heranführens an Blockierungen, Ausagieren der Verzweiflung und der Suche nach neuen Verhaltensmustern zur Bewältigung der traumatisch verlaufenen Situation vertieft sich in dieser Zeit in der Arbeit mit psychosomatischen Syndromen.
1948 tritt Jan Christian Smuts als Premierminister der Südafrikanischen Republik zurück, zwei Jahre vor seinem Tod. Er war für viele Intellektuelle in Südafrika letzter Garant von Liberalität in einem immer brutaler eskalierenden Rassismus. Perls war schon 1926 in Frankfurt mit seinem philosophischen Werk »Holism and Evolution« in Berührung gekommen, in dem Darwins Entwicklungstheorie, Einsteins Feldtheorie und die Lebensphilosophie Bergsons eine Verbindung zu einer ökologischen Entwicklungstheorie eingehen: Evolution begreift Smuts als schöpferisches Wechselspiel von Kosmogenese, Phylogenese und individualgeschichtlicher Ontogenese.(9)
Die Focussierung Goldsteins auf den Organismus und seine angrenzende Umgebung erweitert der holistische Ansatz Smuts' um die ökologische Dimension des Lebenszusammenhanges auf dem Planeten Erde. Perls bewundert Smuts(10) und kann sich seinerzeit auf das Exil in Südafrika leicht einlassen, weil er ihn dort amtieren weiß, von 1933 -1939 als Justizminister, dann als Premier. Perls trifft ihn auch persönlich.(11) Unter dem Eindruck des sich verschärfenden Rassismus und nach der Rücknahme seiner Anerkennung als Lehranalytiker als nur in Europa gültiger Ausbildungsberechtigung(12) reift den Perls der Entschluß, Südafrika zu verlassen. Zu diesem Zeitpunkt kommt ihm von Paul Goodman ein Aufsatz in die Hände, der reges Interesse erweckt.(13)
Perls schreibt sich mit Karen Horney, die für ihn die Einwanderungsbürgschaft übernimmt. Der amerikanische Konsul, ein Antisemit, macht Perls die unmittelbare Einreise in die USA unmöglich, sodaß die Perls bei ihrem Weggang aus Südafrika 1946 zunächst 6 Monate nach Montreal gehen und von dort aus nach New York gelangen.(14) Perls ist abgeschreckt von New York, der schwülen Hitze in den Steinschluchten. Er läßt sich in New Haven nieder mit einer Praxis, nicht ohne heftige Angriffe seitens dortiger Kollegen.(15) Fast schon aufgebend mit Rückreisegedanken Richtung Südafrika trifft Perls Erich Fromm, der ihn ermutigt, nach New York zu wechseln und ihm Erfolg garantiert. Und tatsächlich: Perls kann die Praxis seines Kollegen Zifferstein übernehmen, der nach Los Angeles geht. Nach 6 Wochen ist er ausgebucht.(16)
Perls erhält von Clara Thompson das Angebot, in der »Washington Psychiatrist School«, dem »William Alanson White Institute«, als Lehranalytiker zu arbeiten. Bedingung dafür wäre aber eine abermalige Promotion gewesen, für die Perls ein Jahr nach Massachusetts hätte ziehen müssen, eine für ihn inakzeptable Bedingung, zumal er mit Clara Thompson generell über die Frage stritt, wieweit muß sich ein jeder an die Konventionen der Gesellschaft anpassen. Fritz fand die Diplomformalität lächerlich und war mit seinen 50 Jahren nur noch bereit, eine Schule als Lehrer zu betreten.(17) Trotzdem ist die Einbindung in der »Washington Psychiatrist School« für seinen Start in den USA grundlegend. Die Beziehung zu Erich Fromm, Clara Thompson und Karen Horney stützen Fritz und Lore bei ihrer Eingliederung in die amerikanische Psychotherapie-Szene entscheidend. Perls pflegt in New York wieder Kontakte zu Künstlerkreisen.
Wilhelm Reich ist inzwischen über Norwegen auch nach New York gekommen. Eine Begegnung zwischen Perls und ihm verläuft enttäuschend für beide: Weil Reich sein Genie verkannt fühlt, als Perls noch nie etwas von seiner Orgon-Theorie gehört hat, zeigt er sich an der Entwicklung des Gestalt-Ansatzes seinerseits desinteressiert.(18) Die Theorie des Muskelpanzers als Widerstandsform gegen innere oder äußere Bedrohungen wird als Erfahrung unverstellter Offensichtlichkeit von Aussagekraft des Körpers in den Gestalt-Ansatz Perls' übernommen.(19) Es kommt nach dieser Begegnung, in der Fritz von seinem ehemaligen Lehranalytiker in Berlin fast angewiedert ist(20), nicht mehr zu Kontakt mit Reich.(21)
Clara Happel, Schülerin von Hans Sachs und Karen Horney in ihrer Berliner Jugend, Lehranalytikerin beider Perls in Frankfurt 1926 und Mitbegründerin des Psychoanalytischen Instituts in Frankfurt, Mitarbeiterin am Institut für Sozialforschung, emigriert als Jüdin nach Tod von Schwester, Mutter und Mann mit beiden Kindern 1934 in die USA. Das Affidavit von Hans Sachs und Sandor Rado halfen ihr schließlich aus dem Aufnahmelager für unerwünschte Ausländer auf Ellis Island heraus. Im antisemitischen Detroit praktiziert sie einsam als Analytikerin, wird nach Pearl Harbour wie Reich als »enemy alien« vorübergehend festgenommen, wodurch ihr Klientel schrumpft. 1943 siedelt sie zu ihren Kindern nach New York über, tief deprimiert über die Konzentrationslager im Nazireich und die Verfolgung in den USA. 1945 nimmt sie sich das Leben.(22)
Ebenfalls in der New Yorker Anfangszeit zwischen 1947 und 1949 lernt Perls Jakob Moreno kennen, den Begründer des Psychodramas. Von ihm übernimmt Perls die Technik des leeren Stuhls, auf den imaginierte lebensgeschichtlich wichtige Personen gesetzt werden, mit denen der Patient im fingierten Dialog (per Rollentausch) seine oft ausgesprochen realitätstreuen Projektionen und Imagines der konfliktuösen Bezugspersonen und die mit ihnen bestehenden Interaktionsfiguren agiert. Dabei wird die systematische Störung der Bedürfniserfüllung prägnant und deutlich werden. Der Protagonist kann erkennen, wie er selbst zur offenen Gestalt beiträgt, die Erfüllung seines Begehrens verhindert, und in vielen Versuchen ausprobieren, welche Weise der Erfüllung des Begehrens ihm die liebste wäre, noch vor der Hürde der sozialen Durchsetzbarkeit. Auch das Rollenspiel in der Gruppe, Inszenieren von Traumfragmenten und das Monodrama übernimmt Perls von Moreno.(23)
Schließlich taucht als Klient zunächst von Lore, kurz auch von Fritz, Paul Goodman auf. Paul Goodman hatte, bevor er zu den Perls kommt, eine lange Analyse bei Reich absolviert.(24) Goodman verbindet Aristoteles' Hedonismus, den kritischen Pragmatismus von Kant, John Dewey und George Herbert Mead mit Bauhaus und Kropotkins Anarchismus.(25) Damit stimmt er mit Optionen von Perls überein: Vernünftig-kritische Selbstbefreiung des Es von der »self-conquest«, der Selbstkolonialisierung heteronomer »Vernünftelei«. Goodman, 1911 in Greenwich Village, dem Bohéme-Viertel New Yorks geboren, wächst, vernachlässigt von den jüdischen Eltern, bei Schwester und Tanten auf, studiert ab 1931, u. a. bei John Dewey und Georg Herbert Mead, in Chicago Philosophie und promoviert in Literaturwissenschaften. Seine Universitätslehrerlaufbahn an der University of Chicago, an der Manumit School und am Black Mountain College endet abrupt, als er sich 1940 öffentlich für die Anerkennung Homosexueller engagiert und die eigene einbekennt.(26) Er lebt von seiner Schriftstellerei(27) meist ganz bewußt an der Armutsgrenze, engagierte sich gegen Konsumzwang(28) und entwickelt Bürgerinitiativen als Form der politischen Auseinandersetzung.(29) Er ist Anhänger des amerikanischen Bauhauses und sozialphilosophisch von Rousseau, Nietzsche, Kant und vom Interaktionismus Deweys(30) und Meads geprägt. Besonders radikal ist sein Engagement gegen den Wehrdienst.(31) Für die antimilitaristische amerikanische Jugend wird er zum Vorbild.(32) Er gründet im New Yorker Slum der Lower East Side die erste »Free school«.(33) Sein Interesse gilt immer wieder den pragmatischen kleinen Schritten der kleinen Leute, den Randgruppen.(34)
Zwischen den Dreien entwickelt sich ein reger Austausch, der auf das Projekt eines gemeinsamen Buches hinausläuft, was zwischen Herbst 1949 und Frühjahr 1950 entsteht. Es sollte zunächst nur eine Überarbeitung von »Ego, hunger an aggression« sein. Beide(35) Perls tragen mit ihren Erfahrungen, Ideen und dem Manuskript bei, Paul Goodman als reputierter Sozialphilosoph gibt dem Buch als Ausformulierender die sprachliche Prägnanz und systematische Klarheit. Es erscheint 1951 bei Julian Press in New York: »Gestalt Therapy. Excitement and Growth in the Human Personality«. Goodmans eigene Beiträge sind die Kapitel »Menschennatur und Anthropologie der Neurose«, »Verbalisieren und Poesie« und »Der Antisoziale und die Aggression«.(36) Aber auch seine dedizierte Kenntnis von Freud vertieft die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse im Vergleich zu »Ego, hunger and aggression«. Dem Theorieteil ist ein zweiter mit Experimenten und Übungen zur Verbesserung der Eigenleibwahrnehmung (awareness) gegen den Willen der Autoren von Julian Press vorangestellt, für den Ralph Hefferline verantwortlich zeichnet, damals angesehener Ordinarius für Psychologie an der Columbia-Universität, der die Übungen mit seinen Studenten erprobte.(37) Die Wandlung des ursprünglichen Begriffs »Konzentrationstherapie« zu »Gestalttherapie« war heftig unter den Autoren umstritten.(38) Goodman, der sich früher schon mit Gestalttheorie befaßt hatte, schickt das Manuskript vor der Veröffentlichung an Wolfgang Köhler, der die Bezeichnung Gestalttherapie als Mißbrauch der Gestaltpsychologie der Berliner Schule empfindet.(39) Goodman praktiziert zeitweise im New Yorker 'Institute for Gestalt Therapy' selbst als Therapeut, neben seinen unzähligen anderen Aktivitäten. Er sichert mit Lore Perls die Kontinuität des »Ostküstenstils«. Sie hat seinen Tod 1972 mehr betrauert als den ihres Mannes 1969.(40)
Der Theoretik-Teil gliedert sich nach einer abrißartigen Einleitung, zentriert auf das Wachstum des Organismus, in zwei große Blöcke. Der erste setzt sich intensiv mit der Freudschen Theorie auseinander unter dem Thema: »Realität, Menschennatur, Gesellschaft«. Der zweite entwickelt das Modell des assimilierenden Organismus als schöpferische Anpassung des wachsenden Selbst an seine Umgebung, dem gegenüber die neurotische Störung als Schwund von Kontaktfunktionen des Ichs verstanden wird.(41)
Auf dieser Folie der Assimilation des Organismus findet eine Auseinandersetzung mit dem topischen und darin eben nicht dynamisch-interaktiven, sondern mechanisch-atomistischen Menschenmodells von Freud statt. Die dynamische Einheit von Seele und Leib in ihrem Lebensaustausch mit der Außenwelt, die nicht nur Not des Lebens, sondern vor allem Nahrung des Lebens ist, Ressource des Selbst ist, wird von Perls und Goodman hervorgehoben. (S. 37ff) Je nach Art des Kontaktvollzugs wird die Realität verschieden bewertet; als Not ist sie schlecht, als Ressource gut. (S.56ff) Freuds Reifungsidee als Reintegration des verdrängten Kinderlebens wird als Wiederaneignung eigener Ressourcen im Fokus von Wachstum und Integration zu einer vollständigeren Persönlichkeit reflektiert. (S. 80ff) Zum Symptom als verstellendem Bedürfnisausdruck wird das Verbalisieren der Poesie die expressive Alternative der Heilung. (S. 106ff) Im Kapitel »Der Antisoziale und die Aggression« wird Freuds Kulturpessimismus kritisiert. (S. 120ff) Die Lösung des Konflikts Individuum-Gesellschaft durch Retroflexion der Aggression, Freuds »Erziehung zur Realität«, wird als Selbstvergewaltigung, Musterknabenstolz, Skotomisierung des Selbst und Fremdintrojektion kritisiert. (S. 141ff)
Block 2 entwirft eine Theorie des Selbst. Perls/Goodman setzen gegen Freuds fragmentierte Instanzen-Topik (Ich, Es, Über-Ich) das in seinen vitalen Funktionen Es und Ich integrierende, sich aktual entwerfende spontane Selbst. (S.159ff) Die Binnenpersonologie konfligierender Instanzen als rein interne Neuauflage des Konflikts von Ich und Welt übersieht introspektionsfixiert die permanenten Umweltkontakte im Gewahrsein. (S. 173ff) Das mit seiner Welt im Stoffwechsel kommunizierende Selbst, was sich durch Assimilation und Abgrenzung am Leben erhält, ist Grundmodell des gesunden Organismus. Auseinandersetzung mit der äußeren Natur als wechselseitige schöpferische Anpassung wird in den Stadien Vorkontakt (Reizimpuls), Kontaktanbahnung (Begehren) (S. 190ff), Kontaktvollzug (prägnante Begegnung) und Nachkontakt (Diffusion) (S. 207ff) untersucht. Das Ich ist die Funktion, diesen Kontakt zu steuern, um durch fortwährenden Stoffwechsel das Leben als Wachstumsprozeß aufrecht zu erhalten. Neurotische Verdrängung ist Ausschluß aus Bewußtsein, aus dem Verhaltensrepertoire und dem Gefühl. (S. 221ff) Interaktionshemmung führt als Schwund der Ich-Funktionen zu einer Störung des überlebenswichtigen organismischen Stoffwechsels. Neurose ist ein Defekt im mutuellen Wachstum von Selbst und Welt. (S. 240ff)
Perls und Goodman gehen aus von der »Interaktion des Organismus mit seiner Umwelt«.(42) Jede Erfahrung ereignet sich an der Kontaktgrenze zwischen Organismus und Umfeld, dort, wo sensomotorischer Austausch als Wahrnehmung und Verhalten zu der Bewegtheit führt, die als Reiz spürbare Gestalten von Erfahrung freisetzt.(43) Die dem Organismus begegnende Welt nimmt er stets als das Neue wahr. »Kontakt ist primär Wahrnehmung des assimilierbaren Neuen und Bewegung zu ihm hin sowie die Abwehr des unassimilierbaren Neuen.«(44)
Das Verhältnis dieses Kontaktes ist mutuell: »Aller Kontakt ist kreative gegenseitige Anpassung von Organismus und Umwelt... durch schöpferische Anpassung, durch Verwandlung und Wachstum überleben die komplizierten organischen Einheiten in der größeren Einheit des Feldes.«(45) Leben ist begriffen als wechselseitige Begegnung und soziale oder sogar symbiotische Vernetzung von Lebewesen zu größeren Lebensgemeinschaften, die sich gegenseitig die Bedingungen des Überlebens durch ihren Austausch und ihre biologische Vernetztheit sichern können. Jeder Lebensprozeß ist Kontakt und Austausch. Als Assimilation oder Abgrenzung werden Stoffe aus der Umwelt in den Organismus hineingenommen und verwandelt, andere wiederum in die Umwelt ausgeschieden und dritte nicht an den Organismus herangelassen oder wenigstens nicht hinein. Kontakt ist eine Arbeit.(46)
Schöpferische Anpassung ist in 'Gestalttherapie' der zentrale Kernbegriff des Lebensvollzugs: Leben heißt Wachsen. Was bei Freud Reife ist, ist bei Perls Wachstum. Der holistisch-evolutive Begriff der Assimilation verdankt sich in erster Linie Smuts. Die Gestalttheorie focussiert den Prozeß der Kreativität auf eine Problemlösung, die Herstellung einer geschlossenen Situation.(47) Im neurotischen Lösungsversuch werden allerdings Verhaltenspartikel transportiert, die die Wunscherfüllung boykottieren.(48)
Cannons Homöostase-Idee organischer Selbstregulation(49) mag zwar als innerorganismischer Vorgang in Freuds früher Energetik des psychischen Apparats anklingen und im Nirwana-Prinzip gipfeln; sie ist aber nicht als soziale Theorie auf den Kontakt zwischen Individuum und Gesellschaft bezogen. Friedlaenders schöpferische Ich-Reinheit wird als schöpferisches Desinteresse aufgegriffen, als Intention, im eigenen Erleben und nicht in sozialen Introjekten den Ausgang des richtigen Handelns zu suchen.(50)
Unter dem Leitbegriff der Schöpferischen Anpassung werden Spontaneität und Kreativität(51), organi[smi]sche Selbstregulation(52), und die psychoanalytische Theorie des Selbst als Kontaktgrenze zusammengedacht.(53) Smuts Assimilationskonzept scheint der weitestgehende Begriff der holistischen Evolution zu sein, innerhalb dessen die menschliche Existenz gefaßt werden kann.
Zur Gesundheit des wachsenden, assimilierenden Organismus gehört »Aggression und Zerstörung...; nur durch Annäherung, Vereinnahmung und Veränderung alter Strukturen wird Ungleiches gleichgemacht... Eine derartige Zerstörung des Erreichten kann Furcht, Blockierungen und Angst hervorrufen,... wird aber begleitet von der Gewißheit der neuen Schöpfung, die im Handeln zum Leben kommt.«(54) Assimilation bedarf der Aggression und Destruktion; nur so entstehen neue Lebensmöglichkeiten im Stoffwechsel mit der Natur. Hier wird die harte Wahrheit des Neuen kund, daß es auch immer Abschied von Vertrautem und Liebgewonnenem ist. »Die Assimilation des Neuen geschieht im gegenwärtigen Augenblick, während er in die Zukunft hinübergeht.«(55) Nur wo Bewegung und Veränderung stattfindet, ist Wahrnehmung differenzierbar. In einer stillstehenden Homöostase verschwände jeglicher Reiz und so jede sinnliche Wahrnehmung. Assimilation lebt vom Wechsel der Spannung, von homöostatischer Schwankung. »Es gibt keine indifferente, neutrale Realität.«(56)
War noch in »Ego, hunger and aggression« der Organismus die zentrale Kategorie, um die Ganzheit des Menschen zu benennen, so wird als neuer, weiter reichender Begriff für den Menschen der des Selbst eingeführt. »Das Selbst aber ist genaugenommen der Integrator; es ist die synthetische Einheit, wie Kant es nennt. Es ist der Schöpfer des Lebens. Es ist nur ein kleiner Faktor in der gesamten Organismus/Umwelt-Interaktion, aber es spielt die entscheidende Rolle des Finders und Herstellers von Bedeutungen, durch die wir wachsen.«(57) Das Selbst ist die Schöpferkraft des Organismus. Es ist das Zentrum beständiger Metamorphosen der Persönlichkeit.
Perls und Goodman benutzen den Begriff Gestalt oder Figur spärlich: »Diese Figur (oder: Gestalt) der bewußten Wahrnehmung ist klar und lebendig, ob als Vorstellung, Bild oder als Einsicht; motorisch ist sie die anmutige und kraftvolle Bewegung mit Rhythmus, Spannung usw. In jedem Falle sind Bedürfnisse und Energien des Organismus ebenso wie die geeigneten Möglichkeiten der Umwelt in dieser Figur aufgenommen und vereinigt.«(58) Gestalt wird gefaßt in der Trias von intellektueller Wahrnehmung, motilem Verhalten und Gefühl. Im Sinne der Pränanztendenz sprechen Perls und Goodman der Gestalt »spezifische und meßbare Eigenheiten an Leuchtkraft, Klarheit, Geschlossenheit, Faszination, Anmut, Energie, Befreiung usw.« zu.(59) Je prägnanter Vorstellungen, Träume, Phantasien und das zu ihrer Verwirklichung zweckmäßige Verhalten zum Ausdruck kommen, um so unmittelbarer indizieren sie einen lebendigen Austausch mit der Umwelt. Eine »'schwache' Gestalt« dagegen läßt auf Blockierungen der vitalen Bedürfnisse im Weltkontakt des Subjekts schließen, auf Verdrängung.(60)
Kunst und Kinder werden als beste Beispiele für Kreativität und Spiel mit Selbstverwirklichung und Wachstum immer wieder angeführt.(61) Spontaneität als adäquates neues Verhalten ist das Medium Morenos.(62) Das living theatre war der Ort, sich spontan neu zu entwerfen, mit den eigenen Möglichkeiten zu experimentieren.(63) Im Vergleich zu der Einsichtstherapie Freuds und seiner amerikanischen Agenten ist hier aufs Agieren gesetzt, aufs gezielte acting out. »Die kindlichen Gefühle sind von Bedeutung nicht als etwas Vergangenes, dessen man sich entledigen müßte, sondern als einige der schönsten Kräfte im Leben des Erwachsenen, die wiederhergestellt werden müssen: Spontaneität, Phantasie, Unmittelbarkeit im Gewahrsein und im Zugriff auf die Umwelt.«(64)
Eine von der Weisheit des Organismus und seiner selbstregulativen Abarbeitung von Bedürfnisprioritäten abgespaltene, von der gesellschaftlich inszenierten und verwalteten 'Not des Lebens' deformierte Vernunft wird als krankmachende Ursache vieler seelischer Leiden erkannt.(65) Dabei wird die 'Realität' Freuds als System traumatogener gesellschaftlicher Regeln gesehen(66), an die sich anzupassen etwas grundlegend anderes ist als die Anpassung an die Wertehierarchie leiblicher Bedürfnisse.(67) Dort gibt es keine Schuldprobleme, sondern nur die Angemessenheit von Subjekt und Objekt/Außenwelt. Ohne Wut, gemäß Freuds Triebmischung Liebe-Haß, gibt es keine leidenschaftliche Liebe, sondern Affektverlust, Kontaktverlust und Erstarrung des Ichs.(68) Der Tatimpuls zum assimilierenden Zerstören, Vernichten, Verarbeiten, Durcharbeiten ist wesentliche Stoffwechselbasis, schafft Kontakt zur Welt. »Ohne die Aggression stagniert die Liebe und wird kontaktlos, denn Zerstören ist das Mittel der Erneuerung.«(69) Erst Fixierung, Verfestigung, Habitualisierung von Aggression zum Sadismus oder Masochismus haben eine maligne Dynamik, die berechtigtes Unbehagen an der gängelnden US-Plastikkultur und ihrer Drosselung aller Gefühle auf Feindbilder projizieren/extrapolieren.(70) Aggression ist nur 'antisozial', »weil die Gesellschaft gegen Leben und Veränderung (und Liebe) ist«.(71) Angesichts triebfeindlicher Sozialnormen gerät jede unmittelbare Triebäußerung zum Protest gegen solche Normen, die antisozial sind, weil sie wirklichen Kontakt, die ganze Bandbreite gegenseitiger Abarbeitung aneinander, domestiziert und exorziert. So ist Reichs sexuelle Revolution in den USA zur sauberen, 'schönen' Hygieneverordnung täglicher Erregungsabfuhr permutiert, zur Edukastration durch Verschreibung von Sex.(72) Selbst-Entwicklung wächst durch Konflikt und Leiden: angewandter DIAMAT.
Die Chancen der Heilung durch Integration werden begrenzt durch die sozialen Rahmenbedingungen von Therapie.(73) »Gewisse Spannungen oder Blockierungen können nicht gelöst werden, wenn nicht eine wirkliche Umweltveränderung neue Möglichkeiten eröffnet.«(74) Therapie ist immer nur so gut wie ihr Rahmenkontext, wie der gesellschaftliche Zusammenhang, innerhalb dessen sie geschieht.
Schon im Erstwerk vollzieht Perls eine phänomenologische Wende: Nur das Wie ist erstmal wesentlich, die Gestalt, in der ich etwas erlebe oder tue. Dies allein ist offensichtlich, während das Warum, die Netze der Kausalität, nicht ohne tiefere Analysen zu ergründen sind.(75) Verläßlicher Ausgangspunkt der Selbsterfahrung ist einzig das Offensichtliche, die eigene Selbstgewahrung leib-seelischer Impulse: awareness.(76) Therapie als Arbeit an den Defekten des Selbst setzt darum ein mit »der Analyse der inneren Struktur aktueller Erfahrung und ihres wie auch immer beschaffenen Kontakts; d. h. nicht so sehr, was erfahren, erinnert, getan, gesagt usw. wird, als vielmehr, wie das Erinnerte erinnert oder wie das Gesagte gesagt wird, mit welchem Gesichtsausdruck, welchem Tonfall, welcher Syntax, welcher Haltung, welchem Affekt, welcher Vermeidung«.(77) War für Freud der lokutionäre Aspekt des Sprechaktes entscheidend, so für Perls und Goodman der performative, illokutionäre. Das impliziert einen interaktionistischen Strukturalismus, die Struktur und Gestalt einer Erfahrung ist im Fokus gestalttherapeutischer Arbeit wichtiger als die Inhalte der Erfahrung selbst. Ging es Freud vorwiegend um die Rückerinnerung und Reintegration der vom Bewußtsein ausgeschlossenen Vorstellungsinhalte, so Perls und Goodman um die Verschweißung der performativen mit den lokutionären Sprechaktmomenten, also um die Reintegration des Sprachspieles selbst als der Form des Kontakts zur Mitwelt und des Ausdrucksmittels der Wünsche. Affektbetrag und Vorstellungsgehalt sollen wieder einander finden.(78)
Damit geht es um die Ganzheitlichkeit der Erfahrung, nicht etwa um eine dubiose Trennung von Form und Inhalt auf Kosten des letzteren. Beides soll sich entsprechen.(79) Wollte Freud Heilung nur durch Steigerung der Bewußtseinsfähigkeit und gerade nicht durch Verhalten, durch Agieren, erreichen, so streben Perls und Goodman eine Steigerung sowohl der intellektuellen Einsicht als auch der motilen Fähigkeiten der Expression des Begehrens an. Erst in dieser Verbindung kommt die schöpferische Heilkraft des Sinnlichen zum Tragen.(80) Bei Perls ist das psychodramatische Verfahren(81) spielerischen Probehandelns (82) im Durchagieren(83) des Materials der offenen Gestalten geprägt von einer methodischen Frustration(84), die zunächst Regressionen(85) entfesselt. Die Funktion der Frustration ist nicht wie bei Freud, Aggression und Regression zu fördern, sondern zwecks Stabilisierung der eigenen Kräfte des Patienten ihm die Außenwelt-Stützung zu entziehen(86), damit er seine eigenen Potentiale des self-support(87) anzapft und so die Selbstständigkeit(88) des eigenbrötlerischen Gestaltgebets(89) erlangt. Perls verkennt dabei, wie sehr wir immer auf äußeren Support angewiesen sind: Nahrung, Wärme, Freunde.
Der Begriff self-support, in dem das Wort Selbsthilfe steckt - und Goodman war bekannt als Begründer zahlloser Selbsthilfeprojekte - suggeriert etwas vom do-it-yourself-Pragmatismus amerikanischer Unternehmerinitiative. Self-support muß als vernetzte Hilfe eines vernetzten Selbst verstanden werden, nicht als einsamer Cowboy, sondern in der Kraft der Solidarität der Anderen, die jeden transpersonal umfängt. Eine Stützung auf 'neurotische' Hilfen(90), auf Symptome, auf Unterdrückung und Beschädigung Anderer, die der Perlsschen Stärkung der leibeigenen Potentiale pragmatisch Recht geben, ist sozial unverträglich und markiert das Unbehagen Freuds an der asozialen Kulturfeindlichkeit des undressierten Menschenwesens, wobei das Asoziale nicht in den Trieben steckt, sondern in ihren kulturell besorgten Entstellungen. Selbstheilungskräfte des Organismus dagegen zielen immer auf mutuelle Vernetzung des Selbst mit seinem Umfeld, auf Freundschaft, auf den Kontakt, der der Selbstheilung förderlich ist. Die Freudsche Diffamierung von Widerstand als Hemmnis der Erkenntnis wird von Perls und Goodman korrigiert: Widerstand ist immer Beistand und Wegweiser der Erkenntnis.(91) Der Widerstand wird im Experiment forciert, gesteigert und gewinnt so an Erlebnisprägnanz und Seinsmächtigkeit. »Sobald der Therapeut den Widerstand angreift, wird der Patient von Angst überwältigt. Der springende Punkt dabei ist, daß der Patient sein Verhalten unmittelbar in der akuten Notsituation erlebt und gleichzeitig fühlt, daß er sicher ist, weil er mit der Situation umgehen kann. Das bedeutet also, die chronische Notsituation niederen Grades zu einer sicheren hochgradigen Notsituation zu steigern, die von Angst begleitet ist, aber für den aktiven Patienten kontrollierbar bleibt.«(92) Charakterpanzerknacker Reich übergeht die im Selbst heraufdämmernde Konfliktlösung zwischen den Selbst-Inseln, Introjekten und Vitalinteressen.(93) Das Selbst als Interzessor muß durch Leid und Erregung hindurch Kreator-Subjekt seiner Konfliktlösung werden.
Vergangenheit ist dabei als historisches Umfeld nur relevant, soweit sie die Gegenwart von Therapeut und Klient bestimmt.(94) Wiederholungszwänge als offene Gestalten aber sind Vergangenheit(95), die Beziehung durch Übertragung verstellt und durch u.U. veraltete Ängste und Wünsche vorprogrammiert. Unvollständige Situationen haben per se einen Vergangenheitsbezug. Die Gestalttheorie hat einzig gegenüber Freud den Erweis der Intelligenz in den Mechanismen erbracht, die Freud als Zwänge wohl als geheim sinnvoll und intentional, aber ohne bewußte Intentionalität verstand.
Als methodologischer Konsens von Freud, Reich, Ferenczi, Jung und Rank sowie der »corrective emotional experience«-Schule Alexanders und Rados fußen auch Perls und Goodman auf 1) dem Hier- und Jetzt-Prinzip(96), 2) der Aufdeckung der Beziehungen zum Umfeld, 3) Experimenten mit neuem Verhalten und 4) der Förderung von Kreativität und Expressivität des Patienten.(97) Integration ist das Leitziel der Persönlichkeitsentwicklung durch Therapie. Sie ist ein fortwährender, über jede Analyse hinausgehender Prozeß menschlicher Reifung.(98) Selbstverantwortung ist das Ziel der Integration des Abgespaltenen, Nicht-Ichlichen.(99)
»Ich begann mich ernsthafter mit dem Malen zu beschäftigen, als ich in die Staaten kam. Das Leben im Freien und der Sport von Süd-Afrika schienen in New York, der Stadt aus Stein, Hetze und Kultur, zu verschwinden. Lore schrieb ein wenig, Poesie und Kurzgeschichten, und sie hatte ihr Klavier.«(100) So bleiben fast nur die Sommerferien in Provincetown, Cape Cod, 250 km nordöstlich von New York, um alljährlich etwas Natur unter Fischern, Künstlern und Psychoanalytikern zu genießen. Trotz eines fast tödlich ausgegangenen Beinahe-Unfalles beim Fliegen in Südafrika(101) gibt Perls seine fliegerische Leidenschaft nicht auf. Er segelt und malt, liebt seine Einsamkeit, in der er dem Analytikeralltag entronnen ist.(102)
Ein zweimonatiger Besuch in Europa, von Paris aus per VW nach Pforzheim zu Lores Familie, soll erkunden, ob der deutsche Faschismus nach Kriegsende erträglicher geworden ist. Am Grab von Lores Vater erleidet Perls einen Anfall von Trauer, obwohl er in der Familie Posner immer als »rabenschwarzes Ungeheuer von einem Schaf« mißtrauisch behandelt worden war.(103) Lores Schwester Liesel und ihr Kind wurden vor Kriegsende in ihrem holländischen Versteck von den Nazis aufgegriffen und getötet.(104) Perls hatte mit ihr 1936, auf der Durchreise zum Kongreß der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Prag, beim Wiedersehen in Holland »einige sehr schöne Begegnungen«.(105) Er mochte ihre einfache, hübsche und kokette Art sehr gerne, als Ausgleich zu Lores Ernst.(106) Auch später noch wird Perls von Lores jüngerem Bruder Robert, der mit seiner Familie auch in den USA lebt, wie ein Ausgestoßener behandelt.(107) Offensichtlich kann Perls sich nicht an das wohlsituierte Milieu der Posners gewöhnen und wird mit seiner geraden, deftigen Direktheit dort auch nicht gerne gesehen.
In der Anfangszeit 1946 in New York begegnet ihm auch Ruth C. Cohn. Von einem seiner Aufsätze über das Hier-und-Jetzt als Bühne des therapeutischen Erlebens und Handelns begeistert kommt sie in seine Praxis, um die Ecke neben ihrer eigenen analytischen Praxis gelegen, will mit ihm diskutieren, wird auf die Couch gelegt, springt, insistierend auf Gespräch statt Therapie wieder auf - und Perls verläßt kommentarlos den Raum, ohne zurückzukommen.(108) Sie wird ihn erst 1962 auf einem Workshop wiedersehen.
Fritz ist von New York nie begeistert gewesen und versucht immer wieder, diesem Moloch »mit seiner Feuchtigkeit im Sommer und dem Schneematsch im Winter, mit seinen Parkproblemen und Sirenen, mit seinen meist grauenhaften Theateraufführungen und langen Fahrten in lauten und überfüllten Untergrund-Bahnen«(109) zu entfliehen. »Vor allem aber fühlte ich mich immer unbehaglicher mit Lore, die mich ständig übervorteilte und die damals nie ein gutes Wort über mich zu sagen wußte.«(110) Das treibt Perls zwangsläufig in weitere Glieder auf der üppigen Kette seiner Liebesabenteuer. Lore reagiert darauf mit Eifersucht.(111) Die Beziehung kriselt immer mehr. »Ich fühle mich unwohl, wenn ich über Lore schreibe. Ich spüre immer eine Mischung aus Abwehr und Aggression. Als Renate, unser erstes Kind, geboren wurde, hatte ich sie sehr gern... Doch als ich später für alles, was schief ging, verantwortlich gemacht wurde, zog ich mich immer mehr aus meiner Rolle als pater familias zurück.«(112) Fritz versucht »mehrmals, von Lore wegzukommen, aber sie holte mich immer wieder ein.«(113)
1950 geht Perls allein ohne Lore nach Los Angeles, wo ihm nach Erscheinen von »Gestalt Therapy« 1951 vom »Western College for Psychoanalysis« für seine Buchveröffentlichungen die philosophische Ehrendoktorwürde verliehen wird.(114) Von dieser Zeit an veranstaltet Fritz auch gelegentlich schon Workshops.(115)
1952 gründen beide Perls, Paul Goodmann, Paul Weiss, Elliott Shapiro und andere das »New York Institute for Gestalt Therapy«.(116) Zu Paul Weiss entwickelt sich eine intensive Freundschaft, die auch nach der Trennung von Lore verläßlich bleibt.(117)
1954 gründen die Perls das »Gestalt Institute of Cleveland«, in dem sich Erving und Miriam Polster, Joel Latner und Joseph Zinker als führende Vertreter einer »integrativen Gestalttherapie« engagieren, einer Therapieform, die sowohl Einzelanalyse als auch Gruppentherapie als konstitutive Elemente des Persönlichkeitswachstums begreift.(118)
Irgendwann nach dieser Institutsgründung siedelt Fritz, die Wasserratte(119), über nach Miami.(120) Dort lernt er 1956 ein Frau namens Marty kennen, die die große Liebe seines Lebens wird.(121) Er verliebt sich unsterblich in sie. Intellegent, eitel, kalt, leidenschaftlich, grausam und zuverlässig, verächtlich und begeistert, so schildert er sie schwärmend.(122) Sie lebt mit zwei Kindern und zerstörter Ehe mit Perls über Jahre zusammen. Die beiden machen eine Europareise: Paris, Verona, Venedig, Rom. Der Höhepunkt ihrer Leidenschaft ist erreicht.(123) Zurückgekehrt nach Miami wird Fritz so besitzergreifend, eifersüchtig und mißtrauisch, daß Marty sich prompt in einen anderen Mann verliebt. Die Freundschaft endet dramatisch. Perls bekommt Hämorroiden und muß zweimal operiert werden, die Prostata wird auch weggenommen.(124)
Von Miami aus geht Perls für einige Monate nach Columbus.(125) Er nimmt eine Ausbilderstelle am dortigen Krankenhaus an. Zu Vincent O'Connell, leitender Psychologe am Columbus-State-Hospital, an dem Perls 9 Monate als Ausbilder arbeitet, entwickelt sich eine starke Vertrauensbeziehung. Perls hätte drei Monate länger dort bleiben sollen, so erfährt er es im Nachherein, dann wäre für den Bereich von Columbus sein deutscher Doktortitel anerkannt worden. Aber die Krankenhausroutine wird für Perls unerträglich.(126) Wenn Perls in seiner Autobiografie sagt, es störe ihn nicht besonders, keine Anerkennung als Psychiater in Kalifornien zu haben, so klingt das nicht besonders überzeugend.(127) Nach der Krankenhauszeit in Columbus zieht Perls noch einmal für eine gewisse Zeit zurück nach Miami, weil Marty, seine große Liebe, ihn dort braucht.(128)
1958 schließlich geht Perls von Miami nach San Franzisko.(129) Bei einem Workshop daselbst bewegt ihn der Psychologe Wilson van Dusen (130), an das Mendocino State Hospital in San Franzisko zu kommen. Da Marty Fritz nicht heiraten will, nimmt er diesen Vorschlag gerne an. Er ist häufig bei van Dusen und seinen 11 Kindern zu Gast.(131) In dieser Zeit beginnt Perls Selbstexperimente mit LSD und Psilocybin.(132) Er reagiert auf LSD paranoisch(133), während Psilocybin Erinnerung und Integration fördert.(134) Perls lernt bei van Dusen die Theorie der »Löcher« kennen: Es gibt Unvollständigkeiten in der Persönlichkeitsstruktur. Während alle anderen Fähigkeiten voll entwickelt sind, sind bestimmte sinnliche, motorische, affektive oder kognitive Funktionen quasi ausgefallen oder verkrüppelt. Therapeutisch effizient ist, diese Leere nicht auszufüllen, sondern bewußt zu machen, sodaß an dieser Stelle Wachstum eintreten kann.(135)
Durch Perls' paranoiden Reaktionen und wachsende Reizbarkeit entfremden sich Perls und van Dusen und Fritz geht 1960 nach Los Angeles.(136) Er wird von Jim Simkin, einem früheren Schüler aus New York, der inzwischen selbst als Gestalt-Therapeut in Los Angeles arbeitet, beim Aufbau seiner neuen Praxis unterstützt.(137) Dessen überkorrekte Genauigkeit führt zu Konflikten mit Fritz, die allmählich aufgrund der gegenseitigen Achtung einer zuverlässigen, dauerhaften Freundschaft weichen. Mit Jim Simkin wird Fritz auch später noch lange kooperieren.(138) Er erlebt aber auch Mißerfolge. »Das Interesse an meiner Arbeit nahm zu, doch ich fühlte mich nicht anerkannt. Selbst Kollegen, die erfolgreich mit mir arbeiteten, waren darauf bedacht, sich nicht mit Gestalt-Therapie oder diesem verrückten Kerl, Fritz Perls, zu identifizieren.«(139) Jim Simkin organisiert Vorträge über Gestalttherapie für Perls, die sich großer Beliebtheit erfreuen.(140) Trotzdem wird für Perls die Arbeit immer fader. »Ich litt immer noch durch zwei Operationen in Miami, war immer noch dabei, mich von Marty loszureißen und nahm zu häufig LSD-Trips. Es passierte nichts, was wirklich wichtig war. Trotz der Unterstützung durch Jim Simkin fand ich keinen Zugang zu meinem Beruf und wurde das Gefühl nicht los, zum Leben verdammt zu sein. Ich litt nicht einmal an einer Depression. Ich hatte das ganze Psychiatrie-Geschäft satt.«(141)
Ruth C. Cohn beschreibt ihren Eindruck von Perls auf einem jährlichen Workshop der »American Academy of Psychotherapists«(AAP) 1962: »Fritz' Arbeit erlebte ich als genial. Er selbst jedoch war deprimiert, unwirsch, ablehnend allen Therapien gegenüber - auch der eigenen. Er sagte, daß er nur noch eines wolle in seinem Leben: auf Reisen gehen nach Indien oder nach Israel, um eine geeignete Grabstätte für sich zu finden. Wir, einige Freunde, versuchten vergeblich, ihn aus seiner verbitterten Resignation herauszuholen.«(142)
In der Tat macht Perls von Los Angeles aus eine 15monatige Weltreise, über Honolulu, Hawai, nach Japan, Tokio, Kyoto und von da aus nach Eilat in Israel.(143) In Honolulu bekommt Perls mit etwas LSD das stärkste visuelle Erlebnis seines Lebens. »Es gab weder Entfernung, noch zwei Dimensionen. Jeder Stern war einmal näher und einmal weiter weg, und jeder tanzte einen Farbentanz wie der Planet Venus, bevor er in den Ozean taucht. Das Universum, die Leere aller Leeren, war mit einem Mal gefülllt.«(144) In Tokio macht Perls bei einem jungen japanischen Arzt ohne Erfolg eine dreitägige Raucher-Entwöhnungskur.(145) Dann geht er als erster Europäer bei Roshi Ihiguru in einen wiederum recht erfolglosen einwöchigen Schnellkursus in Zen ohne Mühe, mit Erleuchtungs-Garantie.(146) Anschließend reist Perls nach Kyoto, einer Zen-Hochburg Japans. »Im Gegensatz zu Tokio, verliebte ich mich in Kyoto. Ich verliebte mich so sehr in Kyoto, daß ich ernsthaft in Erwägung zog, mich dort niederzulassen. Sanfte Menschen, die aufeinander Rücksicht nehmen, mit offenem Blick, mit Respekt.«(147) Perls macht am Daitokuji-Tempel bei einer japanisierten Amerikanerin namens Sasaki zwei Monate lang eine Zen-Schulung in einer international gemischten Gruppe mit.(148) Perls lernt als fast Siebzigjähriger bei einem jungen Zen-Mönch Sitzen und Atmen.
Zweite Hauptstation dieser Weltreise wird das israelische Eilat. Vorher weilt Perls noch eine zeitlang in der BRD, von wo aus er mit einem alten VW in die israelische Wüste zum Kibbuz fährt. »Elath war eine Enttäuschung - mehr Wellblech-Hütten als Häuser, staubig und sehr warm.«(149) Perls bleibt nur wenige Tage und zieht dann einen Monat lang an die steinige Küste von Ein Hod. Dort trifft er Hippies, Nichtstuer, »die sich glücklich fühlten, so wie sie waren, ohne Ziele und ohne Erfolge«.(150) Diese Erfahrung ist gerade für den von vermeintlicher Erfolglosigkeit seiner therapeutischen Innovation und Alltagarbeit gepeinigten Perls ein Schlüsselerlebnis, conträr zum amerikanischen Erfolgsklischee. Perls vertieft sich abermals in Malerei. »Hier war die Negev-Mündung ins Rote Meer, umrahmt von den Bergen Jordaniens und Ägyptens; hier, wo die Sonne Farben über Farben von den Berghöhen erstrahlen läßt und hindurchdringt zu dem Unterwasser-Leben von Korallen und fantastisch bunten Fischen; hier bot sich den Augen ein Fest der Farben und Formen, die sich mit jeder Stunde des Tages veränderten.«(151) Von seinen Gemälden hat Perls einige verkauft.(152) Die Nichtstuer in Eilat können Perls einen Eindruck von Leben zentriert in der vollen Gegenwärtigkeit des Hier und Jetzt verschaffen, wie er es als Grundprinzip seiner Therapiepraxis immer deutlicher akzentuiert hat.
1963 kehrt Perls in die USA zurück, noch immer voller Zweifel an der Suffizienz der therapeutischen Praxis. Auf einem Workshop der »American Academy of Psychotherapists« erleidet er einen Angina-pectoris-Anfall, sein Herzleiden wird zunehmend unerträglicher. Er lernt zugleich auch Irma Shepherd kennen, mit der er später in Esalen noch gemeinsam therapeutisch zusammenarbeiten wird. Und schließlich erlebt er auf diesem Workshop einen Verzweiflungsausbruch, der ihn massiv an seine eigene Blockierung, Therapeut zu sein, heranführt und ihn nach diesem »Impass«-Erlebnis fähig macht, seine Situation neu zu überdenken und seinen Beruf wieder aufzunehmen.(153)
Weihnachten 1963 lädt Jim Simkin Perls zu einem Workshop im mittelkalifornischen Big Sur in das Esalen-Institut ein. »Das Ziel Esalen erzielte einen Volltreffer ins Schwarze mit dem Pfeil Fritz Perls. Eine Landschaft, die sich mit der von Elath vergleichen läßt; im Team herrliche Menschen wie in Kyoto. Eine Gelegenheit zu lehren. Der Zigeuner fand eine Heimat und bald ein Haus.«(154) Esalen ist durch seine ca. 30 Schwefelquellen berühmt geworden, die mit 130 Grad seewärts an den Klippen zum Pazifik in Bade- und Massagehäusern die Tauchbecken füllen, in denen jeweils bis zu 16 Personen Platz haben.(155) Die traumhafte Umgebung über dem Pazifik erzeugt ein für Therapiegruppen ideales Klima, in der die Encounter-Bewegung in allen Spielarten Fuß gefaßt hat und alle denkbaren religiösen, therapeutischen und kulturellen Impulse aufgreift und in einen lebendigen Diskurs in den Themen und Interaktionsformen des Gruppengeschehens bringt.(156)
»Esalen ist innerhalb und außerhalb der Vereinigten Staaten zum Symbol geworden für die humanistisch-existentiale Revolution, für die Suche und Förderung neuer Wege zu Gesundheit, Wachstum und die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit.«(157) Besonders der amerikanische Mittelstand schreit, tobt, würgt, singt, massiert und liebt sich hier - für entsprechende Kursgebühren - die Seele frei.(158)
In der Zeit vor 1963 hat Virginia Satir in Esalen ihr Projekt der Familientherapie nach den Schizophrenieforschung Gregory Batesons durchgeführt. Leider muß ihr organisatorisches Geschick wohl zum Scheitern des Projekts geführt haben.(159) Nach dem Zusammenbruch des Projekts rekonsolidiert sich die Esalen-Bewegung unter William Schutz, einem Encounterspezialisten, den Perls als aufmerksam, begabt, Spießer, Möchtegern-Hippie, und bemühten Kommandanten beschreibt.(160)
Die Crew von Esalen, das Mitarbeiterteam, besteht aus Menschen, zu denen Perls, als er 1964 nach Esalen übersiedelt, ein warmes und herzliches Verhältnis findet. »Im Gegensatz zu den Seminarteilnehmern sind die meisten der Mitarbeiter hier authentische Menschen. Sie verdienen wenig Geld, haben dafür aber das Privileg, sie selbst zu sein. Viele sind bezaubernd und liebenswert. Natürlich schleichen sich auch immer ein paar Kuckucks-Eier und Schwindler ein, aber meist werden sie früher oder später wieder hinausgeworfen. Ohne seine Mitarbeiter hätte Esalen nicht diesen einzigartigen Charakter. Noch nie in meinem Leben habe ich so viele Menschen geliebt und respektiert wie hier.«(161) Perls hat endlich mit 70 Jahren seine Heimat gefunden.(162)
Er bekommt ein fantastisches Haus, 900 m über den Quellen auf den Klippen in den Felsen gehauen, mit Panorama der gesamten kalifornischen Steilküste und dem Pazifik.(163) Sein Herz ist äußerst angegriffen, als er nach Esalen zieht.(164) In diesem Zustand trifft er Ida Rolf, die mit ihrer Technik der Sehnenscheidenmassage, einem sehr schmerzhaften und gründlichen Neu-Ordnen des gesamten Muskelapparats zu einem harmonischen Ganzen, in 50 Sitzungen Perls von seinen Herzbeschwerden heilt.(165) Perls macht diese Methode bekannt als »Rolfing« und arbeitet anschließend eng mit Ida Rolf, seiner »Lebensretterin«(166) zusammen.(167) »Ähnlich wie ich, arbeitet sie an dem gestörten Gleichgewicht eines Menschen. Die Reichianer gehen von einem heuristischen Ansatz aus. Sie durchbrechen den Panzer an den Stellen, wo sie verdrängtes Material zu finden hoffen. Ida vertritt einen holistischen Standpunkt; sie betrachtet den ganzen Körper und versucht, alles, was aus der Ordnung geraten ist, wieder an seinen Platz zu bringen. Sie zieht die Muskelhüllen auseinander, um den Muskeln Platz zum Atmen zu verschaffen, wie sie sagt, und sie regt die verkümmerten Muskeln an.«(168)
Ruth Cohn schildert Perls, wie er 1964 auf einem Kongreß in Chicago auf sie gewirkt hat, nachdem er von Ida Rolfs Methode und ihrem Erfolg bei sich selbst erzählt hatte: »Nun strahlte Fritz Weisheit, Lebensmut, Zärtlichkeit aus. Er war ein Verwandelter.«(169)
Perls hat selbst seinen lebensgeschichtlichen Engpaß überwunden und damit eine entscheidende Dimension des Therapieprozesses herauskristallisieren können: die Reise von den alltäglichen Spielchen an die Stelle, wo die darunterliegenden Motive der Verletzungen und die traumatische Verzweiflung reaktualisiert werden, wo nichts mehr geht und Wüste und Leere entsteht, Todesstarre. Nur von diesem Punkt aus führt ein Zugang zu den verschütteten Lebensenergien.(170) Hier prägt sich die neue Struktur der gestalttherapeutischen Prozeßlogik aus.
Ruth Cohn organisiert 1964 - 1966 in New York eine Gruppe erfahrener Therapeuten, die über zwei Jahre mit Perls zusammen mehrere Wochen-Workshops machen, um diesen ihnen neuen Therapiestil praktisch kennenzulernen. »Diese Arbeitsgruppen vermittelten tiefe Erlebnisse. «I am available» (ich bin bereit) war Fritz' übliche Aufforderung. Einer von uns setzte sich ihm gegenüber. «Sieh zu, ob der Stuhl zu nahe oder zu weit entfernt ist für dich, und rück' ihn zurecht.» Der Patient sagte, was er besprechen wollte, Oder er sagte, was er gerade wahrnahm. Oder er erzählte einen Traum. Perls hörte zu und sah den Sprechenden an. Er stellte sich speziell auf die Aussagen, Gesten und Mimik ein, die nicht zueinander paßten: ein Lächeln, das Schmerz oder Aggression verdeckte; eine Bewegung, die Flucht verriet, während die Aussage von Zuneigung sprach; ein Traum, der dort abbrach, wo die Lösung hätte kommen können. Manchmal verstärkte Fritz Unstimmigkeiten, um sie bewußt zu machen.«(171)
Ruth Cohn erinnert sich, wie Perls »in seinem ersten Workshop in Esalen... ein einem tiefen Lehnstuhl inmitten der Gruppe saß und mit Tränen in den Augen sagte: 'Hier habe ich endlich meine Heimat gefunden.'«(172)
Die von Salomon Friedlaender übernommene Theorie des schöpferischen Nullpunktes erfährt unter den taoistischen Begegnungen in Kyoto eine Weitung zur therapeutischen Konfrontation mit der Leere.(173)
Die von Perls in Esalen weiterentwickelte Methode könnte man als Einzeltherapie in der Gruppe beschreiben: Im Mittelpunkt steht die Einzelarbeit auf dem »hot seat« mit Monodrama-Elementen. Damit ist der Arbeitsstil zugleich auf Perls selbst zentriert, womit er seine »Primadonna-Allüren«(174) befriedigen kann. Die Gruppe ist Publikum seines »Zirkus«, in dem er Theaterdirektor sein kann.(175) Natürlich reichen dabei keine Tonbandaufzeichnungen mehr, es werden Videoaufzeichnungen von der therapeutischen Arbeit zur Regel.(176)
Mittlererweile hält die Gestalttherapie in den USA ihren Siegeszug.(177) 1967 noch müssen Perls und seine Freunde um einen Platz in der »American Assosiation of Psychotherapists« eher kämpfen, am 8. Juli 68 erhält Perls auf seiner Feier des 75. Geburtstag stehenden Applaus. »Der verrückte Fritz Perls wird einer der Helden in der Geschichte der Wissenschaft, wie es jemand auf der Tagung ausdrückte, und ich erlebe es noch.«(178) Perls hat desöfteren mehrwöchige Vortragsreihen und Workshops quer durch die schönen Vereinigten Staaten zu absolvieren. Er ist mittlererweile vom verbitterten Außenseiter zu einem äußerst gefragten Mann avanciert.(179)
Die Zusammenarbeit mit Allan Watts in Esalen(180) und der Zen-Ausrichtung seines Freundes Paul Weiß (181) vertiefen die meditativen Zugänge in der Selbsterfahrung ebenso wie die Drogenerfahrungen.(182) So wird Perls in der letzten Phase seines Lebens zum Guru für den amerikanischen Mittelstand.(183) Sein »Gestaltgebet« hängt als Poster über den Betten amerikanischer Buben und Mädel(184):
Ich tu, was ich tu; und du tust, was du tust.
Ich bin nicht auf dieser Welt, um nach deinen Erwartungen zu leben.
Und du bist nicht auf dieser Welt, um nach den meinen zu leben.
Du bist du, und ich bin ich.
Und wenn wir uns zufällig finden, - wunderbar.
Wenn nicht, kann man auch nichts machen.(185)
Als »Scheuklappen-Egoismus« sieht Ruth Cohn hierin die Gefahr der Vergleichgültigung menschlicher Beziehungsfähigkeit und Bemühung um befriedigende Beziehungen zugunsten einer Wegwerfmentalität. Sie bringt 1973 eine Gegenformulierung: »Ich kümmere mich um meine Angelegenheit, ich bin ich. Du kümmerst Dich um Deine, Du bist Du. Die Welt ist unsere Aufgabe; sie entspricht nicht unseren Erwartungen. Doch wenn wir uns um sie kümmern, wird sie sehr schön sein, wenn nicht, wird sie nicht sein.«(186)
Die individualistische Pointe mag wohl als Stoßrichtung gegen den in der McCarthy-Ära immer bedrohlicher werdenen amerikanischen Faschismus und die angesichts des Vietnamkrieges erstarkende Widerstandbewegung historisch geboten gewesen sein.(187) So sieht Perls als grundlegendes Problem der politischen Philosophie nicht den Antagonismus von Kapital und Arbeit, paradigmatisch sichtbar an Wallstreet-Börse hier und New Yorker Elendsviertel da; vielmehr sieht er die entscheidende Kluft zwischen Angepaßten und Unangepaßten.(188)
Die Stärkung des Ich gegen Anpassung an die Gesellschaft wird ihm zum Patentrezept in der Lösung gesellschaftlicher Unrechtsverhältnisse.(189) Ideal des Zusammenlebens wird für ihn die friedliche Koexistenz, die angesichts der manifesten sozialen Schere der amerikanischen Gesellschaft politisch blauäugig ist, wenn nicht gar zynisch.(190) Die nonkonformistische Lebensform, die Perls realisiert hat, erscheint als radikalisiertes Randgruppendasein: »Er lebt in der Tat sein eigenes Leben: am Rande seiner Gesellschaft und gegen sie. Das Individuum wird authentisch als Ausgestoßener, Drogensüchtiger, Kranker oder Genie. Etwas von dieser Authentizität ist noch im 'Bohemien', selbst im 'Beatnik' enthalten; beide Gruppen stellen eben noch geschützte und gestattete Manifestationen individueller Freiheit und individuellen Glücks dar, an denen der Bürger nicht teilhat, der Freiheit und Glück eher in den Begriffen seiner Regierung und Gesellschaft definiert als in seinen eigenen.«(191)
Perls' Programm: »Verhelft den Unangepaßten zu Eigenständigkeit! Angepaßte, lernt miteinander leben!«(192) ist als Applikation der Kontaktgrenzen-Theorie auf die gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge entstanden. Es fällt jedoch weit hinter die Postulate einer ökonomischen Gleichheit der Mitglieder einer Gesellschaft zurück, die in den Ideen der Arbeiter- und Soldatenräte 1919 auch Perls gegenwärtig war und die in der Sozialphilosophie Gustav Landauers zum Ausdruck kam.(193)
Bezeichnenderweise erlebt die Gestalttherapie ihren Durchbruch nicht im klinischen Bereich und nicht mit der Erscheinung des Hauptwerkes 1951, sondern als Vehikel des sich immer stärker formierenden Protestes der amerikanischen jungen Generation gegen das Establishment.(194) »Human Potential Movement«, Landkommunen, Hare Krishna, TM, und andere Projekte der Subkultur in den USA, der »Counter-Culture«(195) bilden den Nährboden, auf dem die fetischisierte Individualitätssuche Protagonisten wie Fritz Perls in die Guru-Etage der New-Age-Bewegung manövriert. Lore Perls grenzt sich gegen die hedonistische Idiosynkrasie des Gatten recht kritisch und mit dem unter »Eheleuten« üblichen Seitenhieb-Gestus ab: »In den 60er Jahren wurde Fritz von dem, was sich an der Westküste ereignete, gefangen. Es war eine Art von antiintellektueller 'alles ist möglich'-Haltung, eine laissez-faire-Atmosphäre, die in bestimmter Weise gut zu Fritz paßte, der ja sehr intuitiv war«.(196)
Perls selbst ist dieses Abgleiten in Quacksalberei nicht ohne Sorge aufgefallen. In den ersten in deutscher Sprache veröffentlichten Skripten seiner Tonbandaufzeichnungen, »Gestalt Therapy Verbatim«(1969), heißt es in seinen einleitenden Bemerkungen: »Jetzt treten wir in eine neue und gefährlichere Phase ein. Wir treten in die Phase der Aufputscher ein: sich aufputschen und augenblicklich Spaß haben, augenblicklich wache Sinne haben, auf der Stelle geheilt sein. Wir treten in die Phase der Quacksalber und Betrüger ein, die glauben, daß du geheilt bist, wenn du irgendeinen Durchbruch schaffst - und die jegliche Erfordernisse des Wachstums außer acht lassen.«(197)
Neben der Verwendung von Techniken und Tricks anstatt menschlicher Intuition in der Begegnung kritisiert Perls das Hochkitzeln der Gefühle, eine »Scheintherapie, die echtes Wachstum verhindert«.(198) Der Umschlag von moralistischen Puritanismus zum hysterischen Hedonismus wird von Perls skeptisch betrachtet. »Wir haben noch keine Revolution. Es fehlt noch vieles an Substanz. Zwischen Faschismus und Humanismus findet ein Wettrennen statt. Im Moment scheint es mir, daß die Faschisten dabei sind, das Rennen zu verlieren. Aber die wilden, hedonistischen und unrealistischen Aufputscher und Antörner haben mit Humanismus nichts zu tun.«(199) Sein geflügeltes Wort wird: »Don't push the river, it flows by itself.«(200)
So kreisen die Gedanken von Perls immer mehr um das Zustandekommen eines Gestaltkibbuz, gespeist aus den Beatnik-Impressionen der Nichtstuer von Eilat auf seiner Weltreise 1963. Schon in einem Interview mit J.L.Walker März 1968 fantasiert Perls über einen Kibbuz: »Was ich mir... als eventuelle nennen wir es 'am ehesten perfekte' Therapie vorstelle, ist ein Gestaltgemeinschaft, wohin die Leute für drei oder vier Wochen gehen. Sie werden dort arbeiten, ausschließlich dort leben, bis sie einen Reife- und Realitätsgrad erreicht haben, der ihnen helfen wird, ihre alltägliche Umwelt zu ertragen und zu bewältigen, und der ihnen helfen wird anzufangen, die Umwelt an ihren reicheren und volleren Zugang anzupassen.«(201) Zunächst scheint ein Platz in Neu-Mexico attraktiv.(202)
Später wird sich allerdings am kanadischen Lake Cowichan die dann tatsächliche Bleibe der mit Barry Stevens gemeinsam betriebenen Einrichtung ergeben.(203)
Die Idee des Kibbuz gründet Perls in folgenden Überlegungen: »So wie ich vor kurzem in Erwägung gezogen habe, daß Einzeltherapie überholt ist, bin ich heute der Meinung, daß die auseinandergerissenen Gruppensitzungen und Workshops veraltet sind, Marathons sind zu gewaltsam. Jetzt schlage ich das folgende Experiment vor: Im Kibbuz wird die Trennung zwischen Seminarteilnahmern und Leitern aufgehoben. Alle anfallenden Arbeiten werden von den Leuten gemacht, die zum Kibbuz kommen... Der Hauptakzent liegt auf der Entwicklung von Gemeinschaftsgeist und Reifung. Die Leute sollen drei Monate bleiben und für diese Zeit zunächst einmal 1000 Dallar zahlen. Monatlich werden zehn gehen und zehn neue dazukommen. Wir werden organischen Gartenbau betreiben und in einer Werkstatt einfache Möbel herstellen.«(204)
Hier zeichnet sich eine letzte Integration von Persönlichkeitsentfaltung des Fritz Perls ab: Die Engführung auf die Bedürfnisse des Individuums haben eine isolationistische Tendenz, ähnlich der zuvor so heftig kritisierten Objektivierungen Freuds. Zugleich liegt darin eine promethische Überschätzung der Kraft und Macht des Einzelnen. Nicht allein die Unterdrückung des Individuellen ist Signum des gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs, sondern all die ökonomischen und ökologischen Katastrophen, die heute zur Tagesordnung der westlichen Industriegesellschaften gehören und die in Länder der 3. Welt exportierten Kriege und dort geförderten Diktaturen. Gegen solche objektiv drohenden Selbstvernichtungstendenzen der Hochzivilisationen richtet das isolierte Individuum nichts aus. Die Bildung von Solidargemeinschaften, die auf der Grunderfahrung eines gelungenen und bedürfnisorientierten Umgangs miteinander in missionarischer Weise Eingriffe in die zur Katastrophe tendierenden gesellschaftlichen Organisations- und Verhaltensformen vornehmen, darin liegt für Perls in seinem letzten Lebensjahr die Quintessenz menschlicher Reife: »Erst muß ich mich finden, um Dir begegnen zu können. Ich und Du, das sind die Grundlagen zum Wir, und nur gemeinsam können wir das Leben in dieser Welt menschlicher machen.«(205)
Ruth Cohn berichtet, daß Perls ein letztes Mal 1970 in New York war um auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung für Israel seine Kunst zu zeigen. Blitzschnell waren 900 Karten verkauft. Er war plötzlich nicht nur in Psycho-Kreisen eine Berühmtheit. Perls erkrankt jedoch einen Tag vorher und Ruth Cohn übernimmt an seiner Stelle die Vermittlung von Gestalttherapie.(206) Kurze Zeit später, am 14. März 1970, stirbt Perls während seiner Vortragsreise in Chicago an Magenkrebs.
Lore Perls praktizierte mit Paul Goodman in New York weiterhin eine Kombination von Gruppentherapie und Einzeltherapien, die letztlich sehr stark psychoanalytisch und klientzentriert waren.(207)
Fritz Perls Einzeltherapie vor der Gruppe könnte man dagegen fast eher als gruppenzentriert bezeichnen, weil ein sorgsames Einfühlen in den Protagonisten auf dem hot seat hinter einer dozierend paradigmatisierenden Lehrstück-Demonstration für die Zirkus-Publikum spielende Gruppe zurückzutreten hatte. Der Versuch, allen an einem zu zeigen, wie man's macht, ist als Patientenmißbrauch zur Methodendemonstration der deutlichste Weg, wie man's gerade nicht machen darf. Simkin darf ebenfalls zum Esalen Encounterflügel, dem Westküstenstil gerechnet werden. Es wird auf theatralische Effekte gesetzt, Inszenierung, Rollenübungen, es wird gepusht, forciert, frustriert, es herrscht Abenteurerstimmung mit der Neugierde des ganzen gesellschaftlichen Aufbruchspotentials. Das Unbewußte ist allgemeines Thema der Bewußtseinserweiterung. Es geht weniger um Heilung schwerer Störungen als um die kollektive und oft drogengestützte Erweiterung der Selbstwahrnehmung, um Selbstverwirklichung hier und jetzt.(208)
Eine vermittelnde Position nehmen die Clevelander Schule mit Miriam und Erving Polster (San Diego), Joel Latner und Joseph Zinker ein.(209) Sie vermitteln die spontanistischen awareness-Programme mit Aufarbeitung der Vergangenheit: Im Fluß gegenwärtiger Erfahrung reinszenieren sich unerledigte Geschäfte der Vergangenheit.(210) Wenn der Therapeut als sein eigenes Instrument gesetzt wird und damit die Gegenübertragung vor jeder methodischen Technik Prävalenz hat, wird die Beziehung zum Therapeuten das Feld, auf dem durch Widerstand sich die Kontaktfunktionen des Klienten herauskristallisieren und durchgearbeitet werden können.(211) Ziel ist die Wiedererlangung alter Erfahrungen, Gefühle, Wünsche und Werte, die durch Verdrängung aus der Bewußtheit entglitten sind. Sie konstituieren ein neues Selbstgefühl, in dem alle Stationen der eigenen Persönlichkeitsentwicklung hegelsch aufgehoben sind als Fülle der Lebendigkeit im Integrationspunkt der Gegenwart.(212) Zugleich wird in Großgruppen und Familien gearbeitet.(213) Integrative Therapie nennen die Polsters ihr Arbeit nicht nur, weil sie Gruppenworkshops und Einzeltherapie integrieren, sondern weil das Ziel selbst die Integration der Persönlichkeit und ihrer Entwicklungsstufen ist. Indem sie neben Körper- und Wertgrenzen auch Grenzen der Vertrautheit, des Ausdrucks und der Bloßstellung thematisieren und dem auf soldatische Grenzzerstörungen programmierten Westküstenstil Grenzen setzen, gelangen sie zum behutsameren Umgang mit Menschen als Perls.(214) Zinker sieht Therapie als Kunst, von taoistischer Wichtigkeit allen schöpferischen Tuns zwischen Therapeut-Künstler und Protagonist-Künstler inspiriert.(215)