Standorte:
Die Praxis von Psychoanalyse ist immer eingebunden in einen theoretischen Bezugsrahmen. Sie war bei Freud geprägt vom Rekurs auf Schopenhauer und Nietzsche, der unsterblich in Freuds spätere Schülerin Lou Andreas-Salome verliebt war. Perls greift auf die Feldtheorie Einsteins und Lewins zurück, auf die ebenfalls von Schopenhauer inspirierte Gleichgewichtstheorie Friedlaenders und auf das dialogische Prinzip des Bezogenseins auf ein Gegenüber, wie er sie bei Buber in Frankfurt erlebt hat.(1)
Bei Hilarion Gottfried Petzold ist die Einholung der philosophischen Prämissen über die Andeutung von Bezugspunkten wesentlich hinausgewachsen. Nach Studium von Theologie, Philosophie, Psychologie, Medizin und Pädagogik in Düsseldorf, Frankfurt und Paris ist er nach theologischer und kirchenrechtlicher Promotion an der russisch-orthodoxen Hochschule der Emigranten St. Denis bei Bischof Eugraph Kovalewsky Schüler in der Tradition von Maurice Merleau-Ponty bei dessen Nachfolger am Collège de France Michel Foucault, bei Paul Ricoeur und Doktorand von Gabriel Marcel (Philosophie/Psychologie) und hat die Relevanz des philosophischen "Inputs" für die therapeutische Praxis konsequent reflektiert: Ob ich den Patienten als Maschine ansehe(2) und ihn reparieren will durch Entfernung seiner Blockaden - oder aber ihn als einzigartiges Geschöpf mit all seiner leidvollen und auch und trotzdem lebenswerten Geschichte ernst nehme; ob ich ihm meine Theorie überstülpe und als besonderen Fall meiner allgemeinen Theorie traktiere - oder aber ihm begegne, als hätte ich keine Theorie, und mich den Irrungen und Verschlungenheiten seines Selbstverständnisses ausliefere und ihn als Subjekt seines Weges staunend und dankend begleite, ist ein fundamentaler Unterschied der Methodologie.(3) Statt eines fixierten nosologischen Rasters geht es um eine prozessuale Diagnostik, die ständig bereit ist, ihren Erkenntnisstand grundlegend zu revidieren.(4) Mit diesem Erkenntnismodell ist, gerade weil es so risikobereit sich wirklich ganz "zu den Sachen" (Husserl(5)) oder zu den Menschen begibt, viel mehr an Enttäuschung möglich, viel mehr an Abbau der Fiktionen des Therapeuten vom Klienten.(6) Wenn es adaequatio intellectus ad rem gibt, dann ist in der Tat eine solche Bereitschaft, die vorgefaßten Theorien methodischem Zweifel(7) zu überlassen und sich der eigenen leiblichen Wahrnehmung(8) von sich und dem Gegenüber auszusetzen, die Einlösung des Wahrheitsbegriffs in der Therapie. Erkenntnis ist immer am Ende, aber Analyse ist unendlich. Diagnostik bleibt Netz der Vermutungen, deren praktische Heilwirkung nicht ausschließt, daß sie gleichwohl Gesetztes sind, guter Mythos. Petzold setzt mit der kybernetischen Übersummationsregel auf einen Zugewinn durch Synopse, Zusammenschau verschiedenster Theorien: Das Ganze ist mehr und etwas anderes als Summe seiner Teile, mit Hegel ist das Wahre das Ganze, Synthesis seiner Momente.(9)
Adorno hat aus seiner künstlerischen Erfahrung die Verwobenheit jeder Erkenntnis mit dem somatischen Moment als Mimesis bestimmt. »Erkenntnis vermag ihr mimetisches Moment niemals ohne Rest auszutreiben, die Anähnelung des Subjekts an die Natur, die es beherrschen will und aus der Erkenntnis selber entsprang.«(10) Diagnostik als Krankheitskenntnis fällt ebenso diesem Verdikt anheim, kein letztes Erkennen zu sein. Sie ist selbst immer schon Eingriff, affiziert den Patienten.(11) Empfindung und Wahrnehmung fusionieren in jeder Erkenntnis. Der Gestaltbegriff der Berliner, besonders Köhlers Isomorphietheorem von struktureller Übereinstimmung seelischer und physiologisch-cerebraler Vorgänge, bleibt aporetisch.(12) Erregende Umwelt, Sinnesreiz und wahrnehmende Verortung sind unterscheidbar, aber nicht isolierbar. Die Resultate der Wahrnehmung als komplexe Konstellationen markieren wohl eine Ganzheit der Wahrnehmungsgestalt, keineswegs aber die Ganzheit des Wahrgenommenen, das sowenig Chaos ist wie Kosmos; beides sind reduzierende Abstraktionen des Realen. Die Gestalt ist Erlebnis einer Laborsituation. »Innerhalb der Erkenntnistheorie aber wird der Gestaltbegriff zur Fehlerquelle: er bewirkt, daß jene im Namen der Herrschaft des Ganzen über den Teil die Einsicht in die Wechselwirkung beider Momente, ihre Abhängigkeit voneinander versäumt. Sie muß das Gegebene als Elementares dem Ganzen unmittelbar gleichsetzen und gewährt darum der Vermittlung so wenig Raum wie die Phänomenologie. Der Begriff des Elementaren selber basiert bereits auf Teilung: das ist das Moment der Unwahrheit an der Gestalttheorie.«(13) Die Rede von Ganzheitlichkeit tendiert oft zu Faulheit der Differenzierung und Anstrengung des Begriffs. Die Beschwörung des Ganzen als Zauberformel erspart die Mühe detaillierter Analyse. Auch die Nennung politischer, ökologischer und kultureller Faktoren in der Pathogenese bleibt leicht abstrakt. Sie zu gewichten bedarf sorgfältiger Beobachtung. Die Denkbewegung von den Phänomenen zu den Strukturen der Wahrnehmung und des Verhaltens und den Entwürfen des Handelns, die der Therapeut vollzieht, nimmt das Erste der Erfahrung weder als Abbild des Ganzen noch Adiaphoron. Er erschließt seine Verflechtungen.(14)
Zu den theoretischen Verflechtungen der Integrativen Therapie hat Petzold ein kleines Schaubild angefertigt, aus dem seine Anregungen deutlich werden. Hesychiastische Mystik in St. Denis öffnet den Blick auch auf taoistische und Zen-Meditation und darüber zugleich auf Elsa Gindlers und Lily Ehrenfrieds Impulse von Atmen, Bewegen und Erkennen, Body-Awareness und Atemlehre. Bakunin, Kropotkin, Tolstoi und linkshegelianisch-marxistische Traditionen sind neben Gestaltpsychologie und Existentialismus auch in die französischen Strukturalisten und Leibphänomenologen eingeflossen, die zur eisernen Ration Integrativer Therapie gehören. Über Iljine kommt der Kontakt zum Ferenczi-Kreis und der Psychoanalyse sowie zum Psychodrama. Die USA-Erfahrungen mit Gestalttherapie, Familientherapie, Gruppendynamik und Bioenergetik sind zugleich auch ein Impuls geworden, wie man es nicht machen sollte. Dagegen sind die von Goodman verfolgten alternativpädagogischen Selbsthilfekonzepte und ihre Quellen sehr bestimmend geworden. Petzolds surrealistische und symbolistische künstlerische und literarische Quellen zeigen das Interesse am Raunen des Wahnsinns in der phantasmatischen Alienation der gestalteten Traumgesichte. Nicht aufgeführt sind Comics wie Lucky Luke.
Es sind in der Aufnahme von Philosophie und Meditation die Wurzeln des europäischen Selbstverständnisses gegenüber den reduktionistischen Ansätzen einer biologistischen oder kybernetischen Maschinenpsychologie und ihren brachialen amerikanischen Ausformungen bewahrt. Neben Somato- und Psychotherapie ist Nootherapie als gemeinsame Sinnfindung in den Entfremdungen und Beziehungslosigkeiten eines universellen Technifizierungstrends unserer Zivilisation und ihrer Wissenschaften ebenso notwendig geworden. Der Geist ist wieder zum Träger der Vernunft instauriert, nachdem er in der Psychologie als Untersuchungsgegenstand den Status gequälter Ratten teilen mußte. Der Mensch hat und ist Körper, Seele und Geist. Und indem er seinen Körper, seine Seele und seinen Geist hat, ist er zugleich mehr als Körper, Seele und Geist: er ist Subjekt in der Gesamtheit seiner Leiblichkeit. Petzold begreift die Übersummationsregel, nach der die Konstellation der Momente einer Gestalt gegenüber der Summe der in ihr registrierbaren Elemente eine neue Qualität bildet, als Synergieprinzip.(15) Das Gewahren der Synergie im komplexen Bewußtsein ist deren Synopse.
Der Leib ist in seiner Gesamtheit ein totales Sinnesorgan. Petzold unterscheidet den perzeptiven, den memorativen und den expressiven Leib. Alle Einzelsensationen laufen komplex zur Gesamtwahrnehmung,
zur Polyästhesie, zusammen. Spitz sprach beim Kind von coenästhetischer Wahrnehmung in ganzheitlichen Gestalten mit einer Fülle an Sinnlichkeit, die abdressiert wird im Prozeß kultureller Disziplinierung und Desensualisierung. Der perzeptive Leib ist Basis aller künstlerischen Expressivität. Daher eröffnet die Arbeit am künstlerischen Ausdruck den Zugang zu anästhesierter Wahrnehmung, zum Verdrängten. Kreative Medien sprechen die verkümmerten Polyästesien über Expressivität an. Der perzeptive Leib ist mit dem expressiven aufs Engste verschaltet über den memorativen Leib, das Gedächtnis.
Die Leiblichkeit des Menschen ist die basale Säule der Identität; ohne Leib kein Sein. Leib ist die Einheit von Körper, Seele und Geist. Petzold nimmt hier die gestaltpsychologisch fundierten Forschungen Maurice Merleau-Pontys mit den Theorien seines Doktorvaters Gabriel Marcel auf.(16) Aber auch die Leibforschung des Kieler Philosophen Hermann Schmitz ist in den letzten Jahren immer stärker gehört worden.
Waren für Descartes Seele als res cogitans und Körper als res extensa getrennt wie Innen und Außen, so geht Merleau-Ponty in seiner Beschreibung der Seele als der 'Struktur des Verhaltens' 1942 nach der Analyse von Pawlows Reflexologie und Gestalttheorie gegen deren empiristisch-materialistische aber auch gegen die intellektualistisch-rationalistische Erkenntnistheorie (Kants Kritizismus) bei der Beschreibung physischer, vitaler und menschlicher Ordnungen vom Synkretismus der Gestalten aus. (17) Strukturen und Gestalten sind nicht an sich in Materie, sondern die Form, in der Materie sich dem Bewußtsein erschließt.(18) Psyche und Geist sind weder Substanz noch reine Idee, vielmehr Dialektiken der Verschränkung beider oder Einheitsformen.(19) Das Wahrnehmungsbewußtsein ist zugleich ein »Fluß individueller Ereignisse, konkreter und widerständiger Strukturen« und ein »Gewebe aus ideelen Bedeutungen«.(20) Im Wahrnehmungsfeld als originärer Erfahrung steht neben äußeren Objekten der eigene Leib als erkennendes Bewußtsein und zu erkennendes Objekt eben dieses Bewußtseins selbst.(21) Der sensorische Apparat des Körpers ist dabei nicht zwischen Subjekt und Objekt geschaltet. »Ich nehme die Dinge direkt wahr, ohne daß mein Leib zwischen ihnen und mir einen Schirm bildet, er ist genau wie sie ein Phänomen, ausgestattet allerdings mit einer eigenständigen Struktur, die ihn mir als ein Zwischenglied zwischen der Welt und mir erscheinen läßt, obwohl er es tatsächlich nicht ist.(22) Die Abschattungen der Dinge in mein Wahrnehmen hinein stehen mit den Dingen selbst in intentionaler Beziehung, sind ihre Bedeutung für mich, nicht aber deren realistisch-logische eindeutige Entsprechung.
Merleau-Ponty ersetzt Freuds Energiemodell durch ein Bedeutungsgefüge gestalthafter Strukturen. Mit Sartre beschreibt er das Unbewußte als eine bislang unbemerkte Bedeutung: »Es kommt vor, daß wir nicht selbst den wahren Sinn unseres Lebens erfassen, nicht etwa, weil eine unbewußte Persönlichkeit untergründig in uns vorhanden ist und unsere Handlungen steuert, sondern weil wir unsere Erlebniszustände unter eine Idee fassen, die ihnen nicht adäquat ist.«(23)
In seiner 'Phänomenologie der Wahrnehmung' geht Merleau-Ponty 1945 von der Leibesempfindung aus, die mir widerfährt, wenn ich Hand an mich lege: ich bin Berührer und Berührter zugleich, Subjekt und Objekt meiner selbst, lebend fungierender Leib (corps vivant, phénomenal, fonctionel, propre) und Körperding (corps objectif, physical).(24) »Doch mein Leib steht nicht vor mir, sondern ich bin in meinem Leib, oder vielmehr ich bin mein Leib.«(25) Mittels des Leibes bin ich den Dingen verbunden, die ich wahrnehme als meine Welt.(26) Über den Erwerb von motorischen Gewohnheiten, von Saugen, Greifen, Blick, Geste, Lallen, Sprache, befinde ich mich schon sozial eingeübt, bevor ich es erfassen kann.(27) Bewußtsein ist immer schon in Sinnlichkeit eingetaucht.(28) Und sinnliches Empfinden beruht immer schon auf Koexistenz.(29) Die Sinne als einzelne Felder der Pezeption kommunizieren in der Wahrnehmung miteinander. Im Empfinden sind sie immer schon mit der Intentionalität der dem Raum einwohnenden motorischen Leiblichkeit zu Synästhesien verschlungen. Der Mensch ist ein sensorium commune.(30)
Schmitz hat in seinem 'System der Philosophie' Leiblichkeit als Basis allen Erkennens und Seins entfaltet.(31) Wir nehmen Situationen und Atmosphären als diffuse Eindrücke in viel komplexerer Dichte als chaotische Mannigfaltigkeit wahr, als die physiologische Messung von Stimuli stattgeben will. »Zwischen den Spitzen auffälliger Eindrücke gibt es die Scharen der unauffälligen. Wir leben in einem Meer von Eindrücken.«(32) Besonders die animalischen Geruchserinnerungen müssen einen unermeßlichen Reichtum in sich tragen. Das Beriechen des Anderen offenbart seine innerste Befindlichkeit. Beim Gourmet, beim Weinkenner und beim Parfümdesigner sind die archaischen Sinne unzerstört geblieben. Gerüche können betörenden Zauber wirken.
Im Akt der Wahrnehmung gibt es kein Nacheinander von Sinnesdatenerfassung und rationaler Synthesis, sondern ein blitzschnelles Ineinander von Erfassen, Reagieren, Behalten und Reflektieren.(33) Kampfsport wie Kung Fu, gemeinsames Sägen, Rudern und Rammeln in synchroner Abgestimmtheit offenenbaren die Möglichkeiten eines zwischenleiblichen 'Koagierens ohne Reaktionszeit'.(34) »Dank der intensiven und rhythmischen Konkurrenz von Spannung und Schwellung ist das leibliche Befinden in sich dialogisch.«(35) In diesem innerleiblichen neuromotilen Dialog von Impuls und Hemmung ist Angst/Schmerz in Wollust (thrill; S/M) konvertierbar. Memoration ist keine Introjektion der Idee eines Gegenstandes in ein singuläres cerebrales Archiv. Viele atmosphärische Gefühle, Panik, Wetterstimmungen sind kollektiv, bei allen gleich.(36)
Leib ist in der Welt durch den Körper als räumlich sich im Raum Erstreckender. Er ist der absolute Ort meines Hierseins, unabhängig von der Relation zu geographischer Verortung. Neben atmosphärischem Badewannenbehagen und Siesta-Abschlaffung, die den ganzen Leib »durchstimmen«, gibt es ohne Sehen oder Tasten Eigenleibwahrnehmung von abgrenzbaren Körperzonen, den Leibesinseln(37), nur im Störfall Schmerz, Reizung von außen oder innen. Mund und Anus sind prägnanter wahrnehmbar. Aufgrund unseres eigenleiblichen Spürens, Betastens und Betastetwerdens, Spiegelsehens und Gesehenwerdens bilden wir ein Körperschema aus, welches perzeptiv die habituelle optische Vorstellung vom eigenen Körper ist, motorisch aber richtungsräumlich angelegt ist.(38) Nicht Hautflächen, sondern prädimensionale Volumina in unteilbarer Ausdehnung werden wahrgenommen.(39) Neben prägnanter Wahrnehmung von Druck, Schmerz, Kühle oder Jucken in einzelnen Leibinseln gibt es das diffuse Allgemeinbefinden als ganzheitliche Leibesregung am absoluten Ganzort des Leibes hier und jetzt.(40) Leibliches Befinden steht im Gezeitenwechsel von Engung und Weitung, Kontraktion und Erschlaffung, Spannung und Schwellung.(41) In der Wahrnehmung gibt es Eindrücke mit Sinnesqualitäten wie Farbe, Schall, Geruch, die entweder Dingeigenschaften sind oder Manifestation von »Halbdingen«. Stimme, Tonfolgen, Kälte sind Halbdinge.(42)
Der Leib ist nicht im Raum, er wohnt ihm ein.(43) Die originäre Bewegungsmotorik erfaßt Raum nicht als Konstellation von Positionen (geometrischer Naturraum), sondern als situative Erstreckung, orientiert an den Intentionen, die der Leib in Bewegung verfolgt.(44) In Erfahrung der Räumlichkeit sind wir fixiert in der Welt. Wir erfahren Räumlichkeit der Nacht, den geschlechtlichen und den mythischen Raum als Lebensraum.(45) Einleibung als leibliches Verbundenheitserleben mit den Gegenständen der Wahrnehmung ist konstitutiv für die Differenzierung und Strukturierung des Wahrgenommenen. Im Kleintschen Drehstuhlversuch erlebt die mit geschlossenen Augen unmerklich langsam gedrehte VP, daß die Dinge nach Wiedereröffnung der Augen weg sind, chaotisch, diffus, irreal und abstandslos wirken; der Effekt gibt sich schnell mit neuer Einleibung als Herstellung neuer Koordinaten der Raumerfassung.(46) Bewegungen sind oft die verkürzte Form einer ursprünglich viel weiter ausladenden Bewegungsgestalt; dennoch nehmen wir in der Andeutung die Bewegungssuggestion des ausladenden Gestaltverlaufs wahr, vollführen sie innerlich mit, deutlich beim musikalischen Groove oder Ohrwürmern.(47) »Mit den Sinnesqualitäten sind stets synästhetische Charaktere verwachsen... Sie sind gleichsam Infiltrate leiblicher Regungen im Wahrgenommenen.«(48)
Schmitz unterscheidet drei Schichten von Räumlichkeit: Im Weiteraum ist der Richtungsraum und in diesen wiederum der physikalisch erforschte Ortsraum eingetragen. Den Weiteraum als uneingrenzbarem Drumrum des absoluten Orts, den der eigene Leib darstellt, erfahren wir im Klimaspüren. Artikuliert(49) ist er da, wo ich ihn von meinem Leib abgehoben erlebe.
Im Richtungsraum erstrecken sich die leiblichen Intentionen: Blick oder Griff, Schritt, Fall führen aus der Enge des absoluten Ganzorts Leib irreversibel in die Weite des Raumes und gliedern ihn damit in Gegenden.(50) »Der leibliche Richtungsraum ist die Domäne der Motorik. Alle gekonnten, flüssigen, anmutigen Bewegungen, alle unwillkürlichen Gebärden und tierischen Handlungen orientieren sich in ihm.«(51) Tanz und Kampfsport zeigen, daß auch der nicht sichtbare Raum hinter mir Feld meiner Bewegung ist, eine Orientierung an relativen Orten (Tresenkante für Hinterkopfaufschlag z.B.) ist unmöglich. Der Richtungsraum der Gefühle, der Gefühlsraum, ist umgekehrt das Einströmen von Atmosphären aus der Weite über den von ihnen ergriffenen Leib.(52) Das motorische Körperschema ist also richtungsräumlich konstituiert.(53)
Der Ortsraum besteht aus Lagen, Abständen von relativen Orten, ist geometrisch erfaßbar. Alle Richtungen und paarende Verbindungen sind auch umkehrbar. »Flächen stellen sich leiblichen Richtungen als autonome Spielräume für Auf- und Umbau von Netzen paarender Verbindungen zwischen Zielen solcher Richtungen in den Weg.«(54) Erst mit optischer Erkenntnis der Fläche ist die dritte Dimension des Raumes wahrnehmbar und meßbar. Akustisch sind Entfernungen und Richtungen von Schallquellen zu orten, nicht aber eine differenzierte Ortsraumwahrnehmung. Die Differenzierung der Raumwahrnehmung des physikalischen Ortsraumes ist allerdings »nur über einem leiblichen Weite- und Richtungsraum möglich... Relative Orte empfangen ihre Bestimmtheit letztlich aus absoluten Orten des leiblichen Befindens.«(55) Dieser absolute Ort ist nicht identisch mit dem Körperstandort, sondern mit seinem Feld, in das der Körper sich eingeleibt hat. Das perzeptive Körperschema ist eine optische Vorstellung vom eigenen Körper; es ist daher auch, anders als das motorische, ortsräumlich.(56) Natürlich sind beide Körperschemata ohne Reaktionszeit koordiniert zu einer Synergie.(57)
Menschsein ist être-au-monde, Sein zur Welt hin.(58) »Wie wir gesehen haben, bringt das fremde Verhalten eine bestimmte Existenzweise zum Ausdruck, noch bevor es eine bestimmte Denkweise bedeutet. Und wenn dieses Verhalten sich an mich wendet, wie es im Dialog geschieht, und sich meiner Gedanken bemächtigt, um auf sie zu antworten,... so werde ich in eine Koexistenz hineingezogen, die ich nicht als einziger konstituiere«.(59) Wenn Wahrnehmen, Erfassen, Verstehen und Erklären eine motorische Aneignung der Welt durch Blick und Greifen nach den geliebten Dingen und Menschen lediglich verfeinern, ist schon die Struktur der Wahrnehmung sozial prädiziert: »Man nimmt in mir wahr, und nicht ich nehme wahr«.(60) Der vor-ichliche Impuls der Nachahmung(61) bewirkt, daß ich mich bereits in mein Verhalten eingesetzt finde, bevor ich fähig bin, mich für es willentlich zu entscheiden. Das Ich, dem dies widerfährt, nennt Merleau-Ponty »natürliches Ich«.(62) Dieses natürliche Ich, als das ich meinen Leib erlebe, ist mein vinculum zur natürlichen Welt wie zur sozialen Mitwelt.(63) Im Subjekt koinzidieren intentionaler Weltentwurf, Welt als Feld aller Sinnenfelder, Zeitlichkeit und Lebenszusammenhang.(64) Die Verwobenheit von Ich und Welt erscheint wie in der kindlich-narzißtischen Optik: Welt als »Verlängerung des Leibes« und »aus dem Stoff des Leibes«.(65) Die Wahrnehmung des Anderen in der Zwischenleiblichkeit (intercorporéité)(66) ist in der Verflechtung von natürlicher Uhrzeit und intentionaler, erlebter und narrativ präsenter geschichtlicher Zeit(67) selbst noch in der anonymen Einsamkeit gegeben, in der mich Kulturgegenstände wie meine Pfeife, mein Flügel und die Klobrille an das Rauchen, den Seelengesang und das Scheißen der Anderen erinnern und mir ihren in der Konstruktion der Kulturdinge ergonomisch eingeschriebenen Habitus anbieten.(68) »In der Erfahrung des Dialogs konstituiert sich zwischen mir und dem Anderen ein gemeinsamer Boden, mein Denken und seines bilden ein einziges Geflecht, meine Worte wie die meines Gesprächspartners sind hervorgerufen je durch den Stand der Diskussion und zeichnen sich in ein gemeinsames Tun ein, dessen Schöpfer keiner von uns beiden ist. Das ergibt ein Sein zu zweien... unser beider Perspektiven gleiten ineinander über, wir koexistieren durch ein und dieselbe Welt hindurch.«(69) Diese Welt ist Ort der Bedeutungen.(70) »Alles Für-sich-sein... muß sich abheben von einem Untergrunde des Seins-für-Andere... Mein Leben muß einen Sinn haben, den ich nicht konstituiere, es muß in strengem Sinne Intersubjektivität sein, ein jeder von uns muß in eins anonym im Sinne absoluter Individualität und anonym im Sinne absoluter Generalität sein.«(71) Niemals schweben wir frei im Nichts.
Als »Einleibung« bezeichnet Schmitz das Eintreten in leibliche Dialoge mit Partnern oder Gegenständen zu »Ad hoc-Leiber(n) oder Quasileiber(n)«.(72) Faszination, Suggestion, aufkommende Partystimmung ersetzen die schwer überwindbare zwischenmenschliche Distanz durch »permaneten leichten Schwindel« mit erotischem Charakter.(73) Schmitz unterscheidet antagonistische (Rivalität, Kampf) und mit jener verschränkte solidarische Einleibung (»solidarisches Sägen, Rudern oder Musizieren«).(74) Einseitig ist Einleibung beim Überfall oder in der Hypnose. Fast alle Einleibung ist aber wechselseitig und ermöglicht fein abgestimmte »Eugenie«, gegenseitiges Hochschaukeln im Kontakt auch mit Tieren und Maschinen.(75) Der verträumt dösende Blick in die Landschaft dagegen ist Ausleibung, entspanntes, trancehaftes Ausströmen aus Enge in die Weite.(76)
Gabriel Marcel beschreibt den Leib in der Dialektik von Haben und Sein eingebettet in das Apriori einer als Schicksalsgemeinschaft koexistierenden Menschheit, in der sein Glück das Erkennen des Anderen in der Liebe ist. Folgen wir seinen Gedanken: »Der Leib ist die Wurzel des Habens und die Bedingung jedes dinghaften Besitzes. Trotzdem ist und bleibt er unverfügbar...indem ich Leib bin, habe ich einen Körper... Wie alles Habhafte kann mich mein Körper tyrannisieren und entmachten. Stets bin ich ihm und seinen Schmerzen ausgesetzt, immer in Gefahr, mich an ihn zu verlieren, mich in ihm, dem ich auf rätselhafte Weise anhafte, aufzulösen.«(77) Der Körper als Instrument verweist auf ein verfügendes Subjekt. Dieses erfährt sich im Gewahrwerden des Leibes unmittelbar, so vermittelt es auch immer sein mag.(78)
Vermittelt ist der Leib als sozial produzierter und geformter: »Ich bin, indem ich immer schon dem Anderen verbunden und der Gemeinschaft anderer Menschen einbezogen bin... Das Mit-Sein ist ursprünglich. Das menschliche Selbst ist nicht nur nicht ablösbar; es ist vielleicht nichts anderes als dieses Beim-Anderen-Sein.«(79) Nicht ins verlorene uterinale Paradies tendiert Mit-Sein, sondern in den Abstand von Forderungen, Rufen, Bestimmungen, Erwählungen, Liebe.(80) Der Leib ist sich, anders als sein Körper, nicht verfügbar, ist sich unfaßlich, bleibt sich Geheimnis.(81) Am Unwohlsein und am Glück wird das Unfügbare deutlich. Glück ist wie Ruhe Gegenpart der Angst: »Ruhe ist reine Leib-Erfahrung, in der sich der Körper nahezu aufgelöst hat«.(82) Erst Unwohlsein, Angst und Schmerz provozieren das sprechende Ich als Sekundärphänomen, als Notwehr.(83) Es wird gelitten und gesprochen. Man sagt Ich. »Existenz ist nie frei vom Leid. Als Dasein in Zeit ist sie immer leidvoll.«(84) Die Verwobenheit in Geschichte erfahre ich als Schicksal, das mir anhaftet. (85) Mit meinem Leib bin ich »eingesenkt in das Beisammensein mit vertrauten, geliebten, [mir] brüderlich verbundenen Menschen... In unserem Leibe nimmt die Beziehung zu allen Menschen, die wir lieben, und nimmt die Geschichte unseres Einbezogenseins ins Universum Gestalt an.«(86) Marcel erinnert an die Mythen des Urmenschen, Adam Kadmon oder die paulinische Idee der Gemeinde als neuer Leib Christi mit seinen Gliedern, von denen jeder von uns eines ist mit seinen Begabungen: Diese Mythen erfassen, daß wir niemals allein existieren, sondern inkarniert werden in eine Schicksalsgemeinschaft. »Für eine solche Schicksalsgemeinschaft kann ich mich nicht entscheiden. In sie bin ich immer schon eingeboren und mit allen Fasern meines Wesens eingeflochten. Sie entspringt nicht der Einwilligung ihrer Teilnehmer in dieses Beisammensein«.(87)
Das Begehren des Leibes richtet sich auf den Leib des Anderen als Wunsch, ihm zu begegnen. »Für eine echte Vereinigung ist der Wegfall der Unterscheidung, ja der Unterscheidbarkeit von innen und außen kennzeichnend. In dieser Erfahrung wird realisiert, was Leib als Einbezogensein, als immer schon Verbundensein mit dem anderen in letzter Wahrheit ist: Wesensgestalt des Menschen ohne Ausschluß irgend eines anderen Seienden, das umfassende Präsentsein in Gemeinschaft. Und gerade dies wird in der Erfahrung geschlechtlicher Vereinigung offenbar.«(88) Die Liebe ist Ausdruck dieses Erlebens, zugleich ist ist umfassenste Weise des Erkennens eines anderen. »Viele Beobachtungen sprechen ... dafür, daß zwei Menschen, die einander lieben, gleichsam leibhaft die äußersten existentiellen Möglichkeiten des Geliebten wahrzunehmen vermögen. Weit entfernt davon, blind zu sein, scheint Liebe geradezu hellsichtig für die Möglichkeiten des anderen Menschen zu machen.«(89)
»Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.«(90) Die Dialektik des Weltprozesses als Realexplikation derMaterie, die zu Bewußtsein gelangt, wird von Bloch zum Anheben der Philosophie des arbeitenden Wesens Mensch gemacht.
»Die Welt ist schon konstituiert, aber nie ist sie auch vollständig konstituiert. In der ersten Hinsicht sind wir von ihr in Anspruch genommen, in der zweiten offen für unendliche Möglichkeiten.«(91) Merleau-Ponty geht von der Leibesempfindung des Phantomgliedes aus, was real abwesend, empfindungsmäßig aber noch da ist.(92) Während die unpersönliche Zeit weiterfließt, stockt die persönliche Zeitlichkeit.(93) »Jede Gegenwart erfaßt letztlich durch ihre Horizonte unmittelbarer Vergangenheit und nächster Zukunft hindurch das Ganze aller möglichen Zeit«.(94) Die Gründung des Zeitzusammenhanges im Erkenntnissubjekt vollzieht sich selbst im Vergehen eben dieser Zeit.(95) Auch Marcel sagt: »Mit der Leiblichkeit ist immer die Geschichtlichkeit gegeben.«(96)
Petzold spricht in diesem Kontext vom Zeitleib, der seine Leib-Zeit hat, wie alles seine Zeit hat. »Mein Leib als Gestalt meines Lebens und Sterbens ist nicht wie der Körper nahezu zeitlos zu betrachten und zu verstehen, sondern nur geschichtlich: als eine nicht klar konturierte, nicht eindeutig abgrenzbare, vieldimensionale... Form meiner Anwesenheit. In ihr präsentieren sich symbolisch meine Vergangenheit, das in mir fortlebende Erbe meiner Ahnen, meiner Tradition, wie meine ebenso uneingrenzbaren Möglichkeiten und Verheißungen in Zukunft. Als Präsentation ist der Leib eine Zeitgestalt.«(97)
Der Ausdruck des Seins in Zeit-Räumen ist in jedem Rhythmus präsent, jedem Herzschlag, jeder Weitung und Engung. »Mit der Geburt wird ein Anfang gesetzt für eine Lebensspanne, die ein Ende finden wird... Diese Spanne ist 'meine Zeit', mit jedem Atemzug, jedem Herzschlag.«(98) Die Zeitlichkeit kann bewußt sein als Kohärenz der ihre Lebensspanne überblickenden Person. »Das wache, besonnene Mensch lebt als solcher in entfalteter Gegenwart. Als personales Subjekt steht er über dem Hier und Jetzt, an das er leiblich gebunden ist, das Dasein überholend, wie etwa die Möglichkeit zeigt, auch noch den eigenen Tod, das eigene Nichtsein zu bedenken und auf sich zu nehmen«.(99)
Schmitz unterscheidet als Pole des Lebens die primitive Gegenwart als Enge des Leibes im plötzlichen Aufschrecken, der das Tier von der Pflanze unterscheidet, von entfalteter Gegenwart des klarbewußten, geistesgegenwärtigen Menschen.(100) Je weiter das Bewußtsein sich aus der Enge der Angst reflektierend emanzipiert, um so mehr rückt ihm die primitive Gegenwart als bloße Tatsache fern. Umgekehrt nähert sich in der personalen Regression das Bewußtsein wieder der primitiven Gegenwart. Statt von Schichten spricht Schmitz lieber von Niveaus. »Aus dem Zusammenwirken personaler Emanzipation und Regression... entwickelt sich in der Lebensgeschichte... die persönliche Situation..., die in der Alltagsrede und der psychologischen Forschung mit vager Sinngebung und irreführender Hypostasierung als Persönlichkeit bezeichnet wird.«(101) Leibliche Disposition als wandlungsfähiges Klima ganzheitlicher leiblicher Regungen ist mit Features wie Stärke, Ermüdbarkeit, Reizempfänglichkeit usw. die biologische Grundlage personaler Konstitution.(102) Temperament ist dabei eher ein problematischer Begriff.(103)
Kontinuität in der Zeit ist für Petzold als Identitätsmerkmal neben der sozialen Vernetzung basales Grundgefühl. Gedächtnis ist ein Zeitphänomen, wenn im Symbol das abwesende Vergangene anwesend wird.(104) Folge vergangener Noxen sind Symptome und psychisches Leiden. Materielle Sicherheit, eine Säule der Identität, bedeutet die Versorgung in der Zukunft. Menschen vor der Hinrichtung, Sterbende haben keine Zukunft mehr. Damit ist ihre Gegenwart eminent affiziert. Zeit als Zukunft vor sich zu haben, bedeutet eine basale Dimension der Selbstgewißheit und Identität, die wesentlich relevanter ist als die Gewißheit materieller Sicherheit. Das Wissen des nahen Todes löst fundamentale Krisen aus, die, etwa durch das Lebenspanorama, nicht zu bewältigen, wohl aber zu mildern sind.(105) Prozessuale Diagnostik und Viationen der Therapie zeigen ebenfalls die Unverfügbarkeit der Zeit, die quasi forcierte Reifungszeit ist.
Petzold bestimmt den Körper als Ort der Träume und des Begehrens. »Der phantasmatische Leib birgt in sich den guten und den bösen Traum, den Wunsch nach Unsterblichkeit, Unbesiegbarkeit, Schönheit, Vollkommenheit und das Wissen um Schwäche und Zerfall, die Phantasien der Einverleibung..., die Erinnerung an die gute und an die böse Brust..., den Alptraum, den Paradiestraum, den Erlösungstraum: dream body, subtle body«.(106) Mit Adorno gegen Freud optiert Petzold für die Ent-Disziplinierung des Es, für die Vertrautheit mit dem zerbrechlichen Gleichgewicht von Angst und Lust in den vielfältigen Formen der Traumgestaltung, von der Kunst lebt.(107) Auch der Traumleib, das Unbewußte, ist wie eine Sprache strukturiert. Er formt Symbole und verschiebt Bedeutungen auf andere Dinge, kurz: er teilt das Wesen der Sprache, Metapher zu sein. »Der Körper wird von der Sprache ergriffen. Seine Teile werden benannt. Er... tritt selbst durch sein Sprechen, durch die Körpersprache... in den Bereich der Symbolisierung ein«.(108)
Petzold geht aus von der auf Beziehung angelegten Menschlichkeit.(109) Über Verständigungssysteme wie Sprachen und tonische Dialoge tauschen Menschen Informationen aus, die Expression ihrer Wünsche, ihres Begehrens. Sie entwickeln sich immer schon in den Dialogen dieser Verständigung. Über diesen sensomotorischen Austausch bestimmen sie die Form ihres Selbst. Menschen sind - wie nahezu alle Tiere - Kommunikationsgiganten, die in allen ihren Lebensvollzügen sozial agieren, in Korrespondenz mit anderen leben. In dieser schon uterinal beginnenden Korrespondenz findet ein Zusammenwirken oder Kooperation statt auf der Basis in Diskursen der Macht ausgehandelter Normen, von denen die primäre die Sprache selbst ist. Sprache als Kontext wird vorgefunden, eingeübt und weitergesprochen. Über sie stellen sie Konsens her, konstituieren sie semantische und logische Beziehungen als Elemente eines zunehmend komplexer konstellierten Sinngefüges der Weltbeschreibung.(110) »In Wahrheit sind intellektueller Entwurf und die Setzung von Zielen nur die Vollendung eines existentiellen Entwurfs. Ich bin es, der meinem Leben einen Sinn und eine Zukunft gibt, doch das will nicht sagen, daß dieser Sinn und diese Zukunft begriffen sind; beide entspringen vielmehr aus meiner Gegenwart und Vergangenheit und insbesondere aus meiner gegenwärtigen und vergangenen Weise der Koexistenz. Auch noch im Falle des Intellektuellen, der zum Revolutionär wird, entsteht der Entschluß dazu nicht ex nihilo«.(111)
Petzold begreift die Abfolge Konfluenz, Kontakt, Begegnung, Beziehung, Bindung als »zentrales Paradigma heilenden Handelns« in einer auf »Beziehungsfähigkeit als ultimatives Therapieziel« fokussierten Entwicklungsdynamik, in der Therapie den menschlichen Reifeprozeß nachbearbeitet oder intensiv fördert.(112) Aus der uterinen Konfluenz der leiblichen Mutter-Kind-Einheit muß sich das Kind trennen. Es lebt in Erinnerung(113) der embryonalen Einheit hinfort im Spannungsfeld zwischen zeitweiliger Verschmelzungserfahrung und verschiedenen Graden des leiblichen Getrenntseins. »Die Auflösung der Konfluenz in Kontakt als Möglichkeit der Abgrenzung, Ausgrenzung und damit Differenzierung wird... konstitutiv für die Ausbildung einer komplexen Persönlichkeit, die über eine zweifache Spiegelerfahrung Identität gewinnt: einerseits über den Spiegel des Gesichts der Mutter, deren Lächeln ich erkenne... andererseits im Spiegel aus Glas, in dessen Widerspiegelung ich das 'Bild meiner selbst', mein Selbst identifiziere... Dieser Prozeß der Lösung aus der primordialen positiven Konfluenz ist nicht ungefährdet. Er bedarf einer Mutter, die freigibt, losläßt, in einer Weise, die dem Rhythmus des kindlichen Loslösungsprozesses entspricht.«(114) Kontakt ist Berührung und Abgrenzung zugleich. Kontakt ist physiologische Informationsvermittlung und ihre Interpretation aus dem Fundus der leiblich sedimentierten vorgängigen Kontakterfahrungen.(115) Alle Erfahrung kommt durch Kontakt, durch Austausch von Materie und Information zwischen Innen und Außen, propriozeptiver Leiberfahrung und exteriozeptiver Umfeldwahrnehmung. Perls' zentrales Modell des Ichs als selbstregulative Kontaktgrenze des Organismus im Stoffwechsel mit der Umwelt kommt hier zum Tragen.(116)
In Isolation A (Autismus, Katatonie, Einzelhaft) und Rückzug B fehlt die Identifizierung von außen, das Ich schwankt oft zwischen Grandiosität und Selbstverachtung.(A+B+/A-B-) Positive Konfluenz in Orgasmus, Tanz, Musikerleben D geht immer wieder zurück in die Ausgangsstellung C, Kontakt, Berührung und Abgrenzung zugleich. Diese eröffnet in Anerkenntnis der Fremdheit im Anderen Begegnung und Beziehung. Empathie als einseitige positive Konfluenz E ist reversibel zu C/B. Einseitige Bemächtigung, Fixierung auf den Anderen und der Wunsch, in ihn einzudringen, prägen Übertragungsneurose und Intrusion F. Will dies der Andere ebenso, kommt es zur pathologischen Fusion G. Abgrenzung ist hier nicht mehr möglich. Uterinale Symbiose H ist die Urvollkommenheit.
Dieses Modell steht noch stark im Bann des Perlsschen Konfluenzbegriffs, der aus seiner monadischen Organismustheorie auf die Assimilation des Gefressenen achtet, aber unfähig ist, die filigrane Feinheit des intersubjektiven Geschehens vielsträhniger Polyästhesien und ebenso vielsträhniger Leib-Mitteilungen zu erfassen.(117) Auch Konfluenz ist voller Dialoge. Und jeder Dialog ist Kontakt in seiner Dialektik von Grenzung und Vereinigung des Gemütes.(118) Weiter ist die Einordnung von Begegnung und Beziehung unter Position C (Kontakt) nicht überzeugend, weil beide von gegenseitiger Empathie geprägt sind und damit zu einer modifizierten Position E gerechnet werden müßten, die im Schaubild nur als Position D mit den Beispielen Liebe und Musikerleben aufgeführt ist. Die Mutualität der Begegnung und Beziehung mit ihrer Fähigkeit, auch die Einsamkeit des auf seinen Tod vorlaufenden Seins zu erleben(119) (Position B), und gerade die wechselseitige Gegenübertragung im therapeutischen Geschehen müßte als die quasi ideale Ausgangsstellung angesehen werden und nicht die sterile und abstrakte Position C, die als Tangente zweier Kreise in freier Wildbahn nicht vorkommt. Die pathologische Konfluenz F (Intrusion) und H (Fusion) sind gerade durch fehlende Empathie, fehlenden Dialog und fehlende Wahrnehmung des Anderen geprägt, hier fließt eben keine Information wirklich über zum Anderen oder vom Anderen, wie es in der Uterinaldyade feststellbar ist. Es zeigt sich, daß der Begriff der Konfluenz wenig geeignet ist, die Störung der Verständigung, die der Neurose oder Psychose eignet, angemessen zu erfassen. Wenn das Verschmelzende eines Klienten nur die sich dem Anderen anschmiegende Feinspürigkeit seiner Polyästhesien ist, handelt es sich vielleicht eher um die Bedrohlichkeit eines Kommunikationsangebots auf einer inkommensurablen oder sogar übergroßen Bandbreite, die dem Therapeuten Angst einjagt, weil sie dessen Korrespondenzfähigkeit überschreitet. Es ist weiterhin zu bedenken, daß Abgegrenztheit und Konfluenz schichtspezifisch variieren und Bemächtigung entgegen dem bürgerlichen Autonomie-Ideal eine Form von Männlichkeit oder Dominahabitus darstellen kann. Auch Fusion könnte Eheideal in manchen Subkulturen einer Gesellschaft sein. Was also im Spektrum zwischen Isolation und Symbiose als idealtypologische Ausgangsstellung anvisiert wird, kann durchaus von Subkultur zu Subkultur verschieden sein. Der Therapeut ist immer Gast in einem sozialen Feld, er muß die Folgen einer veränderten Kontaktpraxis des Klienten im Sinne von Bela Grunbergers Über-Ich-Revolte(120) mitbedenken, wenn er seine Art, Nähe und Distanz zu regulieren, für den Klienten verbindlich macht.
Kontakt ist immer auch Grenzung. Anna Freuds Abwehrmechanismen sind Grenzmechanismen. Widerstand als aktuelle Gestaltung der Abwehr, die jeder Kontakt darstellt, ist in der Abwehr toxischer Umwelteinflüsse überlebenswichtiger Beistand. An Widerstandsfähigkeit bemißt sich Gesundheit. Abwehrmechanismen sind die fundamentalen Verhaltensmuster, mit denen Menschen sich begegnen. Streng genommen hat jeder Abwehrmechanismus einen Berührungscharakter und einen Grenzungscharakter zugleich, weil Abwehr immer Kontakt ist. Ist der »Widerstand« effektiv und wunschverwirklichend oder bewirkt er als anachronistisches Problemlösungsverhalten in einer modifizierten Umwelt etwas ganz anderes als Beistand? Wenn er der Gesamtintention der Persönlichkeit zuwiderläuft, wird er zum dysfunktionalen charakterlichen Störfaktor. Das Widerstandsproblem entpuppt sich als das eines sozialen Funktionswandels eines ehemals schützenden Verhaltens. Durch die Entwicklung werden permanente Neuanpassungen für das sich diversifizierende und Erfahrungswissen akkumulierende Menschlein nötig; Widerstand ist also fehlende adaequatio intellectus ad voluntatem.
Identifikation - mit dem Filmhelden, dem Heldenvater, den geliebten Eltern, mit der Mutter, die man konfluent zunächst ja als Teil des grandiosen eigenen Größenselbst betrachtet, ist die Fähigkeit, sich an die Stelle des Anderen zu versetzen, sich in die Gefühle des Anderen hineinzufühlen, seine Gedanken nachzudenken. Dies setzt die Fähigkeit zur Transzendenz, zum Hinüberschreiten zu einer exzentrischen Position voraus, wie sie ebenfalls in der Selbstreflexion eingenommen wird. Identifikation ist Nachahmung der Rolle des Anderen, ist Mimesis. Mimesis aber ist ein empathischer Akt, Urform von Liebe: Einfühlung der Gefühle des Anderen. Es ist eine Form von Introjektion, Verinnerlichung der Rolle des Anderen mit ihrem Gesamtsetting von Merkmalen. Es kann eine Wahl sein, eine Liebeswahl. Eine Narration meines sozialen Feldes wähle ich aus und sage dazu: das bin ich, das will ich sein. Freud beschäftigte sich besonders gerne mit der zwiespältigen Identifikation mit dem Vater, Kernkomplex der Neurose, wobei die mit der Mutter fast noch größeren Stellenwert hat. Dem gegenüber bedeutet Identifizierung die Zuschreibung von Persönlichkeitsmerkmalen durch die soziale Umgebung. Die Zuschreibungen können, aus liebevollem Scharfblick, sehr genaue Spiegelungen dessen sein, was ein Mensch auch für sich zu sein fühlt.(121) Oft aber sind sie plakativ, vorurteilshaft, klassifikatorische Tickets und Ettiketten, ja Stigmata, Projektionen der Anderen auf mich, die viel mit Ängsten und Wünschen der Anderen zu tun haben und weniger mit dem erkennenden Blick. Identifizierung und deren Verinnerlichung können auch als Rollenangebot und Rollenübernahme beschrieben werden. Sobald ich im sozialen Kontext irgend handle oder wahrnehme, finde ich mich in Szenen und Rollen befangen.
Petzold greift das sozialpsychiatrische, psychodramatisch elaborierte Rollenmodell Jakob Levy Morenos auf, das Perls' leerem Stuhl und Monodrama Pate stand.(122) »Rolle ist nicht etwas Aufgesetztes, eine Maske, sondern sie ist in jedem Moment, in dem sie gespielt wird, ein Stück von ihm [dem Mitmenschen; M.L.], wenn auch nicht gleichbedeutend mit seiner gesamten Identität.«(123) Identität ist als Synergie aller Rollen im Zeitfeld mehr als deren Summe. Rolle ist nicht nur Darendorfs »Gesamtheit der Verhaltenszuschreibungen, bzw. -erwartungen, die an eine bestimmte Position (Status) gerichtet ist«, sondern deren sozial vermittelte aktive Verkörperung im Subjekt.(124)
Jede Rollenvorgabe wird vom Individuum mit den eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten gestaltet, wobei Meads »generalized other« als szenisch-symbolische Verdichtung der illokutionären und der vokalen Gesten, der Normen und Werte einer gesellschaftlichen Subkultur die Folie für die individuell ausgestalteten Verhaltensmuster bietet.(125) Jede Rolle ist Teil einer Szene und auf eine andere Rolle komplementär zugeschrieben.(126) Sie ist immer schon dialogisch. Als Szene aktualisiert sich ein setting komplementärer Rollen immer »in situ« als ihrem locus nascendi, im Hier und Jetzt einer ganz bestimmten Situation, im aktuellen Lebenszusammenhang.(127) Aus diesem als dem kulturellen Atom, innerhalb dessen sich die Rollen aktualisieren, erfahren sie ihre Vorgaben, so spontan sie auch immer sich gerieren mögen.(128) Das warm-up ist eine allmähliche, ursprünglich hautnahe Annäherung von Subjekten, bei der sich aus den Reaktionen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse im Experiment der neuen Situation minutiöse intersubjektive Verhaltenssequenzen etablieren, die die angestrebte Befriedigung zu verschaffen versprechen.(129) Aus der All-Identität des Kindes mit seiner Mutter vollzieht sich eine psychosomatische Rollenentwicklung stufenweise in Erfassen des Getrenntseins von Muttern, Beobachtung ihres 'fremden' Verhaltens, Mimesis ihres Verhaltens.(130)
Auf den psychosomatischen bauen die psychodramatischen als phantasmatische Imaginationen (Gott, Engel, Geister, Feen, Monster)(131) des corps phantasmatique und die sozialen Rollen als spätere, mit der Sprache zugleich erworbene auf. Aus der Multiplizität der leiblichen, phantasmatischen und sozialen Rollen konfiguriert sich in einem lebenslangen Entwicklungsprozeß das Selbst.(132) Je differenzierter und reicher sein Rollenrepertoire, um so reicher das Selbst.(133) Während Moreno das Selbst als Summe seiner Rollen begreift und die Ehrenfelssche Übersummativität ablehnt, betont Petzold mit dem Synergieprinzip, daß das Selbst mehr als nur Summe seiner Rollen sei.(134)
Die Rollenmuster als leibhaft-motorisch eingeschriebene soziokulturell präformierte Szenen, als soziale oder kulturelle Konserven, sind unser Verhaltensrepertoire, mit dem wir uns im sozialen und ökologischen Raum bewegen. Rollen haben als Segmente des memorativen Leibes den gleichen Status wie Übertragungen. Jede Projektion ist eine Rollenzuschreibung, die der Andere nur mit großem Geschick zurückweisen kann.(135) Innerhalb der mir vor- und zugespielten, von mir empathisch-mimetisch mitgespielten Rollen kann ich auch Rollen zurückweisen in wachsender reflexiver Rollendistanz. Die mir oft aufoktroyierten Rollen sind, mit Freud, Über-Ich-Introjekte, kaum harmonisierbar mit dem, was sich aus ihrem Stoff zu einem kohärenten Ich amalgamieren könnte.(136)
Die Rolle transportiert die strukturelle Gewalt der Klassengesellschaft in allen Verästelungen der Hierarchiepyramide, nicht anders als Gesetze, die die Rollengestalten und ihren Handlungsspielraum regeln.(137) »Negative Dialektik hält ebensowenig inne vor der Geschlossenheit der Existenz, der festen Selbstheit des Ichs, wie vor ihrer nicht minder verhärteten Antithesis, der Rolle, die von der zeitgenössischen subjektiven Soziologie als universales Heilmittel benützt wird, als letzte Bestimmung der Vergesellschaftung... Der Rollenbegriff sanktioniert die verkehrte schlechte Depersonalisierung heute: Unfreiheit, welche an die Stelle der mühsamen und wie auf Widerruf errungenen Autonomie tritt bloß um der vollkommenen Anpassung willen, ist unter der Freiheit, nicht über ihr. Die Not der Arbeitsteilung wird im Rollenbegriff als Tugend hypostasiert. Mit ihm verordnet das Ich, wozu die Gesellschaft es verdammt, nochmals sich selbst. Das befreite Ich, nicht länger eingesperrt in seine Identität, wäre auch nicht länger zu Rollen verdammt.«(138) Es bleibt zu fragen, ob der Rollenbegriff, gerade auch hinsichtlich seines umgangssprachlichen Verständnisses als Uneigentlichem, Fremdem, Aufgesetztem, für eine Theorie der Persönlichkeit tragfähig ist, die aktionale Verkörperung kategorialer gesellschaftlicher Muster als Perichorese von entfremdetem Individuum und entfremdeter Gesellschaft, in deren falschem Leben es kein richtiges gibt, zu denken.(139) Der Rollenbegriff selbst ist eine Fixierung auf die Theaterwelt, ein Muster, welches allerdings hinter die Deutlichkeit des Schmitzschen Begriffs von Einleibung erheblich zurückfällt.
Die Bezeichnung des dialogue tonique als psychosomatischem Rollenspiel kann zwar erhellen, wie durch mutuelle Mimesis Rollenübernahme erlernt wird, wie sich über die Mutter Gesellschaft ins Kind einschreibt. Daß aber jeder Hammerschlag eine aktionale Adaption kultureller Konserven ist, wird leicht zu einer inflationierten Binsenweisheit ohne heuristischen Wert. Gerade die Kategorie der aktionalen Rolle als zustimmende Verkörperung der kulturellen Vorgabe täuscht über die Macht hinweg, mit der sich in bestimmten sozialen Schichten bestimmte Rollen stereotyp reproduzieren als universale Beschädigungen der Individuen. Eine Kritik der Rollenvorgaben, der kulturellen Konserven, ihrer immanenten Normen und Werte und ihre Sozialverträglichkeit und Individualverträglichkeit bleibt in Morenos Konzept des integrativen Rollenselbst ausgeblendet. Es geht prinzipiell von einem Einvernehmen zwischen Individuum und sozialer Mitwelt aus. Wie es um die These von der angeblichen Konsensgemeinschaft und die Universalisierbarkeit dieses Konsens steht, zeigt die Zahl der Kriege, Morde und Vergewaltigungen aller Art.(140) Daß dieses Einvernehmen etwa noch bei Zölibat, islamischer Beschneidung oder Amputation von Klitoris und Labien in Afrika besteht, könnten Befragungen Betroffener erweisen. Gleichwohl handelt es sich um leibliche Verstümmelungen. Vom Rollenspiel her aber hatte alles seine Richtigkeit. Wenn das Ziel von therapeutischer Intervention aber mehr ist als Harmonie beschädigter Individuen mit einem beschädigten und beschädigenden sozialen Kontext, fehlt dem Rollenkonzept jede Möglichkeit, den Zwangscharakter, die Konflikte, die Machtgefälle, das Besitzergreifende in den gängigen, eingebürgerten Rollen zu begreifen, zu verstehen und umzugestalten. Die Idee eines flexiblen und reichhaltigen Rollenrepertoires ist blind gegen Arbeitsverhältnisse, in denen die Menschen nur eine einzige Rolle spielen dürfen, um nicht ihr Brot zu verlieren. Es ist Wahlverwandtschaft, daß das Rollenmodell auf universaler Weltbühne(141) sich in den sozialen Schichten etabliert hat, die immer schon ins Theater gingen. Die Statisten der industrieellen Reservearmee: 'Asoziale', gar Arbeitsunwillige haben als »parasitäre«, »entfremdete Individuen« mit »Verweigerung von Leistungen für die Gemeinschaft bei gleichzeitiger Inanspruchnahme der Gemeinschaft«(142) ihre Rollen nicht willig, aktionshungrig genug verkörpert. Dafür gehen sie auch nicht ins Theater.
Die Ausdünnung der Verkörperungskraft »'gealterter' sozialer Atome« durch Fitnessverlust und Sterben der Freunde verengt das Rollenspektrum, das Repertoire um viele geliebte Rollen des Rolleninventars, woran alte Spitzensportler besonders leiden. Solche Atrophie des Rollenselbst affiziert das Leibselbst. Es zeigt das Rollenschicksal verwoben mit der Leibzeit des Individuums in der Dynamik von Entfaltung und Verfall.(143) Auch auf der Bühne Lebenswelt gibt es in allem primordialen Sinn und bei allem Konsens der Mitspieler in jedem Lebensstück, jeder Lebensszene Aufstieg und Fall. (144) Die Urszene totaler Verbundenheit im Mutterschoß als Abglanz der Metaszene, daß wir in der Geschichte unserer Szenen immer irgendwie verbunden bleiben über den sozialen Leib, die Koexistenz, verblaßt in ihrer Intensität bis in die Einsamkeit der Sterbezimmer.(145) Das Drehbuch schreibt seine Szenenfolgen dem Rollenleib als der Bühne des Geschehens ein: »Der Leib mit seiner Fähigkeit von Wahrnehmen und Speichern, von Memoration und Antizipation nimmt die Ereignisse auf, schreibt sie im 'Gedächtnis des Leibes' nieder. In den kortikalen Engrammen, in den Lach- und Gramfalten, in der aufrechten oder gebeugten Haltung werden die Rollen, Szenen, Stücke eingegraben.«(146)
Das Ich bestimmt Petzold mit Hartmann als Gesamt der Ich-Funktionen, als Instanz des Habens und Machens, Wahrnehmens und Handelns in actu, Synergie aktionaler Rollen und mit Perls als momentane, variable und fließende Kontaktstelle zum Außen.(147) Das Ich hat awareness (Bewußtheit) und consciousness (Bewußtsein als Zusammenwissen). Gegenüber der matten awareness der atmosphärischen Grundwahrnehmungen heben sich in scharfer awareness die Figuren und Gestalten der fokalen Wahrnehmung, des gerichteten Blickes in den Mittelpunkt. In den Intentionen des Ichs, an der Front seines Erkennens und Handelns, manifestieren sich die Intentionen des Selbst, der gesamten Persönlichkeit mit all ihrem aktualen und kategorialen, offenen und latenten Fundus der Seinsmöglichkeiten.(148) Das Selbst als soziales und kulturelles Atom mit seinem Gesamtrolleninventar und aktuellem Repertoire ist nicht in die Oszillationen des Ichs, wohl aber in das Rollenschicksal des Heranwachsens, Reifens, der Vollendung und des Abtakelns eingebunden, hat einen breit strömenden, mächtigen Fluß. Wie die körperlichen Fähigkeiten aufblühen, weiten sich auch die Sinn-Erfassungs-Kapazitäten des Ichs akkumulativ in der Lebensspanne.(149) Das Selbst ist immer schon da, mit dem Sein des Leibes identisch, verwoben mit der Welt. Es ist Heideggers einfach-blödes Dasein, in die Welt geworfen, Merleau-Pontys natürliches Ich, vor jedem Rollenspiel, Apels leibliches Erkenntnisapriori in einem primordialen Tatendrang (act hunger).(150)
Petzold bestimmt die Identität I als Zusammenwirken von sozio-ökologischem Kontext Kn und Leib L im Zeitkontinuum Kt: I = Kt (L,Kn).(151) Sie wird »gewonnen, indem sich ein Mensch in leibhaftigem Wahrnehmen und Handeln auf dem Hintergrund seiner Geschichte als der erkennt, der er ist (Identifikation), und indem er von den Menschen seines relevanten Kontextes als der erkannt wird, als den sie ihn sehen (Identifizierung). Die Prozesse von Identifizierung und Identifikation stehen im Zeitkontinuum, dh. sie
erfolgen immer wieder aufs neue, und sie schließen persönliche und gemeinsame Geschichte mit der dazugehörigen Zukunftsperspektive ein«.(152) Identität Gewinnen ist der intersubjektive Prozeß des sich selbst Verstehen-Lernens im Lebensganzen.(153) Identität ist die Erfahrung des Sinnes, eines vor allem Nachsinnen konstituieren, primorialen Sinn, nach dem zu fragen seinen Zerfall indiziert. Sinnkrise sind Krisen der Identität, des Sich-Eingebettet-Wissens in eine wohlige Leiblichkeit, Freundschaftlichkeit, in anheimelnde Produktionsverhältnisse und einen geistigen Horizont, der alle einzelnen Erfahrungen stimmig macht.(154) Sinn ist selbstverständlich. Zerstörte Vernetzung des Lebenszusammenhanges, zerstörte Konstellationen von Arbeit und Interaktion werden als Sinnkrisen zu Lebenskrisen: Wer bin ich (eigentlich noch)? Warum gerade (m)ich? Wie kann Gott das zulassen? Warum so viel Leid, so viele Kriege? Wozu soll ich mich noch anstrengen, was wird es mir geben, wem 'nütze' ich überhaupt und wer mir?
Die Säulen der Identität beschreiben die entscheidenden Faktoren des in die Welt eingeleibten Menschen als die Sinnbezüglichkeiten, in denen er sich vorfindet: Leib, soziales Netz, Arbeit, materielle Sicherheiten und Werte.(155)
»Die Identitätsbereiche wirken zusammen... sind interdependent... stehen in der Zeit, sie haben Vergangenheit (Entstehungsgeschichte) und Zukunft (Entwicklungsperspektiven). Sie weisen aus, wie bedeutsam das Element des Kollektiven für die Identität ist und wie anfällig Identität damit für die Auswirkungen entfremdeter Kollektivität wird«.(156)
Resümiert man die Entwicklung der therapeutischen Anthropologien vom Freudschen Strukturmodell über Skinners und Pawlows behavioristisches Stimulus-Response-Modell, über Perls' Amöbenwesen bis zum Rollenmodell Meads und Morenos, zu dem das des symbolischen Interaktionismus(157) und der materialistischen Sozialisationstheorie Lorenzers mit der Produktion subjektiver Struktur durch tiefe Übertragung von Praxisfiguren via sensomotorischem Austausch ab ovo(158) die marxistisch und gestalttheoretisch fundierteste, aber sehr objektsprachliche Verfeinerung ist, die Leidensaufhebung nicht in Refungibilisierung allein sieht, so läßt sich eine Zunahme von Komplexität, Varianz und Multiperspektivität in den Modellen konstatieren, die zwar allesamt handhabbar sind - sogar um so besser, je einfacher -, der lebendigen Vielfalt der Menschen aber Gewalt antun in ihrer remythisierten Reduktion von Weltkomplexität.
Das Petzoldsche Prozeßmodell integriert und transzendiert diese Ansätze in einem Rekurs auf die zwischenleiblich geschenkte Begegnung der Menschen, die gemeinsam in den Verstrickungen und Geborgenheiten ihrer Schicksalszusammenhänge Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit suchen als Basis und Manifestation dessen, was Gabriel Marcel Liebe nennt: daß mein intentionales Begehren das Begehren des Anderen wird.
Wie die Rede vom Subjekt in einer Zeit erscheint, in der dieses seine ökonomische und kulturelle Macht an eine anonyme Kulturindustrie und deren austauschbare Funktionäre eingebüßt hat, so indiziert auch die Rede von Identität deren Zerfall.(159) Der postmoderne Diskurs weint der synthetischen Einheit des Ichs nicht nach und propagiert eine Fülle disparater Wahrheiten anstelle einer einenden gemeinschaftlichen Erkenntnis. Damit wird der Zerfall auch des social body affirmiert. »Die Kräfte der Geschichte können der 'flüchtigen' Identitäten nicht entbehren, solange es noch eine Geschichte der Menschen ist und dieser Planet sich noch nicht, erkaltet und verödet, im Dunkel des Raumes und im Schweigen der Zeit verloren hat.«(160)
Begegnung(161) ist ein Kontakt in wechselseitiger Akzeptanz. Der Andere ist mehr als nur Teil meiner Umwelt, ich nehme seine Andersartigkeit, das Fremde an ihm wahr, ohne es zu fürchten.(Adorno) Ich empfange vom Anderen und er von mir.(Buber) Er ist nicht Verlängerung meiner Person und Wünsche. Seine Intentionen entspringen seiner eigenen Bedürfniswelt, er spricht mich an und antwortet mir. Er bildet einen Gegenpol zu mir, in dessen Angesicht ich zum Sprechenden werden kann mit der Hoffnung auf Erhörung, Resonanz meines Begehrens durch das seine.(Lacan)
Einfühlung ist Mimesis, die Einsetzung der eigenen Empfindung in die Situation des Anderen, ist Mit-Fühlen, Akt der Solidarität mit dem Leid des Anderen und seinen Beglückungen. Empathie ist eine konfluente Form der Begegnung, ein zeitweises begrenztes Verschmelzen mit seiner Position (partielles Engagement). Nur infolge dieser Verschmelzung ist eine Erkenntnis möglich, die mehr als kategoriale Rasterung des Patienten in ein Diagnoseglossar darstellt. Die Preisgabe des Beobachterstandpunktes der Psychoanalyse gibt die objektivere Möglichkeit von Erkenntnis.(162) Schmitz hat die polyästhetische Qualität der Einleibung der Eindrücke vom Anderen beschrieben: »Dem eigenen leiblichen Befinden entnimmt der Feinfühlige manchmal direkter und subtiler etwas über den Gesprächspartner, als der Beobachtung des Gesichts, der Hände und der Haltung oder dem Lauschen auf die Stimme. Manchmal läßt der Eintritt oder die Anwesenheit eines Menschen in einem Raum die Atmosphäre zu Eis erstarren oder warm, locker und herzlich werden. Gewiß liegt das auch an seinem Blick, seiner Stimme, seiner Haltung, aber erst einmal spüren es die Übrigen am eigenen Leib. Dazu befähigt sie das in ihrer Einleibung mit dem Betreffenden sich bildende leiblich-dialogische Ganze, in dem der fremde Anteil so gut wie der eigene ins Gewicht fällt«.(163) Dieser Dialog der zwei
Unbewußten und Bewußtheiten in wechselseitiger Empathie auf der Basis gemeinsamer Existenz in einer von beiden geteilten Lebenswelt gehört zu primordialer Korrespondenz, wie sie in intakten Mutter-Kind-Familienrelationen stattfindet. Sie geschieht in wechselseitigen Gegenübertragungen, in gegenseitiger Verantwortung, bewußtem Dialog.(164)
»Der Prozeß intersubjektiver Korrespondenz, der durch Engagement, Personalität und Begegnung gekennzeichnet ist und in der primordialen Koexistenz gründet, hat die Qualität einer existentiellen Beziehung. Er ist nicht-objektivierend und deshalb von Objektrelationen abzugrenzen.«(165) Daß eine polyästhetische Gewahrung des Anderen durch Übertragung alter Erfahrungsmuster und Interaktionsformen verunmöglicht ist, verbunden mit reduzierter Selbstgewahrung, diese gestörte Zwischenleiblichkeit ist der Grund für den Beginn einer therapeutischen Beziehung. Der Therapeut erschließt, von Phänomenen zu Strukturen vortastend, des Patienten kommunikative Defizite und Störungen im Jetzt der Begegnung aus dem Netz der Übertragungen und Gegenübertragungen(166) in der strukturellen Mutualität wechselseitiger Identifizierungen und Einfühlung.(167) Buber spricht von Ich-Es-Beziehungen, die jede Ich-Du-Beziehung begleiten, weil der Begegnungscharakter in Reinkultur für uns nicht immer zu ertragen ist.(168) Marcel sieht die Liebe als Grundmodell therapeutischen Handelns.(169)
Beschädigte Beziehungsfähigkeit kann homogenes Verhalten in einer vielleicht auch selbst beschädigten Subkultur sein, aber in diesem sozialen Feld angemessen. Übertragungen sind der 'generalized other' dieser peergroup.(170) Dagegen ist bei Übertragungen, die zu keinem Menschen mehr Begegnung erlauben, Beschädigung offensichtlich, subjektiv und von anderen als Leid verspürt. Das Projektive der Übertragung, das dem Anderen Zugeschriebene am eigenen Leib nicht zu bemerken, läßt sich leichter auflösen als die Vorerwartungsbereitschaft selbst, die in der Erfahrung einer erbarmungslosen Mutter, eines brutalen Vaters usw. konstituiert sein mag.(171) Sich von der Übertragung als »Anwesenheit unsichtbarer Dritter« und »Aktualisierung alter Atmosphären und Szenen in einer Art und Weise, daß die Gegenwart hier-und-heute davon getrübt und verstellt wird« freizuschwimmen, ist zähe Mühe der Therapie.(172) Die Identifizierungen durch den Therapeuten via Deutung der von ihm erlebten Phänomene des Klienten sollen die verinnerlichten Zuschreibungen, Stimmen und Projektionen der Anderen korrigieren: es sind Interpretationen, neben denen es noch viele andere gibt, die ein mehrperspektivisches Erproben des Anderen auszuloten vermag.(173) Im Fortgang der Therapie wie auch jeder guten Freundschaft und im erkennenden Blick der Liebe wächst das Verstehen des Anderen, können die Projektionen, die den Anfang einer Beziehung markieren, schrittweise zurückgenommen werden im Wahrnehmen, Erfassen, Verstehen und Erklären des Anderen. In jeder Wahrnehmung sind meine Projektionen, Kategorien und Formen der Anschauung aus dem Fundus meiner Lerngeschichte verschränkt mit dem Empfangen von Narrationen des Anderen. In der Empathie konfluieren eigene Sendung und die Signale des Anderen. Die Trennung, die das Nicht-Verstehen und die projektive Wahrnehmung bedeuten, wird im Akt des Verstehens als einem der probeweisen Nachahmung der fremden Position und Rolle aufgehoben. Solange keine partielle Konfluenz zwischen zwei Menschen stattgefunden hat, gibt es keine Empathie und keine Erkenntnis. Der therapeutische Prozeß ist Aufhebung der Fremdheit mittels Übertragung (als Probe-Deutung) hin zu einem wachsenden Erkennen des Anderen.
»Der Mensch ist aus dem Kosmos hervorgegangen, ist Sternenstaub, in dem und durch den der Kosmos begonnen hat, über sich selbst nachzudenken, er steht in einer ursprünglichen makro- und mikrophysikalischen re-ligio.«(174) Damit ist Blochs Materiebegriff als zu sich selbst kommend im Bewußtsein zur Geltung gebracht. Arbeit und Leistung sind als Stoffwechsel mit der Natur nur die vergesellschafteten, zu Produktionsverhältnissen gewordenen Formen eines genuin organismischen Naturstoffwechsels, der das Wesen aller Lebensprozesse ist.(175) Der Stoffwechsel gehört zur primordialen Sinnbeziehung zwischen Organischem und Anorganischem vor aller Sprache und Bedeutung.(176) Von Humanisierung der Natur und Naturalisierung des Menschen bleibt bei Perls das Amöbenmodell Organismus/Umfeld übrig, was Petzold zum ökologischen
Netz soziogrammartig diversifiziert. Das Individuum ist eingebettet in eine soziohistorische Dialektik von Natur- und Kulturgeschichte in der Evolution der Gattungen und im Fortschritt der Wissenschaften und der Produktivkräfte unter perennierender Klassenherrschaft im Kapitalismus.(177) Arbeit als Werkzeuge nutzende gesellschaftlich geteilte Produktion lebenserhaltender Güter »bedeutet Veränderung gegebener Situationen und Materialien, Verarbeitung, Umgestaltung, Neugestaltung. Arbeit ist zugleich Prozeß der Integration und der Kreation... Durch meine Arbeit stelle ich mich dar, werde ich gesehen... Das Geschaffene wird 'Extension
meiner selbst', wie es im 'künstlerischen Werk', im 'Meisterwerk', im 'Lebenswerk' besonders plastisch Ausdruck findet.«(178) Daß Bewertung der Arbeitsleistung sehende Würdigung und belohnende Bezahlung ist, ist für Petzold die Identifizierung durch den social body. Die Traumgage des Filmstars, die Quadratmeterpreise des Kunstmalers fallen unter diese Rubrik, aber was ist mit Tariflohn und Stundenmiete? Keine Rede von der Warenform der Arbeit, von Arbeitsteilung, universal gewordenem Tauschwert, von Mehrwert, ungleichem Tausch oder Ausbeutung. Hauptkonflikt ist nicht der von Kapital und Arbeit, sondern der »zwischen Identifikation und Identifizierung. Nur wenn ich Arbeit als meine ansehen kann, mich mit ihr identifizieren kann, trägt sie zur Selbstentdeckung und Selbstverwirklichung im Handeln bei. Muß ich eine zugeschriebene Arbeit leisten, die ich mir nicht zu eigen machen kann, die mir fremd ist, aufgezwungen, zu der ich keinen Bezug habe, so fehlt mir ein wesentliches, tragendes Element meiner Identität, oder mehr noch, werden Konflikt und Entfremdung in mich hineingetragen.«(179)
Indem Petzold am Marxschen Begriff der Selbstvergegenständlichung des Produzenten im Produkt anknüpft, gewinnt er sehr prägnante Kriterien von Entfremdung.(174) Folgen physischer Überforderung und psychischer Überlastung sind als Störungen somatischer und psychischer Arbeitsfähigkeit offensichtlich.(175) Ökologische Versiertheit der Therapie in der Arbeitswelt, Wissen über Intensivierung der Produktivität durch Fließbandakkord, Großraumbüros und Isolation führt zwangsläufig auf eine Reflexion der gesellschaftspolitischen Funktion von Therapie: Will ich, wie Freud, Restitution von Arbeitsfähigkeit oder will ich die Autonomie der Produzenten so befördern, daß sie für Produktionsverhältnisse eintreten können, in denen Arbeit wirklich Selbstverwirklichung in Gemeinschaft ist? »Die pathogene Valenz der Anästhesierung, Amnesierung und Amputation des Leibes... kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie verlangt nach politischer Aktivität, und man darf sich hier keineswegs auf reparative Therapie beschränken.«(176) Auch der »gewaltsame Entzug von Arbeit durch Arbeitslosigkeit und den 'erzwungenen Ruhestand' führt zu erheblichen Einbrüchen in der Identität.«(177) Immer mehr wird Klassenkampf Kampf um Arbeitsplätze angesichts der wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals. Therapie ersetzt keinen Kampf, aber stärkt Einsicht in ökonomische Hintergründe der Beschädigung des Leibes und fördert politische Aktionen durch Gruppenerleben als Einübung in solidarisches Engagement.
Sprache als Apriori gesellschaftlicher Präformation des Individuums ist das Medium, in dem sich dieser Zugewinn an komplexem Bewußtsein am Sprachleib (corps metaphorique) vornehmlich vollzieht. Das Spektrum komplexen Bewußtseins des Leibes reicht vom tiefen Dunkel des areflexivem Unbewußtem, präreflexivem Vorbewußten (Freud) über das perifokale Mitbewußte bis zum Wachbewußten (Perls awareness). Verschärftes fokales, reflexives Ichbewußtsein führt zum ans Vorbewußte reichenden, hyperreflexiven und luziden Klarbewußtsein des Philosophen Schmitz und zum ans Unbewußte reichenden transreflexiven Nichtsbewußtsein in Nootherapie, Übung der Meditation.(174)
Symptome sind chiffrierte Sprache des Unbewußten, Metonymien des exkommunizierten Begehrens im Diskurs der Leiber. Hier ist der Sinn verdunkelt, abgeblendet, verstellt, umgebogen. Verdrängung des Leibes, Verdrängung in den Leib hinein und verdrängte Zwischenleiblichkeit ruht als Reservoir festgeschriebener Atmosphären und Szenen von Verletzungen, fixierter Narrative in den mnestischen Leibarchiven. Im therapeutischen Wiedereintauchen in den traumatischen Kontext kann der abgeblendete Sinn habitualisierter Narrative wieder vitale Evidenz gewinnen, kann sich die verborgene Bedeutung unbewußten Handelns entbergen und entfalten.(175) Fixierte Generalisierungen als Bann alten Schmerzes verlieren ihre determinierende Macht im leiblichen Durchleben unter neuen Konstellationen in der Wiederaneignung des Ursprungssinnes.
Mit seinem Gesundheitsverständnis(174) kommt Petzold zu einem dynamischen Krankheitsbegriff. Krankheit ist Krise persönlicher Entwicklung als der Geschichte von Kontakterfahrungen, Verletzungen und Verdrängungen. Sie wird nicht reifiziert, sondern als leidvolles Befinden in ihrem dunklen Sinn erhellt. »Neurosen sind Stützen der Gesellschaft«.(175) Der Therapeut erschließt das spezifische Zusammenwirken der in Defizite, traumatische Erfahrungen, Störungen und Konflikte differenzierbaren Schadreize.(176)
»Obwohl sich also Neurosegenese über die gesamte Lebensspanne hin vollzieht, sind die Schädigungen aus der frühen Phase besonders nachhaltig, da das kleine Kind in den ersten beiden Lebensjahren belastende Einwirkungen als Totalitätserfahrungen erlebt... Die physische Hilflosigkeit... und die kognitive Defizienz führen zu sehr primitiven und nachhaltig wirkenden Abwehr- bzw. Bewältigungsstrategien, die übrigens bei schweren Erkrankungen und im Senium gehäuft (wieder) auftauchen.«(177) Das archaische Selbst des Säuglings rettet sich vor Reizüberflutungen in eine archaische Regression, in eine archaische Retroflexion, ein archaische Anästhesierung oder eine archaische Spaltung.(178)
Zur Handhabung dieser Beschädigungen hat Petzold eine Zieltaxonomie angefertigt:
Die sozialtechnologische Terminologie reifiziert Klienten, ist nicht intersubjektiv. Sie bedarf der Anpassung an die konkrete Notsituation, in der interveniert wird.
Adorno hat die psychoanalytische Produktion subjektiver Struktur durch Assoziation und Deutung als arbeitsteiliges Verfahren kritisiert, in dem das Denken dem Analytiker fälschlich überlassen wird. »Entspannt wird auf dem Diwan vorgeführt, was einmal die äußerste Anspannung des Gedankens von Schelling und Hegel auf dem Katheder vollbrachte: die Dechiffrierung des Phänomens. Aber solches Nachlassen der Spannung affiziert die Qualität der Gedanken: der Unterschied ist kaum geringer als der zwischen der Philosophie der Offenbarung und dem Gequatsche der Schwiegermutter. Die gleiche Bewegung des Geistes, die einmal dessen 'Material' zum Begriff erheben sollte, wird selber herabgesetzt zum bloßen Material für begriffliche Ordnung... Anstatt daß er, um seiner selbst mächtig zu werden, die Arbeit des Begriffs leistete, vertraut er sich ohnmächtig der Bearbeitung durch den Doktor an, der ohnehin alles schon weiß.«(174)
Lucky Luke zeigt die arrogante Dummheit eines solchen Psychospezialisten, der nach Material zur Behandlung sucht und dabei selbst zum Material seiner Opfer wird, der Suggestion des Bankraubes erliegt. Wenn Petzold oft zur Comic-Sprache greift, begibt er sich bewußt in die narrative Welt seiner Klienten: Die Deutung ist nicht von anderer Sprache als die fixierten Narrative und lebendigen Narrationen der Klienten. Die Gewinnung komplexen Bewußtseins in intersubjektiver Korrespondenz ist ein bilateraler Sinnkonstituierungsprozeß.(175) Narrative sind für Petzold archaische Strukturen und Schemata, Konstruktionen, Szenen, Atmosphären, Skripts, Lebensstile, Rollen, die den fixierten Klischee-Charakter starrer Wiederholungszwänge haben: verdinglicht, beziehungslos, fremd anmutend. Narrationen dagegen sind wie extemporierte Stegreiferzählungen. In ihnen ist die Einheit von Sprache und Gefühl lebendig. Einsicht in die Nachricht des Symptoms als Metapher eines verdrängten Begehrens (Lacan) ist tiefenhermeneutische Aufdeckung von Unbewußtem.(176) »Hermeneutische Prozesse und in ihnen aufkommende Deutungen müssen... in Beziehungen eingebettet sein und werden nur aus diesen heraus sinnvoll und heilend, ohne in die Risiken maligner Regression oder Progression zu führen.«(177) Die Such- und Zeigebewegungen von Kopf, Augen und Händen sind, vor allem Wort als vokaler Geste, Hin- und Be-Deutungen.(178)
In einer holotrophen Spirale von Wahrnehmen, Erfassen, Verstehen und Erklären der fixierten Narrative des Leibes ist der hermeneutische Zirkel verschränkt mit dem therapeutischen Zirkel von erinnerndem Explorieren, wiederholendem Agieren, integrierendem Durcharbeiten und veränderndem Neuorientieren. So soll verdeckter Sinn synoptisch zu lebendigen Narrationen verflüssigt werden.(179) Die Grammatik der Intentionen, Gefühle, Bilder und Symbole als zwischen primordialen und intersubjektiv sozial eingespielten Sinnbezügen konstituierte ist die Basis für
die spiralförmige Hyperdialektik Wahrnehmen/Erfassen und Verstehen/Erklären.(180) In einer prozessualen Diagnostik und Heuristik am offenen Curriculum des Lebens wird die anthropologische Erfahrung der multiplen Entfremdung in den klinischen Vorgängen der Pathogenese als Konstellation schädigender Stimulierung durch Defizite, Traumata, Störungen und Konflikte aufgedeckt, wobei die ultrakomplexe, multikausale Genese der gesamten Lebenskarriere in ihren frühen Schädigungen, fortgesetzten Multitraumatisierungen und prävalenten pathogenen Milieus zusammen mit den Quellen der Zuversicht, des Grundvertrauens und der Bewältigungspotentiale synoptisch erfaßt und verstanden wird.(181) Dem Metaziel persönlicher Freiheit in einem befreiten Sozialgefüge und Gewinn von komplexem Bewußtsein, dem Grobziel Ich-Stärke und Arbeits-/Handlungsfähigkeit, dem Feinziel Abgrenzungsfähigkeit und Behebung von Symptomen ordnen sich im - je nach Belastbarkeit und Sinnerfassungskapazität weitestgehend transparenten offenen therapeutischen Curriculum in der didaktischen - offenen therapeutischen Curriculum in der didaktischen Selbstwahl des Klienten oder im hermeneutischen Dialog immer neue Teilziele, Streckenführungen (trajectories) und Pfadentwicklungen (viations) zu.(182) Sie schreiten von Focus zu Focus in einer Archäologie der traumatischen und glückhaften Szenen des Lebens fort und werden allein vom jeweiligen Teilziel her die geeigneten therapeutischen Methoden, Techniken und Medien in einer Art reflektierter Improvisation nach Indikation der jeweils aktuellen Bedürftigkeiten bestimmt.(183)
Tetradisches System Der Therapieprozeß ist zyklisch angelegt wie die Hegelsche Bewußtseinsspirale. Initialisch als dramatisches Warm up werden vom Patienten oder vom Therapeuten wahrgenommene Probleme exploriert, der Ursprung von sie begleitenden Gesten erinnert und in einer Aktionsphase inszeniert. Die Urerlebnisse, Atmosphären und Urimpulse werden wiederholt und erfaßbar gemacht als volle Narrationen. So können die verdrängten Impulse im Originalkontext verstanden und angeeignet werden als Momente des eigenen Selbst. Neue Formen der Bewältigung
alter Ängste und Verwirklichung alter, unerfüllter Wünsche können avisiert werden und ein verändertes Verhalten eingeübt werden.(184) Die Verlaufsgestalten, großlinigen Viationen des Therapieprozesses orientieren sich im hermeneutischen Wechsel der Foci, methodischen Wechsel der Techniken und Medien und in den aktuellen feinlinigen Streckenführungen (trajektories) und Interventionen an der jeweils sich herausbildenden Prägnanztendenz des Patientenverhaltens und -erlebens. So wächst die Identität des Patienten über die Integration von awareness des perzeptiven Leibes, den verdunkelten Archiven des memorativen Leibes, der Kompetenz des reflexiven Leibes und der Performanz des expressiven Leibes zu einem vollmächtigen reifen Selbst.
Die Intensivierung der gefühlshaften Beteiligung an reaktualisierten Szenen ist von Petzold in 4 Ebenen therapeutischer Tiefung schematisiert. Sie decken das Empfindungsspektrum des Selbst von der der Umwelt zugewandten Intentionalität des perzeptiv-aktiven Ichs bis zur körperlich vitalen Ebene unwillkürlicher, auf vorichliche Impuls des archaischen Selbst im Leibgedächtnis zurückgreifende autonome Körperreaktionen ab, wie sie Schreikrampf, Angststarre, schäumender Wutausbruch oder Orgasmusreflex uvm. darstellen. Dazwischen ist Reflexion erste Wendung zum Fühlen des eigenen Befindens, das Aufsteigen von Affekten und Vorstellungen Vorstufe zur Involvierung. Dies
war die Hauptebene der Freudschen Technik: Wechselspiel zwischen Affekt, Vorstellung und deutender Reflexion. Die Involvierung als massive Intensivierung der Gefühle und des emotionalen Berührtseins schon Katharsis, Agieren. Hier scheint der eshafte Erlebnisanteil in alten Szenen wieder auf und kann sich steigern bis zur massiven körperlichen Beteiligung an der Empfindung, wie er ursprünglich bei Kindern so ungehemmt stattfindet: schluchzendes Weinen von Rotz und Wasser - und im nächsten Augenblick strahlendes Lachen und der Griff nach dem Spielzeug, Hüpfen vor Freude, Brüllen vor Wut mit blau angelaufenem Gesicht. Wenn solche urtümlich spontanen harten Wallungen in der Therapie aufkommen und das Verdrängte ins Handeln durchbrechen lassen, ist es wichtig, den Kontakt zur Realität des Therapiezimmers, zum Therapeuten immer wieder herzustellen, um psychotische Dekompensation mit völligem Kontrollverlust zu verhindern.(185) Das sorgende Handeln des Therapeuten kann eine archaische Verlassenheitssituation durch alternative Gegenerfahrung entmachten, aussöhnen.
Schon bei Freud und Ferenczi(174) waren die Idee von Nach-Beelterung, Nacherziehung des Patienten durch den liebevoll bemutternden Therapeuten entwickelt. Ziel des zweiten Weges der Heilung ist Wiederherstellung von Grundvertrauen und Nachreifung von Persönlichkeitsstrukturen bei frühen Schädigungen des archaischen Leib-Selbst durch eine Adoption des Patienten durch den nährenden, den defizienten Teil der Eltern-Imago ergänzenden und auf Zeit repräsentierenden Therapeuten.(175) Zwischenleibliche 'gute Brust', körperliche parentage (bei völligem Fehlen von Elternwärme) oder reparentage (bei fehlenden Teilaspekten der Elternimago) in Kinderzimmeratmosphäre und Regressionsmöglichkeiten restituieren basale Leibempfindungen, Körperschemata, leibliche Beziehungsfähigkeit und das Grundgefühl, mit allen Sinnen in der Welt zu sein als lebendiger, liebenswerter, geliebter und liebesfähiger Mensch.(176) Hier ist Arbeit mit Übergangsobjekten, mit kreativen Medien, Körperskulpturen aus Ton oder Fingerfarben, sind alle Utensilien eines Kinderzimmers und intensive Körperarbeit am Platz.
Dritter Heilungsweg ist die Bereitstellung einer fördernden Umwelt(174) zur Entwicklung der verschütteten, amputierten Expressivität: Kreativität, Spontaneität, Phantasie, Sensibilität, zur Entwicklung neuer Formen des gemeinschaftlichen Umgangs, die den anarchistischen Idealen von Wachheit, Wertschätzung, Würde und Wurzeln neuen Boden geben.(175) Erlebnis- oder übungszentrierte Therapie mit kreativen Medien, mit Morenos psychodramatischem Rollenspiel, mit Iljines therapeutischem Theater, als kreative Kulturarbeit(176) (Volkshochschule, Kirche, Kommunikationszentren) und experimentelles Feld ist hier nur Übwiese des eigentlich zentralen Feldes: des Alltagslebens.
Solidarität ist erkrankt.(174) Sie muß aus ihrer repressiven Entstellung erst wieder entborgen werden.(175) Sie wird mehr gepredigt als erlebt, obwohl sie dem Menschen als vergesellschaftetem Wesen so nahe liegt wie die milchende Brust dem nuckelnden Mund des Babys. Gustav Landauers Kooperativenidee, Goodmans Bürgerinitiativen sind Modelle des gezielten politischen Eintretens für Möglichkeiten besseren Lebens, basieren auf gegenseitigem Helfen und Lernen und dem Bündeleffekt: gemeinsam Starksein.
»Methoden sind in sich konsistente Strategien des Handelns im Rahmen einer therapeutischen Theorie, Techniken sind Strukturierungsinstrumente innerhalb des methodischen Rahmens, Medien dienen der Übermittlung von oder sind Systeme von Information in der methodisch-therapeutischen Arbeit«.(174) Verfahren ist die Gesamtheit von Theorie und Praxis, wie sie Reichs Bioenergetik mit ihrer aufdeckenden Körperarbeit, Perls' Gestalttherapie, Labans und Mary Wigmans Tanztherapie, Nordoff/Robbins Eurhytmie und Musiktherapie(175) Middendorfs Erfahrbarer Atem, Gindlers Sensory Awareness, Janovs Primärtherapie, Dürckheims Initiatische Therapie und Petzolds Thymopraktik und Integrative Bewegungstherapie darstellen. Es gibt aufdeckend-konfliktzentrierte, übungszentriert funktionale und erlebniszentriert-agogische Methoden. Es gibt Entspannungs-, Dehnungs- Wahrnehmungs-, Improvisationstechniken und dramatische wie leerer Stuhl, Rollenspiel, es gibt imaginative Techniken wie Fantasiereisen, Märchenerfinden. Medien sind Bälle, Stäbe, Tücher, Seile, Farben, Ton, Knetplastik, Stofftiere, Puppen, Münzen (für Soziogramme), Musikinstrumente und alles, was Töne erzeugt, Verkleidungen, Masken. Ebenen & Indikation verdeutlicht ein Schaubild:
Teilzieloperationalisierte, curricular induzierte Menschlichkeit als technisch veranstaltetes Begegnungslernen muß zwangsläufig die Widerstände und das Mißtrauen von Patienten hervorrufen, die von ihrem Alltag gewohnt sind, in besonders arbeitnehmerfreundlicher, insgeheim aber sehr arbeitgeberfreudiger Weise mit sanftem, verständnisvollen Druck auf ihre Arbeit oder Arbeitslosigkeit eingeschworen zu werden. Der Widerstand ist die Verweigerung des Leidenden vor der Technik des Therapeuten, von der er nach seinen Vorerfahrungen mit dem Verwaltetwerden keine hohe Meinung hat. Gerade Firmensupervision steht klar im Kontext der Arbeitsmotivierung zwecks optimalerer Expropriation der Ware Arbeitskraft. Den Konflikt um die Technik des partiellen Engagements(174) zeigt Petzold immer wieder durch den Wechsel zwischen Metatheorie der Therapie und den Fallbeispielen, wobei allein die Wortwahl »Fallbeispiel« genau das offenbart, was der Patient am meisten fürchtet: nur ein Fall unter vielen zu sein und nicht die ganz besondere Rose, die ich mir vertraut gemacht habe und liebgewinne.(175) Die supervisorische Perspektive des Überblicks über Therapieverlauf und die Initiativen seiner Steuerung haben immer auch etwas berechnendes, verwaltendes, depersonalisierendes, sind eine Haben- und Machen-Relation, die dem Patienten als Übertragungswiderstand genauso wie Wir-Sagen statt Ich-Sagen möglichst abgewöhnt werden soll.(176) Man vergleiche den Klang folgender Passagen: »Das Annehmen der Übertragung wandelt sich mit dem Wachsen der Intensität in den therapeutischen Begegnungen zur Beziehung. Mit jemandem das Sterben zu teilen, schafft vielfach eine Verbundenheit, in der sich therapeutische Abstinenz verbietet, sondern eine zugewandte Haltung, ja auch körperliche Zuwendung möglich und notwendig wird als Ausdruck der Beziehung. Das therapeutische Bündnis ist dann mehr als ein Arbeitsvertrag.«(177) Eine curricular approbierte »zugewandte Haltung« bekommt etwas von dem Kalkül, mit dem Prostituierte ihren Körper in ihren Arbeitsbündnissen instrumentalisieren. Über die Zartheit zwischen Menschen eine angemessene Sprache der Zärtlichkeit zu entwickeln, ist sicherlich nicht leicht; es ist wohl am ehesten die Kindersprache: 'muckeln', streicheln, in den Arm kommen dürfen, die uns hier einen Weg zeigt, der nicht in Sozialtechnologie abgleitet. Auf der supervisorischen Ebene wirkt ein verdinglichender Sprachgebrauch so unecht, daß sensible Patienten lieber auf »körperliche Zuwendung« verzichten anstatt sie sich als eine Dienstleistung des Therapeuten gefallen zu lassen - bei der Massage und bei der echten Prostitution liegt im Arbeitsbündnis eine rein somatische Behandlung vereinbart, in der die Begegnung oder Beziehung eher Streueffekt ist; als solcher, nicht avisiert, hat sie dann mehr Authentizität als in der Veranstaltung von Beziehung durch Therapie. Petzold kann in seinen Fallbeispielen eine viel menschlichere Sprache sprechen: »Wer mit Sterbenden arbeitet und sich auf sie einläßt, sie nicht nur als Objekte, Fremde, Puppen behandelt, muß lernen, seine Gefühle zuzulassen, seine Angst, seinen Schmerz, seine Ohnmacht, seine Wut. Sonst muß er sich abschotten, wird hart, in unguter Weise routiniert. Er verliert ein Stück Menschlichkeit und muß sich panzern, um seine Regungen abzuwürgen.«(178)
Petzold illustriert den Widerstand des Therapeuten(179) durch die Technik und Professionalität: »Lutz war damals etwa in meinem Alter gewesen, hatte einen ähnlichen Beruf, war erfolgreich, lebenslustig und voller Pläne. Ich erlebte, wie ich meine eigene Betroffenheit von mir wegschob, indem ich mich in die Rolle des Experten flüchtete, versuchte, diese Situation 'professionell' anzugehen. Die Kübler-Ross-schen Phasen schossen mir plötzlich durch den Kopf, und ich nahm wahr, wie ich sachlich und fast 'neben mir stehend' mit Lutz ins Gespräch kam. Und kaum war mir das aufgefallen, zog ich in Gedanken wieder eine professionelle Schleife: 'Aha', dachte ich, 'jetzt wehrst du deine Betroffenheit ab. Das Beste also ist, wenn du ein Stück der Betroffenheit zeigst.' Und gleich darauf: 'Wie unheimlich technisch du bist.' Der nächste Gedanke: 'Aber Technik ist doch ein ganz legitimes Mittel, mit Angst umzugehen.' Da war es deutlich: ich hatte Angst, Angst, Lutz sterben zu sehen... Für mich gehören Angst und Beklommenheit zu jedem intensiven und persönlichen Kontakt mit Sterbenden.«(180) Die Aufrichtigkeit und Einfachheit dieser Zeilen rührt das Herz an, weil sie eine tiefe Wahrheit über den Beruf der Helfer ausspricht: In jeder Konfrontation mit dem Leid des Anderen werde ich mit den vergangenen und künftig möglichen eigenen Leiden konfrontiert und mit meiner Hilflosigkeit.
Und deshalb gehört, so denke ich, - bei allem Mut, aller Neugier, aller Solidarität, Sympathie und Empathie, bei aller Routine und Verkrustung - Angst mit zu jeder neuen Begegnung und die Überwindung der Scham, der Beklommenheit kann nur mit dem Anderen zusammen geschehen und sie bleibt ein Geschenk, der technischen Machbarkeit entzogen. Darin verbürgt sich eine letzte Freiheit, deren eine Seite das Fehlschlagen der Therapie mit Abbruch und irreversiblen Verletzungen ist, deren andere Seite aber die Möglichkeit des Heilwerdens an der Nähe, Zuneigung und Wärme eines Menschen ist, der freigeben kann, der nicht verfügen will, der seine Freude am Wachsen des Anderen hat und nicht verzagt, wenn der Andere nicht so wachsen will, wie er sich das vorgestellt hat. Noch das fortgeschrittenste therapeutische Verfahren ist, und das zeigt gerade der basale Rekurs Petzolds auf die Phänomenologie der Begegnung, nur ein Faktor neben dem der Menschlichkeit, die noch der unkundigste Nachbar haben kann, und dem der ökonomischen Verhältnisse und ihrem kulturellen Zeitgeist, der wenig Spielraum läßt, um die Fragmente therapeutischer Utopien zu verwirklichen. Diesen Spielraum aber gilt es zu nutzen für neue Spiele und Verspieltheit des homo ludens.