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Wilhelm Reich stammt vom Gutshof. In Galizien 1897 geboren, 41 Jahre jünger als Freud, 24 Jahre jünger als Ferenczi, wächst er neben seinem jüngeren Bruderrivalen Robert recht einsam in einer deutschtümelnden, irreligiösen jüdischen Gutsbesitzerfamilie in der Bukowina auf, darf nicht mit den ukrainischen Bauern- und den jiddischen Kindern spielen.(1) Der Vater ist ein brutaler, jähzorniger Patriarch gegenüber Knechten und Familie, eifersüchtig auf seine etwas einfache Haus-Frau.(2) Den Vater verleugnet und bekämpft Reich, seine Mutter vergötterte er. Als sie mit dem Hauslehrer heimlich verkehrt, »meldet« der 12jährige Reich dies seinem Vater; die enttarnte Mutter macht Selbstmord, für Reich das traumatische Ereignis. Der erschütterte Vater holt sich Lungenentzündung und Tuberkulose und stirbt 5 Jahre darauf.(3) Der 17jährige Reich übernimmt das Gut und muß von 1915-18 in der östereichischen Armee beim Weltkrieg mitwirken. Danach zieht er zu Robert nach Wien, der arbeiten geht, damit Wilhelm trotz ärmlichster Verhältnisse Medizin studieren kann. Als Kriegsteilnehmer darf er es schon nach vier Jahren 1922 mit Promotion abschließen.(4) 1919 gründet sich während einer Anatomievorlesung per Laufzettel das »Wiener Studentenseminar für Sexulogie«, dessen Leiter Reich wird. Bei der nun beginnenden Sexforschung begegnet er dem 64jährigen Freud. Bei Paul Federn und Gattin gastiert Reich oft zur Lehranalyse. Dafür meint er, habe Federn in seiner Eifersucht Freud 1924 gegen ihn aufgehetzt.(5) 1920 wird er jüngstes Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Zeitlebens verehrt er Freud, auch, als dieser sich von ihm abwendet.(6) In Eduard Hitschmanns Psychoanalytischer Polyklinik, dem Ambulatorium in der Pelikangasse, in dem jeder Analytiker täglich eine kostenfreie Sprechstunde abhielt, wird er Assistent und ab 1928 Stellvertretender Direktor und hält dort Vorlesungen und Seminare zur Institutsfortbildung.(7) Dort kommen die klinischen Statistiken für seine erste größere Untersuchung über die Hüllkurven des Orgasmus zustande: eine nicht von neurotischen Querschlägern als Sägezahnwelle irritierte und insgesamt mit unabgeführtem Erregungsstau hügelig abgeflachte, sondern eine in 5 - 20 Minuten logarithmisch ansteigende, mit scharfem Letztanstieg in der Akme motorisch autonomer Reaktion imposant aufschießende und dann steil in Schlaf abfallende Kurve ist Reichs zentrales Therapieziel.(8) Er leistet damit der Verdinglichung des Orgasmus Vorschub, wie sie Alexander Lowen durch seine gezielte Verschreibung mit einer auf ungehemmte Affektabfuhr ausgerichteten Charaktereologie kastrierend betreibt.(9)
Im Mittelpunkt der »Funktion des Orgasmus« von 1927 steht die »orgastische Potenz« als Fähigkeit, die sexuelle Bedürfnisspannung jeweils mit einem adäquaten Befriedigungserlebnis vollständig zu erledigen. Dabei gesteht Reich auch dem Gesundesten gelegentliche Störungen dieser Abfuhrfähigkeit zu, während sie beim Neurotiker fehlt, so daß seine Sexualpraxis nicht von tiefer Befriedigung danach begleitet ist, sondern bleierne Müdigkeit oder Ekel und Tristesse hinterläßt.(10) Je geringer die orgastische Potenz, je niedriger die Erledigung des Affektbetrags, je größer die Restwollust, desto reichhaltiger sind bisweilen die erotischen Abenteuer organisiert.(11) Für Damen reklamiert Reich, daß der rein klitorale Orgasmus nur für das gröbste der Erregungsabfuhr gerade einmal zureicht, für die völlige Abfuhr der leider so oft gestauten Sexualerregung aber der vaginale Orgasmus obligatorisch ist.(12) Subjektives Befriedigungserleben kann oft mehr Abfuhr vortäuschen als real erledigt wurde und vertieft sich stets nach erfolgter Therapie bei Reich.(13)
Der Ansatz bei der Erregungssumme des psychischen Apparats in der Energetik des Freudschen »Entwurfs« oder dem VII. Kapitel der »Traumdeutung« ist vom Dilemma der Nichtmeßbarkeit eines als quantitativer Vorgang definierten Geschehens gekennzeichnet: Libido als akkumulierbare psychische Energie mit Unlustcharakter soll im Orgasmus quasi in Bewegung, Friktionsreiz und passagere Regression in vorichliche Empfindungsstadien abgearbeitet werden. Die Homöostase der Unerregtheit, Entspannung wird als Befriedigung, als Zielpunkt der Lust durch Unlustabfuhr eingesetzt, Ideal dieses Modells ist gerade nicht die ewige Wollüstigkeit, sondern die Ruhe, zu der eben nur der Orgasmus ausreichend verhilft. Weil Reich diesen energetischen Ansatz des frühen Freud zu seinem Zentralfokus erhebt, nennt er ihn, später in radikaler Abgrenzung gegen die Psychoanalyse, Sexualökonomie.(14) »Die Intensität der Endlust im Orgasmus ist also... direkt abhängig von der Größe der auf das Genitale konzentrierten Sexualspannung; sie ist um so intensiver, je größer und steiler das 'Gefälle' der Erregung ist.«(15) Die Sexualerregung ist nicht materialisierbar an der - konstitutionsbedingten - Menge oder Spritzhöhe des Spermas, der Nässe der Scheide, nicht an Tachykardie im EKG oder EGG, nicht an Erektionsstärke von Penis, Schamlippen und Brustwarzen, den Muskelspasmen oder der Weite der Pupillen, und doch sind all diese Regungen meßbare manifeste Erscheinungsformen der psychischen Energie.(16) Am Modell der Hydraulik konstituiert Reich seine Theorie der »Energieproduktion des vegetativen Zentralapparats«, der die Erregungsquantität bestimmt, während die Dammbauten der Kanalisierung dieser Energieströme durch die gesellschaftliche Präformation des sensomotilen Repertoires des Subjekts errichtet werden: das Sublime der Sekundärvorgänge bei Freud.(17)
Damit hat Reich Freuds Trieblehre ohne deren Revision zur zweiten Topik und ohne deren Hypothese des Todestriebes übernommen. Nicht die Struktur der Binneninstanzen des Selbst interessieren ihn, sondern die Energieverteilung der libidinösen Triebkraft auf die Triebziele: die »gesunden« Wege direkter orgiastischer Abfuhr oder die neurotischen Wege einer Konversion in Angst, Wut, Haß, Hysterie oder Symptombildungen.
Seine Neuroselehre basiert auf dem Konversionsmodell: gestaute Libido entlädt sich über die Körperzeichen der orgastisch nicht abführbaren Sexualerregung unter einer entstellenden Verschiebung ihres Ur-Sinnes im sexuellen Funktionszusammenhang auf einen nichtsexuellen Sinn, etwa Angst.(18) Dabei sind die körperlichen Reaktionen von Sexualerregung und Angst in Tachykardie und vegetativen Innervationen identisch, wie die Erregungsdiarrhroe und die Angstpollution zeigen.(19)
Der Abfuhrvorgang während des Orgasmus besteht nach Reich in einer Konzentration der Erregung aus dem gesamten Körper auf das genitale Friktionsfeld. »Nach übereinstimmenden Mitteilungen potenter Männer und Frauen sind die Lustempfindungen um so stärker, je langsamer und linder die Friktionen und je besser sie aufeinander abgestimmt sind. Das setzt auch ein hohes Maß an Fähigkeit voraus, sich mit dem Partner zu identifizieren. Als pathologische Gegenstücke dazu finden sich der Drang zu heftigen Friktionen mit Penisanästhesie bei sadistischen zwangsneurotischen Charakteren, die an Unfähigkeit, den Samen zu ergießen, leiden, und die nervöse Hast der an verfrühter Ejakulation Leidenden. Orgastisch potente Menschen lachen während des Geschlechtsaktes niemals und sprechen - zärtliche Worte ausgenommen - nicht. Beides, Sprechen und Lachen, deutet auf schwere Störungen des Vermögens zur Hingabe hin, die ungeteiltes Versinken in der Lustempfindung voraussetzt.«(20)
Nach dem Abströmen der Erregung auf das Genital löst sich der Orgasmus mit unwillkürlichen Muskelkontraktionen als intensivmotiler autonomer Prozeß unter bewußtseinsgetrübter Sperma-Ejakulation. Dabei strömt nach Reich die Erregung vom Genital auf den Körper zurück, was als wohlige körperliche und seelische Schlaffheit empfunden wird. »Die Akme stellt somit den Wendepunkt vom genitalwärts gerichteten zum entgegengesetzten Ablauf der Erregung dar. Nur der komplette Rücklauf der Erregung macht die Befriedigung aus, die zweierlei bedeutet: Umsetzung der Erregung und Entlastung des Genitales.«(21)
Sah Freud das ökonomische Trieb-Modell als ein Gleichnis, so erfährt es bei Reich Wortwörtlichkeit. Die Metapher der Abfuhr von Spannung(22) steht unvermittelt neben dem Bild des analog dem Gezeitenwechsel zwischen Körper und Genital zirkulierenden, insgesamt aber konstanten Erregungsströmens. Dieses physikalische Paradox löst Reich nicht auf.
Während Freuds Todestriebhypothese die Notwendigkeit kultureller Versagung als Ausgestaltung des Inzesttabus legitimierte, rührt die Aggression für Reich(23) aus eben dieser kulturellen Sexualstauung allererst her. »Gesunde Sexualität fordert unbestimmt oft Objektwechsel.«(24) Solange Ehe nicht nur wirtschaftliche Bindung, sondern auch sexuelle fordert, provoziert der Treuezwang zärtlich-gehässige Lustlosigkeit und unbändige Seitensprunghaftigkeit.(25)
Einerseits produziert die »sexuelle Zwangsmoral« die Störung gesunder Entwicklung von Oralität und Analität zum Primat erkennender Liebe der Genitalien(26) und somit Störungen des Orgasmuserlebens. Daraus resultiert der triebgehemmte Charakter des Impotenten(27), der Männlichkeitskomplex der Frau(28) und die Neurose als Konversion gestauter Sexualerregung.
Andererseits konvertiert dieser Libidostau aber auch in Sadismus und Haß als Reaktion auf verwehrte Liebe und schafft damit die »antisozialen Tendenzen«, gegen die Kultur intermittieren soll. Freie Sexualübung stört weder Sublimierungsleistungen in der Ichbildung und den kulturellen Kreationen von Kunst und Wissenschaft noch die aggressive Arbeitsfähigkeit im materiellen Produktionsprozeß, sondern hebt Selbstwertgefühl und seelisches Gleichgewicht im »erotischen Wirklichkeitssinn« zum unwiderstehlichen Charme und Stolz glücklich Liebender am Arbeitsplatz. Die narzißtische Gratifikation des sozialen Status der Arbeit tut sein Übriges zur gesteigerten Arbeitsmotivation.(29)
Mit der nur teilweise überzeugenden Argumentation, der korrekte Orgasmus befreie zur Bestleistung auf der Arbeit(30), hat Reich ein zentrales Argument gegen Freuds Festhalten an der Kulturbildung durch Umleitung sexueller Gelüste auf produktive Arbeit entwickelt. Für eine Psychoanalyse, die der Reproduktion der Ware Arbeitskraft verpflichtet ist und so auch mit den Kassen abrechnet, ist dieses Argument pragmatisch geschickt. So läßt sich als die scheinbar wichtigste »Funktion des Orgasmus« die Produktivitätssteigerung unter Abnahme neurotischer Krankheitsbilder nennen: Marxens »gesellschaftlicher Gesamtarbeiter« ist glücklich über diese kostengünstige Einsparung von Lohn und Krankengeld via Sexualtherapie. Auf der Strecke bleibt eine verdingte Sexualität, die sich nicht anders legitimieren kann als durch die Summe des von ihr erwirtschafteten »Mehrprodukts«.(31)
Reichs Energetik basiert auf den Aporien von Freuds Gleichzeitigkeit von Trägheit und Konstanz.(32) Hatte Freud diese »physiologische« Basis immer mehr aufgeben müssen, die das Problem der Übersetzung der somatischen Phänomene in analoge, hypothetisch angenommene, »seelische« Mechanismen und mit jenen verbunden die geschichtlich strukturierte Welt von Sprache, Symbolik und Interaktion nicht lösen konnte, so gerät für Reich die Transformation von Kraft in Sinn zu einer unnötigen Komplikation, wenn man sich doch auf die Analyse von Kraftverhältnissen beschränken kann, deren intrapsychische Topik und Dynamik dem Grundantagonismus von Trieb und Arbeitsplatz weicht.(33)
Die Konstitution der Neurose als intrapsychischer Konflikt, der in der familialen Genese nicht nur die Logik seiner Abwehrmechanismen entwickelt hat, sondern darin zugleich auch schon die geheimen Botschaften für seine heilsame Entschlüsselung mit sich trägt, wird für Reich sekundär gegenüber dem Grundkonflikt von Trieb und Gesellschaft.(34)
Heilung verheißt nicht die Erschließung des archaischen Wunsches aus der Konstellation seiner Metonymien, was offensichtlich aber damals noch Reichs Therapiestil war(35), sondern eine Rekonsolidierung der orgastischen Potenz durch genaueste Analyse der Sexualpraktiken und ihrer Störelemente.(36) Die »Umordnung der Triebe« und der »charaktereologischen Reaktionsbasis, auf der sich die Neurose aufbaut«, vollzieht sich weder durch Sublimierung noch durch Abreagieren noch durch Bewußtwerden.(37) Nur der korrekte Orgasmus schafft letztlich die somatische Libidostauung aus der Welt, die die Wurzel allen Übels auf der Couch ist. Dann geht alles wie von selbst. Zu diesem Zwecke hilft aber keine spanische Fliege, sondern nur der Abbau der Hemmungsimpulse im Ich mittels psychoanalytischer Behandlung.(38)
Nachdem Reich zunächst die hemmenden Phantasien des intrapsychischen Apparats für sekundär gegenüber dem somatischen Stau-Proprium erklärt hat, wendet er sich dann doch diesen sekundären Epiphänomenen der Psychogenese zu, um den somatischen Komplex des Orgasmus in den Griff zu kriegen. Offenbart sich darin die Liebe zum Sekundären oder eher die Bemühung um die Gunst des Meisters, der diese Schrift an seinem 70. Geburtstag entgegennahm mit dem kernigen Kommentar: »So dick?« Meinte er die Dicke des Buches?(39)
Reich hatte 1921 schon »eine der anziehendsten, intelligentesten und begehrenswertesten Studentinnen der Universität«, eine Medizinerkommilitonin geheiratet: Anni Pink.(40) Sie wurde selbst als Analytikerin mit Beiträgen zur frühen Identifizierung, femininem Über-Ich und Ich-Ideal bedeutend und hatte mit Reich zwei Kinder, Eva 1924 und Lore 1928, mit denen sie oft Ferien in der Alpen verbrachten.(41) Schon vor der »Funktion des Orgasmus« hatte Reich unermüdlich über sexuelle Betätigungen und larvierte Formen der Onanie publiziert.(42)
1928 entsteht die erste Arbeit über die Existenz eines muskulären Panzers als Vorarbeit zur »Charakteranalyse«, die Reich 1933 in Wien im Selbstverlag herausbringt.(43) Freud nimmt Reich gemäß seinem Prinzip, keine engen Kollegen mehr zu analysieren, nicht in Analyse, was nach Anni Reich der innere Grund für die Zunahme von Konflikten zwischen beiden ist. 1928 tritt Reich der Kommunistischen Partei bei, gründet Anfang 1929 die Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung und erste Sexualberatungskliniken. »Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse« ist seine erste, in Moskau erschienene Arbeit zum Freudomarxismus.(44) 1930 geht er nach Berlin zu Sandor Rado in Analyse, wo er zum analytischen Lehrer von Perls wird.
1930 wird innerhalb der KPD mit Reichs sexualpolitischem Programm SEXPOL gegründet, der »Deutsche Reichsverband für proletarische Sexualpolitik« mit 20.000 - 40.000 Anhängern. Reich reist im ganzen Reich herum mit Vorträgen über den sexuellen Kampf der Jugend, der selbst im verbürgerlichten Jungproletariat unbehelligt von jedem Verhütungswissen in der geschlechtlichen Wohnungsnot von Haustor und Scheune gefochten wird - wenn überhaupt! Reich animiert deshalb auch Sexualberatungsstellen und schreibt sexuelle Kampfschriften gegen eheliche Moralapostel und jene, die nur zur Partnersuche politische Versammlungen frequentieren und bei Erfolg dem Haustorbogen den Vorzug vor der Einheitsfront geben. Weil das zunehmende, von Reich geweckte Interesse an Sexualhygiene den revolutionären Elan zu schwächen droht, dürfen seine Bücher nicht mehr in »roten Bücherläden« verkauft werden. 1933 exkommuniziert ihn die KPD, 1934 dann die IPV.(45)
1930 kommt Anni mit den Kindern nach Berlin, wird von Reich zur Abwendung einer Trennung gezwungen, die Kinder in ein kommunistisches Kinderheim zu stecken: für die Kinder »eine sehr unglückliche Zeit«.(46) Für Reich selbst auch: der »eifersüchtige« Rado emigriert 1931 nach New York und hinterläßt Reich mitten in einer Depression und unabgeschlossener Analyse, so Anni Reich.(47) Zu Rados Frau Emmy will Reich »eine sehr heftige genitale Beziehung«, aber ohne Sexualkontakt gehabt haben.(48)
Auch zu Karen Horney, Siegfried Bernfeld und Erich Fromm hat Reich Kontakt; sein Freund Otto Fenichel ist mit ihm von Wien übersiedelt: allesamt waren sie Marxisten. Der »Internationale Psychoanalytische Verlag« in Wien weigert sich, die »Charakteranalyse« zu drucken, nach den Querelen um seinen Masochismus-Aufsatz(49) Vorzeichen des IPV-Ausschlusses 1934.
Auf der Demonstration am 1. Mai 1932 lernt er Elsa Lindenberg kennen, mit der er nach der Scheidung(50) von Anni ab 1933 in Kopenhagen zusammenlebt und der er später in Oslo wegen ihrer selbstständigen Karriere unterstellt, sie hätte mit ziemlich jedem Manne ihres Umfeldes »Kontakte«.(51) Nach dem Reichstagsbrand flieht Reich im März 1933 nach Wien, wo er keinen Boden mehr findet und von einem dänischen Arzt nach Kopenhagen eingeladen wird.(52)
Angekommen in Kopenhagen schließt ihn die dänische KP wegen konterrevolutionärer Thesen in seiner dort erschienenen »Massenpsychologie des Faschismus« aus ihren Reihen, in die er nie eingetreten war.(53) Reich muß Dänemark ohne Zulassung zum Lehranalytiker und ohne Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis verlassen. Die IPV schließt ihn als einzigen vor Lacan aus.(54)
Er zieht nach Malmö, wo ihn seine Kopenhagener Schüler per Fährboot leicht erreichten, und landet nach Ausweisung durch die Schweden schließlich in Oslo, eingeladen von Prof. Schjelderupp und gestützt von Alexander S. Neill und Ola Raknes. Reichs geliebte Elsa macht als Tänzerin in Oslo Karriere.(55)
Das Physiologische Institut der Universität stellt ihm für seine bioelektrischen Experimente mit Orgon-Energie sein Labor zur Verfügung.(56) Er lehrt von 1934-1939 in Oslo, schreibt unzählige Aufsätze über politische Psychologie und Sexualökonomie, gründet 1936 das große »Institut für Sexualökonomische Lebensforschung« mit Verlagshaus anbei, was er diktatorisch leitet und entdeckt 1937 die Bione als Einheiten der bioelektrischen Lebensenergie.(57)
Damit ist die Grundlage seiner Orgontheorie gelegt.(58) Später wird die Herstellung eines Orgonakkumulators zur ebenso problematischen wie folgenschweren Idee.(59) Die »Biopathie« des Krebses erforscht er, wohl ausgelöst durch Freuds Mundkrebs, an Fällen hoffnungsloser Krebskranker, die zu ihm als letzter Hoffnung pilgern. In dieser Zeit entsteht auch die Vegetotherapie, bei der statt der Deutung der direkte physische »Angriff des Therapeuten auf den muskulären Panzer des Patienten« erfolgt.(60)
Als 1937 Reichs Buch über »Die Bione« erscheint, beginnt eine diffamierende Pressekampagne gegen ihn wegen der sexualstimulativen Wirkung seiner Entspannungstherapie.(61) Theodore Wolfe vermittelt ihm eine Dozentur in medizinischer Psychologie an der »New York School for Social Research«.(62)
Reich verläßt Oslo im August 1939, zieht auf Long Island nach Forest Hills in eine großes Haus, in dem Labor, Therapie- und Lehrräume sind. Er lernt Ilse Ollendorff kennen und heiratet sie nach zwei Monaten schon; sie wird seine engste Mitarbeiterin.(63) Anni Reich lebt seit 1938 mit den beiden Kindern in New York; nur Eva besucht gelegentlich ihren Vater.(64)
1940/41 stellt Reich seine Strahlungs- und Wärmemessung im Orgonakkumulator Albert Einstein brieflich und nach Einladung bei ihm in Princeton vor.(65) Trotz Bestätigung der Meßergebnisse kann dieser brieflich dann aber alle Phänomene auf bekannte Theoreme zurückführen, womit die Annahme einer speziellen Orgonenergie entfiel.
1942 kauft Reich ein verlassenes Gut in Maine im Nordosten der USA und baut es aus zum Labor- und Therapiezentrum »Orgonon«.(66) Mit Ilse hat 1944 einen Sohn, Peter, an dem er erstmals die Eigenständigkeit eines kleinen Menschenwesen entdeckt. An der 1. Internationalen Orgonomischen Konferenz Sommer 1948 auf Orgonon nehmen 35 Personen teil, darunter Alexander Neill, Ola Raknes, Walter Hoppe und Alexander Lowen. Hier wird das Konzept der Vegetotherapie in Orgontherapie umbenannt, eine mehr theoretische als technische Revision.(67) 1950 zieht Reich voll nach Maine in sein frisch restauriertes Gutsanwesen »Orgonon«.(68)
Nach dem von Roosevelt zwecks Kriegseintritt der USA »geduldeten« Angriff auf Pearl Harbour wird Reich vom 12. Dez. 1941 bis zu seiner Hungerstreikdrohung am 5. Jan. 1942 als mißliebiger deutscher Einwanderer inhaftiert. Erst 1946 bekommt er US-Staatsbürgerschaft.(69) Die Journalistin M. Brady greift 1947 Reich an als anarchistischen Sexkultguru, der mit Orgonakkumulatoren lukrativen Bauernfang an Krebsopfern betreibt.(70) Damit begann die staatliche »Food and Drug Administration (FDA)« auf Reich aufmerksam zu werden und bei Patienten und Mitarbeitern Reichs zu ermitteln. Reichianischen Ärzten drohte in der Psychiatrie Entlassung.(71) Reichs Orgontherapie fand zunehmend öffentliches Interesse.(72)
Reich wird paranoider: Er fürchtet geistigen Diebstahl seiner Ideen(73), Gewitter, Feuersbrünste und Sturm als Orgonkatastrophen(74), eine »Deadly Orgone Energy (DOR)« als Raketenabgase außerirdischer UFOs bei Angriffen auf die Erde(75), zu deren Abwehr er »Regenmacher«, »Wolkenbrecher« errichten läßt. In »Listen, Little Man« beschimpft er 1948 die Öffentlichkeit wegen ihrer Verleumdungen und Angriffe auf ihn als »emotionale Pest«.(76) Behandlung Homosexueller lehnt er rigoros ab: »Ich will mit solchen Schweinereien nichts zu tun haben.«(77)
Auch gegen seine Frau Ilse wächst sein Mißtrauen, er verlangt Geständnisse über Furcht und Haß gegen ihn, Bestätigungen über Unterhaltsleistungen etc. und nennt sie schließlich eine Mörderin und subsumiert sie unter die Lebenstöter der »emotionalen Pest«. Reich beginnt zu trinken.(78) 1953 entsteht bei eifriger Bibelspätlese »The Murder of Christ«, in dem sich Reich mit Jesus identifiziert, bedroht durch die Todesmächte der emotionalen Pest, Glaubender in feindlicher Welt.(79) 1954 verläßt Ilse ihn mit ihrem Sohn. Unverzüglich treten dafür Reichs Schülerin Grethe Hoff und Ende 1955 die erregende Aurora Karrer an ihre Stelle.
1953 untersagt die FDA gerichtlich Bau und Verkauf von Orgonakkumulatoren. Reich investiert alle Kraft, um gegen diesen Beschluß anzugehen, mißtraut aber Anwälten und verteidigt sich selbst vor Gericht und verliert, weil er nicht mit den juristischen Spitzfindigkeiten operieren kann. Er spricht dem Gericht, taktisch unklug bis verheerend, fachliche Kompetenz ab.(80) Gegen das Vertriebsverbot von Akkumulatoren und Schrifttum vom Februar 1954 informiert Reich das Gericht, das Institut arbeite weiter und vertreibe auch weiter Bücher.(81)
Wegen Nichtbeachtung eines Gerichtsbeschlusses wird Reich im Sommer 1955 angeklagt; die Verhandlung im Mai 1956 verklagt ihn unter Absehung von einer psychiatrischen Untersuchung zu zwei Haftjahren.(82) Nach Berufung Reichs beschlagnahmt die FDA im August, auf Orgonon mit Gewehren empfangen, alle Akkumulatoren und alle Bücher der Orgone Institute Press als propagandistische »Reklame für eine Heilung« und verbrennt alles. Reich hält die FDA für eine kommunistische Verschwörung und »das Übel im allgemeinen.«(83) Der Berufung wird nicht stattgegeben, Reich tritt März 1957 seine Haft an. Auf dem Totenschein vom 3. Nov. 1957 steht »Herzversagen«.(84)
Er hat eine vielfache Exkommunikation erfahren, von Analytikern, Kommunisten, Nazis, Dänen, Schweden, Norwegern, Amerikanern, wurde ausgeschlossen oder eingeschlossen ins Gefängnis, diffamiert oder verlassen von seinen geliebten Freunden, Frauen, von Mutter, Vater, Bruder. Wenn sich bei ihm paranoische Tendenzen entwickelt haben, dann als Resultat einer langen und bedrohlichen Verfolgungsgeschichte, die durchaus als pathogene »moralische Karriere« im Sinne Erving Goffmans zu verstehen ist.(85) Treffend bemerken Grunberger & Gattin, daß der Wahrheitsgehalt von Reichs Theorien nicht zwangsläufig von dieser paranoiden Disposition affiziert wird; weil die Wahnidee von Raumschiffangriffen auf Mutter Erde so daneben ist wie der Glaube an die Gunst des Weißen Hauses und einen Empfang des Präsidenten auf Orgonon, muß die Arbeit am Körperausdruck und muskulären Panzerungen nicht weniger genial sein. Daß Reichs Paranoia auf seine Anhänger sich überträgt, stimmt.(86) Aber Freuds Neurose hat sich immerhin auf ganze Analytikergenerationen im abstinenten Rekurs aufs gesprochene Wort übertragen; seine Libido ist nicht weniger mystisch als Reichs Orgon.(87) Der Chemismus der Libido ist sowenig exakte Chemie wie die Orgontheorie exakte Physik. Dennoch markiert sie einen Sachverhalt, der möglicherweise besser noch nicht formulierbar ist(88): auch die energetische Formel ist nur Metapher in der Selbstreflexion des Tieres Mensch als Teil des Kosmos.(89) Die tantrische Einheit von Ich und All im buddhistischen Atman(90) oder Paracelsius' Wiederkehr des Makrokosmos im Mikrokosmos korrespondiert der Orgonlehre ebenso wie der über den Wassern schwebende Geist Gottes in Tateinheit mit dem für die Spötter offensichtlichen Weingeist der brotbrechenden Pfingstgemeinde, für die das Wort Fleisch ward.(91)
So nennt Reich in seiner religiösen Wende Gott das Leben(92), »die kosmische Urenergie, aus der alles Sein entspringt, und die... alles andere durchströmt.«(93) Er unterscheidet im Menschen Kern, Mittelschicht und Oberfläche; über dem orgonmäßigen Liebestrieb natürlicher arbeitsamer Sozialität liegt die unter bösem Kastrationsdruck der Außenwelt verdrängungsmäßig aufgebaute Gegenbesetzungsschicht des Charakterpanzers mit Orgasmusangst, Grausamkeit, Neid und Haß. Als Oberfläche erscheint die Maskerade von Höflichkeit, Pflicht, Moralität und heuchlerischer Religiosität, mit der die Individuen in der emotionellen Pest versuchen, der sekundären, bösartigen Triebäußerungen der Gegenbesetzungsschicht Herr zu werden.(94)
So wird der Charakterpanzer als Transmissionsriemen andressierter Sünde zur Trennwand zwischen Mensch und Mensch in der Liebe (und so zu Gott), zur Verkapselung orgastischer Liebeslust und natürlicher, selbstregulativer Moralität, die Reich und mit ihm Perls als Urgutes im Menschen supponiert.(95)
Als Konsequenz aus dieser Grundannahme fordert Perls mit Reich gegen den Freud des »Unbehagens«, »die Regulierung unseres Geschlechtslebens durch Moral sollte durch den Rhythmus der Selbstregulierung ersetzt werden.«(96) Gegenüber Freuds narzißtischen Kränkungen des den Schrecken der Realität, des Über-Ichs und des Es ausgelieferten und kläglich wenig autonomen Ichs bedeutet die »projektive« Abfuhr eben dieser »Verfolgtheit« oder dreifachen Abhängigkeit in die Außenwelt durch ihre theoretische Verortung außerhalb der Triebgrundlage der Libido eine unermeßliche narzißtische Gratifikation für das theoretisch derart purifizierte Lust-Ich.(97) Die menschliche Triebgrundlage wäre also prinzipiell für ein friedliches Zusammenleben ohne Todestrieb(98) zugerüstet! Das ist ein fundamental humanistischer Ansatz. (99)
Aus der Perichorese als Eigenschaft des »Orgon«, alle Dinge zu durchdringen, folgern Grunberger/Chasseguet-Smirgel die Penetration, in ihrer Psychoanalyse Stichwort, um Schmelzung und Stoffwechsel durch den Hautsack hindurch zu verorten.(100) Ist demnach alles esoterische Streben, Yoga, Zen, jede unio mystica nur die religiöse Variante des einen Urgrundes: Phalluswunsch? Auch Perls lehnte die Orgontheorie ab.(101) Die Charakteranalyse aber assimilierte er.(102)
Um die Beerbung Reichs durch Perls systematischer nachzuvollziehen, sei nun die »Charakteranalyse« und die Theorie des Muskelpanzers(103), die Vegetotherapie und die Arbeit am Körperausdruck entwickelt.
Reich beanstandet an der psychoanalytischen Deutungstechnik, daß verfrühte Deutung des Sinnes einer Handlung durch Aufklärung ihrer infantilen Entstehungssituation zu doppelter Verdrängung führen kann.(104) Daher insistiert er auf der Analyse der Widerstände, die genau wie besonders die negativen Übertragungen eine archäologisch anmutende Sedimentation der Geschichte der infantilen Objektbeziehungen und Reaktionsbildungen erkennen lassen, wenn sie analytisch Schicht um Schicht abgetragen werden.(105)
Als Analysematerial gelten dabei nicht nur Worte, sondern Gesturalexpression des gesamten Körpers bis in die Kleidung hinein: die »Ausdruckssprache des Lebendigen« nennt er es später.(106) Die Insistenz am auffälligsten, am »kardinalen« Widerstand(107) führt zur Erkenntnis, daß alles Verhalten, nicht nur das Symptom, bestimmt ist durch den Charakter als »spezifischer Wesensart« der aus infantilen Reaktionsbildungen entwickelten Ich-Abwehr.(108) Reich nimmt damit die Begrifflichkeit von Ferenczi, Reik, Alexander und Glover auf. Der Charakter ist im Vergleich zum Symptom als einem auffälligen neurotischen Teilphänomen der Person also das Gesamt aller Ich-Abwehr-Leistungen(109) mit dem Doppelcharakter von Hemmnis und Hilfsmittel sowohl im Leben als auch in der Therapie.(110) Dabei ist der »aktualneurotische Kern« therapeutisch relevant in der Frage, »welchen aktuellen Sinn das Benehmen des Kranken hat«, welche Widerstände gegen die Analyse und den Analytiker es offenbart.(111)
Der Charakter ist als Ich-Abwehr-Gesamtheit wesentlich ein Widerstandsphänomen, »Charakterwiderstand« oder Charakterpanzer genannt und an Kafkas Gregor Samsa erinnernd.(112) Er ist »Ausdruck der gesamten Vergangenheit« und »spezifische Wesensart des Menschen«, basaler Fundus des Habitus und Reaktionsbasis aller Symptome.(113) Als Produkt infantiler Unlustabwehr(114) ist er identisch mit Freuds Ich: »kompakter Schutzmechanismus... gegen die Reize der Außenwelt« und »Mittel, der aus dem Es ständig vordrängenden Libido Herr zu werden« durch Aufzehrung ihres, oft in Angst konvertierten Affektbetrags in den Mühen der Niederhaltung der Verdrängung mit Reaktionsbildungen.(115)
Als »Ausdruck narzißtischer Abwehr«(116), als »narzißtischer Schutzmechanismus des Ichs« stellt dieser »schützende Panzer« im Konflikt zwischen der störenden Außenwelt und den inneren Triebansprüchen ein »gewisses, wenn auch neurotisches Gleichgewicht« her.(117) Darin ist Freuds Rede vom Reizschutzapparat ebenso aufgenommen wie die Theorie der Sublimierung, die Annahme eines sekundärer Narzißmus im Ich und die Theorie der Reaktionsbildungen.(118)
Gegenüber Freuds dreierlei Dienstbarkeiten des Ichs ist allerdings das Ich bei Reich ein »reizschützender Panzer des Es gegen die Außenwelt« und deren Verlängerung ins Innere, das Über-Ich.(119)
Das Über-Ich schwebt in einer diffusen topischen Ambiguität, ist einerseits »Moral des Ichs«, andererseits ein »fremder, der drängenden und drohenden Außenwelt entlehnter Bestandteil«.(120) Die Rückwendung der ursprünglich sadistischen Wut über das Inzesttabu von der strafdrohenden, gleichwohl aber sexuell begehrten Autorität gegen die eigene Person als Triebschicksal des sekundären Masochismus findet seine autodestruktive Gerinnung in der Introjektion der verbietenden Eltern als Über-Ich, als strafende Instanz gegenüber dem Ich, welches die Trauer über den Verlust der Inzesterfüllung zur Introjektion der geliebten Drohmacht treibt. Dies ist auch für Reich die ödipale Ursprungssituation des Über-Ichs.(121)
Freuds Annahme des Todestriebes, eines primären Masochismus, der sich erst nachträglich in Sadismus verwandelt, ist für Reich eine mystische Verkehrung der realen Kausalität.(122) Das Strafbedürfnis entspringt der Persistenz der betrauerten Urszene: »Haltungen, die ursprünglich Objekten galten, werden auch... den introjizierten Objekten, dem Über-Ich, gegenüber festgehalten.«(123)
Die tiefste archäologische Sedimentschicht von Ich-Abwehr und Übertragungs-Gestalten in der Analyse, der narzißtische Es-Kern, ist dabei stets der untergegangene Ödipuskomplex.(124) Er ist erst am Ende sichtbar; erst nach der Sinnanalyse des aktuellen Widerstandes im Ich wird die »infantile Determinierung« deutlich und Es-Deutung, Zugang zum Unbewußten, sparsam sinnvoll, um heilsam und nicht widerstandproduzierend zu wirken.(125)
Perls hat das Verschwinden des Über-Ichs im Ich und die Rückwendung der Aggression aufgegriffen in seiner Kritik des Introjizierens pathogener Moral und ihrem Resultat, der Retroflexion. Dabei hat er allerdings Reichs genetischen Bezug zur ödipalen Trauer über das verlorene Objekt nicht mit übernommen.
Auch bei Reich ist Kontaktlosigkeit und Ersatzkontakt Resultat der in immer neuen Reaktionsbildungen sich wie in einem »Gewebe«, besser Filz oder Gestrüpp diversifizierenden, in ein Glasperlenspiel von Gegenbesetzungen und Gegen-Gegenbesetzungen verschachtelnden Triebabwehr des Ichs.(126) Ganz ähnlich kann auch Perls den Libido-Monismus oder Eros-Destrudo-Dualismus Freuds durch die Annahme einer Unzahl von verschiedenen Trieben, einem Triebgewimmel mit Erledigung des je drängendsten Bedürfnisses ersetzen. Damit modifiziert er indes lediglich Freuds im Sublimierungsbegriff ausgearbeitete Idee der psychischen Abkömmlinge eines Triebes.
Nichts anderes stellt auch Reichs Trieb(abwehr)verschachtelung dar. Die Vermeidung von Unlust als Kontaktentscheidung des Ichs hat dabei nur die Alternative, sich realer Angst oder der Stauungsangst konvertierter, sozial isolierter, nicht entladbarer Libido auszusetzen, völlige Angstfreiheit ist illusionär.(127)
Der anfangs einheitliche vegetativ-energetische Trieb spaltet sich also unter Druck der Außenwelt (= Über-Ich, zB Tabus) in Wunsch (= Es, zB Liebe) und retroflexive Gegenbesetzung (= Ich, zB Angst, Haß)(128), verästelt sich auf Metaebenen aus diesem Urkonflikt Liebestrieb versus Drohwelt(129) zu einem hochkomplexen System von Kontaktfunktionen oder Panzerfunktionen des »biopsychischen Apparats«, Funktionen und eben nicht topischen Bereichen.
Perls hat dieses funktionale Modell der Triebe und des Charakters vollständig übernommen. Nicht nur für den Intellekt als triebhafte Trieb-Abwehrfunktion gilt: »Die Ichtriebe sind also nichts anderes als sämtliche vegetativen Ansprüche in ihrer Abwehrfunktion.«(130)
Damit ist die sexualökonomische Perspektive der Vegatotherapie ins Spiel gebracht. Reichs Vegetotherapie fußt auf dem biogenetischen Konzept des Urgegensatzes von Angst und Sexualität, Engung und Weitung als den beiden Polen des Lebensvollzugs.(131) Die narzißtisch verkapselnde, zentripetale, kontrahierende, dehydrierende Angstreaktion mit Erregung des sympathischen Nervensystems (Tachykardie, Bluthochdruck, Hautblässe, kalter Schweiß, Trockenheit von Augen, Mund, Darm, Genitalien, verstärktes Einatmen, Straffung der glatten Muskulatur) ist der vegetative Urgegensatz zur objekt-anstrebenden, expansiven, hydrierenden Lustwirkung des Cholins und des Parasympathicus (ruhiger, voller Puls mit niedrigem Druck, durchblutete, trockene Haut, glänzende Augen, Sekretion in Mund, Darm, Genitalien, verstärktes Ausatmen, lockere glatte Muskulatur). Sexualität als Drang zur Welt, Öffnung, Kontakt steht umweltbedingter Angst als narzißtischem Drang zum Ich, zum incurvatus in se als der verwandelten Form ihrer selbst gegenüber.
Das gesunde »physiochemische Gleichgewicht«(132) der orgonotischen Libidoströmungen in den somatischen Stoffwechselprozessen(133) gleicht immer wieder auftretende Defizite und Überschüsse intra- und extraorganismisch aus. Atmung, Hunger, Entleerung sind »unsublimierbar«.(134) Anders Sexualität: sie ist aufschiebbar, irritierbar, staut sich an wie Sperma und schlägt ab gewisser Quantitäten um, pollutioniert in Haß oder Angst: die Geburt der Neurose als einer chronischen Störung des vegetativen Gleichgewichts, zugleich natürlich auch Störung der somatischen Homöostase, ist fester Baustein der Reichschen Arbeit seit 1927.
Daraus ergibt sich: Die Therapie der Neurose ist die Beseitigung des Sexualstaus, Rückwandlung der Angst(135) und des Hasses in Libido und Abfuhr in orgastischer Selbsthingabe, wie sie dem genitalen Charakter auf geniale Weise möglich ist mit seinem nachgerade lüsternen Über-Ich.(136)
Das Es des - idealtypologisch pointierten - genitalen Charakters hat sich von der ödipalen, nicht verdrängten, sondern »untergegangenen« Inzestfixierung völlig gelöst zugunsten einer Objektwahl, die mehr ist als Neuauflage des Inzests. Prägenitale Partialtriebe präludieren den Sexualakt, »das vornehmste und lustvollste Sexualziel..., je besser die Systeme der Prägenitalität mit der Genitalität kommunizieren, desto vollständiger die Befriedigung, desto geringere Möglichkeiten zur Herstellung einer pathogenen Stauung der Libido.«(137)
Sexuelle Über-Ich-Verbote bestehen so wenig wie ein aus sexueller Versagung durch akkumulierte und autoplastisch rückgewandte Aggression sadistisch gewordenes Strafbedürfnis. »Da die Potenz in Ordnung ist, bestehen keine Minderwertigkeitsgefühle. Das Ich-Ideal ist vom Real-Ich nicht allzuweit entfernt, es besteht daher keine unüberwindbare Spannung zwischen beiden.«(138) Das Ich muß sich weder vorm Über-Ich schämen wegen der Genitalwünsche des Es, noch dieselben beim Es verdrängen, gerade darum kann es dem Es »um so leichter gewisse Hemmungen auferlegen«.(139) - »Auch das Ich des genitalen Charakters hat einen Panzer, aber es verfügt über ihn, es ist ihm nicht ausgeliefert. Dieser Panzer ist schmiegsam genug, um sich den verschiedenen Situationen des Erlebens anzupassen«, so präludiert Reich ein wahres Hohelied auf die emotionalen Bandbreite dieser Spezies Mensch: fröhlich, zornig, traurig, hingebungsvoll, kindlich, energisch hassend, »sein Mut ist kein Potenzbeweis«, natürlich ernst, rational gerichtet.(140) »Im Sexualakt mit dem geliebten Objekt hört das Ich bis auf die Wahrnehmungsfunktion fast zu existieren auf, der Panzer hat sich vorübergehend völlig gelöst, die ganze Persönlichkeit strömt im Lusterleben, ohne Angst, sich darin zu verlieren, denn sein Ich hat eine solide narzißtische Fundierung, die nicht kompensiert, sondern sublimiert.«(141) Weil der genitale Charakter »in keiner Hinsicht steif und krampfhaft ist«, »klebt« er nicht aus Schuldgefühl oder moralischen RÜcksichten an seinen Liebesobjekten, sondern hält oder wechselt den Partner mono- oder wahlweise auch polygam nach dem »Primat des Intellekts«: wenn, solange und »weil es ihn befriedigt«.(142)
»Seine Sozialität beruht nicht auf verdrängter, sondern auf sublimierter Aggression.«(143) Soziale Leistungen sind nicht wie beim Neurotiker verkappte Potenzbeweise, sondern sublimierte »natürliche Aggressivität sowie Teile der prägenitalen Libido«.(144) Reich unterscheidet also zwischen einer natürlichen Aggressivität, ähnlich der von Perls favorisierten assimilatorischen Beiß- und Kaulust, und neurotischem Sadomasochismus, der, wie Freuds Triebmischung, als Ambivalenz von Liebe und Haß, »kein biologisches Gesetz, sondern vielmehr sozial bedingtes Entwicklungsprodukt« ist.(145) Die »nicht bewältigbaren destruktiven Antriebe« unserer privaten und institutionellen Kriminalität entstehen nämlich durch die autoritäre Erziehung, in der Sexualität verdrängt und umgeleitet wird in Destruktivität.(146) Aus diesem »make love, not war« ist bei Perls ein Besser beißen als morden geworden, aus Reichs zivilisatorisch »fortschreitender Sexualeinschränkung« im patriarchalischen Klassenkampf(147) wird bei Perls Zahnausfall wegen Toastgenuß mit kompensatorischer Mordlust. Für beide ist die Lösung des Kriegsproblems machbar, entweder durchs Bett oder durch Vollkornkost.(148)
Der für Perls eindrucksvollste Punkt der Reichschen Lehre ist der Muskelpanzer.(149) Das Interesse an der somatischen Form des Ausdrucks psychischer Regungen und die psychosomatische Einheit der Person in allen ihren Weisen der lebendigen Ausdruckssprache standen ab Groddek und Ferenczi schon lange im Zentrum der Theoriebildung, nicht nur bei Reich.(150) Zunächst ist »Panzer« bei Reich Metapher(151), später kommt es zu einer Materialisierung des Charakterpanzers im muskulären Tonus als chronische Verhärtung des Ichs, des Panzers, der normalerweise beweglich und lückenhaft durchlässig ist wie die Oberflächenspannung einer Freudschen narzißtischen Amöbe, Pseudopodien aussendend und einholend.(152)
Ängstliche Erwartung führt zu muskulärer Dauerspannung, Relikt des Fluchtinstinkts. Schreck kann entweder zur Muskellähmung mit vegetativen Reaktionen führen (Tachykardie, Sch(w)eiß, Blässe) oder fast gegenteilig zur Starre. »Die muskuläre Starre kann die vegetative Angstreaktion ersetzen,... die gleiche Erregung, die bei der Schrecklähmung ins Innere flieht, bildet bei der Schreckstarre aus der Muskulatur eine periphere Panzerung des Organismus.«(153) Die Muskelspannung erspart den Angstaffekt durch somatische Aufzehrung ihrer psychischen Energie, ist ein Bewältigungsversuch der Angst durch Affektsperre. Aber auch Sexuallust und Aggression können so »gebunden« werden. »Es ist, als ob die Hemmung der Lebensfunktionen (Libido, Angst, Aggression) durch Bildung eines muskulären Panzers um das Innere der biologischen Person erfolgte.«(154) Beim genitalen Charakter kann die Panzerung aus gegebenem Anlaß oder in Krisen vorkommen, während er normal locker und anmutig wirkt, beim Neurotiker ist sie chronisch, habituell fixiert.(155)
Verdrängung korreliert mit dem Pressen der Muskeln, ob im Anusmuskel oder Nacken, Mund oder Becken. Die Neurose als chronisch gestörtes vegetatives Gleichgewicht, als festgefahrene Abpanzerung gegen Angst, Lust oder Wut, wird offensichtlich durch die Art der Verspannungen.(156) »Jede muskuläre Verkrampfung enthält die Geschichte und den Sinn ihrer Entstehung.«(157) Sie konserviert Verdrängung: »Die Verkrampfung der Muskulatur ist die körperliche Seite des Verdrängungsvorganges und die Grundlage seiner dauernden Erhaltung.«(158)
Der Panzer ist quasi das Negativ der »Ausdruckssprache des Lebendigen«.(159) »Der Totalausdruck des gepanzerten Organismus ist der der 'Zurückhaltung' ... Der Körper drückt aus, daß er sich zurückhält. Rückgezogene Schultern, hochgehaltener Brustkorb, festgeklemmtes Kinn, flacher, verhaltener Atem, hohles Kreuz, rückgezogenes, 'stilles' Becken, 'ausdruckslose' oder starr gestreckte Beine sind die wesentlichen Haltungsmechanismen der totalen Zurückhaltung.«(160)
Subjektiv wahrnehmbar ist allerdings nur die Verzerrung der inneren Lebensempfindungen und die somatischen Symptome, nicht die Panzerung selbst. »Der gepanzerte Organismus ist außerstande, seinen Panzer aufzulösen.«(161) Patienten klagen über Herzschmerzen, Verstopfung, Nervosität, Übelkeit, Gastritis, Rheuma, Athritis, Angina pectoris, bekommen Krebs. Weder Lustseufzer noch Wutausdruck sind möglich: »Er ist nicht imstande, einen Wutschrei auszustoßen oder seine Faust Wut imitierend niedersausen zu lassen. Er kann nicht voll ausatmen. Sein Zwerchfell ist in der Bewegung sehr eingeschränkt... Er vermag das Becken nicht vorwärts zu bewegen.«(162)
Reich hat also auch agieren lassen. Er hat damit Perls einen wesentlichen Impuls für seine monodramatische Arbeit gegeben, schon vor Moreno. Wenn Reich Patienten auffordert, jedem sich einstellenden Impuls probeweise nachzugeben, Verkrampfungen selbst zu erspüren, tief auszuatmen, zu hyperventilieren mit dem üblichen Entbinden von Lust oder Angst(163), sind auch das Techniken, die zu den Standards der Gestalttherapie geworden sind: Verstärkung von awareness und Körperausdruck, wie Perls sie in Esalen dokumentierte. Erst der direkte Angriff(164) an den Corpus des Patienten, eine alte Leiberinnerungen reaktivierende Massage an den Myotonien selbst, ist eine Technik, der Perls selbst nichts abgewinnen konnte, von seinem eigenen Rolfing abgesehen.(165)
Daraus leitet Reich als Ziel der Orgontherapie die »Zerstörung der Panzerung«, die »Herstellung der Beweglichkeit des Körperplasmas« ab.(166) Wird die Zurückhaltung aufgelöst, dann tritt der Orgasmusreflex, die Hingabe an unwillkürliche Körperzuckungen, an den Partner und die Welt als Ziel aller Therapie und allen Lebens automatisch ein.(167) Denn der Sinn des Muskelpanzers ist die Abwehr des Orgasmus.(168) Mit dem Orgasmusreflex als »einheitlicher Gesamtkörperzuckung«(169) stellen sich die Gefühle von Lebendigkeit, unmittelbarem Kontakt zur Welt und sich selbst in »Empfindungen von Tiefe und Ernst« ein.(170) Dieser Zieltaxonomie entspricht, obschon ohne Orgasmusreflex als Vorbedingung, Perls' Idee des Persönlichkeits-Wachstums.
Reichs Klinik führt zur Unterscheidung 6 verschiedener Muskelgruppen, die als vegetative Funktionseinheiten des ganzen Körpers für jeweils einen bestimmten, dort motil zentrierten Ausdruck eines Impulses und Affektes lokalisierbar sind. Er nennt sie Segmente oder Blocks, weil hier Affektblockierungen als Muskelblockierungen prägnant werden.(171) Sie sind nach dem Muster des Ringelwurms(172) quer der Körperachse ringförmig angeordnet in Höhe von Augen, Mund, Hals, Brust, Zwerchfell und Becken, verstanden als signifikante Grobeinteilung.Adäquat den Segmenten der Wirbelsäule verlaufen »nach Auflockerung der Panzerringe... sichtbar wellenartige Zuckungen« durch die befreiten Partien.(173) Während die plasmatischen Strömungen der Orgonenergie längs der Wirbelsäule auf- und niedersteigen, werden sie wie in einem gequetschten Schlauch von quersitzenden Panzerringen blockiert. Erst wenn alle Panzersperren aufgelöst sind, ist der Organismus von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt: es kommt der Orgasmusreflex.(174) Die Pulsation des Orgonstroms wird in der Philosophie Hermann Schmitz' als Rhythmus der beiden miteinander oszillierenden, simultanen oder sukzessiv konkurrierenden leiblichen Urimpulse Engung und Weitung, Spannung und Schwellung um einen gewissen ökonomischen Gleichgewichtspunkt reflektiert.(175)
Die Auflösung der Muskelblocks beginnt unverfänglich im Gesicht und tastet sich katabasismäßig allmählich an das Sexzentrum im Becken heran.(176) Klonisches Zittern und Prickeln indizieren die Lösung eines Panzerrings. Oft reagiert der Körper auf diese Empfindungen mit sofortiger neuer Verhärtung, die die Angst bindet, die angesichts dieser nicht orgastisch abführbaren Strömungen eintritt.(177) Die Hingabe, die beim Abbau der ersten Blocks sichtbar wird, verwandelt sich vor der Sperre der übrigen Blocks in Haß: »SOBALD DIE AUSDRUCKSBEWEGUNG DER HINGABE AUF PANZERBLOCKS STÖSST, SO DASS SIE NICHT FREI ABLAUFEN KANN, VERWANDELT SIE SICH IN DESTRUKTIVE WUT.«(178) Die Auflösungsarbeit am Panzer ist prozessual: »Wir lösen also nicht etwa mechanisch, starr abgegrenzt einen Panzerring nach dem anderen säuberlich auf. Wir arbeiten vielmehr an einem ganzheitlichen Lebenssystem, dessen totale Plasmafunktion durch quergestellte Panzerringe behindert ist. Aber jede Lockerung des einen Panzersegments führt infolge der hierdurch ausgelösten Bewegung zur Mobilisierung höher und tiefer gelegener Panzerringe.«(179)
Der okulare, erste Panzerring um Augen und Stirn mit maskenhaft starrer Blickleere unterdrückt den Schreck, der die Augen aufreißt. Grimassieren mobilisiert diese Abwehrhärtung.(180) Der orale, zweite Panzerring um Mund, Kinn und Obernacken erstickt die infantilen Impulse des Saugens, Weinens, Brüllens, Beißens und Brechwürgens.(181) Die Hartnäckigkeit der dritten, der Halspanzerung mit Ansatz der Zungenmuskulatur zeugt vom Herunterwürgen von Wut oder Weinen.(182) Das vierte, das Brustsegment verhindert durch flache Atmung, durch Einatmen als Hauptstück der Panzerung die Erregung jedweder Emotion, indem durch Reduktion der atmenden Sauerstoffzufuhr die Verbrennungsprozesse überhaupt gedrosselt werden und lähmende Müdigkeit die Erregung ablöst.(183) Brüllende Wut, herzhaftes Weinen und herzzerreißende Sehnsucht werden mit zurückgezogenen Schultern selbstbeherrscht zusammengerissen. Die Arme des Brust-raus-Militaristen sind unmusikalisch ungelenkig in seiner unnahbaren Würde; sie haben das sehnsüchtige Ausstrecken nach Umarmung und Berührung verlernt.(184) Der »Knoten in der Brust« offenbart Wut oder Angst, drückt man dem Patienten die Brust zusammen und läßt ihn dann laut schreien oder hyperventilieren.(185) Die Trapezmuskelblocks zwischen den Schulterblättern signalisieren Trotz. Die Kitzeligkeit der Brustgepanzerten ist übersteigerte Lust, berührt zu werden, im Negativ.(186)
Der fünfte, der Zwerchfellblock, der als Hohlkreuz erkennbar, Magen, Solarplexus, Leber und Pankreas schützt, sträubt sich gegen tiefes Ausatmen und ist extrem schwer zu lösen.(187) Reich entwickelt am Ringelwurm, der mit Pinzette gehalten, Seitwärtsbewegungen macht, die Übersetzungsregel von der »Ausdruckssprache des Lebendigen« in Worte: seitwärts zappeln heißt »Nein, Nein« und längs strecken und zusammenziehen heißt Ja.(188) »Wir begreifen die Ausdrucksbewegungen und den Bewegungsausdruck eines anderen lebenden Organismus aufgrund der Identität unserer eigenen Emotionen mit denen alles Lebendigen.«(189) So verstand Franz von Assisi Tiere, so versteht der Therapeut den Klienten als »gepanzertes Menschentier«. Wiederholtes Auslösen des Würgereflexes bei schon entpanzerten bisherigen Blocks 1 - 4 läßt das Zwerchfell frei schwingen, die Atmung spontan und voll arbeiten und der Oberbauch fällt mit jedem Ausatem zusammen, der Hals strebt nach vorn, genau wie das Becken: so sieht der Orgasmusreflex optisch aus. Reich kann zwar die Vorstreckung der Halspartie bei zurückgelegtem Kopf mit »Hingabe« benennen, weiß aber keine Wortübersetzung für die orgastischen Zuckungen, die bei freiem Zwerchfell zustandekommen.(190) Übelkeit und Brechhemmung mit Gastritissymptomatik kennzeichnen die Zwerchfellpanzerung, die wellenartige Aufwärtsbewegungen vom Magen Richtung Mund verhindert, zugleich Diarrhoe als Abwärtsbewegung vom Magen zum After zum oral-analen Ausdruckskombinat der Entleerung innerster saurer Säfte.(191) Der sechste Panzerblock im Mittelbauch, die Lendenmuskulatur, ist recht leicht zu lösen. Danach gelangt man sofort zum siebten Segment, dem Becken, das wie ein Entenpopo mit kontrahiertem Anus nach hinten zurückgezogen ist. Symptome reichen von Eierstock-, Blasen- und Scheidenentzündungen über Zysten und Tumore an Darm und Genitalien bis zu genitaler Anästhesie.(192) Dieser »Beckenangst« korrespondiert »Beckenwut«: »Die Lustempfindungen verwandeln sich unweigerlich in Wutimpulse, da die Panzerung keine Entwicklung unwillkürlicher Bewegungen und dadurch keine Zuckungen dieses Segments zuläßt.«(193) Die Lösung des Beckenblocks erfolgt also über das Agieren der Beckenwut, das Durchbohrenwollen aggressiver, verachtungsvoller Penetrations-Bewegungen. Reich kommt damit zur Kritik des üblichen Koitalstils nach Gutsherrenart, den seine frühen Orgasmuskurven noch propagierten: »Die dazwischengeschaltete Wut, der Haß und die sadistische Emotion gehören mitsamt der Verachtung zum Liebesleben des heutigen Menschen.«(194) Die eigentliche biologische Überlagerung zweier modo canem copulierender Menschentiere intendiert indes die Auflösung individueller Formbestimmtheit überhaupt in Pulsation nach Art der Qualle: »Im Orgasmus ist das Lebendige nichts als ein Stück zuckender Natur.«(195) Zuckend zur Ehre Gottes.
Die leibinselhaften Chakras des indischen Yoga haben erstaunliche Parallelen mit Reichs Panzerringen: Dem untersten muladhara-Chakra zwischen Anus und Geschlecht wohnt mit der aufzuscheuchenden Schlange kundalini das Thema Überlebensangst inne, dem svadhisthana-Chakra im Becken Sexualität; dem manipuraka-Chakra im Solarplex Macht; dem anahata-Chakra im Herz-Brust- Zentrum enttäuschte Kontaktangst; das visuddha-chakra in der Kehle Angst vor Hineinnahme von Luft, Anregungen, Angst vor Verhungern, und Angst vor Ausdruck von Emotionen in offener Kommunikation. Das sechste Zentrum, das ajna-Chakra, das »Dritte Auge«, hält Angst vor dem Schauen durch rasternd bewertenden Blick in Schach. Das sahasrara-Chakra über der Schädeldecke hat als höchster, feinstofflicher Bereich keine Entsprechung in Panzerringen. Der Körperwind vayu, der als prana im Brustraum, apana im Bauchraum, den Körper in den Kanälen ida links, pingala rechts, und sushumna an der Wirbelsäule entlang durchströmt, dürfte dem Orgonströmen entsprechen.(196) Perls ist Reich in der Differenzierung des Muskelpanzers und der Deutung seiner Ausdrucksnegationen nur in der Intensität der Bezugnahme auf den gesturalexpressiven Leib gefolgt. Die Ringelwurm-Metapher ist extrem; diagnostisch eröffnet Reichs Körperarbeit jedoch wertvolle Perspektiven.