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Wenn andere einem nicht helfen können oder wollen, muß man sich selbst helfen. Man verbündet sich mit denen, denen es genauso geht, ist gemeinsam stärker und einfallsreicher. Man ist nicht mehr allein in seiner Not, seinen Problemen, seinen Träumen. Man ist nicht mehr hilflos oder in Abhängigkeiten, die man nicht mehr will.
Die Intention der Hilfe zur Selbsthilfe hat sich besonders in den Siebzigerjahren in der Entwicklungshilfe eingebürgert, weil die Schaffung neuer Abhängigkeiten und Verschuldungen an die 'Geberländer' im Endeffekt mehr Schaden wirkte als Hilfe zu sein.(1) Es entstanden alternative Handelsprojekte (z.B. GEPA) mit Produktionsgenossenschaften in der 3. Welt, die egalitär, selbstverwaltet und mit betriebseigener Rentenvorsorge arbeiteten, wobei durch höhere Endpreise ungleicher Tausch vermieden wurde. Dritte-Welt-Läden bieten seither diese Waren überall an.(2) Besonders deutlich ist gerade in diesen und europäischen Alternativ-Projekten (Longo Mai) die Herstellung wirtschaftlicher Autonomie durch Vernetzung untereinander.(3)
Ziel dieser Arbeit ist die Verschränkung der jesuanischen Perspektive mit der einer therapeutischen Bewegung, die mehr will als Elend verwalten. Dabei macht auch eine theologische Reflexion der Selbsthilfe Sinn, selbst wenn theologische Fakultäten und die beschädigten Personen, die dort Lehre treiben, Selbsthilfe im Zweifelsfall in Verbindung mit sündlicher Selbstrechtfertigung bringen und Ortsgemeinden, die glücklicherweise überhaupt nicht theologisch denken, weil sie generell wenig denken, Selbsthilfegruppen nur als die Trüppchen von abendlichen Gästen erleben, die vor dem Gemeindehaus stehen, auf Einlaß warten, und nach einigen Stunden wieder nach Hause gehen, wobei der Hauptkonflikt möglicherweise in der christlichen-demokratischen Durchsetzung des Rauchverbots liegt, wenn nicht in der Überschreitung der 22-Uhr-Grenze.
Die Intention zur Selbsthilfe hat alle reformatorischen Bewegungen in der Kirchengeschichte geprägt. Aus kirchlichen Klosterschulen ist das staatliche Bildungssystem hervorgegangen, aus ehemals kirchlicher Krankenpflege das heutige Gesundheitssystem. Freie Träger von solchen Initiativen werden von soziologischer Klassifikationslust gern als intermediäre Instanzen zwischen Staat und Betroffenen subsumiert. So gibt es auch heute viele kirchlichen Einrichtungen, die Pionierarbeit in sozialen Brennpunkten leisten.(4) Sie werden von den Ortsgemeinden gerne als Aushängeschild oder Alibi für fehlendes eigenes Engagement hochgelobt und tiefbezahlt. Bei Sparmaßnahmen fallen solche Projekte meist als erstes unter den Rotstift jener Sorte von Ehrenämtlern, die im viktorianischen Honoratiorenstil sich durch demagogisch geschicktes Auftreten in Machtpositionen hineingelotst haben und ihre persönliche Gratifikation aus dem Innehaben eines solchen Amtes bestreiten, bei dem die explizite Beförderung des in uns allen pulsierenden Willens Gottes nach universaler Gerechtigkeit weitestgehend aus dem Blick geraten ist.
Ist die Realität Gottes eine sprachliche? Sicher auch. Therapie und Selbsthilfe ist immer auch Sinnfindung im zwischenmenschlichen Austausch, wobei zur Sprache selbstredend auch die Zuckungen der Vagina im Orgasmus und andere tonische Gesten gehören. Und solche Sinnfindung ist Selbstverortung und Selbstentdeckung in einem bergenden sozialen Kontext, den das Credo der Kirche als Gemeinschaft der Heiligen beschreibt und Identitätssäulentheoretiker Petzold als lebenswichtiges soziales Netz. Wenn Galtung neben direkter und struktureller Gewalt eben auch von kultureller Gewalt redet, die Legitimationsmuster liefert, um andere ihrer Lebensmöglichkeiten zu berauben, dann ist Kirche und ihr Diskurs in der Gesellschaft in eminenter Weise auch eine Möglichkeit, die Macht Gottes im Anprangern von offensichtlichem Unrecht, von Gewalt in allen Erscheinungsformen ins Feld zu führen, militant-optimistisch im Kampf des Umbaus der Welt zur Heimat.
Was nützt heute noch Kirche? Ist sie nur noch ein weiterer Wohlfahrtsverband neben Rotem Kreuz, paritätischem Wohlfahrtsverband und AWO? Wenn Religion Weltorientierung, Trost und Weisung(5) ist, wenn die Weltorientierung von der 'Vernunft' (Foucault) der Wissenschaften übernommen ist und Weisung von einer dem Faschismus nur stellenweise entwachsenen Justiz(6), bleibt auch in einer säkularisierten Gesellschaft noch eine klaffende Lücke des Trostes, der Wärme, des Schutzes von Leben. Hier ist steigender Bedarf in einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder innerlich aushungern läßt, obwohl sie ihnen sozialhilfegesetzmäßige Beihilfen zusteckt, die ein gewisses Existenzminimum garantieren. Diese Trostlücke ist das Gebiet, auf dem nun Kirche, Beratungsstellen freier Träger, Therapeuten in Klinik und freier Praxis, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeprojekte psychischer Restabilisierung in postmoderner Unübersichtlichkeit miteinander konkurrieren.
Die ordnungspolitischen Sozialplaner psychosozialer Grundversorgung wären gern zur Re-Delegation von Trost-Funktionen: von psychischen Versorgungsleistungen, an kirchliche Ehrenämtler bereit, weil es Psychologenstellen einspart. Christliche Liebespredigt stellt - von ihrer sonntäglichen, zumeist gerontopraktischen Gottesdienstform abgesehen - eine Form psychischer Versorgung im postmodern pluralen Spektrum der speziellen sozialen Dienste dar und ist per (rückläufiger) Kirchensteuer noch als förderungswürdig akzeptiert. Meine Frage allerdings widersetzt sich dem verwaltenden Zugriff der Sozialtechnologie auf die Religion und beharrt auf deren Dysfunktionalität: Was bringt uns das Evangelium? Was nützt uns die Geschichtensammlung über eine kleine Gruppe Randständiger um den Wunderheiler Jesus, die ohne irgendeine soziale Sicherung mit bescheidensten Mitteln ein kommunistisches und anarchistisches Wanderleben in der Hoffnung auf einen die Welt beschützenden, gerechten Gott versucht haben? Das Evangelium liefert Leitbilder. Ohne Leitbild gibt es kein Rollenlernen. Ist es nicht Jesus, dann Commander Spock, Sabata oder Winnetou. Lernen am Modell Jesu, Buddhas, der Phantasiehelden oder Märchenfiguren hilft anders als die ödipale Drohung, die in der verwalteten Welt von nahezu allen Institutionen gepflegt wird, eine Form der Freiheit des Handelns zu entwickeln, die nicht mehr von Strafangst motiviert ist, sondern der Lust an Nachahmung, die die Liebe provoziert. So könnten Jesus, Buddha und die Heiligen als Animateure zu einem besseren Leben verstanden werden. Die Solidarität ermöglichende hermeneutische Brücke, gerade sie auch heute noch in der Gestaltung des eigenen Lebens zu adaptieren, bildet die Tatsache, daß auch sie mit der gesellschaftlichen Ausgrenzung zu kämpfen hatten. Sie sind für Selbsthilfe gute Lehrer, weil sie als Randgruppe neue Lebensformen entwickelt haben, sie verstanden sich als Aktivisten einer neuen Ära, die sie für das kommende Reich Gottes hielten.
Das Evangelium verzaubert die Welt zur veränderbaren. Der Zauber verschränkt Reales und Utopisches, reichert Empirie mit Projektionen eines kinderwunschgemäßen Lebens an und nimmt das Wirkliche unter der Hoffnungsperspektive des Möglichen wahr, im Erspüren seiner latenten, in der Materie schlummernden Tendenzen. In dieser verklärten Verzerrung der Realität wird die Gestalt prägnant, die die Welt haben könnte. Der Zauber läßt Künftiges im Jetzt aufscheinen.
Nach dem priesterschriftlichen »Macht euch die Erde untertan« wird jetzt gegenüber der niedergetrampelten Schöpfung zoroastrische Behutsamkeit, Partnerschaft und Liebe zur Zartheit der Verästelungen des Lebendigen fällig. Nach einer bis zur Barbarei durchgeführten Entzauberung der Welt (Adorno/Horkheimer) zu einer trostlos kalten Klotzmaterie, bloßem Material technischer Gewaltherrschaft, könnte es nun zu einer zweiten Verzauberung, Remythisierung der Welt (Ricoeur) kommen.(7) Ob im Märchen, im Phantasie-Roman, im Film, im Gleichnis, in der Metapher, in der schamanischen Extase der Himmelsreise der Seele oder den Phantasiereisen von Therapiegruppen oder in den Narrationen Jesu: dieser andere Umgang mit uns und unserer Umwelt gewinnt durch das Zauberhafte, in dem er geschildert wird, die menschliche Wärme zurück, die wir brauchen, um ein kohärentes Selbstgefühl an der Mutterbrust zu fördern und aufzubauen, um Urvertrauen und Mut zum Sein zu gewinnen. Diese Wärme ging in weiten Teilen der Verwaltung des Elends durch sozialtechnologische oder medizinische 'Experten' mit ihrem einseitig naturwissenschaftlichen Rattenversuchsparadigma verloren.(8)
Auch die Psycho-Experten haben vielen Menschen keine eigene Identität lassen können, sondern sie in die oft eher zweifelhaften Raster ihrer therapeutischen Meta-Modelle und Methoden zu zwängen versucht. Der Bedarf nach Therapie ist angesichts fortschreitender technischer Kälte, erstarrter Zwischenmenschlichkeit, zerfallender sozialer Netze und der durch Arbeitslosigkeit forcierten Selbstwertproblematik gestiegen. Die Kirchen haben das Gehör auf ihre Botschaft weitestgehend durch die Langweiligkeit ihrer Inszenierung eingebüßt. Die 'Therapiegesellschaft' ist in die Trostlücke getreten. Erst jetzt wird deutlich, daß auch ihre Hypothesen ideologischer, mythischer Natur sind und keineswegs der Heilsweg, für den ihn viele zunächst gehalten haben, sowohl Therapeuten als auch Klienten.(9)
Weder Kirchen noch Wohlfahrtsstaat noch seine Therapeuten und Professionellen konnten die vielfältigen Rufe nach Hilfe restlos beantworten. Die psychosozialen Helfer kamen an ihrer Grenzen: Grenzen der Finanzen und zeitlichen Kapazität, des Verstehenshorizontes, der Einfühlung und der methodologischen Indikationsphantasien. Aus dieser Situation hat sich mit viel pragmatischem Impetus die Gesundheits-Selbsthilfebewegung entwickelt: sie ist Aufbegehren gegen entwürdigende, technifizierte Behandlungen und Mündigwerden gegenüber dem eigenen Leiden als Wille, die eigenen Schwierigkeiten selbstverantwortlich anzugehen und zu gestalten. Selbsthelfer sind nicht Objekte professioneller Behandlung, sondern Experten in der kreativen Bewältigung ihres Geschicks.(10)
Es gab Zeiten in Deutschland, wo Hilfeschreie im klirrenden Frost vor den Gewehrläufen der SS-Totenkopfverbände verhallten. Die Folterberichte der Überlebenden waren so unglaublich, daß der zahme Geist im Mühen um Objektivität sie für Phantasmata hielt.(11) So zeichnen sich vielleicht alle wohlbehüteten Therapeuten, Ärzte und Helfer durch eine virtuelle Verständnislosigkeit gegenüber den Betroffenen aus. Fast größere Chancen des Verstehens haben solche Helfer, die die spezifische Not am eigenen Leib erlebt haben und bei aller gebliebenen Beschädigung - überlebt haben.(12) Die Solidarität des Leidens kann Basis für tiefes Verstehen sein. Genau dies ist bei den Professionellen nur selten vorauszusetzen. Die verfolgte junge Kirche war durch die Ausgrenzung im Römerreich zusammengeschweißt als Leidensnachfolger Christi und fußt auf dem Prinzip der Solidarität im Leiden. Diese Solidarität der Schwachen und Verfolgten und ihr Zusammenschluß gegen den Staat war eine Selbsthilfe, die schließlich den Staat zum Einlenken zwang. Erst nach Konstantin wurde die Kirche korrupt und zur Verfolgerin.
Der Ausdruck Selbst-Hilfe ist aus dem Reagieren auf Not erwachsen. Hilfe ist immer konnotiert mit der Geste des Barmherzigen, Mildtätigen, während die genauere Analyse der Motivations- und Kommunikationsstrukturen bei Hilfeleistungen durchaus auch sehr entwürdigende Motive ans Licht brachte: Herrschaftsgelüste, heimliche Verachtung des Anderen, sadistische Impulse, aber auch Selbsthaß der Helfer gegen ihre eigene Person in einer nahezu unauflöslichen Impulsmischung. Gegenüber einer Gesellschaft, die ihren schwächsten, in Not geratenen Gliedern gar nicht hilft, bedeutet sozial organisierte Hilfe einen unermeßlichen Fortschritt. Wir sind in der glücklichen Situation, diesen Zustand als Selbstverständlichkeit voraussetzen und kritisieren zu können im Hinblick auf die Verwirklichung der unantastbaren Würde des Menschen, seiner Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Auf dieser Folie wird zum Ziel (neben der weitestgehenden Abschaffung psychosozialer Not durch unerträgliche Produktionsverhältnisse und ihre Folgen) die Schaffung verschiedenster Börsen und Plattformen, auf denen Menschen spezifische Nöte und Probleme artikulieren und nach Partnern Ausschau halten können, mit denen sie diese bewältigen. Aus Not geboren muß dies allerdings nicht auf Not fixiert bleiben. Es haben sich ebenso Börsen entwickelt, auf denen Menschen nicht Hilfe suchen, sondern Partner für die Realisierung spezifischer Träume und Gelüste, die vom Bausparverein, vom Sauerländischen Gebirgsverein über Sadomaso-Aktionsgruppen bis zu Ökologischen Dorfgemeinschaften reichen. Hierfür ist allerdings das Wort Selbsthilfe kaum noch angemessen.
Selbsthilfe ist wechselseitiges Lernen und Miteinanderleben. Selbsthilfe lebt vom Dialog, der mehr ist als Belehrung.(13) Selbsthilfe ist kollektive Kreativität in der Problembewältigung.(14) Und Selbsthilfe ist Solidarität, weil es um gemeinsame Bewältigung von sozialen Verhängnissen oder körperlichem Geschick geht, aus Not geboren die Not zu überwinden. Nicht allein zu sein im eigenen Mißgeschick, nicht der einzige zu sein, den dieses getroffen hat, gemeinsame Klage, die nicht zur beliebten Konkurrenz um das spektakulärste Leiden führt, sondern, wie die Klagepsalmen des AT zeigen, erste Aktivität gegen das Leiden sind, Mündigwerden aus der stummen Apathie fatalistischer Ergebung in nur scheinbar Unvermeidliches, der Beginn des Ausdrucks der Gefühle und Bewegung des Verstandes zur Analyse und Veränderung der Realität, der Not des Lebens.
Dabei ist der Prozeß der gemeinsamen kreativen Wahrnehmung, Erkenntnis und Veränderung der leidvollen Realität ein hermeneutischer und therapeutischer Zirkel, an dessen Rotationsbeginn der Schmerz, die awareness des Leides und seine Expression steht, in dessen Fortgang man gemeinsam die Mechanismen der Pathologie erfaßt und alternative Bewältigungsstrategien erprobt.
Diese können sehr persönlicher Art sein, wo es um sehr intime Probleme geht, sie werden aber dort, wo es um kollektive Bewältigung sozialer Ausgrenzungen und Stigmatisierungen oder materieller Depravierungen geht, eine deutliche politische Gestalt erhalten, über Gewerkschaften, Arbeitsloseninitiativen, selbstverwaltete Betriebe, Wissenschaftsläden, Netzwerke für ökologisch produzierte Güter, Begegnungs- und Freizeitzentren, Bürgerinitiativen bis hin zu parteipolitischer Gremienpolitik. Auch die Einforderung staatlicher Zuschüsse für die Arbeit der Selbsthilfegruppen ist ein Akt, die eigene Aufgabe als eine öffentliche zu würdigen.
Aus:
Brigitte Runge,
Die Bedeutung der Gesundheitsselbsthilfe innerhalb der Selbsthilfebewegung, in: Petzold/Schobert 1991,29-50,40
Die Stammesverbände der Urhorden mit ihrem kollektiven schamanischen Exorzismus oder die israelitische Amphiktyonie der 12 Stämme - eine Notwehrgemeinschaft - als Selbsthilfetruppe zu bezeichnen, würde sofort zu den amerikanischen Lynchgruppen und dem Kukluxklan führen: Die Pragmatik des Wilden Westens und das Do-it-yourself John Dewey's verdanken sich politischer Undurchsetzungsfähigkeit des beginnenden Staatswesens. Je weniger engagiert der Staat, um so mehr sind seine Bürger gezwungen, im struggle of life die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. So sind im Feudalismus die Bauerkriege, im frühkapitalistischen Liberalismus die landwirtschaftlichen Genossenschaftsbildungen des 18. Jh.s und im 19. Jh. die revolutionären Arbeitervereine, anarchistischen Kommunen und Siedlungsexperimente, im 20. Jh. dann die Arbeiter- und Soldatenräte und russische Revolution Abenteuer einer gern als 'erste Welle von Selbsthilfe' bezeichneten Selbstorganisation gegen die Machthaber: eine Antwort auf die kapitalistische Ausbeutung und die heute gut versicherten Lebens- und Berufsrisiken des kapitalistischen Verwertungsprozesses der Ware Arbeitskraft.(15) Gewerkschaften haben die Arbeiterbewegung institutionalisiert, ihre Forderungen mit Streiks und Tarifverträgen durchgesetzt und so fundamental zur Entstehung des Wohlfahrtsstaates beigetragen: eine großartige Errungenschaft, sofern sie nicht in bürokratischer Verrechtlichung und verfilzt-korruptem Amigofunktionärstum oligarchischer Seilschaften erstarrt.(16)
Geistiger Vater der Selbsthilfe als wechselseitigem Helfen war der russische Fürst und Anarchist Pjotr Alexejewitsch Kropotkin.(17) Er sieht in der gegenseitigen Hilfe der Tiere und Menschen das zentrale Prinzip des Zusammenlebens, welches konstitutiv ist für die Entwicklung einer Gattung. Die 'freie Vereinbarung' ist ein effizienteres gesellschaftliches Grundprinzip als jeder staatliche Zwang. So brutal die Anarchisten im ausgehenden 19. Jh. in Paris hingerichtet wurden, so sehr spiegelt die Renaissance ihrer Ideen in der Studentenbewegung und den "neuen sozialen Bewegungen" den Widerwillen gegen einen staatlichen Zwang, der sich mit seinen Legitimationsproblemen bis in die miserabel verwaltete Gesundheitsfürsorge erstreckt. Technifizierte, pharmazeutische Medizinalbehandlung ohne effektive Hilfe für chronische Krankheiten; Zerfall traditioneller Sozialnetzwerke wie Familie, Nachbarschaft, Belegschaft, Kirchengemeinde - hierin liegt ein Potential des Unbehagens an unserer entsolidarisierten Kultur, welches mit dem Mut der Verzweiflung zu neuen Kommunitäten treibt, von der Frauenbewegung über Friedensbewegung bis zur ökologischen Bewegung, wobei die letztere durch eine starke Greenpeace-Offensive die größte politische Effizienz gewinnen konnte.(18)
Zwischen den Weltkriegen entstanden erste krankheitsbezogene Patientengruppen; heute sind in der Gesundheitsselbsthilfe 56 Verbände/Ligas Chronischkranker nahezu flächendeckend in der BRD mit Landes- und Bundesverbänden etabliert.(19)
Der erste namentliche Selbsthilfekongreß der Nachkriegsgeschichte stand im Zeichen von Flucht und Vertreibung und der Neuansiedlung der Bürger aus den Ostgebieten.(20) Hier organisierten sich die Vertriebenenverbände, deren Einfluß bis heute die offizielle CDU-Politik geprägt hat: Schlesien bleibt unser. Unter diesem Motto feierten sie auch eigene Gottesdienste. Die Kirchen waren für diese Bewegung immer offen. Die Bereitstellung von Räumlichkeiten für Selbsthilfegruppen in Gemeindehäusern klappt nicht immer so gut und hängt im Einzelfall auch von der politischen Ausrichtung der Gruppen ab; bei reinen Gesundheitsgruppen ist die Aufnahme der Mühseligen und Beladenen für die Kirchengemeinde gewöhnlich eine Ehre, bis Punkt 22 Uhr aber nur.
Die ersten Anonymen Alkoholiker, mit ihrem 12-Schritte-Programm wachsender Verantwortungsübernahme für das eigene Geschick 1935 in USA gegründet, kamen durch Besatzungssoldatengruppen 1953 in der BRD zustande.(21) Sie haben sich weltweit verbreitet und es gibt in den USA inzwischen 70 Spezifikationen der anonymen Suchtgruppen: Vom Sexsüchtigen, Kaufsüchtigen, Tablettensüchtigen, Spielsüchtigen, Telefoniersüchtigen bis zur Freßsucht (Overeaters Anonymus).(22) Hier wird keine 'Staatsknete' oder Professionellenhilfe erhofft, sondern alles vom Einzelnen, der Gruppe, von Gott. Das Suchtkonzept strahlt eine enorme Faszination aus, um eigene Devianzen zu klassifizieren und zu bemeistern. Zugleich gibt die Lederstudio-Atmosphäre der Selbstdemütigung einen Thrill: Infantile Verantwortungsübernahme für Verfehlungen.(23)
Der neueste Strang der Selbsthilfebewegung ist mit dem Aufkommen der Gruppendynamik, seit Richters Buch »Die Gruppe« (1972), als Entstehen psychosozialer Gesprächs-Selbsthilfegruppen zu verzeichnen. Nach dem US-Import von Bioenergetik, Gestalt, TA, bis zum Rebirthing im primärtherapeutischen Marathon schossen neben Jugendsekten auch Therapiegruppen wie Pilze aus dem Boden spätkapitalistischer Verelendungsvielfalt. Kostspielige Langzeittherapiegruppen an autonomen Bürger- und Kulturzentren werden zum schicken Breitensport. Immer mehr Therapie-Verdrossene(24) versuchen alsbald, das ganze auch einmal ohne den teuren Therapeuten-Guru zu probieren. Der Zerfall alter sozialer Netze wie Familie und Nachbarschaft, Anonymisierung und Single-Dasein forcieren die Suche nach Gruppen, in denen man nicht allein ist mit seinen psychosozialen Nöten. Viele haben in Therapien unter der ritualisierten Kommunikation gelitten, suchen zwanglosere Möglichkeiten, über ihre Probleme zu reden, ohne sich dem Professionellen und seiner Deutungsmacht ausgeliefert zu fühlen.(25) Sie suchen Freunde, Gefährten, Weggenossen. Sie wollen keine bezahlten Beziehungen, in denen sie Objekt der Behandlung durch einen Gewerbetreibenden im Hilfe-Sektor sind. Sie wollen sich nicht mehr klein, schwach und dumm gegenüber einem 'Subjekt, das weiß' (Lacan) fühlen. Sie haben ihre Expertenschaft als Betroffene entdeckt.
Die Expertenschaft der Professionellen basiert auf Wissen im Überblick, Beobachtung von außen, gar oben. Sie verdienen mit ihrer Kompetenz Geld, was ihnen die Betroffenen bezahlen - direkt oder über Steuern und Versicherungsbeiträge. Die Professionellen üben im Rollengefälle Arzt-Patient und seinen Derivaten soziale Kontrolle und Macht über die Hilfe-Konsumenten aus, unerheblich, wie empathisch auch immer sie aufgemacht ist. Die Behandelten, Betroffenen, Laien, Insassen haben allmählich den Bluff der Wissensmacht durchschaut und begreifen sich zunehmend als Experten mit dem Wissen des eigenen Lebenszusammenhanges, der Kompetenz einer Erkenntnis von innen, von unten, die sie zugleich aus einer exzentrischen Position heraus reflektieren können. Sie unterstützen sich gegenseitig in ihren Ängsten, Depressionen, Partnerproblemen, Arbeitsstörungen, vegetativen Störungen oder ihrer Isolation. Sie bilden füreinander ein neues soziales Netz, social support. Ihr Präventionswert in der Gesundheitsvorsorge ist erheblich. Einsame sterben schneller.(26)
Viele dieser psychotherapeutischen Selbsthilfegruppen wurden von Professionellen initiiert und begleitet. Damit wird prinzipiell ein Austausch der je spezifischen Wissensweisen zwischen Professionellen und Betroffenen möglich. Dieses exchange learning beider Expertengruppen könnte die 5pisj=mh, den Wissensstand über eine Lebensnot vertiefen und die Effektivität der auf ihr fußenden Bewältigungsaktivitäten steigern. Statt des Gruppentherapeuten Ziehkinder mit ödipal arrangierter Nachreifungsmission zu sein, statt sich als von den Zieh-Eltern verlassene Geschwistergruppe depraviert zu fühlen, verstehen sich die Selbsthilfegruppenmitglieder als Kompetenzgemeinschaft gleichrangiger Erwachsener mit einem demokratischen Arbeitsbündnis(27) und gleichartiger Expertenschaft, die ihren therapeutischen Effekt allein schon darin hat, daß ich mich selbst nie so sehen kann, wie mich meine Freunde sehen und mir das, was sie von mir sehen, einen aufschließenden Impuls für mein eigenes Selbstverständnis geben kann. Wenn irgend ein Therapeut explorative Kompetenzen hat, indem er dem Klienten benennt, was er von ihm sieht und fühlt im Dialog der Unbewußten, so ist dieses mutuelle feedback zwischen allen Gruppenmitgliedern möglich und heuristisch ergiebig, sofern es von einer tiefen gegenseitigen Achtung getragen ist. Beurteilung und Deutung des Anderen werden als Bemächtigungsversuche abgelehnt, vergiften die Aura des Anderen.
Moeller beschreibt das Selbsthilfeprinzip nicht als wechselseitiges Therapieren aneinander, als wechselseitige Fremdhilfe, sondern als wechselseitige Selbsthilfe: »Es hilft hier nicht der eine dem anderen und der wieder ihm. Vielmehr hilft hier jeder sich selbst und hilft dadurch den anderen, sich selbst zu helfen.«(28)
Als Definition dieser neuen Formierungen formuliert die 'Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen' (DAG-SHG): »Selbsthilfegruppen sind freiwillige, meist lose Zusammenschlüsse von Menschen, deren Aktivitäten sich auf die gemeinsame Bewältigung von Krankheiten, psychischen oder sozialen Problemen richten, von denen sie - entweder selber oder als Angehörige - betroffen sind. Sie wollen mit ihrer Arbeit keinen Gewinn erwirtschaften. Ihr Ziel ist eine Veränderung ihrer persönlichen Lebensumstände und häufig auch ein Heineinwirken in ihr soziales und politisches Umfeld. In der regelmäßigen, oft wöchentlichen Gruppenarbeit betonen sie Authentizität, Gleichberechtigung, gemeinsames Gespräch und gegenseitige Hilfe. Die Gruppe ist dabei ein Mittel, die äußere (soziale, gesellschaftliche) und die innere (persönliche, seelische) Isolation aufzuheben... Selbsthilfegruppen werden nicht von professionellen Helfern geleitet; manche ziehen jedoch gelegentlich Experten zu bestimmten Fragestellungen hinzu.«(29)
Zentrale Beweggründe der neuen Selbsthilfebewegung sind 1) eine entmündigende, verdinglichende Medizin und Sozialversorgung, in der sich Arroganz und Fehlverhalten der Professionellen parametrisch entsprechen und Klienten zu Opfern einer bisweilen auch hilfreichen Apparatemedizin machen, und 2) der Wertewandel im Spätkapitalismus, in dessen Dynamik Umweltzerstörung, Arbeitsmonotonie oder Arbeitsplatzabbau und Silowohnungsbau die Menschen entwurzeln, isolieren, anonym machen und ihnen mit der Zerstörung alter Lebenszusammenhänge auch das Gefühl eines erfüllten und sinnvollen Daseins rauben. Der Zerfall familialer Netze, durch entlegene Arbeitsstellen gefördert, hat zugleich dem Singletum und der Selbstverwirklichung Auftrieb gegeben.(30)
Damit ist zugleich deutlich, daß Selbsthilfegruppenarbeit keine Do-it-yourself-Autarkie, auch nicht Familien- oder Nachbarschaftshilfe ist, weder ehrenamtliche 'Laienhilfe' noch Bürgerinitiative, erwerbswirtschaftliches Alternativprojekt oder Selbsthilfeorganisation mit hohem Institutionalisierungsgrad, Hauptamtlichen und großem Geldbedarf.
Zugleich mit dieser dritten Sorte von Selbsthilfegruppen entstand ab 1977 die Idee, in der sehr selbstorganisierten Landschaft zur Koordination und Vernetzung untereinander Kontaktzentren für Selbsthilfegruppen aufzubauen. Diese zählen 1993 über 200 in der BRD und bieten Treffraum, Beratung, Information, Vermittlung an Gruppen, Multiplikationsmöglichkeiten, Plenartreffen, bundesweite Vernetzung und vertreten die Förderungsbedürfnisse vieler Gruppen vor Kassen, Kommunen, Ländern.(31)
Zur Legitimation kommunaler Förderung von Selbsthilfegruppen führten Ideologen der CDU eine liberal klingende Worthülse in die Diskussion ein, die von 1984 - 1986 wenig geistreiche Aufsatz-Breschen in die Vorurteils-Mauer der Konservativen gegen die überall wuchernden Initiativen ungebetener Gesundheitsgruppen schlugen, die nach den Wirrungen um Studentenunruhen, AKW-Proteste, Friedensmärsche, Hausbesetzer und die Kreuzberger Autonomenszene zunächst im Verdacht standen, eine weitere Bastion der Abtrünnigkeit zu erbauen: diesmal gegen das herrschende Gesundheitssystem.
Diese in den 50/60er Jahren beim Novellieren des Sozialhilfegesetzes und Jugendwohlfahrtsgesetzes applizierte Rede von Subsidiarität entstammt der den Faschismus präludierenden Enzyklika "Quadragesimo Anno" von Pius XI. 1931 und sollte den Vorrang freier Träger der Wohlfahrt vor den öffentlichen mit dem Scheinargument größerer Bürgernähe gegenüber der Kommune und insbesondere die finanzielle Förderung dieser bürgernahen katholisch-freien Träger legitimieren.(32) Daß sich im Gefolge der klerikal zugelieferten CDU-Legitimationsmuster selbst in den Sozialwissenschaften ein ominöser Neopapismus bürgerlicher Theoretiker breit machen konnte, zeigt etwas von der Unvollständigkeit der Säkularisierung, bei der das 'anything goes' der Postmoderne in unserer 'offenen Gesellschaft' unmittelbar umschlägt in Adaption der Prämoderne(33): Die CDU-Politik, die zwar genau wie die Kirche selbst nicht an Jesus orientiert ist und es wesenhaft auch niemals war, bestreitet mit Hörigkeit gegenüber der Machtelite des katholischen Imperiums eine altrömische Familienpolitik, die mit der Einstellung Jesu zur Familie nicht im Entferntesten etwas zu tun hat. Die Organisation der katholischen Kirche weist zudem intern und international die gleichen totalitären Strukturen wie der faschistische Staat auf.(34) Diese hierarchischen Strukturen sind dem Prinzip der Subsidiarität zutiefst entgegengesetzt, weil sie jede Selbstverantwortung kleiner Subsysteme mit rigiden Ausschlußverfahren niedertrampelt.(35) Oswald von Nell-Breuning hat den Enzyklika-Grundsatz des hilfreichen Beistandes durch den Staat begriffen als primäre Selbstverantwortlichkeit des jeweiligen gesellschaftlichen Subsystems; das übergeordnete Gemeinwesen darf einzelne Glieder des social body (1Kor 12) nie zerschlagen oder aufsaugen, sondern muß diese nach Kräften unterstützen.(36) Die CDU-Version Neuer Subsidiarität allerdings meint dies anders: Ersteinmal soll die Familie, Nachbarschaft, die Schwiegertochter solidarisch und kostenfrei helfen. Wenn die dann auch krank ist, dann kann nachrangig Staatshilfe angefordert werden.(37) Das verbilligt den Sozialstaat und nur deshalb waren die 52 Millionen des Berliner CDU-Senats für Selbsthilfeprojekte locker zu machen, weil sie flankiert wurden von Kürzungen im Sozial- und Bildungsetat um ein Vielfaches obiger Summe.(38) Es wurde allseits erkannt, daß Soziale Selbsthilfegruppen mit ihren Treffs, WGs, Stadtteilprojekten und Produktions-/Konsumkooperativen etwas leisten, was der Sozialstaatsadministration zunehmend mißlang und den Konservativen mit ihrem inszenierten Kulturrummel noch viel mehr: Das Bedürfnis nach gemeinsamem Leben und Handeln, nach sozialen Netzen jenseits der Familien-Bande, die den Einzelnen in vertrauten, verläßlichen Lebens- und Arbeitszusammenhängen unter Erhalt seiner vollen Autonomie und Würde bergen.(39)
In katholischem Sinne ist mit Röm 13 und 1 Kor 12 Obrigkeit Dienerin Gottes, die vom Haupt aus den Körper dirigiert, wie in sozialistischer Planwirtschaft(40), während die biologische Organisation des Körpernetzwerks niemals großhirnzentralistisch arbeitet, sondern multipel verflochten, polyvalent und teilweise demokratisch-synergetisch in funktioneller Teamarbeit und gegenseitiger Unterstützung. Mit der paulinischen Leib-Metapher läßt sich vorbildlich Demokratie im social body begründen. Das Modell ist jenseits der abstrakten Alternative von Zentralismus versus autokratische Eigeninitiative. Es nimmt seine Überlegenheit aus der Vernetzung der Subsysteme zu einem Ganzen, dessen ZNS koordiniert, nicht aber subordiniert! Die Machthaber im Vatikan haben aus dem biologischen Fehlverständnis der Gehirnfunktion im Gesamt des Leibes mit 1Kor 12 die Diktatur einer religiösen Oligarchie begründet. Daß sie es wagten, von Subsidiarität, vom Vorrang des Subsystems zu sprechen, erklärt sich rein strategisch: Es galt, gegenüber der dräuenden Okkupation des kirchlichen Sozialsektors (Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, Heime) die katholischen Institutionen vor der Verdrängung oder dem Zugriff durch den Staat zu verteidigen.(41) Umgekehrt erlaubt es heute dem Staat, unerquicklich teuere Sozialaufgaben auf freie Träger der Wohlfahrt abzuwälzen.
Nach diesem Muster hat die CDU zur Verbilligung ihrer planwirtschaftlichen Dekomposition des Sozialstaates(42) die Selbsthilfegruppen gefördert, solange sie am spießig-pingeligen Alltag dieser Förderung keine nennenswerte Kritik manifestiert haben. Faktisch ist im Berliner und Münsteraner Modell der Selbsthilfeförderung damit allerdings das divide et impera an Verwaltung und Beirat übertragen worden. Selbstorganisation wird per Förderung überwacht und zensiert.(43) Dabei ginge es um eine poolfinanzierte, optimale, bedürfnisgerechte Rekombination staatlicher, verbandlicher, informeller und selbstorganisierter Hilfen, zu denen die Verknappung der Erwerbsarbeit zumindest Zeit verleiht.(44) Trotz aller Differenzen wegen der Instrumentalisierung der Selbsthilfe zum Abbau des Sozialstaates hat das Prinzip der Subsidiarität, wie es von Nell-Breuning interpretiert wurde, nicht nur in CDU und SPD Zustimmung gefunden, sondern auch bei den Grünen, weil es der Autonomie eigeninitiativer alternativer Gruppen und Projekte zutiefst entspricht, weil sie eben nicht aus eigener Tasche die Revenuen zusammenbekommen, sondern auf Hilfen des Staates angewiesen sind. Nur in diesem Nährmilieu können sich geschützt libertär-sozialistische, nicht profitorientierte, basisdemokratisch-selbstbestimmte Kooperativen entfalten. Die Idee der Graswurzelrevolution, das neue, bessere Leben schon jetzt und hier zu versuchen, statt auf den kommunistischen St. Nimmerleinstag zu warten, die Praxis von Realutopie im eigenen Haus ohne Konkurrenz, Ausgrenzung, Herrschaft, Mißbrauch, das alles läßt sich am besten kultivieren in der subsidiären Solidarität eines Staates, der nicht in allen Initiativen seiner Bürger sofort Aufruhr wittert, sondern die Chancen seiner eigenen Zukunft. All dies kratzt nicht an den Grundprinzipien der staatlichen Herrschaft, sondern ist eine Spielwiese der versuchsweisen subjektiven Geborgenheit in einem wenig Geborgenheit vermittelnden technokratischen Gesellschaftssystem.(45)
Oswald von Nell-Breuning hat gegen die falsche Identifikation von Arbeit und Erwerb das Unterhalt begründende Recht auf Leben in der Solidarität der Gesellschaft vorgebracht: Immer weniger Menschen können bei immer höherer Produktivität immer mehr Güter herstellen, sodaß die Arbeitszeit eines Tages auf einen Tag pro Woche verkürzt werden könnte. Die Beispiele des Beamtentums, der caritativ-diakonischen Arbeit im kirchlichen Sozialdienst und des Ärztestandes vergangener Jahrhunderte zeigen, daß Arbeit und Erwerb nicht gekoppelt sein müssen.(46) Offe und Gorz weisen der Massendauerarbeitslosigkeit Zukunft nach, die durch keine Hochkonjunktur mehr reversibel ist.(47) Ein festes Grundeinkommen unabhängig von der Teilnahme am Produktionsprozeß ist an vorindustriellen leistungsunabhängigen Modellen der kollektiven Versorgung orientierbar und hat weniger demütigende Entwertung der unaufhörlich wachsenden Arbeitslosengruppe zur Folge.(48) Die Trennung von Leistungserbringern und Versorgungsempfängern wäre weniger moralisierend im Sinne der von noch Beschäftigten salopp vorgetragenen Forderung, wer nicht arbeite, solle auch nicht essen. In urhordenmäßigen archaischen Sozialverbänden half in der Auseinandersetzung mit der Natur zwecks Güterproduktion zur Lebensfristung jeder nach seinen Kräften und Fähigkeiten; dafür bekam auch jeder nach seinen Bedürfnissen. Nach der Phase der kapitalistischen Vollbeschäftigung ist der Stand der Produktivkräfte für die derzeitigen Arbeitszeitnormen so hoch geworden, daß das System der Lohnarbeit an die Grenze des Sozialstaats führt: Von den hohen Löhnen der Arbeitsstellen-Inhaber müssen Kinder, Alte, Kranke und Arbeitslose bezahlt werden und alle öffentlichen Güter(49), die der einfachen Tauschwirtschaft entzogen und unverkäuflich sind.(50) Die Arbeitsgesellschaft mit ihrem Erwerbsarbeitszentrismus und betriebswirtschaftlicher Profitmaximierung erweist sich in ihren sozialen Kosten des Wachstums sowohl in ökologischer als auch sozialer Hinsicht als unwirtschaftlich.(51) Daher ist das durchaus finanzierbare garantierte Grundeinkommen ein Weg zu umfassender sozialer Sicherung aller, unabhängig von Wachstum und Weltmarktposition. Es erlaubt freiwillige Arbeit ohne Angst vor Kündigung wegen unbequemen Verhaltens und ein gleichwertiges Nebeneinander von informellem Subsistenzsektor und vergesellschafteter Produktion im formellen Sektor.(52)
Der Standort Deutschland(53) im Hegemonialkampf auf dem Weltmarkt wird nur für das nationale Kapital, nicht aber für deutsche Arbeitswillige, gesichert durch niedrigere Lohnforderungen der Gewerkschaften, maßvollen Verzicht auf die Kompensation der Inflationsrate, die Ehefrauen zum Mitverdienen als Putzkraft zwingt. Denn je weniger Arbeitsplätze vorhanden, um so mehr drängen ZweitverdienerInnen auf den Arbeitsmarkt und lassen die Arbeitslosenquote anschnellen. Wegpensionieren eines genügenden Teils der Erwerbstätigen stabilisiert eben gerade nicht die verbliebenen Arbeitsplätze, weil das Kapital sich nicht durch Mildtätigkeit auszeichnet, sondern durch Profitinteresse, und die permanent realisierte Drohung mit Produktionsauslagerung und Billigarbeiter-Import nicht erlischt, solange sich hierdurch neue Profite abzeichnen.(54) Die Tendenz ist hierbei fortschreitende Umverteilung des Kapitals von den Erwerbstätigen und den Erwerbslosen (hier durch Kürzung der Beihilfen) auf die Arbeitgeberseite. Daß gerade sie den Standort Deutschland halten wollen, meint wohl zynisch, aber treffend, daß sie ihren Kampf um die Anteile am Sozialprodukt geradezu militärisch ehrenvoll attributieren, selbst dort, wo sie keine Rüstungsgüter produzieren. Er vollzieht sich durch Instrumentalisierung der Armen der Dritten Welt gegen die Restbestände des ehemaligen nationalen Proletariats.(55)
Doch nicht der Verteilungskampf zwischen Kapital und Arbeit wird künftig das vordringliche Problem bleiben: Arbeitgeber und -nehmer stehen zunehmend mehr den Erwerbslosen: den Kindern, Betagten, Kranken, Hausfrauen und Arbeitslosen gegenüber, für deren Versorgung sie über wachsende Lohnnebenkosten und Versicherungsbeiträge aufzukommen haben. Das Prinzip der Arbeitslosenversicherung, das letzte Gehalt als Maß der Versorgung zu nehmen, führt bei wachsenden Arbeitslosenzahlen von 100.000 im Jahr 1966 auf 4,3 Millionen 1996 zu immer höheren Beiträgen der Arbeitnehmer. Dies reicht nicht mehr aus, sodaß man via Sozialhilfe auf Steuermittel rekurrieren muß und so auch das Kapital an den Kosten der Arbeitslosigkeit beteiligt.(56) Damit vollzieht sich eine heimliche Abkoppelung der Arbeitslosen-Einkommen von den Einkommen der Arbeitnehmer und ein erster Schritt zu einer allgemeinen Grundsicherung. Die Arbeitslosenversicherung als Topf der Arbeitnehmer vermag angesichts einer irreversiblen Trendwende von der Vollbeschäftigung zur Dauermassenarbeitslosigkeit die Einkommen der Erwerbslosen nicht mehr zu sichern. Das vielbeschworene Recht auf Arbeit und der persönliche Wille zur Erwerbsarbeit kann bei sinkenden Stellenangeboten nicht mehr länger Kriterium von Einkommensansprüchen bleiben; diese werden künftig mit dem Grundrecht auf Leben zu begründen sein, wenn nicht eine 'naturwüchsige Dualisierung' die Erwerbslosen zu einer wachsenden Klasse eines neuaufgelegten Lumpenproletariats werden läßt, dessen Verelendung die Gesellschaft immer mehr kosten wird, z.B. durch steigende Kriminalitätsraten, Polizei- und Justizkosten und Hausratsversicherungen. Umgekehrt, wenn Arbeitgeber rechnen müssen, daß entlassene Arbeiter sie auch weiterhin Geld kosten werden, könnte dies den Weg-Rationalisierungstrend stoppen, der das variable Kapital, die Lohnkosten, minimieren will, indem die Ausgesonderten der Allgemeinheit zur Versorgung anempfohlen werden. Die Differenz zwischen Grundeinkommen und Erwerbseinkommen kann immer noch so justiert werden, daß es genügend Anreize gibt, Erwerbsarbeit zu leisten. Eine partielle dualwirtschaftliche Selbstversorgung mit Grundgütern könnte für die aus dem Erwerbsleben Gefallenen sowohl eine wohltuende Arbeit sein als auch die Lebensmittelproduktion anreichern.(57)
Eine Variante der neuen Selbstverantwortungs-Förderung ist die ideologische Vorhut der CDU-Gesundheitsreform von 1994. Sie argumentiert mit Gerechtigkeit eines Generationenvertrages(58), wie er idealiter in den frühen Industrienationen geherrscht habe und jetzt noch in der 3. Welt funktioniere: Eine vorbildliche Aufzuchtwilligkeit garantiere die familieninterne Rente, während den andere Teil des Mehrproduktes der arbeitsfähigen Generation der Altenversorgung zukomme.(59) Daß täglich 80.000 Menschen an Hunger sterben in diesem so vorbildlichen Selbsthilfe-Familiennetz, stört einen Bremer Lehrstuhlinhaber nur wenig, wenn er postmoderne Argumente für weniger Staat eintreibt.(60) Solche zynische Sozialstaatskritik grenzt die Kostgänger von den Leistungsträgern aus und spricht ihnen in gestaffelter Argumentationslogik zwar nicht das Recht auf Leben ab, wohl aber die finanzielle Unterstützung dieses Lebens.(61) Ein pädagogisch ausgerichtetes Versicherungsmodell könnte dann etwa auf Schadensklasse wie in der KFZ-Haftpflicht fußen, bei der Versicherungsnehmer ihre Unschuld beim Magengeschwür oder Karzinom nachweisen müssen, um nicht höher gestuft zu werden. Der überteure Altersmorbide wird dann schließlich aufgrund des Schuldenberges zu einem Zahlungsstop in den Krankheitskosten führen und einer anschließenden prompten Behandlungsverweigerung der Ärzte, die ihren Hippokrates-Eid dementsprechend geringfügig modifiziert haben werden, worauf als letzter Rest Humanität nur noch die Gabe schmerzlindernder Arsen-Präparate bis zum überfälligen Exitus erfolgt.
Die Gesundheitsreform '95 hat schließlich mit allen Sentimentalismen organisierter Nächstenliebe(62) Schluß gemacht: Einmal Zähneputzen kostet 6,50 DM Festsatz ohne Mehrwertsteuer und ist von privaten Anbietern in freundlicherer Form käuflich als von kommunalen Trägern oder Wohlfahrtsverbänden, die immer noch nicht erfaßt haben, daß die Zeiten der Bevormundung endgültig da vorbei sind, wo der Kunde sich die Liebesdienstleistung auf einem freien Markt erwerben und aussuchen kann. Die Grenze zwischen caritativem Liebesdienst und freier Prostitution war immer schon nur nominell; jetzt werden die sozialen Leistungen über die völlige Reduktion zur Ware mit normiertem Leistungsumfang und Festangebot vollends kompatibel. Es fehlt nur noch im Bordell die Kasse, in der neben Grundleistung die Aufschläge für Blasen, Peitschen und Pissisex durch einfache Tastenanwahl steuerabzugsfähig automatisch quittiert werden.(63)
Bürgerinitiativen für verkehrsberuhigte Villenvirtel, in denen sämtliche Mitglieder gleichwohl den S-Klasse-Benz als Zweitwagen fahren, gehören auch formal zur Selbsthilfebewegung. Man muß also Klassenströmungsinteressen(64) differenzieren: Unternehmer sind besser vernetzt, helfen und verbünden sich besser gegen Arbeiter als diese es je vermocht haben. Ehrenamtliches Engagement wird nach Befragungsergebnissen zur Nachbarschaftshilfe, »eher von Gruppen mit höherer formaler Bildung als möglicher Lösungsweg sozialpolitischer Frage- und Problemstellungen akzeptiert und auch beschritten« und ist so tendenziell mittelschichtig.(65) In der Arbeiterschaft besteht eher Skepsis gegenüber dem 'Kaffeeklatsch' mittelschichtiger akademischer Stomaträgerverbände.(66) Hier formiert sich nicht das 'revolutionäre Subjekt', sondern eine privatistisch ausgerichtete Interessengruppe, die vorwiegend individuelle Schicksalsbewältigung beabsichtigt, was zwar notwendig ist, aber nicht als politische Veränderungskraft in Richtung Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gelten kann. Vielmehr ist es von den psychischen Überanstrengungen aufstrebender kleinbürgerlicher Schichten gezeichnet.(67) Wieviel an Krankheiten bürgerlicher Mittelschichten durch ihren viktorianischen Affektstau (Reich) bis hin zum Darmkrebs der extrem zwanghaften Sesselsitzer bedingt sind und wie oft Entspannungstrainings gegen Streßsymptome in Selbsthilfegruppen die fehlende Lockerheit kompensieren, könnte mit der unausgereiften psychischen Strukturbildung aufstrebender Schichten zusammenhängen.(68)
Gegen die Überlassung der Langsicht, gegen Delegation aller Verantwortung an die zuständigen Monopolisten der Verfügungsgewalt - im Gesundheitswesen sind es die Mediziner - hat sich die Selbsthilfe formiert. Die Zeit der Wissenschaftsgläubigkeit, Expertenhörigkeit und des Vertrauens auf die Oberen ist langsam im Schwinden. Das monopolkonstituierende Wissen der Ärzte wird nun von den betroffenen Patienten selbst erworben und somit ein Teil der Verfügungsgewalt über den eigenen Körper, die eigene Seele und den eigenen Geist zurückerobert.(69) Zu dieser Rückeroberung der menschlichen Würde aus der medizinischen Verfügungsgewalt(70) sind nur die Mittel- und Oberschichten imstande, die sowohl selbst tatsächliche Macht und Selbstbewußtsein besitzen als auch das zumeist akademisch codierte Fachwissen rezipieren und transformieren können.(71) Gegenerfahrung gegen den Kontrollverlust über den eigenen Leib im Krankheitsfall vermitteln Selbsthilfegruppen durch die Praxis solidarischer Hilfe bei der Gestaltung des eigenen Lebenszusammenhanges, der nicht mehr den kolonialisierenden Anweisungen der Machtmonopole folgt, sondern der eigenen leiblichen Bedürftigkeit und dem eigenen Wissen der Kompetenzgemeinschaft als einer Gegenmacht.(72)
Es kommt zu Versuchen demokratischer Sozialformen, eine Reflexion oder gar Veränderung von krankmachenden globalen gesellschaftlichen Strukturen würde die Selbsthilfebewegung allerdings überfordern. »Die 'neuen sozialen Bewegungen', die Frauen-, Alternativ- und auch die 'Selbsthilfe-'bewegung knüpfen alle an den Erfahrungen der Einzelnen im Reproduktionsbereich an. Sie unterscheiden sich damit von der 'alten' sozialen, der Arbeiterbewegung, die die Machtfrage bezüglich der Arbeitsbeziehungen gestellt hat.«(73) Wieweit allerdings Gewerkschaften, die diese Frage einmal gestellt hatten, heute noch Arbeitermacht demokratisieren und innovatives Element in der Veränderung dieser Produktionsverhältnisse sind, ist als Gegenfrage berechtigt.
Sollte sich Selbsthilfe-Arbeit einmal auf untere soziale Schichten auswachsen, wird die Unterstützung dieser Gruppen durch Mittelschichts-Unterstützer die gleichen Mißverhältnisse reproduzieren wie in der Therapie.(74) Der Trend der Arbeitslosen-Selbsthilfen Köln (SSK), Dortmund (DSH) und Bielefeld markiert eine weniger aufs Reden zentrierte, dafür um so praktisch-pragmatischer wirkende Solidarität: Vom gemeinsam Reden zum gemeinsam Handeln, Leben, Arbeiten.(75) Hier wird vermutlich kaum je ein großer Therapie-Bedarf in den Gruppen anfallen; Selbsterfahrung kann sich im gemeinsamen Arbeiten in der Werkstatt auf realistischere Weise ereignen als in den duftölgeschwängerten Worten und Werten des mittelschichtigen »Was macht das jetzt mit dir?«.
Die Multiplizität in der Milchstraße von Selbsthilfegruppen(76) ist nicht aus einer postmodernen Diversifikation der Interessen geboren, sondern aus der Fülle der Defizite des Sozialstaats und der Beschädigungen durch technische Kälte und Zerstörungseffekte des Fortschritts, der nur einer der Technologie und nicht der Humanität ist. Es ist keinesfalls die von Habermas empfundene "Neue Unübersichtlichkeit"(77), sondern eine so vielfältig wie klar optierende Kritikerschaft gegen Glücksverheißungen durch hemmungslose Entfesselung der Produktivkräfte, die in Solidarität und Selbstverantwortung mehr Chancen zur Entfaltung der Menschlichkeit sieht.(78)
Selbsthilfe ist im CDU-Wohlfahrtsstaat(79) nach anfänglicher Skepsis der Bürokraten äußerst gefragt. Sie tritt dort ein, wo die professionelle Expertenhilfe zu teuer wird, wo der Sozialabbau gefördert wird, indem statt staatlicher Leistung auf freie Unternehmerinitiative gesetzt wird.(80) Kommunen knüpfen Selbsthilfeförderung an Bedingungen, die zur Bürokratisierung der Selbsthilfegruppen führen und sie so dem verwalteten Universum zuführen. Expertenqualifikation der Kontaktstellengremien bei Unterbezahlung und ein Wust von Anträgen und Nachweisen blockieren die eigentliche Arbeit und prägen ihr die Züge des hausfräulich-sozialarbeiterischen Ehrenamtes(81) auf: Statt staatlicher Fürsorge-Verantwortung bevorzugt man die billigen Selbsthelfer. Besonders gefragt sind Hausfrauen, deren Arbeitsbelastung im Haushalt eine Nebentätigkeit für Gotteslohn erlaubt.(82) Das dient der Kostendämpfung und kanalisiert zugleich mögliches subversives Potential.(83) Im Haushalt wird noch umsonst gearbeitet: Schattenarbeit nennt Illich dieses für den Staat so günstige lohnlos-steuerbefreite Laienpotential.(84) Die Hausfrauisierung der Arbeit(85) als Übergang in unfreie Nicht-Lohnarbeit macht immer mehr Arbeiter mit der Dritten Welt als der »Welthausfrau« und Hierarchisierung und Entwertung in internationaler Arbeitsteilung der Weltmarktkonkurrenz ähnlich. Die Hausfrau ist Kunstprodukt gewalttätiger Entwicklung, spezialisiert auf die Menschen; der Lohnarbeiter wird spezialisiert auf Sachen.(86) Der Lohnarbeiter wird immer mehr unter die Bedingungen unfreier Nicht-Lohnarbeit, Schattenökonomie gestellt, wird immer mehr das Los der Hausfrau teilen: »nun auch real nichts weiter zu sein als der Boden, Naturressource, Objekt des Kapitals«.(87) Im informellen Sektor hat er dann alle Möglichkeiten zur Selbstausbeutung in alternativökonomischen Selbsthilfebetrieben, in Eigenarbeit und Substistenzwirtschaft. Oder er kann dem Ruf der CDU nach ehrenamtlicher Sozialarbeit nachkommen, anstatt frustriert und arbeitslos vorm heimischen TV abzuwarten, ob das Arbeitsamt ihm eine Billiglohnstelle offeriert, wie sie in den polnischen Auslagerungsbetrieben deutscher Firmen mit 16 DM Stundenlohnkosten statt hierzulande 70 DM nachgerade kasernenartig straff und rigide organisiert Prototyp einer neuen Arbeitsdisziplin zu werden sich anschickt.
Die Forderung nach freiwilligem sozialen Engagement ist prinzipiell und im Blick auf die Dritte Welt und ihre Ableger hierzulande besonders geboten für die, die von dieser Sozialordnung am meisten profitieren: die Besserverdienenden. Sie aber erfahren alle Vorzüge der CDU-Sozialkürzungen unmittelbar in relativer Stellensicherheit. Sie haben quasi den Vorschuß an staatlicher Sozialhilfe durch die Vermögensumschichtung hinein in die Mittelklassen schon erhalten. Aber gerade sie haben das Leistungsethos des Kapitalismus so radikal umgesetzt, daß ihnen jede Hilfeleistung ohne Honorar schlechthin unehrenhaft erschiene: Beim Therapeuten etwa, als wäre eine Therapiestunde mit einem sozialschwachen Klienten wertlos, wenn sie statt 100 DM nur 10 DM kostete. Billiglohn ist gegen die Standesehre. Es ist ganz sicherlich ein Sieg des Kapitalismus in den Köpfen, wenn es nachgerade unfein wird, einen Wiederbelebungsversuch zu starten, bevor man dem Halbertrunkenen nicht wenigstens sein gesamtes Papiergeld als Honorar einer Sonderdienstleistung aus der nassen Geldbörse gefischt hat. Der Warencharakter der Arbeit ist nicht mehr ein Ausdruck ihrer Entfremdung, sondern die Identifikation der Menschen mit dem Warenprinzip ist so vollständig, daß es ohne präzise Bezahlung des (überzogenen) Tauschwertes der Arbeit keinen einzigen Handschlag gibt. Davon ist der gesamte soziale Bereich durchdrungen, in dem es in der Tat Berufsgruppen mit sehr hohen Gewinnspannen (Ärzte, Psychologen) und Berufe mit niedrigen Einkommen (Sozialarbeiter, Krankenschwestern, Erzieherinnen, Pflegedienst) gibt. Die Ungleichheit der Vergütung läßt sich aber nicht durch Gebührenordnungen beheben, in denen jeder Handgriff, vom Zähneputzen bis zur Zahnfüllung, vom Einlauf bis zum Abmelken des Ejakulats, einen exakten Verkaufspreis hat. Der Grundgedanke des preußischen Beamtentums war einmal, einen Staatsdiener freizustellen vom Kampf um Knete, damit er alle Kraft und Zeit in Tätigkeiten stecken kann, die ihrem Wesen nach unbezahlbar sind; das Honorar im Ärztestand vergangener Jahrhunderte kam als Ausdruck der Wertschätzung von reichen Familien, womit die Arztfamilie selbst dann leben konnte: arme Kranke wurden selbstredend kostenlos behandelt. Solche Berufsehre ist mit der Honorarbereitschaft der Wohlhabenden verschwunden; diese hat sich transformiert in Schmiergeldzahlungen an Kommunalbeamte zwecks Auftragssicherung. »Menschliche Gesellschaft ist nun einmal mehr als Begegnung in entgeltlichem Leistungsaustausch.«(88) Taylorisierte Arbeit, in der jeder Handgriff seinen exakten Preis hat, Tarifkämpfe der Gewerkschaften können aus der sozialen Ungleichheit keinen Ausweg anbieten, sondern perpetuieren sie. In der Welt der wirklich Reichen allerdings wird großzügiger gerechnet; die, die den Arbeitern fragmentierte Arbeitsleistung nach Stechuhrprinzipien abkaufen, wollen selbst verschont bleiben von der Applikation der Arbeitswerttheorie auf ihre eigenen Lebensaktivitäten. Dazu dient ihnen das Ehrenamt, die exzessive Geschäftigkeit in Wohltätigkeitsdingen. Sie führt möglicherweise begrenzt tatsächlich zur Linderung von Lebensnot, dient aber auch und häufig sogar vorwiegend dem eigenen Prestige und ist weniger altruistisch als vielmehr eine Bewältigung der Langeweile des Oberschichtdaseins auf Gewissenbisse berücksichtigende Weise. Sie können es sich leisten, aus der Verwertungsordnung auszuscheiden und ohne Blick aufs Geld zu handeln. Die anderen könnten das auch, wäre ein geregeltes Grundeinkommen für alle statt kontrollierter Sozialhilfe realisiert.(89)
Experten sind kundige Menschen. Professionelle verkaufen die erworbene Kundigkeit als Ware Arbeitskraft. In unserem Sprachgebrauch hat sich die böse Verwischung eingeschlichen, nur die beruflich Befaßten als Spezialisten oder Experten zu bezeichnen und ihnen ihre Opfer, die Behandelten, als unwissende Laien gegenüberzustellen, die damit zugleich in ein Machtgefälle des Stillhaltenmüssens oder Mitmachenmüssens hineingezwungen werden. Sicherlich gibt es auch Menschen mit völliger Inkompetenz auf einem Gebiet, die man als Laien bezeichnen könnte, weil sie weder Wissen noch lebenspraktisches Verhaltensrepertoire in einer Sache haben, etwa Mikrochirurgie oder Zwölftontechnik. Kritik der Rollentheorie als des gesellschaftliche approbierten Verblendungszusammenhangs unangemessener Kompetenzzuschreibungen und komplementärer Dekompetenzierung der unterworfenen Rollenpositionen hat gerade mit dem Aufkommen der heutigen Selbsthilfebewegung im Gefolge der Studentenunruhen von 1968 die Expertenschaft der nicht beruflich Befaßten hervorgehoben, weil etwa in der Atomkraftwerksdebatte immer wieder von oben argumentiert wurde: Ihr habt doch gar keine Ahnung, wie wollt ihr da mitreden können!(90) Dabei zeigte sich nur allzuoft, daß besseres Wissen gegen Machthaber der Wirtschaft gar nichts nützt, wohl aber Propaganda und öffentliche Aufdeckungsaktionen, die politischen Druck erzeugen. Spätestens seit diesen Erfahrungen ist bekannt, daß Spezialistenwissen meist gefärbt und ideologisch verunreinigt ist durch die Sponsoren des Wissenden, die Zahlmeister seiner Arbeitsstelle. Seitdem wird nicht mehr gefragt, was jemand weiß, sondern wer ihn bezahlt. Unbestechlichkeit ist in der Regel dem Taxifahrer mit »summa cum laude« als Physik-Promotionsnote vorbehalten. Der gewöhnliche Professionelle dagegen muß bestechlich sein, muß in seinen Auftragsarbeiten die offenen, heimlichen und unheimlichen Forderungen seines Dienstherrn erfüllen. Im Sozialbereich hat er beispielsweise den Sozialabbau der CDU mitzutragen und an seine Klientel weiterzureichen, um selbst nicht auch arbeitslos zu werden. Er hat deviante Charaktere zu disziplinieren und zu dressieren. Er ist immer ideologischer Handlanger seines Dienstherrn. Sein Spielraum, dies nicht zu sein, erschöpft sich in Geringfügigkeiten. Als Kopfarbeiter muß er nicht nur seine physischen Energien fremdbestimmt veräußern, sondern ebenso seine geistig-psychischen. Er muß mit Leib und Seele Transmissionsriemen der sozialen strukturellen Gewalt seines Dienstherrn sein. Seine Profession ist immer zugleich Konfession: Bekenntnis seines Dienstauftrags; die Stimme des Gewissens, eigener besserer Erkenntnis muß schweigen.
Daher ist das Mißtrauen der Selbsthelfer gegen die Profis berechtigt und kein Mensch wird die Lüge von oben glauben, Politiker seien doch vom Volk gewählt und daher sei das Volk der eigentliche Dienstherr der Profis. Politikverdrossenheit ist das vorherrschende Bewußtsein in der Bevölkerung: von Politikern zunächst grundsätzlich belogen zu werden; sie werden als Hauptagenten im Klassenkampf von oben identifiziert. Das Kapital hinter ihnen hält sich meist zurück. Analog ist das Mißtrauen gegen Profis: auf ihnen lastet keinesfalls nur der Verdacht bezahlter Nächstenliebe; das wäre ja keine Schande, auch Helfer müssen essen, wohnen, Kinder ernähren und sind so wichtiger Teil des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters. Es geht in der Kritik der Professionellen um die soziale Macht, die sie durchzusetzen haben in ihren Hilfeleistungen. Es geht um den Verdacht, sie agieren im Klassenkampf von oben die distributive Macht der Herrschenden, selbst, wenn sie auch nur kleinste Rädchen im Sozialapparat sein mögen. Dabei ist ihr persönlicher Lustgewinn an der Ausübung sozialer Kontrolle unwesentlich, wenn auch oft überdeutlich und prägnanter als die strukturelle Gewalt, die sie damit übertragen und kaschieren zugleich. Die Rede von Expertenschaft Professioneller in sozialarbeiterischen Feldern, in denen es um Kompensation der Defizite an gesellschaftlich widerfahrener Humanität geht, ist ideologisch, haben doch Laienhelfer oft sogar größere Effektivität, wie die vergleichende Therapieforschung im Psychosozialbereich erwiesen hat.(91) Eine Weiterbildungsmafia will Laienhelfern für ihre ehrenamtliche Bereitwilligkeit eine Kompetenzförderung aufdrücken, womit sie schrittweise aus der Selbstorganisation in die Doktrin der professionellen Sozialarbeits-Chefideologen avancieren.(92) Sie werden zur Sozialkontrolle durch nette Beratung nachgerüstet.(93)
Das Organisationsparadox von Hierarchisierung durch Weiterbildung gilt analog für Selbsthilfe-Unterstützer.(94) Der Gedanke der Weiterbildung und Qualifizierung fußt auf der Idee des Curriculums, einer hierarchischen Vermittlung von fremdem Wissen durch einen meistens bezahlten Leiter der Weiterbildung an eine Gruppe, von der angenommen wird, daß sie noch nicht qualifiziert ist, dieses aber abschließend sein wird.(95)
Das Paradigma 'Weiterbildung' mit dem Nürnberger Trichter widerspricht dem basisdemokratischen Paradigma 'Kompetenzgemeinschaft'. Die Lerngemeinschaften egalitärer Intentionalität kommen zum Erfahrungsaustausch zu Arbeitskreisen zusammen. Keiner kassiert dort vom anderen Teilnehmergebühren, um sein kostbares Wissen zu verkaufen. Die Marktlücke Selbsthilfe kann nur erschlossen werden, wenn der Staat kräftig zuschießt; von den Gruppenmitgliedern ist wenig zu holen, denn die wollen nicht käufliche Liebe eines Supervisors. Darum ist der Kampf um Gelder und Stellen im Selbsthilfesektor, ohnehin nur geführt von denen, die damit auch schon bezahlt werden, als eine unmittelbare Selbsthilfeaktion der hauptamtlichen KISS-Mitarbeiter um ihre künftigen Arbeitsplätze zu verstehen.(96) Das Selbsthilfe-Klientel ist tatsächlich anlehnungsbedürftiger geworden, will psychosoziale Versorgung nach der über die KISS-Öffentlichkeitsarbeit als besonders prima angepriesenen neuesten und billigsten Heilmethode. Die Ära der Berater als »einfache, schlichte "Reflexionspartner"« ist so sympathisch wie überholt vom Kompetenzrausch der KISS-Mitarbeiter.(97) Hinzukommen werden Diplom-Gesundheitsförderer und graduierte Selbsthilfe-Ausbilder der Extragüteklasse.(98) Diese sagen dem unbedarften KISS-ABM-Personal, wie man dem einfachen Selbsthilfegruppenmitglied sagt, wie man eine richtige Selbsthilfegruppe absolviert.(99) Als nächstes werden die Selbsthilfegruppen-Unterstützer einen Berufsverband gründen, der um die Dotierung der Stellen und Kassenabrechnungslizenzen kämpfen wird. Die Standespolitik der Gestalttherapeuten, die sich reduziert aufs Ringen um Anerkennung durch die Krankenkassen, ist hier idealtypisch. Die Parkplätze vorm Gestaltinstitut spiegeln im allmählichen Verschwinden alter Schrottautos aus den Reihen illustrer Limousinen den steigenden Umsatz der Branche. Ähnliches ist für Selbsthilfe-Profis zu erwarten. Über mangelnde Klientel ist gerade hier nicht zu klagen. Somit wären die Einkünfte dauerhaft gesichert, sobald man die Kommunen gut genug abgemolken hat.
Wie die mit den Bundesministerien amalgamierte Crew von 'Sozialwissenschaftlern' von Leistungserbringung spricht, nimmt sich vieles von ihren Auftragsforschungstexten aus: die Texte sollen demonstrieren, daß eine staatlich finanzierte Stelle im geförderten Selbsthilfe-Expertenbereich nicht unnütz investiert ist. Vieles argumentiert auf einer Ebene sozialtechnologischer Instrumentalvernunft, wie sie nur von Politikern noch überboten wird.(100) Das gut gemeinte Motiv ist oft: eine Lobby für Selbsthilfegruppen zu schaffen. Genau das ist ein Stück der Dialektik sozialer Kontrolle: Sichtlich Unbetroffene bilden eine sozialtechnologisch argumentierende Lobby für eine Gruppe von Menschen, die sich eben gerade jener Sozialtechnologie strikt entziehen wollen.(101)
Aus Effizienznachweisen die finanzielle Förderungswürdigkeit von Selbsthilfegruppen ableiten zu wollen, vermarktet Selbsthilfe zur verbilligten Sozialarbeit.(102) Diese Lobby um ISAB-Chef Braun und den Brendan-Schmittmann-Stifungschef Röhrig(103) vergiftet die Selbsthilfelandschaft und dient vorwiegend als Transmissionsriemen bürokratischer Verwaltungsmacht, die sie finanziert, der sozialen Kontrolle von Selbsthilfegruppen durch finanzielle Bestechung, zu der die gängige Förderung leicht gerät, weil die Vergabepraxis regelmäßig politisch oppositionelle Selbsthilfeformationen auf Eis legt. Die Anonymus-Gruppen haben wohlweislich prinzipiell auf diese Bestechung verzichtet. Röhrig kann als einen der Konflikte zwischen Professionellen und Selbsthelfern die Vorschriftsmäßigkeit ausmachen: »»Häufig geraten Selbsthilfegruppen in Widerspruch mit Professionellen, weil sie nicht nach Absicherungen fragen und bürokratische Vorschriften übergehen. Für Professionelle gelten andere Regeln, für sie sind Zuständigkeiten und Haftungsprobleme bedeutsamer... Die Arbeit in Selbsthilfegruppen und Initiativen dient vielen Engagierten auch zur Selbstentfaltung und zur eigenen Profilierung... Ihre Entscheidungs- und Handlungskompetenz wird von Fachleuten oft unnötig eingeengt.«(104) Weil betroffene Selbsthelfer zu Profilneurosen neigen, müssen sie also scheinbar domestiziert werden; Professionelle wollen sich glücklicherweise nicht profilieren. Der Unterschied liegt klar auf der Hand: Sie bekommen bei allzu menschlicher Selbstentfaltung/Profilierung Druck von oben. So sind sie vor der gefährlichen Selbstentfaltung gut geschützt. Man ahnt in Röhrigs Diktion schon seinen Unmut über solche Mätzchen-machenden, Regeln verletzenden Selbsthelfer. Man ahnt das Profil der Professionellen: es konvergiert mit der kontrollierenden Macht, ist inkarniertes Über-Ich einer sparsam-zwanghaften, analfixierten Bürgerlichkeit.
Theologie und Professionalisierung - Was kann eine der frühesten Professionen, der Priesterstand und seine Denkfiguren, zur Entprofessionalisierungsdebatte beisteuern? Jesus und seine Gruppe standen ausgegrenzt als Wanderradikale am Rande ihrer Gesellschaft. In dieser Bewegung gab es das ekklesiologische Prinzip der Brüderlichkeit. Der Oberste sollte allen die Füße waschen; im pointierten Kontrast wird hier und im johanneischen Freundesbegriff eine herrschaftsfreie Bruderschaft als Gemeinschaft der Heiligen gefeiert. Das Motiv der Selbsthilfezusammenschlüsse war die Suche nach einer weniger korrupten und leidvollen Welt, dem Reich Gottes, und die Antwort der leidvollen Welt war die Ausgrenzung der Wanderradikalen, ähnlich wie die der Aussätzigen, die wegen ihrer Ansteckungsgefahr aus den Dörfern verbannt leben mußten. Sozial Ausgegrenzte finden sich zu einer neuen Sozialität zusammen und sagen, in ihrer Gemeinschaft lebe die Liebe, die Gott ist, personifiziert, zur Reinkultur prägnant verdichtet im Leben des toten Jesus, den sie nicht mehr vergessen können. Sozialer Halt in aller Entwurzelung und innovative Prozesse und Lebensformen einer größeren Gerechtigkeit als die des gleichen Tausches: das Gnaden- und Bedürfnisprinzip, damit waren staatssprengende Potentiale aufgerufen.
Aber schon bald kam es im Frühkatholizismus zu einer hierarchische Definition religiöser Funktionen und Ämter, die Priesterherrschaft restaurierte sich in der jungen Kirche, die Gleichheit aller als Kinder des einen Vaters im Himmel schwand dem weltweit unerbittlichsten System religiöser Herrschaft und Indoktrination.
Gegen diese verharschte und diktatorische Oligarchie(105) protestierte Luther im Zeitalter der Bauernkriege, des aufkommenden Protestes gegen eine abgewirtschaftete feudale Ständeordnung. Er formulierte das egalitäre neutestamentliche Denken in scharfer Kritik an der Bevormundung und Inkonsequenz, der Korruption und Ausbeutung der Kirche. Vor Gott sei jeder Mensch ohne Ansehen seiner Person, seines gesellschaftlichen Status und seiner Macht gleich. Gleichwohl läßt Luther, verständlicherweise, die soziale Ungleichheit unangetastet. Der Pfarrer als Professioneller im Protestantismus ist nicht mehr als ein Geschäftsführer der Ortsgemeinde, studierter Ausleger der Bibel und Verwalter der Sakramente, er ist der Amtmann der Gemeinde, nicht aber ihr Priester. Denn Priester ist jeder. Aber als Amtmann, und hier sitzt der Pferdefuß, ist er den Gesetzmäßigkeiten der Institutionalisierung, der Bürokratisierung und Verrechtlichung ausgesetzt, wie sie heute die evangelische Kirche in gleichem Ausmaß verharscht hat wie die katholische Mutterorganisation. Beide Konfessionen stehen sich in ihrer unbeweglichen Starrsinnigkeit, ihrem Widerstand gegen das Neue schlechthin, in nichts nach.
Einzig pfingstliche Gruppierungen basieren auf Laienpredigertum, in dem es keine hauptamtlichen Funktionäre mit hierarchischer Position gibt. Auf weltlicher Ebene ist der AStA und viel kleine politische Gruppen gekennzeichnet durch ein Fehlen Hauptamtlicher. Hier gibt es nur Büro- und Versammlungsräume, die kollektiv genutzt und verwaltet werden, und eine egalitäre Aufgabenverteilung. Ebenso könnte man sich ein Selbsthilfezentrum ohne hauptamtliche Mitarbeiter vorstellen, demokratisch geleitet und selbstverwaltet von einem Gremium engagierter Ehrenamtlicher, die u.U. eine gewisse Aufwandsentschädigung erhalten. Daß hier wieder Hauptamtliche eingestellt werden, die zudem oft gar nicht aus der eigenen Bewegung erwachsen sind, sondern über eine abstrakte Brücke, das Sozialarbeiterstudium, wie ein Kuckucksei ins Nest geraten, weil sie beim Arbeitsamt als schwer vermittelbar lange genug arbeitslos gemeldet waren, ist nicht gerade geeignet, die Intentionen der Selbsthilfebewegung zu bewahren, zu verstärken und zu entwickeln. Der Verfasser hat als Organisator eines kirchlichen Jugendzentrums mit 4 Sozialarbeitern nicht schlecht gestaunt, als die erste Forderung ein eigenes Büro war, während nur eine Teestube mit Theke ohne Schreibtisch vorhanden war. Als die Jugendarbeit noch vom Team der Jugendlichen selbst getragen wurde mit rotierenden Thekendiensten und anderen rotierenden Funktionsverteilungen, war nie das Bedürfnis nach einem Schreibtisch und Büro wachgeworden. Ein richtiger Sozialarbeiter aber benötigt zur Berufsausübung ein vom Arbeitgeber gestelltes Büro mit Telefon, Kopierer und Computer. Dies Beispiel mag den Übergang von autonomen Zentren zu hauptamtlichen Funktionären einer Institution illustrieren. Als dann der Schreibtisch da war, klappte es auch wieder besser mit dem Tischtennisspielen der Jugendlichen. In einer späteren Phase hatten die Sozialarbeiter dann selbst so viel Spaß am Tischtennisspielen gefunden, daß der Schreibtisch allmählich wieder Staub ansetzte und die Jugendarbeit sehr lebendig blieb.
Sobald Hauptamtliche und Ehrenamtliche gemeinsam arbeiten, wird die Frage virulent, warum der eine hartes Geld für das bekommt, was der andere für vollen Gotteslohnausgleich mit gleichem Zeit- und Schweißaufwand tut.(106) Der Hauptamtliche unterliegt einer unvernünftigen Dienstaufsicht, die ihm die Arbeit eher erschwert als ebnet, der andere wird im Konfliktfall kurzerhand und ohne Disziplinarverfahren verstoßen.
Luthers allgemeines Priestertum aller Gläubigen intendierte, gegen seine eigene Praxis, eine Gleichrangigkeit aller vor Gott, also strukturell gleiche Sachkompetenz in Glaubensfragen.(107) Der Begriff Laie (la7' = Volk, Masse) hat in der Kirche zur Degradierung der Für-dumm-Verkauften gedient und ihre Verblendung durch Unterschlagung von biblischem Wissen legitimiert; heute wird er von 'Experten' neu aufgelegt, die gerade in einem Bereich, in dem jeder Kompetenz hat, im lebenspraktischen der Sozialarbeit, um ihre berufliche Identität zu fürchten haben und angesichts des progredienten Sozialabbaus der CDU-Regierung noch mehr um ihren Arbeitsplatz.(108) Es ist traurig, daß gute Sozialarbeiter und Psychologen als Taxifahrer über die Runden kommen müssen; es ist etwas anderes, daß Professoren ohne Lebenspraxis in sozialen Brennpunkten oder Randzonen gesellschaftlicher Normalität den Mythos vom Expertentum Professioneller nähren und die heimliche Hoffnung zugleich, sich in den beschworenen Kreis der Erlesenen einreihen zu können. Unglücklicherweise haben diejenigen, die das Expertentum propagieren, zumeist aufgrund ihrer hohen diplomatischen Kooperationswilligkeit bzw. Einschleimungskompetenz am wenigsten um den Arbeitsplatz zu fürchten.
Es ist unabweisbar, daß viele pflegerische Hardcore-Arbeit nur von dafür gut ausgebildeten und gut bezahlten Professionellen getan werden kann. Dabei korrelliert die Vergütung allerdings nur in den seltensten Fällen mit der Härte der Arbeitsanforderung, wie dies auch in anderen Sektoren des Produktionsbereichs üblich ist. Die Selbsthilfegruppen können und wollen kein Ersatz für diese oft unersetzliche Arbeit der professionellen Helfer sein.(109) Wo die professionelle Hilfe hilft, wird sie auch akzeptiert. 71% der 232 von Trojan u.a. Befragten sind durch ihre Selbsthilfegruppen erst ermutigt worden, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und den eigenen Bedürfnissen entsprechend einzufordern.(110) Wo professionelle Schulweisheit aber mehr schadet als hilft, etwa in der Medikation bitterer Pillen, Psychopharmaka usw., entwickeln Selbsthilfegruppen aus der Kompetenz der Geschädigten die Alternativen, die nach einigen Kämpfen dann von den Professionellen als ihre eigenen Ideen verkauft werden und somit immerhin trotz fremdem Federschmuck zu einer Veränderung der Behandlungsformen Professioneller führen. Als Korrektiv professioneller Hilfe erarbeiten Selbsthilfegruppen Konzepte einer intensiver an den Bedürfnissen Betroffener angemessenen Kompetenz der Professionellen. Daher sind sie ein unersetzlicher Baustein im Fortschritt der beruflichen Kompetenz der Profis. Die gemeinsamen Treffen von Selbsthilfegruppen und Professionellen ermöglichen das feedback an den Profi in der wechselseitigen Kompetenzgemeinschaft miteinander Lernender. Professionelle, die sich für Halbgötter halten, werden hier sehr schnell an ihre persönlichen Grenzen geführt. Besonders der Ärztestand ist traditionell in der völlig unangemessenen Hybris reaktionärer Lernunwilligkeit befangen.(111) Gerade hier kamen anfangs die bösartigsten Verleumdungen gegen die Selbsthilfegruppen. Inzwischen versuchen die Ärzte, in das Meer der Selbsthilfe differentialdiagnostische Ordnung zu bringen.(112)
Wo von Expertentum die Rede ist, steht der Verdacht auf Entmündigung ins Haus.(113) Wenn man überprüft, was genau die Expertenschaft der Professionellen im Sozialbereich konstituiert, ist es gewiß kein Mehr an Menschlichkeit, Solidarität oder Gesundheit, sondern ein methodologisch ritualisierter, mit Statistiken jonglierender und dadurch kontrollierterer Zugang zu sozialen Problemen, der diese damit lange noch nicht auch nur ansatzweise löst, sondern allzuoft erst schafft oder eskaliert.(114) Explorative Kompetenz des besten Psychoanalytikers hat beispielsweise noch lange keine gesundheitsfördernde Effektivität, obgleich gerade dieser einen vergleichsweise hohen Status in der Expertenskala einnimmt, allein schon aufgrund der medizinischen oder psychologischen Grundausbildung und den 600 sehr kostspieligen Stunden auf der Couch.(115) Das Bauernfängerische an der bisherigen Expertendebatte ist, daß die Profession der Professionellen noch dermaßen unterentwickelt ist, daß ihre teilweise ausgesprochen hochgradigen Kompetenzen faktisch kaum hilfreich wirken. Es geht in keiner Weise um Deprofessionalisierung im Sinne eines Weniger an Wissen als Ziel der Selbsthilfe, sondern um adäquate Kompetenzen, die Hilfe bieten und nicht zusätzlichen Schaden anrichten, wie häufig Therapien.(116) Es geht um die Aufhebung unangemessenen, ideologischen Wissens. Solange Professionelle schlechtes Wissen transportieren, ineffektive Kompetenzen mit sich herumschleppen, die den Kontakt mit ihren Klienten verstellen, solange sind die Vorbehalte der Selbsthilfegruppen gegenüber Professionellen berechtigt, deren Profession sich reduziert auf Besoldungs-Prostitution: die Einstreichung des Honorars für die Ausübung ihrer oft so aufwendigen wie nutzlosen Kompetenz-Demonstrationen.
Alle doktrinären Überformungen der unmittelbaren humanen Impulse durch Spezialausbildungen, Therapien und forcierte Lebensreifungsinterventionen ins Subjekt spiegeln den Prozeß der Bürokratisierung spontaner Bewegungen, ihre Verwissenschaftlichung und Verrechtlichung als einen korruptionsforcierenden Erstarrungsprozeß.(117) Der Trend zur Verrechtlichung(118) wurde erst vehementer ab 1977 diskutiert, als die Sozialwissenschaftler auf die Welle der staatskritischen Entstehung von Selbsthilfegruppen aufsprangen und sich am Thema zwecks Verwissenschaftlichung zu schaffen machten.(119)
Das Gerede(120) von Leistungserbringung, psychosozialer Versorgung und Kompetenz ist selbst schon von der verwaltenden Intention zur Kolonialisierung des menschenlichen Herzens affiziert, die genau das zerstört, was zu bewahren sie angetreten ist. Die von Ministerien in Auftrag gegebene Quantifizierung des Bedürfnisses zum Bedarf, des Begehrens zur Versorgungslücke, depersonalisiert und beraubt die Menschen ihrer Würde. Hier wird der Sozialstaat zur Verelendungs-Industrie.
Die sozialplanerische Attitüde macht Menschen zu Vieh, welche ebenfalls nach EG-Richtlinien unter unwürdigen Verhältnissen zur Fleischbedarfsdeckung gepeinigt wird. Universitäre Sozialtechnologen machen sich zu Schreibtischtätern einer die progrediente psychische Verelendung flankierenden progredienten psychischen Okkupation der Verelendeten durch sterile soziale Netzwerks-Artefakte, die nicht einmal einen Plazebo-Effekt haben, weil sie sofort von den Betroffenen als Liebes-Finte eines ungeliebten und unliebsamen Staatswesens durchschaut werden.(121) Ein Staat, der mit dem zynischen Diktum von "weniger Staat" immer mehr in die Intimsphäre der Hilfsbedürftigen eingreift, während er zu helfen vorgibt, nachdem er durch massive Vermögensumschichtungen zu Ungunsten der unterprivilegierten Mehrheit diese hat unter die Armutsgrenze sinken lassen, benutzt die Selbsthilfebewegung ausschließlich zur Verbilligung sozialer Hilfsleistungserbringungseinzelfallmaßnahmen.(122)
Was für die Selbsthilfebewegung(123) als ganze gilt, gilt für die Heilssuche durch Weiterbildung beim Einzelsubjekt: die Illusion, durch Drill, durch fremdes Wissen(124), durch Hilfe von beruflich mit Selbsthilfe Beschäftigten (Selbsthilfe-Profis) den eigenen Weg besser gehen zu können. Das Korsett der Schulrichtung substituiert damit genau das, was die Selbsthilfebewegung loswerden will: die Gängelung durch ödipale Implantate und ihre Neuauflagen im angemaßten lebenspraktischen Expertentum der staatlichen Selbsthilfeförderer, die so ihren Arbeitsplatz sichern: Je mehr Therapie-Opfer sich finden und in Selbsthilfegruppen locken lassen, um so größer die Branche und um so sicherer die Zukunft des Profi-Arbeitsplatzes.(125) Es wird schon lange weitflächig praktiziert, daß in Selbsthilfegruppen Professionelle zu spezifischen Problemen mitarbeiten.(126) Sie haben dann einen Gast-Status und keine Leitungsfunktion, bieten ihr Wissen an als eines von vielen und verstehen sich gleichrangig zum Expertentum der Betroffenen.(127)
Die Diskussion um Entprofessionalisierung indes gehört der Vergangenheit an. Die erste Generation von Selbsthilfegruppen-Unterstützern war in den 70er Jahren war getragen vom egalitären, engagierten Beratungs- und Forschungsinteresse pionierhafter Sozialforscher wie der Trojan-Gruppe.(128) Der gegenwärtige Trend in der 2. und 3. Generation ist die zielstrebige Professionalisierung der Branche.(129) Selbsthilfe-Unterstützung wird durch Curricula »zu einer professionellen sozialen Arbeit wie andere auch..., die aus Gründen der Bestandssicherung immer wieder als wichtig und unverzichtbar gerechtfertigt werden muß. "Sich Überflüssigmachen" - zentraler Bestandteil einer gelungenen Selbsthilfegruppen-Unterstützung - wird schwieriger.«(130)
Es gibt seit 1993 den Wunsch nach Zertifikaten graduierter Selbsthilfegruppen-Unterstützer aus den Reihen derer, die von einer per Anschubfinanzierung bewilligten Kontaktstellen-ABM um eine hochdotierte und profilierte Festanstellung kämpfen. Am Berufsprofil wird noch gefeilt und spezifische Curricula erstellt, die bundesweit ermittelt werden am Bedarf der hauptamtlichen Mitarbeiter der ca. 200 Kontaktstellen. Hier hat die Vernetzung durch die NAKOS und die DAG-SHG zu einer Selbstorganisation der Selbsthilfe-Funktionäre geführt und der Blick auf die Klientel entspricht dem professionellen Blick herkömmlicher Beratungsstellenprofis.
Eine Durchtherapeutisierung der Unterstützer-Szene mit Selbsterfahrungsgruppendynamik und Supervision ist angesagt und wird pioniermäßig im Fortbildungsprogramm der NAKOS inszeniert.(131) Dabei rekrutiert man auf die Essentials der psychoanalytischen Gruppentherapie, doziert Abwehrlehre, identifikatorische Resonanz, Gruppenwiderstände und Gesprächsführung.(132) Die Psychoanalyse wird hier zum Meistern der therapeutischen Selbsthilfegruppen herangezogen. Ihre Übertragungstheorie mündet aber zwangsläufig in die Fixierung auf den Therapeuten und der einzige Unterschied wird dann hoffentlich noch die fehlende Bezahlung des Selbsthilfegruppentherapeuten bleiben - hoffentlich, weil wenigstens in diesem Punkt die Prostituierten-Argumentation der Therapeuten noch nicht gegriffen hat, daß der Kunde erst dann richtig kommt, wenn der Preis der Dienste ihm unmißverständlich bis ins innerste Kämmerlein des Unbewußten verkündet, daß es sich hierbei um hochwertige Arbeit handelt, die nicht allein teuer, sondern automatisch auch exzellent ist und daher als Vergnügen der ganz besonderen Art zu genießen sei wie ein Sektfrühstück im Rollce Royce. Widerstand, Übertragung und Nachnährungskonzepte mögen eingeschränkt in Einzeltherapien sinnvoll sein, in der egalitären Intention der Selbsthilfegruppen sind sie Gift für die Solidarität.
Man kann diesen Teil der Geschichte der Selbsthilfebewegung auch die Infiltration der Selbsthilfegruppen durch die Therapeutenzunft nennen.(133) Die Grenzen zur traditionellen Therapie sind offen. Es fehlt nur noch die Pflicht zur Anmeldung, zum Ausfüllen von Verträgen, Abrechnungsbögen und Selbstkostenbeteiligung, dann ist faktisch nur noch der Name Selbsthilfe übrig geblieben und die sozialpsychiatrische Versorgungsmaschinerie, der die Klienten weglaufen, hat einen neuen Sektor erobert.(134) Für Sozialarbeiter, die es leid sind, sich mit Randgruppen, also der industriellen Reservearmee, herumzuärgern, bietet sich in der Selbsthilfeszene eine wohltuende Alternative: ein weitgehend angenehmes bürgerliches Publikum garantiert den Erhalt der eigenen Würde.
Wo Sozialarbeit als Hilfe zur Selbsthilfe verkauft wird, besteht der Verdacht, daß es mit der Autonomie der Betreuten nicht weit her ist.(135) Es stimmt einfach nicht, daß Sozialarbeit diese Funktion hat oder haben sollte: Die Randgruppen können sich selbst oftmals nicht mehr helfen und brauchen Fremdhilfe. Dies ist ein Akt der gesamtgesellschaftlichen Solidarität mit den Schwächsten. Dagegen wird man nichts einwenden können und dafür ist der Sozialstaat erkämpft worden. Die Klauseln für Sozialhilfe sind keineswegs dazu angetan, die Selbstständigkeit oder Autonomie der Versorgten zu fördern. Sie werden infantilisiert, stehen unter Aufsicht, solange sie finanzielle Hilfe benötigen. In einigen Fälle mag dies sogar indiziert sein. In vielen Fälle ist Selbsthilfe eben gar nicht mehr möglich, fällt aus der psychischen oder physischen Befähigung der Hilfsbedürftigen heraus.
Sozialarbeit ist und bleibt immer Fremdhilfe - und es ist gut, daß der Staat diese Aufgaben wahrnimmt, so schlecht, so maschinisiert zur Versorgungs- und Kontroll-Industrie, so den Bedürfnissen der in Not Geratenen unangemessen auch immer er dies tut. Die Verschulung der Selbsthilfe-Unterstützung ist in erster Linie einmal Förderung der Unterstützer, die hier ein Arbeitsfeld gefunden haben und nicht zurechtkommen mit ihrer Aufgabe. Weil die Selbsthilfegruppen mit ihrer Tendenz zu mehr unselbständigen Interessenten fast immer auch auf Fremdhilfe traditioneller Sozialarbeit angewiesen bleiben werden, müssen Kontaktstellen als Scharnier, als Drehscheibe zu diesen Fremdhilfebereichen funktionieren, Verbindungen mit allen möglichen Formen benötigter traditioneller Fremdhilfe vermitteln können.(136) Diese Vernetzungsfunktion der Selbsthilfekontaktstellen ist um so wichtiger, als in der gesamten Gesundheitsversorgung und Sozialfürsorge Abschottung und Vereinnahmung vorherrschen, die die Identität der dort tätigen Helfer mühsam aufrechterhalten.
Es wäre künftig durchaus auch denkbar, alle Kontaktstellen völlig zu schließen und stattdessen etwa in Supermärkten, an Universitätsaushängen, im Internet oder Maus-Netz 'Bretter' im Sinne einer Börse zu organisieren, in denen Interessenten Gruppenwünsche dokumentieren und alle Gruppen, die noch Leute aufzunehmen bereit sind, Ausschreibungen machen und Kontaktadressen anbieten, die sogar die Anonymität wahren können, wenn sie unter Decknamen geführt werden.(137) Hier bestände auch die Möglichkeit, für ausgefallenere Neigungen oder Nöte unter einer Rubrik Selbsthilfe im regionalen Umfeld nach Gleichen zu suchen. Je etablierter das Mailboxnetz, um so eher lassen sich Gruppen möglichst regional zu versammeln und so eine quasi-nachbarschaftliche Solidargemeinschaft in Städten zu gründen, die einen alltäglichen lebenspraktischen Vernetzungseffekt hat. In Tageszeitungen und Szeneblättchen könnte dies sogar unter Chiffren laufen. Wo Anonymität und Angst weniger stark sind, wäre auch der Eintrag in Adreßverzeichnisse denkbar.(138) Es ist in keiner Weise garantiert, daß Kontaktstellen die Selbsthilfebewegung tatsächlich fördern. Keine einzige Selbsthilfegruppe existiert deshalb, weil es Kontaktstellen gibt. Anonymus-Gruppen gab es lange vorher und wird es auch noch geben, wenn Kontaktstellen unter den Rotstift gefallen sind. Es ist eine gefährliche Entwicklung, die Therapeutisierung der Kontaktstellen als eine eindeutige Fremdbestimmung der Gruppen durch Maßregeln der Psychoanalyse und der staatlichen Fördermittelgeber unter dem Begriff Selbsthilfe zu führen. Hier wird lediglich eine soziale Bewegung durch Neuzulauf von arbeitssuchenden Sozialarbeitern für deren berufliche Sicherung und Profilgestaltung instrumentalisiert. Diese Tendenz ist solange unaufhaltsam, bis CDU-Mehrheiten in den Landtagen für die Abschaffung der Kontaktstellen sorgen werden, wenn die progrediente Wirtschaftskrise des Spätkapitalismus den Sozialstaat immer enger dimensioniert. Die Selbsthilfebewegung ist dann weitgehend unabhängig von staatlichen Unterstützern. Es wird sie in ihrer Substanz und ihren Potentialen in keiner Weise affizieren, ob es noch Kontaktstellen gibt, weil die Idee des Miteinander Lernens und Lebens und die Idee der Solidarität, der Gleichheit und Geschwisterlichkeit nicht durch Unterstützer gefördert wird, die in ihren Gruppentechniken alte Autoritätskonzepte der Psychoanalyse klammheimlich Urständ feiern lassen. Im Gegenteil steht eher zu befürchten, daß hier durch verschleierte Fremdhilfekonzepte die Autonomie von Gruppen systematisch unterminiert wird und eine erneute Erziehung zur Abhängigkeit von Funktionären und Supervisoren erfolgt, die sich schon allein deshalb gar nicht wirklich überflüssig machen wollen oder dürfen, weil damit ihre berufliche Existenz zerstört würde.(139) Es gibt in der Selbsthilfe-Diskussion kaum eine exzentrische Position, die dies zu reflektieren imstande ist, weil alle, die hier laut denken, existenzmäßig und berufsprofilmäßig zehren von der Selbsthilfe-Unterstützung: es ist ihr Arbeitsfeld. Diejenigen, die Skepsis gegenüber Professionellen haben, würden vermutlich in den einschlägigen Zeitschriften kaum aufgenommen oder Gehör finden.
Nach der Phase der wilden Analyse(140) Freudscher Prägung: wild, weil empirisch unkontrollierbare Mythologeme unmittelbar als Deutungsraster einer kassenzugelassenen, aufwendigen Therapieform hypostasiert werden, wurde vor allem von der Verhaltenstherapie die Meßbarkeit von psychischer Rekonvaleszenz durch Therapie vorangetrieben. Dabei gibt es für die Profession der Professionellen oft wenig schmeichelhafte Resultate, was rückläufige Zahlen der offiziellen Beratungsstellen bei progredienter psychischer Verelendung auf andere Weise belegen: Diejenigen, die einmal aus Idealismus zum Helfen für andere angetreten sind, sind spätestens nach ihrer universitären Dressur auch zum Herrschen durch Helfen instrumentalisiert, indem sie Methoden und Verfahren benutzen, von denen sie schließlich benutzt werden. Die Enkulturation in die Expertenszene okkupiert die Helfer und macht sie zur Identifikation mit der gesellschaftlichen Macht bereit, die sie dem Klienten gegenüber repräsentieren sollen.(141) Die Geschichte von Helfergenerationen im Drogentherapiebereich und den zugehörigen Rückfallquoten illustriert beispielhaft die Lerngeschichte der Professionellen, die undenkbar wäre ohne die Beschädigten und ihren sich verändernden Zeitgeist.(142) Vielleicht sollte man bescheidener statt von Experten von einer Gruppe beruflich engagierter und bezahlter Helfer sprechen, die im Verbund mit der spezifischen Expertenschaft der von einem Leid Betroffenen in einer Gemeinschaft wechselseitigen Lernens sich durch eine besondere Neugierde an den Möglichkeiten der Aufhebung des Leidens und seinen gesellschaftlichen Konstituentien auszeichnen, Ihr Leid-Distanz erlaubt Klarsichtigkeit.
Die vergleichende Therapieforschung im Umfeld von Grawe ist mit verschiedensten Meßverfahren für seelische Gesundheit und seelische Veränderung inzwischen mit 897 von über 3200 ausgewerteten Befragungsuntersuchungen ein gutes Stück vorangekommen.(143) Die Meßbarkeit psychischer Gesundheit und seelischer Veränderung ist weder frei von subjektiver Täuschung und objektivierender Verdinglichung noch von Ideologie als falschem Bewußtsein, sowohl dem der Versuchspersonen als auch dem der Beobachter und Auswerter der Tests. Dennoch ist die Evaluationsfrage, was eine Therapie überhaupt bewirkt und ob sich der persönliche und gesellschaftliche Aufwand für das Spiel der Therapiearbeit überhaupt lohnt, berechtigt.(144) Das Ergebnis ist für psychoanalytische Langzeittherapie schon aufgrund der exzellenten Menninger-Studie einigermaßen vernichtend.(145) Psychoanalytiker fühlten sich in ihrer Berufsehre angegriffen und monierten die Meßbarkeit von analytischem Therapieerfolg nach behavioristischen Kriterien.(146) Psychoanalyse macht mit ihrem Erkenntniszugewinn eben gerade nicht arbeits- und genußfähiger, meßbar gesünder und wohlbefindlicher, sondern bildet wie Hegels absolutes Wissen zugleich ein unglückliches Bewußtsein heraus. Es müßte einmal überlegt werden, ob Therapie in jedem Fall Wohlbefinden restituieren sollte, oder ob nicht zur Wahrheit und Freiheit auch der Schrecken gehört als Leiden an einer krankmachenden Gesellschaft, deren therapeutisch-systematische Desensibilisierungstherapien(147) zwar schmerzloser leben lassen, aber auch tauber.(148) Ausgiebig recherchierte Grawes Team mit Augenmerk auf optimale Indikation ihr eigenes, gut dokumentiertes Verfahren: Verhaltenstherapie in allen Varianten von kognitiv bis behavioral. Da sie wegen struktureller Einfachheit am leichtesten und faktisch häufigsten in Selbsthilfegruppen Anwendung findet, seien hier die Ergebnisse umrissen:
Training sozialer Kompetenz (TSK) ist indiziert bei Selbstunsicherheit, Depression, Migräne, Sexualstörungen. Nicht die Genese einer Hemmung wird hierbei erforscht, sondern neues Verhalten mit bestem Erfolg für Beziehungsfähigkeit eingeübt.(149)
Reizkonfrontation (RK) empfiehlt sich bei (Agora-)phobien durch schrittweise Annäherung ans Gefürchtete in vivo (Habituationstraining), auch bei Zwängen. 90%ige Hauptsymptomreduktion verspricht Punktzielerfolge; es gab aber kaum Besserung im Zwischenmenschlichen und Allgemeinbefinden.(150)
Beim Biofeedback soll durch EEG, EKG, Blutdruckmesser usw. visualisierter Blutdruck, Hautwärme, Muskelspannung, Durchblutung, Herzschlag vom Patienten willentlich verändert werden: Tonusselbstkontrolle soll eine Möglichkeit des Zur-Ruhe-Kommens werden. Bei Verspannungen, Migräne, Bluthochdruck, Schlafstörungen ist der Erfolg eher mittelmäßig. Rückfälle sind häufig nach einem Übungsabbruch. Progressive Muskelentspannung ist bei Migräne viel wirksamer, da instrumentenunabhängig.(151)
Aversionstherapien mit Stromschlag bei homosexueller Erregung, Chemobrechmittel bei Alkohol erinnern an Rattenkonditionierung und Prügelpädagogik und schaffen zwar die Symptome weg, schädigen aber die Menschlichkeit ähnlich wie ein KZ.(152)
Paradoxe Intention nach Frankl und Watzlawick ist sinnvoll bei autonomen, 'widerspenstigen' Patienten als Symptomverschreibung zwecks Symptomreduktion.(153)
Rational-emotive Therapie (RET) nach Albert Ellis will pathogene Bewertungsmuster durch Einüben situationsadäquaterer Wertung ersetzen. Irrationale Ängste, Depressionen, Soziophobien, neurotische Störungen und Schmerzeffekte sollen im sokratischen Dialog per Selbstanalyse (RSA) in vernünftiges Verhalten transformiert werden. Mit erfahrenen Therapeuten und längerer Therapiedauer ist dieses Verfahren sehr effizient, wenn es dazu noch mit Verhaltensübungen verbunden wird.(154)
Kognitive Bewältigungstrainings (KBT) nach Meichenbaums Streßimpfung per Selbstgespräch sollen bei Wutausbrüchen und Schmerzen angemessene innere Dialoge für ärgerliche Situationen erlernen helfen. Bei Schmerz ist die persönliche Kontrolle der Situation oder Uminterpretation des Schmerzreizes lindernd. Eigene Qualitäten betonen hilft mehr als marode Selbstbilder. Bei Angst hilft besonders gut, die Situation focussieren, nicht sich auf die autonomen eigenen Körperreaktion mit ihrem kaum willentlich hemmbaren Verlauf zu konzentrieren. Übungen in realen Situationen sind noch effektsteigernder und ermöglichen die Aneignung der Technik im Alltag. Gerade bei Unterschichtpatienten ist KBT, mit systematischen Verhaltensübungen, Desensibilisierung oder Selbstsicherheitstraining kombiniert, dauerhaft hochwirksam, einfach und auch sehr ökonomisch mit selten mehr als 12 Therapiestunden.(155)
Problemlösungstherapien konzeptualisieren eigene Schwierigkeiten durch Problemanalyse, Zielformulierung, einen multimodalen und multimedialen Maßnahmenkatalog, die Wahl eines Übungsweges mit Selbstverpflichtung, kontinuierlicher Übungsarbeit, danach Zwischenbilanz und erneuter Aufbruch in die Spirale aller beschriebenen Schritte. Dieses breit anwendbare und breit wirkende Verfahren erzeugt dauerhafte Krisenbewältigungspotenzen. Es ist gleich gut bis besser als andere VT-Verfahren. Für die Selbsthilfe ist es deshalb geeignet, weil es die Langzeiteffekte durch Förderung der selbständigen Problemlösungsfähigkeiten und so der Autonomie des Klienten erzielt.(156)
Die Kognitive Therapie Becks(157) arbeitet durch systematisch instruierte Übungen problematische Kognitionen heraus, die Wahrnehmung von Realität und Zielen verzerren. Deren logische Fehler werden erklärt, Überverallgemeinerungen, selektive Abstraktion, willkürliches Folgern aufgezeigt. Eine empirische Analyse überprüft die Wahrnehmungen auf Entsprechungen mit der Realität. In der pragmatischen Analyse werden die negativen Folgen gestörter Wahrnehmung fürs eigene Handeln fühlbar gemacht. Schließlich werden gemeinsam neue Bewertungen probeweise eingeführt und ihre Handlungseffizienz herausgearbeitet. Beck arbeitete mit Depressiven, Angstpatienten und Persönlichkeitsstörungen. Die hochwertigen Wirkstudien der vorwiegend Einzeltherapien zeigten regelmäßige Besserung der Depressionen.(158) Depressionen infolge von Lebenskrisen an sich aktiver und gebildeter Patienten waren besser therapierbar als Alte, generell lebensstilhaft Depressive, Schwergestörte und Niedriggebildete, denen besser noch Psychopharmaka (Imipramin) beizufüttern sind.(159) Die Entwicklung spezifischer Depressionstherapien, die das Beste von Beck, Lewinsohn und Klerman kombinieren und integrieren und damit noch effizienter helfen können, ist in vollem Gang und läßt die Gebeugten hoffen.(160)
Nach Lewinsohns Depressionstherapie wird Depression gelernt nach Verlust positiver Verstärkungen durch Liebeslebenspartner, Arbeitskollegen u.v.a.m. Ohne Lob- und Liebreize reduziert man seine attraktiven Aktivitäten und bekommt entsprechend noch weniger Liebesreize. Damit schließt sich der Teufelskreis, die Spirale von Vereinsamung, Rückzug, Selbstentwertung und Entwertung/Meidung durch die Anderen. Der individuelle Verstärkungsplan der programmatisch antiabstinenten Therapie zielt mit Animationen, Verhaltensverträgen und -übungen auf den Wiederaufbau der attraktiven Aktivitäten, die dem Vereinsamten neue Anerkennung der Anderen bringen.(161) Erst allmählich lassen die Führungsaktivitäten des Therapeuten nach, wenn der Patient seine intrinsische Verstärkung stabilisiert hat, ein gutes Bild von sich, eine würdevolle Selbstattribution entwickelt hat.(162) Die PatientInnen sind zu 75% Mittelschichtsfrauen; bei einer Therapiedauer von 8-16 Stunden trat fast ausnahmslos Besserung der Depression ein.(163) Im Zentrum steht nicht die Lageorientierung eines tristen Befindens, sondern die Handlungsorientierung eines vitalisierenden Arbeitens und Gestaltens: was zu tun tut mir gut? Effektive Depressionstherapie aktiviert immer verändertes Handeln.
Für die Selbsthilfearbeit ist Empowerment als aktive Durchbrechung des Teufelskreises von Apathie und Isolation unabdingbar. Die eigenen Potentiale, Ressourcen und Gestaltungsmöglichkeiten, oft von schwarzer Pädagogik(164) und funktionalistischen Verwertungszusammenhängen gestutzt, können nicht nur individuell, sondern auch in der Gruppe wiederentdeckt und aufs neue trainiert werden. So werden aus 'belieferungsbedürftigen Mängelwesen'(165) selbstbewußte Aktivisten ihres eigenen Lebens.(166) Die Intention von Perls' Gestalttherapie: Persönlichkeitswachstum und Lebensfreude, ist wesenhaft Aktivierung eigener Potentiale. Die an Bürgerinitiativen gewonnene Theorie Chuck Kieffers geht 1984 von 4 Phasen des Empowerment aus: Nach der Krisenphase mit großer Betroffenheit, Unsicherheit und Zweifeln an der Richtigkeit der sozialen Ordnungen kommt es durch Mentoren oder Betroffenengemeinschaften zur Förderungsphase verborgener eigener Stärken. So werden Abhängigkeiten, Ungleichheiten, Machtstrukturen durchschaut. Die Alltagsintegrationsphase setzt die gewonnenen Erkenntnisse praktisch um, etwa durch Protestaktionen und Öffentlichmachen der Problematik. Die Schlußphase überzeugter Verpflichtung führt zum nachhaltigen Engagement in der fraglichen Sache, etwa durch Partei- oder Gewerkschaftsarbeit, Selbsthilfearbeit oder anderes soziales Engagement.(167)
Alkoholikerprogramme kombinieren verschiedene verhaltenstherapeutische Techniken: Rollenspiele, Modellernen, operantes Konditionieren, Übungen, Selbstbeobachtung, Verhaltensanalyse, Diskriminationslernen, Stimuluskontrolle, Selbstverstärkung, kognitive Umstrukturierung.(168) Hier ist aufgrund des massiven Alkoholismusproblems auch recht viel geforscht und großer Bedarf an Effektivitätsgewinnen. Ziel fast aller Studien ist gerade nicht mehr Totalabstinenz, sondern kontrolliertes Trinken. Dekompensierte harte Trinker wurden nicht recherchiert. Bei schwerer gestörten Alkoholikern erweisen sich umfassendere Therapien als effizienter. Die AA-Gruppen schneiden etwa gleich gut ab; hier kommt es aber stark auf den Patiententyp an, nicht jeder kann mit den 12 Schritten und der höheren Macht seine Sucht bewältigen.(169) Die Programme zum kontrollierten Trinken waren erfolgreicher als solche zur Totalabstinenz. Einfühlsame Therapeuten oder Lebenspartner sind deutlich förderlich. Nachhaltig effizient ist nur Therapie, die auf die anwachsende Selbstkontrolle des Patienten abzielt. Je früher man eine Therapie beginnt, um so eher kann an der noch bestehenden Selbstkontrolle angeknüpft werden, die allmählich durch die Kontrolle des Alkohols destruiert wird.(170) Konzepte, die erst ein völliges Verfallensein an Alkohol zur Krankheitseinsicht und daher besseren Therapierbarkeit propagieren, erweisen sich somit als ideologisch und man kann gar nicht früh genug präventiv anfangen, den eigenen Umgang mit Suchtstoffen selbstkritisch und selbstbewußt zu reflektieren.
Sexualtherapie wird als durchschnittlich 8-11malige ambulante Besprechung paarweiser häuslicher Sexualübungen, Masturbations- und Sensualitätsübungen meist bei Störungen der Partnerschaft durch Lustlosigkeit/Anorgasmie der Frau oder ejaculatio praecox des Mannes angesetzt.(171) Die umgekehrte Konstellation scheint noch recht selten zu sein: Lustlosigkeit der Mannes und vorzeitiger Orgasmus der Frau. Im Symptombereich traten fast immer signifikante Besserungen ein. Bezeichnenderweise führten Orgasmusförderungen der Frau zu mehr Ehezufriedenheit und Selbstwertgefühl, während Korrekturen an der männlichen Sexualität keine wesentlichen Auswirkungen auf die Beziehung selbst zu haben scheinen.(172) Wöchentliche gemeinsame Sitzung mit einem einzelnen Therapeuten sind effizienter als Gruppentherapie und/oder Therapeutenpaare.(173) Insgesamt gibt es viele Paare, bei denen Verhaltenstherapie im Vergleich zu Kontrollgruppen kaum anschlug. Mit Sex-Trainings ist es meist nicht getan. Das läßt darauf schließen, daß Sex mehr ist als Gymnastik, eine symbolische Dimension und ein Triebbegehren hat, was sich auf mehr richtet als nur den korrekten Kopulationsvorgang.
Breitspektrum-Verhaltenstherapie (BVT) hat sich durch nachhaltige positive Veränderungen in Hauptsymptomatik, Interaktion, Allgemeinbefinden und Personalstruktur bewährt als individuell am Patienten orientiertes, prozessuales Vorgehen in der Alltagspraxis, besonders erfolgreich sogar bei schwerer gestörten Patienten.(174) Neben Empathie des Therapeuten und der Beziehungsqualität wirkt hier auch das Vertrauen des Therapeuten in seine Technik.(175) Offensichtlich hat die Besserung der Hauptsymptomatik entscheidende Bedeutung für die Besserung im Allgemeinbefinden und Interpersonalen, weil hier der prägnante Maßstab liegt für die subjektive Erfahrbarkeit von Heilwerden durch therapeutische Hilfestellungen.(176)
Das nimmt kaum Wunder: wenn das Symptom das Drängen des Buchstabens im Unbewußten ist (Lacan), so sammelt es im verborgenen Schrei des Begehrens die Totalität der Intentionen, der Sinne und Sinnhaftigkeiten des Subjekts. Wenn es der Verhaltenstherapie nun auch nicht um das Verstehen dieser Intentionalität geht, so widmet sie sich immerhin dieser getarnten Zuspitzung des Sinnes voll und ganz. Die Intentionalität kommt ja nicht durch das Verstehen der Psychoanalyse schon zu ihrer Erfüllung. Der verdrängte Wunsch will Erhörung, ans Ziel kommen. Dazu verhilft die pragmatische Technik der Verhaltenstherapie ohne Vorbedingung der Reflexionsbereitschaft des Patienten, der nicht zur Therapie kommt, weil er unter seiner Allgemeinbefindlichkeit leidet, sondern an einer bestimmten Stelle seines Verhaltens sich als gestört empfindet und diese Störung aufheben möchte. Gegenüber dem charakteranalytischen Anspruch vieler Therapieschulen wahrt das black-box-Prinzip im Verzicht auf den totalitären Deutungsanspruch der Psychoanalyse die Integrität des beschädigten Subjekts, indem sie den unentwegten, zwangsgrüblerischen Suchlauf der unendlichen analytischen Frage nach dem verstellten, verdrängten Sinn nicht aufs Ganze der Persönlichkeit so unersättlich wie hegemonial ausweitet, sondern nur auf die Dimension, in der das Leiden offensichtliche Gestalt angenommen hat. Nachdem alles zur Sucht werden kann, vom Trinken, Essen, Erbrechen, Rauchen, Spielen, Klauen und Kaufen bis zum Sex und Grübeln, ist es nur ein Akt der Selbstrückbezüglichkeit, Therapiesucht bei semiprofessionellen Couch-Liegern zu diagnostizieren, sofern man es nicht als teures Hobby abtun will.
Die Verhaltenstherapie hat wegen ihrer Einfachheit und leichten Praktikabilität die Chance, in Selbsthilfegruppen von den Betroffenen selbst eigentherapeutisch angewendet zu werden.(177) Ihre Abkehr vom Rattenversuchsniveau zu individuell differenzierter Problemarbeit hat sie humanisiert. Von der Seite der Verhaltenstherapie ist das Thema Selbsthilfe viel früher aufgegriffen worden als etwa von der Integrativen Therapie.(178) Hier ergeben sich große präventive Möglichkeiten in der Gemeindepsychiatrie.(179)
Grawes Team kommt gerade in bezug auf eine Individualisierung von verhaltenstherapeutischer Therapie zu einem überraschenden Ergebnis: Standardisierte Reizkonfrontation war bei Agoraphobien der individualisierten BVT überlegen, weil sie bereits ideale 'Passungen' zwischen Störung und Therapietechnik hervorgebracht hat. »Die wirksamsten Therapien für bestimmte Störungen können durch Individalisierung nicht noch wirksamer gemacht werden... Die fallspezifische Individualisierung kann auch zu suboptimalen Behandlungsentscheidungen führen.«(180) Es kommt also wesentlich darauf an, »daß die richtige Technik auf das richtige Problem angewendet wird.«(181) Die insgesamt größten Effektstärken haben »breit und flexibel angelegte therapeutische Vorgehensweise, die über die jetzt noch bestehenden Grenzen zwischen den Therapieschulen hinausgehen und die nachweislich wirksamen Veränderungsmechanismen klärungsorientierter Vorgehensweisen mit denen bewältigungsorientierter Therapiemethoden verbinden.«(182) Auch in der Therapie ist Verfahrensvernetzung zukunftsweisend.
Neben der Verhaltenstherapie ist zweiter Testsieger die Gesprächspsychotherapie.(183) Das Focusing von Rogers-Schüler Eugene Gendlin ist ebenfalls in Selbsthilfegruppen erfolgreich erprobt worden. Das felt sense als Befindlichkeitsspüren und ganzheitliche organismische Bewertung entspricht Perls' Figur-Grund-Prägnantwerden, dem awareness-Prinzip. Methodisch wird zunächst (1) ein Freiraum geschaffen, der dann (2) das Hineinspüren ins eigene Befinden erlaubt, was sich (3) in Bildern und Symbolen schließlich zum Evidenzerleben verdichtet. Das felt shift, die "gefühlte Veränderung" des Leibbefindens, etwa als Erleichterung nach erfolgreichen Problemlösungen, wird als Indiz der subjektiven, subjekthaften Wahrheit zum seismographischen Gefühlsinstrument.(184) Der Freiraum ist nicht allein eigene meditative Ruhe, sondern die gewährende Akzeptanz des Anderen, die einem die Zeit und kommunikative Entlastung gibt, ohne Angst vor Beziehungsverlust die eigenen Gefühle wahrzunehmen. Techniken und Medien der Symbolisierung sind so reichhaltig wie in der Integrativen Therapie: Alles kann zum Ausdruck des Befindens oder Begehrens werden. Die Methode des Prägnantwerdenlassens in dem Focus der eigenen Aufmerksamkeit ist möglicherweise mit Anleitung eines Therapeuten leichter erlernbar, aber prinzipiell unabhängig von professioneller Hilfe, ist konzipiert als Selbsthilfe, Selbsterfahrung aus der eigenen Kraft.(185)
Auch die Problemorientierte Therapie (POT) eignet sich gut zur Krankheitsverarbeitung in Selbsthilfegruppen, da sie einen methodenintegrativen Ansatz verfolgt.(186)
»Gesprächspsychotherapie wirkte besonders gut bei Patienten mit ausgeprägten Autonomiebedürfnissen, aber sehr schlecht bei ausgeprägt submissiven Patienten.«(187) Hier erhalten wir einen wesentlichen Hinweis auf schichtenspezifische Indikation: Die Erziehung in der Arbeiterkultur hat immer die Einordnung in die Gruppe vor die persönliche Autonomie gestellt, sodaß die individuelle Autonomie für die Subjektstruktur in den Mittelschichten charakteristisch bleibt. Verhaltenstherapie hat ihre Stärke als Unterschichten-Therapieform. Grawes Team läßt die Indikation für soziale Schichten trotz anderslautender Programmatik häufig außer Acht, anders der verhaltenstherapeutische Ansatz von Keupp, der, im Münchener Selbsthilfezentrum persönlich engagiert, nicht nur an Effektmassen behavioristischer Verfahren interessiert ist, sondern an sozialer Gerechtigkeit und Selbstbestimmung der unterm Kapitalismus und seinen Folgen leidenden Subjekte, die seltener die zahlungskräftige Couch-Klientel der Analytiker ist.(188) Deren Bedürfnisse und sozial typisierte Copingmechanismen in ihrer lebensweltlichen Erfahrungshaltigkeit bilden bei aller Kritik der Alltagsmythen und Verblendungen Keupps gemeindepsychologische Indikationsdifferenzierung für den nicht voreiligen Einsatz von Fremdhilfe.(189) Hilfsbedürftigkeit ist oft »gerade Ausdruck fehlender Selbsthilfepotentiale« und der Überforderung durch »die kapitalistische Formbestimmtheit unserer Arbeits- und Verkehrsformen« mit ihren spezifischen Defiziten, Konflikten und Widersprüchen.(190) Eine multiprofessionelle soziotherapeutische Bewältigung subjektiver Pathologie im sozialen Kontext ihrer Entstehung muß vor Ort ansetzen, darf Krankheit nicht in Kliniken isolieren und dort individualisieren.(191) Die therapeutische Technik geht von der Störung im Subjekt aus, sie ist daher unfähig, Störungen im sozialen Netz zu behandeln und geneigt, dem Subjekt stigmatisierend anzulasten, was Produkt seiner ökologischen, ökonomischen, subkulturellen und institutionellen Lebenswelt ist.(192)
Was Grawe an interdisziplinärer Wissens- und Methodenerweiterung für eine hocheffiziente Allgemeine Psychotherapie fordert, dehnt Keupp aus zu einer tatsächlich interdisziplinären Ausbildung und Kooperation der Psychologen mit Stadtplanern, Ökonomen, Medizinern und Sozialwissenschaftlern, um ein salutogenes Gegenmilieu zu pathogenen Lebenszusammenhängen umfassend aufbauen und sichern zu können.(193)
In der Verhaltenstherapie beginnt sich das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe als therapeutische Anleitung zur Eigentherapie durchzusetzen.(194) Auf dem Büchermarkt gibt es Ratgeber, die eine leicht praktikable Eigentherapie in privater Selbsthilfe anleiten.(195) Damit ist die Dimension der Problembewältigung abgedeckt. Die Klärungsperspektive und die Beziehungsperspektive, traditionell: die Dimension der Deutung und des komplexen Übertragungsgeschehens, werden allerdings mit Büchertips wohl kaum zu erreichen sein: hier ist das erfahrene Gegenüber von Angesicht zu Angesicht unabdingbar.(196)
Natürlich ist auch die Effizienz von Selbsthilfegruppen untersucht worden, um deren Arbeit gegenüber professionellen Interventionen genauer einschätzen zu können.(197) Daum hat eine erste umfangreiche Untersuchung vorgelegt.(198) Nach einem Jahr haben sich Depressivität, Kontaktstörungen, neurotische Beschwerden und seelischer Druck mehr als in der Wartegruppe, aber weniger als bei Einzeltherapien verbessert.(199) Typische Neurotiker erleben im Gemeinschaftsklima der Gruppe Entlastung und Rückgang von Symptomatik und Depressivität; kontaktfähige Neurotiker kommen in labilisierende therapeutische Regressionen, die Charakterpanzerungen veränderbar machen; durchsetzungsfähige Neurotiker merken vor lauter Angst hinter ihrer Rigidität in den ersten Jahren gar keine Veränderungen, weil sie immer verdrängen und somatisieren; Gesunde sind oft in erfahrenen Gruppen vorzugsweise emotionale Integrationsfiguren.(200) Berufstätigengruppen arbeiten mit einer Kombination von Psychoanalyse und Verhaltenstherapie, auch hier nahezu intuitiv Methodenintegration.(201) Gruppen mit ca. 8 Mitgliedern gemischter Problemgrade arbeiten nachhaltig erfolgreicher als kleine Gruppen mit seelisch stark Leidenden, die hochfluktuativ sind und eher auseinanderbrechen.(202) Das erste Jahr kann als Aufwärmphase verstanden werden, um genug Geborgenheit zu entwickeln, die Basis konfliktorientierter Beziehungsarbeit ist. Die therapeutische Tiefung in Regressionsarbeit ist sinnvollerweise geringer als in Gruppen unter professioneller Leitung, weil Selbsthilfegruppen stärker auf der Erwachsenenebene arbeiten und wohl auch die Vertrautheit mit Dekompensationen fehlt und daher Sorge bereitet, "ob man das auch auffangen kann".(203) Der Verzicht auf Deutungsmacht in Selbsthilfegruppen, der Verzicht auf Attestierung unbewußter Regungen des Anderen gehört zum ethischen Grundprinzip der Selbsthilfe-Demokratie genauso wie zur gewandelten therapeutischen Verantwortung: Jeder nur über sich selbst, nicht über die Triebe des Anderen.(204)
Alle Untersuchungen gehen noch regional vom Kontakt mit den lokalen Selbsthilfegruppen aus und zeigen paradigmatisch für die erste Phase der Selbsthilfeforschung die Einbindung der Forscher in ihren tatsächlichen Lebenskreis. Das Erkenntnisinteresse war, mit einer minimalen Professionalisierung einen möglichst großen Kreis leidender Menschen ansprechen zu können, eine Art Barfußärztesystem in Seelenqualen. Zugleich sollte im Trend der Evaluationsforschung die Effizienz dieser Gruppen erwiesen werden, um den Diffamierungen der Selbsthilfebewegung durch Ärzteschaft und reaktionäre Kräfte "Fakten" zeigen zu können, an die sich dann glauben. Die hohe Fluktuation in Selbsthilfegruppen erschwert allerdings Longitudinalstudien.(205)
Für die Perlssche Gestalttherapie gilt eine ähnliche Dialektik, die sie mit vielen Richtungen der sog. humanistischen Psychologie teilt: Sie entstand in Protest und Abgrenzung zur Psychoanalyse aus eben dieser, weil Perls selbst in seiner Analyse erleben konnte, daß sie praktisch wirkungslos war, von der Initiationsfunktion für die Berufskarriere abgesehen. Der praktische Teil von 'Ego, hunger and aggression' ist zur Eigenbehandlung konzipiert und von der Intention geleitet, eine Arkandisziplin breiten Bevölkerungsgruppen verfügbar zu machen zur Eigentherapie. Es ist eine Selbsthilfe-Anleitung. Die Esalen-Bewegung hat sich auch als Selbsterfahrung ohne die Professionellen verstanden, als Experimentier-Werkstatt mit neuen Verfahren, neuen Wegen der Selbsterforschung. Die Anfänge waren unprofessionell, dilettantisch, einer Idee folgend und sie gemeinsam erprobend, ganz gewiß noch gar nicht auf professionelle Elaboration angelegt und ohne den Anspruch, klinisch an schwergestörten Menschen mit hoher Effektivität wirken zu sollen. Esalen war eine Wiese für Gesunde, anale Zwangscharaktere der amerikanischen Mittelstandsgesellschaft, die ihre verkniffene Vitalität neu entdecken wollten. Der Anspruch von Perls und Goodman war Lebensfreude und Wachstum der Persönlichkeit, nicht Heilung von Schwerststörungen. Die Verschulung der Gestalttherapie hat, ohne bisher nachweislich bessere Therapie-Erfolge zeitigen zu können, zur Entwicklung einer komplexen Metatheorie und einer klientenorientierten methodisch-mediären Gestaltung des Therapieprozesses geführt.(206) Dennoch wird ihr Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen.(207) Der Vorrang der unmittelbaren Gegenwart, das Hier- und Jetzt-Prinzip, hat apriori die Kontrolle eines Davor und Danach diskreditiert, die Versammlung der Aufmerksamkeit auf die biologischen Körperfunktionen hat deren Verwobenheit in den gesamten Lebenszusammenhang inclusive seiner politischen Implikationen aus dem Blick geraten lassen.(208) Wenn Konflikte mit den Funktionären staatlicher Kontrolle und Beherrschung in der Therapie ihrer politischen Dimension beraubt werden, indem sie zu Wiederholungen der Konflikte mit den Eltern erklärt und nur im ödipalen Rahmen bearbeitet werden, so vollzieht sich damit eine verdeckte Form des Klassenkampfes von oben: Aufmüpfigkeit, Autonomiestreben und abweichende Vorstellungen in der persönlichen Lebensgestaltung werden durch ihre Rückführung auf infantile Protestmuster eben nicht nur strukturell hergeleitet und verstanden aus dem Widerstand gegen die Macht der Eltern, sondern zugleich unausgesprochen als infantile Problembewältigung ettikettiert und disqualifiziert, um zu ausgewogeneren und mit den Forderungen der Herrschenden synonymeren Verhaltensweisen therapeutisch anzureizen.(209) Vorab werden die Optionen des Autonomiestrebens dabei als unwesentlich abgeschmettert, weil man sich eingehend mit dem Wie befaßt, mit der Struktur des Verhaltens, mit dem sie ausgedrückt werden. Die Optionen selbst sind immer schon mindfucking-verdächtig, Rationalisierungen infantiler Konflikte.
Die Reflexionen über die Rolle des Therapeuten setzen diesen nach klassisch freudscher Manier in den Status der Eltern und wollen das Kompetenz- und Reifegefälle (was immer dies auch sei und wer immer auch dieses zu bescheinigen sich bemüßigt fühlt) als inneren Grund für ein Machtgefälle in der therapeutischen Situation instaurieren. Weil die Therapie selbst ein Diskurs der Macht bleibt und erst mit ihrer Auflösung zur ebenbürtigen Begegnung und Beziehung aus der Komplementarität der vertikalen Rollenmuster befreit wird, um sogleich aufgrund dieses 'Erfolges' beendet zu sein(210), kann Therapie die entwürdigenden Gefälle der politischen und sozialpolitischen Machtausübung in dieser Gesellschaft nicht thematisieren und bearbeiten. Die therapeutische Perspektive, zu der Therapie erzieht, blendet den Diskurs der Macht aus, in dem sie so lange in ihm verbleibt, bis sie sich für beendet erklärt.
Damit entgeht der Therapie die Möglichkeit, soziale und politische Faktoren der psychischen Verelendung besonders der Unterschicht zu verstehen und individuell soziotherapeutisch zu bearbeiten. Das erklärte Ziel ist immer die Veränderung des Klienten, nie die Veränderung seiner Lebensumstände, präziser: der Instanzen, die ihm die Lebensfreude vermiesen, das Persönlichkeitswachstum blockieren. Autoplasie ist Therapieziel, kaum einmal Alloplasie. Einer der Faktoren für mangelnde Therapie-Effekte ist die 'Unveränderbarkeit' von politischen Grundsatzentwürfen, die verantwortlich sind für Arbeitslosigkeit und ihrer psychischen Deformationen, für Sinnlosigkeitsempfinden in entfremdeten Produktionsstätten, für Folter, Vertreibung, Asylantenabschiebung. Zwar gelingt es einigen Therapeuten zumindest, diesen Zusammenhang wahrzunehmen, es hat aber noch kaum je Apelle eines psychotherapeutischen Berufsverbandes gegen Arbeitslosigkeit usw. gegeben, weil diese Profi-Organisationen nicht im Wesentlichen die Interessen ihrer Klienten zu vertreten gedenken, sondern die berufsständischen Forderungen nach Kassenanerkennung und somit Sicherung des eigenen Einkommens. Allein dies spricht eine deutlichere Sprache als alle gelegentlichen Hinweise auf soziale Einflüsse in der Genese psychischer Störungen in den Publikationen avancierter Vertreter wie Petzold.
Der organisatorische Unterschied von humanistischen Therapien und ihren Zentren zur Selbsthilfegruppe ist die Kostenregelung. Für die meisten Selbsthilfegruppen konnten Raum und Publikationsmöglichkeiten/Werbung inzwischen durch Zuschüsse von Kommunen und Kassen abgedeckt werden; die Entlohnung eines Therapeuten war nicht notwendig, weil es ihn nicht gab. Schon bei Selbsthilfe-Projekten allerdings kann sich dieser Faktor ändern: Seminarhöfe und Kulturzentren, Gesundheitsläden und selbstorganisierte Bildungsstätten sind meist so wenig staatlich bezuschußt, daß sie Teilnehmerbeiträge erheben müssen, die all diese Kosten abdecken und damit dem Arzthonorar vergleichbare bezahlte Therapie anbieten.
Eine gestalttherapeutische Wirkstudie vergleicht Selbsterfahrungsgruppen und von Laientherapeuten geleitete, kostenfreie "Selbsthilfe"-Gruppen, zu Beginn der neuen Selbsthilfebewegung auf diese Welle aufspringend.(211) Der Haupteffekt studentischer, von 'Mediatoren', Laientherapeuten geleiteter Psycho-'Selbsthilfegruppen' nach gestalttherapeutischer Encounter-Anleitung ist dabei die Überwindung von Selbstunsicherheit, Angst, Hemmung und Zuwachs des elan vital.(212) Für eine am Verkauf ihres Therapieprodukts interessierte Gestalttherapeutin ist es sicherlich eine mutige Überwindung ihrer unmittelbaren Verkaufsinteressen, wenn sie unter Berufung auf Moeller und Stübinger Selbsthilfegruppen überhaupt Effizienz einräumt: Abnahme von Depressivität, Verminderung psychosomatischer Beschwerden, Zunahme von Initiative und Autonomie, Kontaktfähigkeit, Bindungsfähigkeit und Hilfsbereitschaft.(213)
Durch das neue Autonomie-Paradigma der Selbsthilfebewegung, welches in Wirklichkeit seit Kant innerer Motor einer auch in barbarische Therapiehierarchie umgeschlagenen, mißlungenen Aufklärung gewesen ist und durch alle Rede von Selbstverwirklichung und ihre Diffamierungsversuche hindurch nach Einlösung ruft, gerät endlich auch die Psychotherapie selbst unter Zugzwang: Sie wird kaum noch Zuwachs bekommen, solange sie eine Übertragungsbeziehung protektiert, die vom Klienten als künstliche und ungewollte Infantilisierung erlebt wird. Die Zeiten der hemmungslosen Selbstinthronisation der Therapeuten in die Rollen der einstigen Eltern ist, bis auf frühgestörte Ausnahmen, endgültig Vergangenheit.(214) Ob indessen das therapeutengesteuerte reevaluation couseling von Jackins(215) mit seinen hemmungslosen 8minütigen Entladungen des Einzelnen vor der Gruppe wirklich so normwiedrig und subversiv ist, wie Scheff verspricht, wage ich sehr zu bezweifeln.(216) Man kann in Gruppen schreien, stöhnen und pfurzen und am nächsten Morgen wieder der bravste Bürger sein: Der Lederstudio-Effekt gerade der angepaßtesten Normokraten wie dem pipitrinkenden, wundgepeitschten Polizeipräsidenten sind der Beweis, daß Ausflippen selten subversiv ist.(217)
Die Botschaft der Selbsthilfebewegung an die Therapieszene, aus der sie teilweise sogar selbst entkommen ist, ist eindeutig und klar: Wir wollen keine Therapeuten mehr, die uns sagen, was für uns gut sein soll, die meinen, für uns Beelterung übernehmen zu müssen und sich hybride in die Rolle des helfenden Gottes einschleichen. Wir wollen Therapeuten als Genossen, als ebenbürtige Kollegen, die weder das Glück, die Lebensfreude, noch die Erkenntnis über andere mit Löffeln gefressen zu haben suggerieren, sondern die mit uns solidarisch sein können, weil sie selbst genauso betroffen sind von den Tendenzen einer Gesellschaft, die jedes unmittelbare Gefühl zerstört oder vermarktet und uns alle, ohne jede Ausnahme, immer mehr in die Einsamkeit stürzt, die Heidegger fälschlich in seiner Daseinsanalyse unseres Seins zum Tode zur anthropologischen Bestimmung inaugurierte.
Daß im Göttinger 'Social work' 1979 die Studentenberater von anfänglich 'reiner Selbsthilfe' zu geleiteten Selbsterfahrungsgruppen neigten, zeigt etwas vom Wunsch, anderen Menschen besonders gut helfen zu wollen, und vom Vertrauen, welches damals professionelle Therapieverfahren und -methoden noch relativ verbehaltlos genossen.(218) Ähnlich werden TelefonseelsorgerInnen in Gesprächstherapie ausgebildet. Diese Ausbildungen genießen in Helferkreisen immer noch einen hohen Status, wie die Auflistung der Psycho-Jodeldiplome etwa im Jahresprogramm des Fritz-Perls-Instituts für Integrative Therapie in der Mitarbeiterliste am Heftende eindrücklich demonstrieren: sie haben die gleiche Funktion wie die Orden an Generalsbrüsten. In einem solchen, unbefangen expertenhörigen Milieu kann sich der fundamentaldemokratische Geist von Selbsthilfe nicht entfalten. Im Lauf der Neunzigerjahre hat sich zwar die Expertenkritik allenthalben verschärft. Die Professionalisierungstendenz der Selbsthilfeunterstützer um Moeller und die NAKOS zeigt aber im sozialberuflichen Milieu der Kontaktstellen-Mitarbeiter den gleichen Zertifikat-Trend, in dem verwischt der Wunsch, gute Arbeit zu leisten, mitschwingt. Es ist unverwischt die Wiederaufnahme der autoritären Gruppenleiterstruktur der Psychoanalyse. Jede Theorie von Gruppenwiderstand ist ein Repatriierungsversuch und okkupiert die Autonomie jedes Einzelnen im Verbund der Gruppe. Das Vertrauen in die mitgebrachten Potentiale des Gesunden und der mitmenschlichen Intuition und Empathie, mit der Mütter instinktiv wissen, wessen ihr Baby bedarf, wird unterminiert, wo man glaubt, durch die Schulung der Wahrnehmung in methodisch durchaus fragwürdigen Selbsterfahrungsgruppen die introspektiven Erkenntnisfähigkeiten zu erhöhen. Empathie und Intuition werden nicht verbessert, sondern nur kanalisiert in methodengerechte, mehr oder weniger »starre Verhaltensmuster«. Dem Psycho-Neuling würden habitualisierte Stereotypen als Zwänge angelastet und abtherapiert, sofern sie nicht mittelschichtskonform den Normen der Psychoszene entsprechen.(219)
Wenn man also überhaupt mit den psychodynamischen und interpersonalen Idiomen der klassischen Therapie in Selbsthilfegruppen arbeiten will, müssen diese demokratisch transformiert, enthierarchisiert werden. Das autoritäre Beziehungsmodell Arzt-Patient mit der Prävalenz des höheren Wahrheitsgehalts der Gegenübertragung des Arztes gegenüber der des Patienten wäre mit Ferenczi zu mutualisieren in ein Kompetenzgemeinschaftsnetz der multiplen Perspektiven, die innerhalb eines jeden und untereinander in der Gruppe aufeinandertreffen und sich als Gegenübertragungsnetz aller gegen alle zu höchst komplexen, sich verstärkenden oder konfliktuös bestreitenden Vermutungen über bisher nicht geäußerte Befindlichkeiten und Erfahrungen eines Mitglieds verdichten. Sie haben den gleichen Status hermeneutischer Vorannahmen wie die des Analytikers Lorenzer: sie sind fehlbar, müssen aber nicht falsch sein, und der Fortgang des Gruppenprozesses wird möglicherweise mehr darüber aufdecken, wenn er nicht unsensibel Gruppenvorurteile gegen Einzelne analog der Judenzuschreibung in Frischs 'Andorra' verfestigt.(220) Dies aber kann auch dem professionellen Einzeltherapeuten passieren und es ist nahezu unerforschlich, wie oft es ihm passiert, weil die Möglichkeit der Überprüfung angesichts des Charakters der 'selffulfilling prophethy' seiner Deutungen schon strukturell schier unmöglich ist, wäre sie es nicht angesichts der Intimität der Therapiesituation aus pragmatischen Gründen.(221) Der Dschungel von Projektion und Erkenntnis ist so komplex, daß es für viele Menschen einfacher und praktikabler ist, sich den Deutungsrastern eines Therapeuten oder einer Gruppe zu überlassen, wie man es aus dem Spiel der Zuschreibungen im Familienverband apriori gewöhnt ist. Dann haben Deutungskünstler wie Moeller leichtes Spiel in Selbsthilfegruppen.(222)
Die Utopie einer therapeutischen Selbsthilfegruppe wäre, jedem Mitglied mit Demut und Toleranz seine eigene Selbstinterpretation zu lassen und zu akzeptieren, ohne diese auf subtile oder offen repressive Weise verändern zu wollen, wie es im Konzept des Aufschmelzens von Charaktermasken oder Aufbrechens starrer Verhaltensmuster reichianisch-perlsscher Charakterpanzerknackerei angelegt ist. Der Weg zu einer wirklichen Akzeptanz des Anderen in einer Gruppe ist noch sehr weit und es bleibt zu hoffen, daß ein professioneller therapeutischer Impuls in Selbsthilfegruppen die Einübung in diese Akzeptanz des Anderen, so wie er ist und sich selbst versteht, verstärkt, wo sie nicht bereits besteht. Diese Akzeptanz, in der Theologie als Gnade Gottes gegenüber dem Sünder in autoritären Rastern thematisiert, ist sicherlich kein Sondergut therapeutischer Selbsthilfe, aber mit ihr steht und fällt deren Effizienz. Sie wird selten größer sein können als die Humanität der gesamten Gesellschaft, aber wenn eines gegen Zeitgeist und universalen Konkurrenztrend subversiv zu kultivieren wäre, dann diese Kraft der Solidarität in Sympathie und Empathie mit dem Anderen, den man nicht mehr verändern will, sondern mag und nimmt, wie er ist. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die Ideale der französischen Bürger 1789 tauchen wieder auf in den Grundwerten der Selbsthilfe, wie Moeller sie mit dezentem Anklang an Bloch und Rogers formulierte: Selbstbestimmung, Authentizität, Hoffnung und Solidarität.(223) Das präzise ist die Mission von Psychotherapie, wie sie einzig noch sich ethisch verantworten läßt, sieht man vorläufig von den extremen Bereichen forensischer Psychiatrie ab, wo der Andere sich oder anderen zur Gefahr wird und der Schutz des Lebens aller Betroffenen wichtiger ist als die sozial schädliche Entfaltung einer ins Bizzarre mutierten Idiosynkrasie.(224)
Der Kampf der Laientherapeuten um Anerkennung auf dem Markt ist so alt wie der arrogante Widerstand medizinischer Analytiker, die, kaum 25 Jahre im Geschäft, mit Skepsis auf die Kurpfuscher schimpfen.(225) Heute hält keiner mehr Medizinstudium für Empathieförderung. Doch die Kurpfuschervorwürfe kommen immer wieder und machen sich fest an Ausbildungsstandards, deren Funktionalität für effiziente Therapie überhaupt nicht gesichert ist. Rogers hat immerhin erkannt und untersuchen lassen, daß und wie Laientherapeuten ebenso hilfreich sein können wie Professionelle.
Wenn nun die Professionellen Selbsthilfegruppen vorhalten, es gebe immer wieder Alpha-Tiere, Führungshirsche in den vermeintlich egalitären Gruppen, und darum könne die Führung ja gleich von ihnen übernommen werden, so ist dieser gruppendynamische Einwand nachgerade zynisch, weil er die Schwierigkeiten, miteinander egalitär zu kommunizieren, zum Vorwand nimmt, diese unverzüglich wieder in klassische autoritäre Strukturen zu überführen, zum Wohle des gutverdienenden Therapeuten, der mit seinen Laienhelferschulungen sich selbst saturiert.(226) »Zwar wird... weiterhin eine Professionalisierung sozialer Tätigkeiten vonnöten sein - jedoch läßt sich nach der bislang zurückliegenden Erfahrung überraschungsfrei feststellen, daß eine sozialpolitische Strategie, welche ausschließlich auf Professionalisierung setzt, unweigerlich Fremdbestimmung und Lohnabhängigengleichgültigkeit zur Folge haben wird.«(227)
Der Diskurs um Selbsthilfeförderung ist in weiten Teilen geprägt vom Kampf der Selbsthilfeverbände um Zuschüsse, auf der Leistungsgeberseite von recht großspurigen Selbstlobeshymnen über die horrende schon getätigte Förderung, wobei leicht alles kommunal geförderte Treiben am Ort als Selbsthilfe-Aktivität umbenannt wird.(228) Ob Wohlfahrtsverbände, Krankenkasse, Kommunen oder Landesvertreter(229): sie alle gefallen sich im Abwehren von Anträgen durch den Verweis auf die bisherige Förderung, während sie auf der anderen Seite als freie Träger Konkurrenten der Selbsthilfebewegung sind und um möglichst große Anteile vom Steuerzahlerkuchen pokern.(230) Der Begriff "Selbsthilfe" verkümmert »in traditionellen Verbänden und Beratungsstellen zur Gelderbeschaffungs-Rhetorik«.(231) Manche Krankenkasse versuchen sich sogar in der Trägerschaft von Kontaktstellen, nur um an Landesfördermittel zu kommen.
Dabei läßt sich trotz steigender Not eine zunehmende Skepsis der Betroffenen gegenüber den Professionellen der Wohlfahrtsverbände usw. und ihren Beratungsangeboten wahrnehmen. Gerade im Suchtbereich sind die Anonym-Gruppen allen institutionellen Therapieangeboten bei weitem überlegen in der langfristigen Wirkmächtigkeit - ein Tiefschlag für die Psychiatrie, deren Effizienz immer mehr zur Debatte steht. Und das ohne jeden Pfennig Fördermittel. Der Bedarf an Förderung ist allerdings in Ortsgruppen weniger hoch als in bundesweiten Selbsthilfeverbänden oder gar Projekten mit hauptamtlichen Mitarbeitern, die aus Laienhelfer-Initiativen hervorgegangen jetzt eine wesentliche Aufgabe in der sozialen Versorgung übernommen haben, die andere soziale Agenturen freier Wohlfahrtspflege in keiner Weise abzudecken imstande sind.(232)
Autonomie der Selbsthilfeorganisationen oder Devotion gegenüber dem kommunalen Zuschußgeber - diese Alternative läßt sich nicht eskamotieren, so sehr es die realpolitische Selbsthilfefördertruppe um Braun's ISAB-Institut wegreden möchte. Die Vorzüge finanzieller Autonomie liegen darin, daß die zuständigen kommunalen Ämter und Vergabe-Ausschüsse bei der gemeinsamen Antrags-Ausarbeitung nicht in die Arbeit hineinverwalten können.(233) Die Okkupation von SEKIS (Selbsthilfekontakt- und Informationsstelle) und dem von Sozialsenator Ulf Fink nach Berlin gelockten NAKOS (Nationale Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen)(234) und das gesamte Berliner Modell dokumentieren nachhaltig, wie die Hausbesetzerszene und die Alternativenhochburg Berlin bestochen werden sollte.(235) Der Gesundheitsladen mit seinen weitreichenden Utopien einer WHOmäßigen 'primary health care' mit stationären und ambulanten Diensten, sozialarbeiterischer, medizinischer und psychologischer Betreuung und Selbsthilfegruppenarbeit mit demokratischer Kontrolle durch die Nutzer und Mitarbeiter wurde ausgegrenzt.(236) Auch meine eigenen Erfahrungen mit kommunaler Nicht-Förderung von Jugendzentren bei mangelndem Wohlverhalten auf Friedenskundgebungen vor unserer Kirche - "auf Eis legen" nannte es der SPD-Sozialdezernent in der einzigen Luxusvilla meiner Wohnsilogemeinde - kann nur als Amigo-mäßiges Willkürhandeln der Kommunalverwaltung bezeichnet werden. Die Kippung der AK-Staatsknete-Förderung(237) ist nur eines der unzähligen weiteren Beispiele für die Abhängigkeit, in die eine jede antragstellende Selbsthilfegruppierung gerät. Dabei sind diejenigen Gruppen am erfolgreichsten, die die bornierten Diskurse der Verwaltung geschickt zu benutzen verstehen, weil sie sie überhaupt verstehen - Zeichen ihrer eigenen Klassenlage der Mittelschicht, für die sie wiederum Knete locker zu machen imstande sind.(238) Gesundheitsladen und Irrenoffensive sind subversiv im Sinne der CDU-Ideologie und fallen aus der Förderung, die faktisch nur noch klassisch sozialarbeiterisch tätigen Gruppen mit Personalkostenzuschüssen bis zu BAT IV zukommen, also eine wesentliche Verbilligung der traditionell von den Wohlfahrtsverbänden durchgeführten Aufgaben.(239) »Insgesamt wird auch bei der praktischen Förderung selektiert nach sozialpolitischer Brauchbarkeit im Sinne des Senats, der seine inhaltlichen Vorgaben einzuhalten trachtet. Insbesondere muß beklagt werden, daß die Förderung sich ausschließlich auf sozialarbeiterische Aktivitäten beschränkt. Nicht nur systemkritische Aktivitäten, auch die Versuche, inhaltlich außerhalb der gewohnten Denkschablonen vorzugehen und erst recht alle kooperativen Aktivitäten der Projekte untereinander sind explizit ausgeschlossen und fallen angesichts des Arbeitsdrucks in den Gruppen regelmäßig flach. Insofern ist die Förderung neben allem auch auf Vereinzelung angelegt.«(240) Staatliche Selbsthilfeförderung ist nichts anderes als die Vorhut kostendämpfender Privatisierung sozialer Dienstleistungen in untertariflich arbeitende Hände von Experten in Selbsthilfeorganisationen, die oft und meist die spröde Klientel überwiesen bekommen, an denen sich die klassischen Wohlfahrtsverbände und ihre tariflichen Mitarbeiter die checkheftgepflegten Zähne auszubeißen drohen.(241)
In den meisten deutschen Großstädten haben sich ca. 200 Kontakt- und Informations-Stellen für Selbsthilfe (KISS) mit Fördermitteln der Wohlfahrtsverbände und je zwei hauptamtlichen SozialarbeiterInnen gebildet.(242) In Dortmund hat sich zur Finanzierung dieser KISS ein Trägerverbund aus Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Diakonie, Paritätischem Wohlfahrtsverband, Rotem Kreuz und Jüdischer Kultusgemeinde mit einem Ladenlokal in der Leuthardstr. 6 in unmittelbarer Nähe zum Straßenstrich gebildet.(243) Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen (DAG-SHG) mit ihrer NAKOS veranstaltet jährlich Arbeitstagungen und bildet eine Lobby für eine verstärkte Selbsthilfeförderung durch Bund und Länder, welche bis auf wenige Modell-Projekte nur dort einigermaßen befriedigend verläuft, wo die Grünen Durchsetzungsfähigkeit erlangt haben. In Dortmund gibt die Stadt einige Tausend DM, Krankenkassen unterstützen einzelprojektbezogen etwa 30% aller einmaligen Förderungsanträge von etablierten Gesundheitsgruppen, das Land gibt nichts.(244) Nach dem Zustandekommen des Rot-Grünen Bündnisses in NRW besteht eine vage Hoffnung auf eine zarte und schmalbrüstige Landesförderung, die mehr ist als die üblichen guten Worte von Ministerialvertretern auf einschlägigen Fachtagungen. Die Mittel sind seit Jahren gleichbleibend, während sich die fast rein mittelschichtsrekrutierte Zahl der Selbsthilfeinteressenten in den letzten fünf Jahren kontinuierlich verzehnfacht hat; die der Gruppen ist auf 360 in Dortmund gestiegen, bei jährlich ca. 15 Neugründungen und drei Auflösungen. Vierteljährlich treffen sich Vertreter aller Selbsthilfegruppen in der KISS zum gegenseitigen Kennenlernen und Problemstands-Austausch. Die KISS stellt genaue Zahlen(245) ihrer Telefonate und Beratungsgespräche zu Gruppen auf: ca. 40% zu Chronisch Kranken, 20% zu Psychisch Kranken, 14% zu Suchtgruppen, 8% zu Frauen/Männer/Sexgruppen, 10% zu Familienselbsthilfegruppen (Alleinerziehende usw.). Chronischkrankengruppen haben einen festen Bestand erreicht, Gruppenneubildungen erfolgen im Suchtbereich und Familienbereich. Putzigerweise wird die Selbsthilfe in SPD-regierten Kommunen wenig intensiviert; ist doch der Großteil der Gruppen mittelschichtig. Das ist auch gar kein Problem für die meisten Gruppen, da sie genug Geld für Mitgliedsbeiträge haben und daraus Bundesverbände gründen können, wie etwa Rheuma-Liga oder Krebshilfe.
Ein besonderes Problem stellt die Finanzierung der MitarbeiterInnen in den KISS dar: Meist werden sie billig angeschoben durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen(246), was bedeutet, daß eine hohe Fluktuation des Personals in dem Augenblick für einen Wechsel sorgt, wo eine Kraft gerade eben eingearbeitet ist, Überblick und Kompetenz erworben hat und mit Professionellen umliegender sozialer Dienste einen optimalen Grad der Vernetzung erreicht hat.(247) Damit ist gewährleistet, daß die MitarbeiterInnen der Selbsthilfekontaktstellen stets gleichbleibend niedrig qualifiziert sind. Sie sind damit unfähig für die Aufgabe der Vermittlung von Einzelpersonen in sehr spezielle Gruppen, weil sie oft nicht einmal erkunden können, ob es für ein Problem im Umkreis oder in Nachbargemeinde etwa schon bestehende Selbsthilfegruppen gibt. Allein die Vermittlung an eine Alkoholikergruppe, die nicht AA-mäßig mit religiösen Suchtstoffen substituiert, scheint nachgerade unmöglich zu sein im Ruhrgebiet. Dieser Notstand ist auch nicht wettzumachen durch häufige DAG-SHG-Mitarbeiterschulungen, weil er lokale Einarbeitung verlangt und personale Kontinuität, sprich: Festanstellung. Aber dieses ist den Sponsoren oft zu teuer.(248)
Die etwas andere Dortmunder Selbsthilfe (DSH) in der Jakobstr. 1, engagiert in Hausspekulanten-Protesten, Obdachlosenbetreuung, Sozialhilfeberatung, Aufnahme von TrebegängerInnen usw. verzichtet dankend auf öffentliche Zuschüsse, die sie auch niemals bekommen würde. Sie lebt von Haushaltsauflösungen und einem Trödelladen. Das Geld reicht gerade bis zum Existenzminimum, Essen und Wohnen ist gesichert und jeder Kommunarde bekommt monatlich 100 DM Taschengeld zur eigenen Verfügung. Hier ist ein alternativökonomisches Wohngemeinschaftsprojekt in einem ehemals instandbesetzten Altbau kombiniert mit engagiertem Eintreten für die Würde von Entrechteten in der Öffentlichkeit. Hervorgegangen ist sie aus den Initiativen der SSK als Sozialistisches Selbsthilfe-Projekt.(249) Die Dortmunder Selbsthilfe ist bis heute sehr aktiv und mit ihren Plakaten in sozial schwachen Wohngegenden hier im Dortmunder Norden wesentlich präsenter als die relativ abgesicherte, von Lohnabhängigengleichgültigkeit der AB-Mitarbeiter bei gepflegter Ausstattung saturierte KISS. Wer hier mitarbeitet, hat einen hohen Motivationsgrad, ist stark politisiert und lebt in existentieller Unsicherheit, die noch am ehesten Affinität zur Jesusbewegung hat.
Die Kraft der Arbeiterbewegung war seit ihrem Entstehen als Selbsthilfeorganisation im Klassenkampf die gegenseitige Unterstützung, die über unmittelbare egoistische Interessenvertretung hinaus das Wohl aller Arbeiter im Blick hatte.(250) Diese Kraft der Solidarität hat der Arbeiterbewegung ihre Stärke, Durchsetzungfähigkeit und ihre historischen Erfolge gegeben.(251) Seit dem Aufkommen der neuen Selbsthilfebewegung stehen die Gewerkschaften und die Arbeiterschaft diesen postmodernen Strebungen wohl nicht nur deshalb skeptisch gegenüber, weil sie vorwiegend aus Mittelschichtlern und BildungsbürgerInnen bestehen, sondern weil die dezentralisierte Organisationsform der Gruppen weder geeignet ist für politische Durchsetzung sozialer Forderungen noch überhaupt dieses intendiert.(252) Dabei ist bemerkenswert, wie der Elan aus der Gewerkschaftsbewegung gewichen ist: waren noch 1966 unter Ludwig Erhard 100.000 Arbeitslose Grund zu vehementen Protestmärschen, so locken heute (1996) 4,3 Millionen Arbeitslose nur bei großen Werksauflösungen und Massenentlassungen noch für kurze Zeit Menschen auf die Straße. Der Verfall der Gewerkschaftsbewegung, intern als Solidaritätskrise(253) gehandelt, läßt sich an der devoten Kungelei der Bosse mit den CDU-Machthabern ablesen, deren `Bündnis für Arbeit' sicherlich keinen einzigen Arbeitsplatz vor dem Export in Billiglohnländer oder an billige polnische/jugoslavische Leiharbeiter retten würde, wären sie nicht von Arbeitgeberseite und Kanzler erfrischend heftig über den Tisch gezogen worden. Alle Staatssubventionen an Großbetriebe werden ohnehin lediglich zur Wegrationalisierung der Arbeitsplätze aufgrund der internationalen Konkurrenz im Interesse der 'Standortsicherung Deutschland' eingesetzt.(254) Im Zweifelsfall tritt schon einmal der Konzernvorstand bei nachgewiesenem Mißmanagement in den vorzeitigen Ruhestand - mit einem traumhaft hohen Ruhegeld -, während Tausende von Arbeitern auf der Straße stehen - mit einem etwas weniger traumhaft hohen Arbeitslosengeld, welches an permanente soziale Kontrolle und Gängelung geknüpft bleibt. Erst jetzt stellt sich heraus, daß die vor Jahren favorisierte Vorruhestandsregelung ein die Rentenkasse völlig überforderndes Kuckucksei war: Die Probleme künftiger Rentenversorgung liegen keineswegs in steigender Lebenserwartung bei steigender Altersmorbidität, sondern in der systematische Destruktion von Arbeitsplätzen, die auf immer weniger Menschen die Versorgungsleistungen von immer mehr Menschen abwälzt.(255)
Die Arbeitsutopien der traditionellen Arbeiterbewegung, der Gewerkschaften und der Sozialdemokraten, nämlich Vollbeschäftigung zu einem der Ware Arbeitskraft angemessenen Lohn, sind von der Mikroelektronik (2. industrielle Revolution) und der neuen Rolle der Dritten Welt als welthausfraumäßigem Billigarbeitslieferanten nach deren Rohstoffausbeutungsrolle nachhaltig zerschlagen. Sollte der Staat in den Klassenkampf um gerechte Verteilung der Ressourcen intervenieren, um kapitalistisches Wachstum zu hegen, Krisen zu glätten, Weltmarktswettbewerbsfähigkeit von Arbeit und Kapital zu sichern, damit Zuwächse entstehen, aus denen umverteilt werden kann, ohne private Investoren zu entmutigen, so zeigt er sich, als demokratisch gewählte Errungenschaft sozialer Sicherungssysteme, diesen Anforderungen mit der ihm übertragenen Macht nicht mehr gewachsen. Der Sozialstaat stößt auf den Widerstand privater Investoren.(256) Wirtschaftsankurbelung über kommunale Aufträge funktioniert nicht mehr; Subventionen führen zu weiterer Rationalisierung, nicht etwa Arbeitsplatzsicherung; die steigende Staatsverschuldung kommt an Grenzen, in denen Sparhaushalte als erstes die zur Kasse bitten, die am wenigsten Widerstand zu leisten imstande sind: die industrielle Reservearmee. Gewerkschaftskämpfe sorgen bestenfalls für Umverteilung innerhalb oder zugunsten der Arbeitsplatzbesitzer, die Reservearmee ist nicht deren Klientel, selbst wenn sie Opfer der versicherten Risiken der abhängigen Lohnarbeit sind: als Arbeitsunfallopfer, Kranke, Gekündigte und Alte.(257) Gerade die Wählerschichten, die vom gewerkschaftlichen Kampf um den Sozialstaat die größte Rendite hatten: verbürgerlichte Facharbeiter, entwickeln in Krisenzeiten Besitzstandswahrungsmentalität wie der alte Mittelstand und schließen sich zu einer Phalanx des Wirtschaftswachstums gegen die Unterprivilegierten zusammen: Der SPD rutscht die Basis weg und wählt CDU. Die Gewerkschaften verlieren angesichts internationaler Weltmarkt-Konkurrenz und des Schwundes der jetzt CDU-nahen Mitglieder inclusive ihrer Beiträge Durchsetzungskraft und versuchen mit dem letzten Rest ihrer Unermüdlichen eine Verbandspolitik, die lediglich die kurzfristigen Interessen der noch Beschäftigten im Blick hat. Die Verrechtlichung von Produktionsprozeß und Reproduktion, die einmal die strukturelle Gewalt des Kapitals im Sinne sozialer Gerechtigkeit bändigen sollte, okkupiert die Versorgungsempfänger und reglementiert ihre Lebensbedingungen durch Tatbestandsvereinzelung, Überwachung und Betreuung, die keineswegs die Sinnlosigkeitserfahrung eines auf Abstellgleise geschobenen Lebens mit erfüllendem Handeln kompensiert. Gerade die Schichten, die am ehesten der Arbeitslosigkeit zum Opfer fallen, haben zugleich am wenigsten Potentiale, mit der erdrückenden Fülle ihrer Freizeit eine tatsächliche Erfüllung ihrer Sinnbedürfnisse zu erleben, weil ihnen die Fähigkeiten zur Selbstentfaltung nie entwickelt wurden. Der Sozialstaat, der zur Stiftung egalitärer Lebensformen und individuellen Selbstentfaltung angetreten ist, hat genau diese Möglichkeiten den Unterprivilegierten durch seine technologisch-administrative Überformung ihrer Reproduktionssphäre vorenthalten.(258) Daß dennoch gerade in der Arbeiterschaft gegenüber den Intellektuellen weit mehr pragmatische Phantasie und Gestaltungsfülle existiert, beweist zumindest, daß es keine einfache Korrelation gibt: je mehr Bildung, um so mehr Selbstentfaltung. Die meisten Curricula, ob in Schule, Kirche oder Selbsthilfe-Unterstützung, haben zugleich immer auch einen exorzistischen Effekt, der alles Markante, Profilierte, Eigenartige ausmerzt. Die alternative Ökonomie-Szene jedenfalls hat vom pragmatischen Sinn fürs Wichtige bei der wachsenden Zahl proletarischer Mitarbeiter nur profitiert.(259) Hier genau liegt auch der Konvergenzpunkt, an dem ein Bündnis zwischen Gewerkschaften als alter Arbeitskampfselbsthilfe und neuer Selbsthilfebewegung nicht nur möglich, sondern künftig konstitutiv zu werden hat: Weil immer mehr Menschen arbeitslos werden, liegt das gemeinsame Klasseninteresse von Arbeitsplatzbesitzern der unteren Schichten und den vollends aus dem formellen Sektor Ausgegrenzten am Aufbau eines Sozialstaates, der nach Entmythologisierung der Vollbeschäftigungsversprechungen auf eine neue Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit abzielt, auf ein arbeitsunabhängiges Grundeinkommen und humanisierte, attraktive Arbeitsplätze mit flexibilisierten Zeiten. Hier sind Arbeitslosenselbsthilfegruppen die natürlichen Bündnispartner der Gewerkschaften, falls letztere die Solidarität mit ihren Ehemaligen bis in die Arbeitsloseninitiativen hinein durchzuhalten vermögen.(260)
Genossenschaften sind bereits im Mittelalter unter den Bauern praktiziert worden als Bündnisse wechselseitiger Hilfe, ähnlich den Kaufmanns-Gilden und Handwerks-Zünften und der - allerdings ungleich reicheren Hanse.(261) Sie waren immer schon ein Bund der wirtschaftlich Schwächsten, wo durch Zusammenlegung aller bestehenden Potentiale eine ausreichende Kraft erreicht wurde, um gemeinsame Arbeits- und Überlebensinteressen zu realisieren.(262) Die Genossenschaftsläden entstanden ab 1827 zunächst im englischen Brighton, von den Armenärzten William King und William Bryan gegründet, mit Fischerei- und Gartenbaubetrieben sogar sehr prosperierend, unter wirtschaftlich bedrohten Handwerkern, die als Kampfmittel neben dem Streik Gewerkschaftswerkstätten gründeten, in denen zugleich arbeitslose Kollegen Arbeit fanden.(263) 1832 waren es fast 500 Genossenschaften vorwiegend in Mittelengland und gehäuft in London. Kings Stufenplan mit Sparverein, Handels- und Produktionsgenossenschaft wurde Grundlage der Bewegung, die sich mit Kongressen und Zeitschriften eine Gegenöffentlichkeit schuf.(264) Neben dem ländlichen Kleinladen mit wenig Mitgliedern, hoher Eigenbeteiligung, geringem Umsatz und guter Rendite gab es in Industriestädten Läden mit großer, aber fluktuierender Mitgliedschaft, geringen Einzelanteilen, hohem Umsatz bei niedrigen Gewinnen.(265) Die Armutskaufkraft und scharfe Konkurrenz ließ letztere Läden häufig eingehen; viele überlebten nicht, weil die Anteilseigner ihre Gewinne ausbezahlt haben wollten, statt sie zu reinvestieren. Ab 1831 sorgten Arbeitsbörsen in London, Birmingham, Liverpool und Glasgow für arbeitswertgleichen, obligatorischen Austausch eigener Fabrikate gegen Waren anderer. Zu arbeitsintensiv-teure Ladenhüter konnten dem Hersteller zurückgeben werden. Bauarbeiter-, Tuchmacher- und Keramikergewerkschaft gründeten die Einheitsgewerkschaft 'Grand National' 1933, die mit Generalstreiks - gekontert von Aussperrungen - zur großen syndikalistischen Arbeitskampfbewegung besonders im Baugewerbe wurde.(266) Die Genossenschaften waren in dieser Phase ein Versuch, durch eine Gegenökonomie die kapitalistische Ökonomie fortzukonkurrieren. Dies setzt eine Agonie des an seine Grenzen gestoßenen Kapitalismus voraus, die sich vielleicht heute erst abzuzeichnen beginnt. Heute sind die selbstverwalteten Genossenschaften mit eigener Kranken- und Altersversorgung unabdingbare Überlebensstrategie in den herunterentwickelten Ländern.(267)
Hierzulande begann es im Zuge der 68er-Bewegung mit politischen Buchläden, alternativen Pressebetrieben, Kneipen, Kinderläden. Selbstverwaltete Jugendzentren, Diskos, Jazzclubs, Frauenprojekte ähnlicher Branchen kamen hinzu, erweitert um Kulturzentren und Frauenhäuser, therapeutische Einrichtungen jeder nur denkbaren Couleur, Landkommunen, Biobauern und Naturkostläden, (Fahrrad-)Werkstätten, Schreinereien, Windmaschinenbau, Solartechnologien, Planerläden, Stadtteilläden, Bildungszentren, Gesundheitszentren und Schulen.(268) Das Belgische Viertel in Köln ist eine Kolonie von Sanjassins, etabliert und finanzkräftiger noch sind AAO-Betriebe und Anthroposophen. Einerseits bilden sich in gutgehenden, akkumulierenden Betrieben schnell wieder hierarchische Strukturen mit der Trennung von Hand- und Kopfarbeit heraus, andererseits ermüden auch die besten Projekte nach ca. 5 Jahren, was zu Krisen und Umstrukturierungen führt.(269) Die Zufuhr von Revenuen aus Renten und Einkommensüberschüssen erwerbstätiger Mitglieder, Modellförderungs-Staatsknete, Bausparverträge, Zuschüsse von Wohlfahrtsverbände, Krankenkassen bildet ein entscheidendes Startproblem: Je reicher der Mäzen oder Trägerverband, um so weniger liberal konditioniert er seinen Kapitaleinsatz.(270) Die Prognose für die Betriebe, nach den Erfahrungen mit bisherigen Großnetzen wie AAO und Anthroposophen ist: Selbstausbeutung differenziert zu Ausbeutung im klassischen Sinne durch Hierarchiebildung, Trennung von Hand- und Kopfarbeit, erbitterte Konkurrenz mit anderen alternativ-ökonomischen Betrieben oder Projekten.(271) »Die zentrale Perspektive des nächsten Vierteljahrhunderts bestünde darin, in allen Aspekten des Alltags und des politischen Handelns herauszuarbeiten..., wie hierin genossenschaftliches Leben aussehen könnte... Gemeint sind sämtliche Aktivitäten von Selbstorganisation, Selbsthilfe, gegenseitige Hilfe und Vernetzung...«(272)
Die Problematik der industriellen Reservearmee verschärft sich krisenhaft: mit derzeit (1996) 4,2 Millionen Arbeitslosen hat die Investitions-Anreiz-Politik der CDU nur dazu angereizt, rechtzeitig die Produktion in arme Länder auszulagern, um dort für Billiglöhne international konkurrenzfähig produzierte Waren zum Profit cleverer Konzerne zu verkaufen. Die deutschen Arbeitsplätze wurden so nachhaltig wegrationalisiert, daß der Gewerkschaftskurs des Bündnisses für Arbeit anstelle von Lohnforderungen auf ein kraftloses Betteln um den Erhalt einiger weniger Arbeitsplätze heruntergefahren ist. Daß Menschen nicht nur unter Arbeitslosigkeit leiden, sondern auch in Betrieben, hebt beides nicht auf.(273) Arbeitslosigkeit führt zu schweren persönlichen Krisen der Betroffenen, sowohl sozial als auch psychisch.(274) Jugendliche nehmen, was sie kriegen können, nicht, was sie wirklich wollen.(275) Typische Streß-Krankheiten kulminieren in der Antizipationsphase, wenn Entlassungen angekündigt werden, aber noch nicht ausgesprochen sind, nach der Entlassung gehen die Krankheiten etwa um die Hälfte zurück.(276) Nach antizipativer Angst vor Entlassung folgt die Schockphase, dann ähnlich wie im Trauerprozeß die Verleugnung der Realität, hier Optimismus mit intensiver Arbeitsplatzsuche, danach kommt die Resignationsphase mit Angst und Erschöpfung. Bei Dauerarbeitslosigkeit ohne Schwarzarbeit, rege Tätigkeit im Hobbybereich oder informellen Sektor kommt schließlich die Anpassungsphase mit Mobilitätsdefiziten, Abbau von Lebenserwartungen, Interessen und Zielstrebigkeit.(277) Uneingelöste Versprechungen von Ersatzarbeitsplätzen bei Betriebsstillegungen lähmen die Eigeninitiative noch mehr als das Wissen, es ist definitiv vorbei.(278) Herzkrankheiten häufen sich, Psychopharmaka werden ärztlicherseits verabreicht.(279) Viele Arbeitslose verfallen dem Alkohol, jugendliche Arbeitslose anderen Drogen, wobei der Arbeitsplatzverlust durch Drogen oder Alkohol die Ausnahme ist.(280) Die wirtschaftlich Schwachen unterliegen sozialen Ausgrenzungen und entwürdigenden Behandlungen durch die staatlichen Kontrollagenten, die sie zu aller materiellen Not zusätzlich seelisch kaputtmachen.(281)
Hier existiert soziotherapeutischer Bedarf an Krisenintervention: der Professionelle muß als Initiator/Animateur von Selbsthilfegruppen fungieren, deren Hauptziele Freizeitgestaltung, Empowerment und Austausch über die Wertlosigkeitserfahrung in der Leistungsgesellschaft mit dem Ziel des Aufbaus anderer Selbstbewertungsmaßstäbe sind.(282) Hier haben sich Selbsthilfeinitiativen als hilfreich zur Schicksalsbewältigung durch wechselseitige Gratifikation, als Kontaktgruppe und als Empowerment zur neuen, interessegeleiteten Arbeitstätigkeiten außerhalb des formellen Sektors erwiesen.(283)
Mit dem Single-Hausstand wuchs die Nachfrage nach Wohnungen, stiegen die Mieten und es entstand eine Wohnungsnot. Viele Wohnungslose erfrieren winters auf Parkbänken; zu ihren Beerdigungen kommen selten Angehörige.(284) Die Isolations-Karriere ist bei Verlust der Wohnung sicher. Auch hier haben sich Selbsthilfeprojekte gegründet.(285) Sie sind anders gelagert als die Häuslebau-Selbsthilfe, die das Eigenheim spürbar verbilligen soll und dem fleißigen Heimwerker den Weg ins eigene Heim solange ebnet, bis er schließlich an den Hypotheken zerbricht, hochverschuldet verkaufen muß und den Traum vom eigenen Haus als Arbeiter endgültig ausgeträumt haben wird.(286) Die Mitwohnzentralen, Instandbesetzungen alter Spekulanten-Häuser und sorgfältig geplante Kommuneprojekte einschließlich Therapeutischer Wohngemeinschaften(287) sind durchaus als Selbsthilfe gegen Wohnungsnot zu verstehen, weil für die Betreffenden normale Mietzinse nicht finanzierbar sind. Auch die Ausländerarbeit hat die Prinzipien der Selbsthilfe fruchtbar gemacht, es gibt Selbsthilfegruppen von deutsch-afrikanischen Mischehepartnern, es gibt deutsch-türkische Kulturzentren.(288)
Der erweiterte Gesundheits- und Krankheitsbegriff der Integrativen Therapie kritisiert zugleich mit der Pathophilie(289) der stigmatisierenden Ausgrenzung von Krankheit durch ihre isolierte Betrachtung von Krankheitssymptomen medizinische Pathologie und gesellschaftlichen Umgang mit Kranken: »Gesundheit wird zu einer subjektiv erlebten und bewerteten sowie external wahrnehmbaren genuinen Qualität der Lebensprozesse im Entwicklungsgeschehen des Leibsubjekts und seiner Lebenswelt. Gesundheit ist dieser Ansicht zufolge wesentlich dadurch gekennzeichnet, daß der Mensch sich selbst ganzheitlich und differenziell in leiblich-konkreter Verbundenheit mit dem Lebenszusammenhang (Kontext und Kontinuum) wahrnimmt und im Wechselspiel von protektiven und Risikofaktoren entsprechend seiner Vitalität und Vulnerabilität Bewältigungspotentiale, Kompetenzen- und Ressourcenlage kritische Lebensereignisse bzw. Probleme zu handhaben und sich zu regulieren und zu erhalten vermag, schließlich, daß er auf dieser Grundlage seine körperlichen, seelischen, geistigen, sozialen und ökologischen Potentiale co-kreativ und konstruktiv entfalten und gestalten kann und so ein Gefühl von Kohärenz, Sinnhaftigkeit, Integrität und Wohlbefinden entwickelt.«(290) Wenn man Selbsthilfegruppen nach Kranken und Gesunden aufteilen will, wird man unweigerlich bei den gesellschaftlich verursachten Krankheiten neben der unmittelbaren persönlichen Bewältigung der Krankheit zugleich auf eine politische Option der Selbsthilfegruppe im Sinne des Empowerment zu achten haben, die auf salutogenere Rahmenbedingungen hinarbeitet und dies öffentlich einfordert. So sind einige chronische Leiden durch Umweltschäden ausgelöst, psychische Störungen weitgehend durch das soziale Umfeld Familie und Beruf (Mobbing-Opfer des alltäglichen Arbeitsplatz-Faschismus, Arbeits-Unfallschäden). Im Suchtbereich ist immer eine soziale Pathogenese auffindbar, die hier aber gerade nicht der Ansatzpunkt der Heilung ist. Diese kann nur in der Stärkung der Subjektstrukturen bestehen. In einem zweiten Schritt sind dann allerdings Süchtigmacher wie Spielhallen, Dealer und Alkohol-/Pharmaindustrie in die Verantwortung zu nehmen. Daneben gibt es gesellschaftlich nicht mehr steuerbare Kontingenzen, die man wohl wird ertragen müssen als Schläge des Schicksals.
Man spräche besser statt von Gesundheitsgruppen von »Erfahrenen-Gruppen«.(291) Das Spektrum der therapeutisch oder medizinisch orientierten Selbsthilfegruppen(292) reicht von Schmerzgruppen(293), Angst(294), Depressionen(295), Sexualstörungen(296), Zwängen(297), Stottern(298) über diverse chronische Leiden(299) wie etwa Neurodermitis(300), Schuppenflechte(301), Tinnitus(302) und andere somatisch tiefgreifende Störungen bis hin zu Unfallopfern wie etwa Brandverletzungsentstellte. Insgesamt sind es ca. 59 Krankheiten, zu denen es Gruppen gibt. Die meisten haben sich mittlerweile bundesweit organisiert in Landes- und Bundesverbänden mit eigenen Publikationsorganen.(303)
Aids als tödliche Krankheit hat die Betroffenen zur Gründung von Aidshilfestellen in fast jeder Stadt angespornt.(304) Auch Krebs hat die Betroffenen seit langem schon mobilisiert zu Selbsthilfegruppen mit einem recht starken Bundesverband.(305) Die Pathogenese durch verstrahlte Umwelt und Gifte ist hier offensichtlich nachgewiesen.
Ein zahlenmäßig außerordentlich starker Flügel der Selbsthilfegruppen besteht aus sog. Suchtgruppen. Alkohol dürfte den immer noch härtesten Marktanteil im Spektrum der physischen Süchte als legitimierte, universal approbierte und bei Politiker nachgerade pflichtmäßig konsumierte Droge nachhaltig behaupten.(306) Tablettenabhängigkeit als beliebtes Hausfrauenlaster neben Nikotinsucht ist ebenfalls hochgradig repräsentiert. Petzold war einer der Drogenpioniere, die das Vierschritteprogramm der meisten heutigen Releasezentren in der BRD eingeführt hat.(307) Es gibt kaum Junky-Gruppen im Selbsthilfebereich, wohl aber Angehörigengruppen. Junkies gehören überwiegend zu den Menschen, die sich selbst meist nicht mehr ohne fremde Hilfe rehabilitieren können. Die Abgrenzung von Alkis oder Kiffern mit einem spezifischen Standesbewußtsein unter Heroinabhängigen ist polytoxikomanischer Allesfresserei gewichen. Selbst die Extasy-Jugend 1996 benötigt Haschisch zum Herunterfahren nach Naseziehen mit Pepp.
Eßstörungen von Magersucht über Übergewichtigengruppen bis zur Bulimie gehören zum Fundus jeder Kontaktstelle.(308) Ebenfalls haben sich Gruppen von Spielsüchtigen zusammengefunden(309), daneben gibt es Gruppen von Sexsüchtigen, Kaufsüchtigen, Telefoniersüchtigen, Frauen, die zu sehr lieben (und darüber ein Buch von Norwood gelesen haben), und Gliedvorzeigern mit oder ohne Kleppermantel (Exhibionisten).
Die Überforderung vieler Eltern hat zu Elterngruppen geführt, die sich in ihren, oft ebenfalls krankheitsbedingten, Erziehungsproblemen gegenseitig unterstützen, etwa als Alleinerziehende, unterhaltspflichtige Väter und Mütter, Väteraufbruch für Kinder, verwaiste Eltern, Eltern autistischer, behinderter, diabeteskranker, frühgeborener, herzkranker, hochbegabter, unehelicher, adoptierter, schwarzfarbiger, sexuell mißbrauchter und wahrnehmungsgestörter Kinder. Daneben gibt es, etwa im Drogen-Co-Abhängigkeitsbereich(310) und bei psychisch Kranken, auch viele Angehörigengruppen, die versuchen, ihre oft unsäglichen Belastungen durch die Erfahrung Gleichbetroffener zu bewältigen. In diesen Bereich ragen auch Ansätze für eine Familientherapie.(311) Auch bei sexuellem Mißbrauch sind nicht nur Wildwasser-Opfergruppen wichtig, sondern sofortige familientherapeutische Intervention.(312)
Die frühesten Selbsthilfegruppen haben sich neben den Alkoholikern unter den mit Behinderungen Lebenden gegründet. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, die eigene physische Besonderheit unter Kritik der allgemein üblichen Leistungsmaßstäbe neu zu bewerten und so ein Gutteil der durch soziale Stigmatisierung abgesprochenen Würde zu beanspruchen.(313) Die Selbstorganisation marginalisierter Jugendlicher(314) ist angesichts der Fortschritte der Massenarbeitslosigkeit ein weiterhin wachsendes Krisengebiet.
Die Kämpfe der Frauenbewegung(315) haben neben Frauengruppen, Frauenbuchläden, Frauendiskos, Frauengruppen, Mädchengruppen und Frauenbeauftragten in Parlamenten usw. zur Etablierung der Frauenhäuser und Frauenzentren geführt, in denen sie ihr spezifisches Selbstbewußtsein ohne männliche Dominanz und Gewalteinflüsse formulieren können. Hier gibt es Norwoodgruppen zur Abhängigkeit in der Partnerschaft, Gruppen zur Bewältigung eines Schwangerschaftsabbruchs, Gruppen von sexuell mißbrauchten Frauen, Müttergruppen, Lesbengruppen, körperbehinderte Lesbengruppen und Gruppen mit Ausländern verheirateter Frauen.
Im Zuge der Frauengruppen haben sich seit 1975 auch immer mehr Männergruppen gebildet. Hier treffen sich geschiedene Männer, Schwule Väter/Gatten, Alimentezahler und Homosexuelle. Coming-out-Gruppen und Transsexuellengruppen sind ebenso fest vertreten. Gruppen zu Partnerschaftsproblemen, nach Trennung oder Scheidung, nach Tod des Partners oder eines Kindes ('Verwaiste Eltern') sind fast flächendeckend entstanden und bieten ähnlich wie die 'Singles ab 50' ein neues soziales Netzwerk.
Senioren haben seit dem Auftauchen der Grauen Panther bis zum Kampf um parlamentarische Mitbestimmung eine Wiedereinbringung ihrer hohen lebenspraktischen Kompetenzen entwickelt.(316) Die Altersvereinsamung im Zerfall traditioneller Familialität hat als Alternative zum Altenwohnheim die Seniorenwohngemeinschaft ins Spiel gebracht. Damit ist es gelungen, die Entwürdigung in der Heimunterbringung durch ein tragfähiges soziales Netz zu ersetzen, in dem der Einzelne gefordert ist und gerade hierdurch im Erhalt seiner Kompetenz gefördert.(317)
Asyle hospitalisieren, demütigen und zwingen zur Anpassung an die stigmatisierende Norm der totalen Institution, so Goffman. Sie erzwingen geradezu die Zerstörung der Persönlichkeit in der moralische Karriere des Insassen. Krank wird ein Mensch zwangsläufig durch Ettikettierungen und Stigmatisierungen, denen er bei der Psychiatrisierung unweigerlich unterzogen wird, wobei er vorher durchaus deviant gelebt haben mag, aber sich dabei subjektiv kerngesund fühlte.(318) Totale Institutionen inhaftieren vorzugsweise die sozialen Unterschichten als billigste Form der psychosozialen Intervention.(319)
Laings Antipsychiatrie baute mit den therapeutischen Wohngruppen am Rand der Londoner Klinik auf das Verstehen des Patienten und seiner Krise als Chance der Veränderung. Diese Reise ins Selbst aus unerträglicher äußerer Situation kann der Heilungsweg sein, den man in einem auf Rigidität verzichtenden, gleichberechtigten Team der Patienten und Pflegenden nur gut begleiten und schützen muß. Von Phänomenen geht das Verstehen zu den Strukturen, es gibt keine diagnostischen Vorab-Tickets, Ettiketten, Labels als stigmatisierende Zerstörung menschlicher Würde. Psychiatrie wird als Initiations-Station genutzt. Die hermeneutische Vorannahme ist dabei: Das Ausagieren als Durcharbeiten der Psychose verhindert deren Chronifizierung.(320)
Basaglia sieht die institutionelle Regression der Patienten, den Verlust von Ichstärke und personaler Kompetenz als Folge ihrer Entmündigung. Die Demokratische Psychiatrie trägt dazu bei, Ichfunktionen und Kompetenzen wieder anzueignen. Auflehnung gegen das Personal sind eine Form, Ichstärke wiederzugewinnen und die Selbst-Deformation durch gesellschaftliche Hierarchie und Gewalt auf- und abzuarbeiten im Kampf mit den Psychiatern, die hier in der Übertragung die Bumannrolle auszuhalten haben. Er wirft den psychiatrischen Sozialtechnikern vor, sie konditionieren die gesellschaftlich Geschädigten zum Ja zu ihrem Leid. Psychiater sind fast ausnahmslos »Gefängniswärter und Anwälte der Gesellschaft« gegen die Insassen.(321)
Cooper sieht Psychose als Protest und Ausbruch: sie lebt im Mut, sich etwas anmerken lassen, statt in Konformität und Angst zu fliehen.(322) Jervis stellt dagegen auf den Doppelcharakter der Psychose ab: sie ist gerade der Verlust politischer Kampffähigkeit durch Retroflexion der gesellschaftlichen, internalisierten Gewalt. Sie ist Hemmung und Protest zugleich, Verinnerlichung der Gewalt und Aufbegehren gegen sie.(323) Im Sinne von Foucault ist für Jervis das Ziel von Psychose-Therapie eine Neuzusammensetzung der herrschenden Spaltung von Intellekt und Affekt, Rationalität und Irrationalität. Gegen Laing wendet er ein, der Mythos der Psychose als innerer Erneuerung sei eine Ideologie der Innerlichkeit. Ein wahres Selbst sei im Verblendungszusammenhang des unwahren Ganzen unauffindbar. Jervis hat die Genese von seelischen Leiden auch gegenüber Batesons kommunikationstheoretischem Ansatz(324) differenziert. Die Genese von Psychosen ist multipel, bedingt durch Familie, Vererbung, Konstitution, Validität. Daher ist eine Differenztialdiagnostik von somatischen und sozialen Genesefaktoren der Krankheit wesentlich und unabdingbar. Krankheit ist 'Resultat einer sozialen, psychischen oder organischen Benachteiligung'.(325)
Agostino Pirella, Basaglias Nachfolger in der Anstaltsleitung von Gorizia, adaptiert die Psychoanalyse zur sozialen Entschlüsselung des Symbolgehalts, in dem sich die individuelle Pathodynamik manifestiert hat. Sein Konzept der Verifica zielt auf individualbiografische Verifikation des Niederschlags sozialer Gewalt in den subjektiven Deformationen der Seele.(326)
Maxwell Jones hat bereits 1947 am Henderson-Hospital in London Therapeutische Wohngemeinschaften erprobt. Er ging aus von Lewins Problemlösungskonzept, adaptierte Bions analytische Gruppentherapie, Morenos Psychodrama, Makarenkos Erziehung im Kollektiv. Basisdemokratische Konsensbildung statt simpler Abstimmung wurde Entscheidungsprinzip. Dehierarchisierte Rollen im Personal, wenn auch nicht unter völliger Mitbestimmung der Patienten, demokratisierte die professionelle Hierarchie. Zu den Patienten hin gab es immer Zweiwegkommunikation, nie nur Anweisungen von oben, sondern immer auch Rezeption eines feedback. Entscheidungen wurden weitestgehend nach unten delegiert: dort, wo man Einblick hatte. Freier Gefühlsausdruck der Patienten wurde gefördert durch Tanz, Film, Theater, Feste, Ausflüge. Die Diffamierung durch die traditionelle Psychiatrie, wie später bei Villa 21, war Jones damit sicher.
Das Konzept der englischen Antipsychiatrie mit Therapeutischen Wohngemeinschaften wie der Villa 21 und Network (darunter Kingsley Hall) basierte auf dezentralen, gleichberechtigten, psychotherapeutisch begleiteten Lebensgemeinschaften als Moratorien und dem normalen gesellschaftlichen Anpassungsdruck entzogenen Schutzzonen auf Zeit. Es nimmt für bestimmte Fristen die Patienten/Mitglieder aus ihrem pathogenen Milieu heraus, baut nicht auf gemeindenahe Bewältigungspotentiale, sondern auf die Selbstheilungspotentiale der normabweichenden Gruppenmitglieder. Dehierarchisierung der Arzt-Patienten-Rollen, aufmerksame Nicht-Einmischung, freie Zeiteinteilung sorgen für einen relativ großen Spielraum für die Entfaltung der psychotischen Intentionen. Hier ist als Alternative gegen die Klinik ein Selbsthilfekonzept in Verbindung mit professioneller Hilfe verwirklicht, was aufgrund seiner subversiven Qualitäten politisch abgewürgt wurde. Zum Druck von oben und außen kam auch ein innerer Zerfall wegen des Inseldaseins im Konflikt mit den Normen der Gesamtgesellschaft, es gab regelhaft Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung ins alte Milieu. Zudem waren Schwergestörte kaum integrierbar, denn der trotz allem vorhandene Gemeinschaftszwang der Gruppe reproduzierte die verinnerlichte Repression der Gesamtgesellschaft.
Die Demokratischen Psychiatrie hat in Gorizia, Arezzo, Emilia und Triest die Klinik als Faktum nicht aufgehoben, sondern bewußt beibehalten, aber reformiert. Sie hat so eine Öffnung der Irrenhäuser zur Gemeinde hin unter Mitbestimmung von Insassen und Vertretern der Kommune (KPI-Mehrheit) erreicht. Zu den Forderungen der Psychiatriereform gehörten: 1) Zwangseinweisungen drastisch einschränken oder sogar abschaffen. 2) Patientenrechte müssen an Grundrechten der Persönlichkeit orientiert sein. 3) Offene Stationen sollen Oasen für Überforderte sein, Inseln statt Gefängnis. 4) Mitbestimmung der Patienten über Therapie, Institution, Finanzen, Konzeption. 5) Abschaffung oder starke Einschränkung von Chemoknebeln, chirurgischen Eingriffen ins Hirn (Lobotomie), Elektro-Schocks, Zwangsjacken.
Als Alternative zu sofortigen Zwangseinweisungen hat die italienische Demokratische Psychiatrie Kriseninterventionsdienste ohne Polizei und Psychiater initiiert, die mit Selbsthilfegruppen Ähnlichkeit haben. Dies ist zugleich eine Prophylaxe durch eine dezentrale Gemeindepsychiatrie, basierenden auf kommunaler Basisdemokratie, die im präklinischen Stadium regulierende Hilfen anbietet, indem sie das soziale Netz der Betroffenen vor Ort, im Stadtteil, als Bewältigungspotential aktiviert.
Politische Arbeit für eine weniger pathogene Umwelt, Arbeitsverhältnisse, Familienverhältnisse, Schulverhältnisse gingen mit der Psychiatriereform einher. Auf gegenseitigem Verstehen anstatt auf Leistungen aufgebaut, sollte eine eher mutterrechtliche Bedürfnisorientierung das Zusammenleben durchdringen. Eine Vernetzung von psychiatrischen Institutionen mit Gewerkschaften und kommunalen Gremien (KPI) sorgte für Basisdemokratie. Es gab eine Öffnung der Abteilungs- und Vollversammlung für Außerklinische. Damit wurde die soziale Isolation der Klinik durchbrochen. Die Mitbestimmung der Patienten wurde beschränkt auf Fragen des Zusammenlebens und der Freizeitgestaltung, sie galt nicht für Entlassung, Urlaub, Überweisung, Therapieform.
Auf der Grenze zwischen gemeindenaher Psychiatrie und Gemeinwesenarbeit formieren sich zahlreiche Projekte, die von der Antipsychiatrie oder der Demokratischen Psychiatrie Italiens inspiriert sind.(327) Dabei ist der Ausgangspunkt, die verhaltensauffällige Symptomatik eines Menschen als Aufschrei des Protestes und zugleich als Selbstheilungsversuch einer vorgängigen Verletzung durch die Lebenszusammenhänge zu begreifen und bewerten.(328) Besonders mit der Erfahrung von Stigmatisierung und Freiheitsberaubung konfrontiert sind Selbsthilfegruppen von Psychiatrie-Opfern.(329) So hat das SPK Heidelberg, die SSK oder die Irrenoffensive Berlin einiges zur Demokratisierung der Psychiatrie durch Aufdeckungsarbeit beitragen können; Mißstände in diesen totalen Institutionen wurden öffentlich gemacht, kritisiert und abgemildert.(330) Dennoch halten 'Reformer' wie Dörner und Plog an Elektroschock-Foltern fest.(331)
Die Indikation bei psychischen Unwirtlichkeiten bedarf im Erstgespräch zwischen Interessent und Berater (Selbsthilfe-Unterstützer) einer Auslotung des therapeutischen Verfahrens und der Methoden und Medien, mit denen man gemeinsam lernt, mit einem Leiden umzugehen. Die Beliebtheit von Hunden und Katzen als Gefährten in der Altersvereinsamung nach dem Zerfall der Großfamilien und vor der Universaletablierung von Seniorenwohngemeinschaften oder die immer öfter in den Parks mit ihren Papageien sitzenden depressiven Damen aus gutem Hause zeigen eine funktionsfähige Form des beschädigten Lebens auch bei reduziertem sozialen Netz. Tiere bilden zugleich das generative Thema einer meist spontan entstehenden themenzentrierten Interaktion.(332)
Es ist in vielen Fällen ratsamer, eine intensive Kurz- oder langfristige professionelle Therapie zu wählen. Vermutlich wäre ein Mensch in der Krise einer psychotischen Dekompensation in einer sporadisch tagenden Selbsthilfegruppe so schlecht aufgehoben wie ein Mensch mit Beinbruch, der dringend nach dem sofortigen Eingriff des Chirurgen verlangt. Es sei denn, die Mitglieder sind ähnlich den AA-Leuten zu einem spontanen Notfall-Dienst gegeneinander bereit und mit Dekompensationslogik vertraut.
Wie paradoxe Intention für Menschen vortrefflich ist, die sich wenig von anderen sagen lassen wollen, weil sie das zu Genüge in unguter Weise erlebt haben, sind Selbsthilfegruppen für alle Menschen indiziert, die sich von den Formen autoritativer Weisung eher abgestoßen fühlen und genügend Kraft aufbringen können, um in einer Gruppe Gleichbetroffener aus den Potentialen der Solidarität schöpfen zu können und wollen, deren salutogene Effizienz sowohl die Kraft des revolutionären Widerstands ist als auch die des heiligen Geistes.(333) Empowerment verlangt eine Mindestpower als Baugrund.
Die Indikation wird eine wesentliche Aufgabe des Erstgesprächs eines Interessenten mit der Selbsthilfe-Kontaktstelle sein. Es ist durchaus sinnvoll, zugleich Selbsthilfegruppe und eine Einzeltherapie vorzuschlagen, sofern der Leidensdruck und die Motiviertheit zur intensiven Arbeit am eigenen Selbst dies nahelegen und die Therapie finanziert werden kann.
Die Umstrukturierung der sozialen Netzwerke durch den Zerfall von Familie und Nachbarschaft mit ihrer repressiv-fürsorglichen Hilfskapazität hat einerseits emanzipatorische Möglichkeiten freigesetzt, andererseits krisenhaft Identitätsprobleme heraufbeschworen, mit deren Lösung die neuen sozialen Netze Freundeskreis und Selbsthilfegruppen oft nur schwer umgehen können.(334) Als Gegenreaktion zum familialen Altruismus ist in der Psychokultur ein Narzißmus entstanden, der oftmals unfähig macht zu wirklicher gegenseitiger Hilfe und Solidarität. Diese Egotrip-Mentalität vermindert die Bewältigungspotentiale der neuen sozialen Netzwerke. Glücklicherweise ist sie zumeist dort vorfindlich, wo es auch gar keine wirkliche Not zu bewältigen gibt, etwa in den Weiterbildungsveranstaltungen teurer Therapeutenschmieden wie dem FPI.
Wenn Therapie aus Bewältigung, Klärung und Beziehung(335) besteht, wird in den Selbsthilfegruppen in erster Linie der Bewältigungsaspekt abgerufen, weil fast überall schichtenübergreifend ein überfordernder Leidensdruck des Lebensalltags zur Teilnahme an der Gruppe motiviert. Zur »Kultur des Narzißmus«(336) der Psychoszene gehört die Selbsterfahrung für Mittelschichtler ohne spezifischen Leidensdruck, in der Beziehungsklärung zelebrierbar ist, weil nichts Wesentlicheres zwickt und quält.(337) Beziehungsklärung aber wird allzuleicht zum Terror der Intimität, weil eine überschießende Deutungswut den Anderen verdinglicht als Objekt des chirurgischen Blickes und ihn der strukturellen, kulturellen, ja psychoanalytischen Gewalt unterwirft, indem sie ihre Gesetze als Funktionsgrößen seiner Welt postuliert und propagiert. Der Respekt voreinander kann genausogut Verzicht auf Widerstandskategorien sein, die ja prinzipiell dem freudianischen Gegenübertragungs-Therapeuten sein privates Horrorkabinett lassen; warum also nicht auch dem normalen Selbsthilfegruppenmitglied? Unantastbarkeit menschlicher Würde heißt auch, die Geheimnisse des Anderen nicht zwanghaft knacken und entlarven zu müssen. In Sünde angenommen sein in der Gnade Gottes heißt, wir dürfen alle naturbelassen süchteln, ohne uns bessern zu müssen, wenn es uns zum Besten dient, und was dies ist, definieren wir, nicht der Therapeut oder seine Hobbyvariante in der Selbsthilfegruppe. Universalisierter Geständniszwang (Reik) ist in der Psychoszene immer nur die Kehrseite eines unerschütterbaren Detektivpathos. Wir alle sind Kommissare unserer selbst geworden. Wo lediglich mittelschichtige Beziehungsklärung die Gruppe zusammengetrieben hat, ist kaum stichhaltig von Selbsthilfe zu sprechen, weil Hilfe von Not oder Leid zum Zwecke seiner Aufhebung ausgeht, nicht von satter Langeweile.
Die Hauptmasse aller Selbsthilfegruppen allerdings sind Bewältigungsgruppen in Notlagen, die kaum Zeit lassen für eine gruppendynamische Nabelschau.(338) Will man das Therapienspektrum hier zuordnen, so bieten sich für die verschiedensten Bewältigungsaspekte verhaltenstherapeutische Verfahren an, während für Klärung und Beziehungsaspekte die Abkömmlinge der Psychoanalyse bis hin zur Gestalttherapie paßgenau sind. Wo die Not am größten, versagen analytische Therapien, sind handfeste Hilfen und Eingriffe erforderlich, am ehesten verhaltenstherapeutischer Pragmatismus, noch mehr Solidarität und Gemeinschaft, die nicht nach 55 wöchentlichen Therapieminuten freundlich und bestimmt aufgekündigt wird.
Erst wenn die alltäglichen Unterstützungsressourcen im eigenen Beziehungsnetz und die lebensweltlichen Bewältigungsformen nicht mehr ausreichen und damit zu individuellen Krisen führen, wenn auch die Potentiale der Selbsthilfegruppe nicht ausreichen, um ein Mitglied aufzufangen, etwa bei Suizidalität, Suchtrückfall, schwerer Depression oder psychotischer Dekompensation, ist professionelle Hilfe erforderlich und angezeigt.
Eine etwas andere Möglichkeit, Therapieverfahren in Selbsthilfegruppen einzubringen, ist die befristete Hinzuziehung eines Therapeuten. Beispielsweise wäre in Gruppen von Angstpatienten oder Phobikern hilfreich, Verfahren der systematischen Desensibilisierung, der Reizkonfrontation oder Entspannungstechniken zu erlernen und nach einer Zeit der ausführlichen Anleitung diese Techniken gemeinsam in der Gruppe weiterzuvertiefen, etwa in gemeinsamem autogenen Training, Meditation, Yoga und in gemeinsamem Annähern an gefürchtete Situationen.(339) Depressivengruppen könnten einen Therapeuten ordern, um Becksche kognitive Therapie oder Lewinsohns Verfahren zu erlernen und sich nach der Anlernphase gegenseitig aufmuntern, die attraktiven Seiten benennen und neu in Szene setzen.(340) In Impotenzgruppen könnte ein Sexualtherapeut oder ein Hure als Experten angeheuert werden, um Übungen zur Entspannung oder Erregung und Gespräche über Männlichkeitsmythen in Männerköpfen und das, was eine sinnliche Frau wirklich begehrt, zu führen und so triebgerechtere Phantasmen und Praktiken zu entwickeln.(341)
Die Tendenz, daß immer mehr Interessenten für Selbsthilfegruppen nicht mehr aus der ehemals zentralen Motivation zur selbstbestimmten Bewältigung ihrer Lebensprobleme kommen, sondern oft von Beratungsstellen als NON-YAVIS-Klienten überwiesen werden, not young, attractive, verbal, intelligent and not successful(342), erlaubt, vermehrt von Gruppen auszugehen, die nicht mehr autark arbeiten können. Das Spektrum von autonomen, teilautonomen und eher hilflosen Selbsthilfegruppen wird sich zunehmend auffächern und verlagern. Man kann die hilflosen Gruppen dann entweder auffliegen lassen - ich nehme unbewußt immer die hegemoniale Gemeindepfarrer-Perspektive einer psychosozialen Versorgungsverantwortung ein - oder sie fragen, ob sie therapeutische Hilfe haben wollen und ihnen diese auf Wunsch vermitteln, nachdem man genau gemeinsam überlegt hat, welche Art von Hilfe und Therapie die Beste wäre. Die Entscheidungshoheit hat natürlich immer die Gruppe, aber ein Hilfsangebot des Selbsthilfe-Unterstützers bedeutet noch keinen Angriff auf diese ja offenkundig sehr porös gewordene Autonomie.
Hier hätte der Selbsthilfe-Unterstützer ein weiteres Arbeitsfeld: Er könnte Vermittler, Vernetzer und Organisator solcher Zeitaufträge für Professionelle sein.(343)
1) Er könnte einen Pool von Kontaktadressen einschlägiger Therapeuten und anderer Experten verwalten und auf Anfrage aus seiner Datei ausdrucken oder Kontakte selbst herstellen. Es müssen nicht professionelle Experten sein, sondern können auch Erfahrene aus ehemaligen oder anderen Selbsthilfegruppen sein. Auch sie könnten über Honorare finanziert werden.
2) Er könnte bei der ortsansässigen Therapeutenzunft und in vorhandenen Selbsthilfegruppen kompetente Leute werben, die bereit sind für solche Gastdozenturen. Dabei könnte er in Vorstellungsgesprächen einen Gesamteindruck von den verfügbaren Therapeuten gewinnen und eine ungefähre Differenzialdiagnose geben, welcher Therapeut für welche Gruppe ideal, geeignet, zumutbar oder völlig kontraindiziert ist.
3) Er könnte aus der Lektüre von Evaluationsforschung einen Überblick über die Leistungsfähigkeit der einzelnen Therapieverfahren gewinnen und weitervermitteln, um Gruppen nicht mit ineffektiven Verfahren zu frustrieren.
4) Er müßte bei Kommune und Krankenkassen die Finanzierung dieser Maßnahmen durchsetzen. Daß eine solche befristete Gruppentherapie in einer Selbsthilfegruppe wesentlich billiger ist als die vielfache Anzahl von Einzeltherapien, muß eigentlich jeder Kasse und jedem Sozialamtsbürokraten einleuchten.
Für Therapeuten ist diese befristete Mitarbeit in einer Selbsthilfegruppe schon deshalb attraktiv, weil dabei die Möglichkeit besteht, potentielle Klienten kennenzulernen und sich selbst mit seinen Kompetenzen und seiner Persönlichkeit vorzustellen, eine gute missionarische Gelegenheit. Für die Einzeltherapie suchenden Gruppenmitglieder ist es umgekehrt eine gute Gelegenheit, einen Therapeuten zu beschnuppern, bevor man sich in seine Praxis wagt. Durch diese informellen Kontakte ist eine wesentlich bessere Auswahl von Therapeuten möglich als durch die Mundpropaganda(344), die doch immer stark subjektiv gefiltert ist und meist mehr über den Berichterstatter mitteilt als über den begutachteten Therapeuten.
In den Gruppen, die mit ihren Bewältigungsaufgaben gut stabilisiert sind und sich ein zusätzliches Gutes tun wollen und können, in Gruppen, die auseinanderbrechen, weil die Beziehungen zu verwickelt sind, könnte auch die Klärungsebene und Beziehungsebene das Arbeitsfeld eines analytisch orientierten Therapeuten sein. Auch reine 'Wachstumsgruppen' sind im Spektrum der Selbsthilfegruppen vorhanden und hier wäre möglicherweise auch der Ort für den Einsatz von Gestalttherapeuten, humanistischen Therapien und esoterischer Verfahren. Allerdings wird man zu streiten haben, ob diese Wachstumswünsche nicht Notleidender öffentlich finanziert werden sollten, solange für die schwersten seelischen oder somatischen Problemgruppen das Geld nicht ausreicht.
In dem Augenblick, wo ein Therapeut den Raum betritt, nein: schon vorher in der Imagination, übt er Macht aus. Der Klient oder die Mitglieder der Selbsthilfegruppe allerdings ebenso. Selbsterübrigung als Legitimation professionellen Handelns ist nur dann statthaft, wenn es nicht zu einer Dauereinstellung eines Helfers wird. Denn ein Mensch, der nur Vorbereitungen für sein Verschwinden trifft, ist gar nicht wirklich da und transportiert zugleich eine Selbstrücknahme, Selbstnegation, die bei den anderen via Modellernen ebenfalls zu einem hochproblematisch negativen Selbstbild führen kann. Für Menschen, die Hilfe brauchen, wäre diese Botschaft: ich bin nichts wert, die denkbar Schädlichste aller Mitteilungen. Selbstrücknahme als Ausdruck der Vollmacht eines Helfers ist nur dann stimmig, wenn er ein genügend sicheres soziales Netz hat, in dem er sich getragen und wertvoll weiß. Die Arbeit Professioneller auf Zeit erfordert also ein hohes Selbstbewußtsein und die Fähigkeit, mit Nähe und mit Abschied auf eine souveräne Weise umzugehen. Nur dann ist auch der gegenteilige Effekt, sich unersetzbar machen zu wollen, weil man insgeheim um die eigene Überflüssigkeit ahnt, nicht mehr virulent. Erst so ist ein gleichberechtigtes Miteinander möglich, was nicht in Dominanzgebaren oder Graue-Eminenz-Im-Hintergrund-Spiele ausartet. Gerade hier und überhaupt lerntheoretisch ist Lacans Analytiker mit zugenähtem Mund und Selbstverleugnung als Generator der Phantasmata kontraindiziert. In der Depressionstherapie ist seine Auferweckungskraft gefragt, bis hin zum Arschtritt, und es wäre fatal, würde er sich dieser Macht aus abstrakten permissiven Grundsätzen heraus begeben. Es geht um einen kontrollierten, transparenten Umgang mit der Macht, nicht um Verzicht oder Verleugnung, ohne indessen in ihre gruppendynamische Anbetung zu verfallen, indem man Alpha-Tiere, Störenfriede oder Gruppenschwächste mit ihrer Tempominderungsmacht zu bestimmen sucht. Freiheit entsteht dort, wo ein Mensch dem anderen Gelegenheit gibt, sich zu der von ihm ausgeübten Macht annehmend oder ablehnend zu verhalten, ohne davon zugleich alle Sympathie oder die Zukunft der Beziehung abhängig zu machen. Macht muß nicht bevormunden im Sinne liebesorientierter Erziehungsstrategien. Macht muß nicht Verunmöglichung der Autonomie des Anderen sein. Sie wäre es, wo sie die Bewältigungsmöglichkeiten und Kompetenzen des Anderen aberkennt und nur die eigenen Routinen als Kompetenzen ettikettiert. Oft kann das Eingeständnis eigenen Unvermögens die Selbstblockade durch Allmachtszuschreibungen auf Professionelle in einfachen Leuten aufheben und allein dadurch schon ihre eigenen Potentiale wieder in Fluß bringen. Läßt sich der Therapeut nicht zur allmächtigen Mutter machen, kann er auf die Kraft von Gleichen, ja gleich Starken zählen. Das stärkt die Gruppe. Soll die Selbsthilfegruppe eine solche bleiben und nicht zur Rebirthing-Truppe regredieren, ist die Übernahme oder gar Förderung von Eltern-Übertragungen verfehlt. Für Nachbeelterungstherapien ist die Gruppe schon gar nicht der richtige Ort, eine Bearbeitung früher Störungen gehört in eine langfristige Einzeltherapie.
Eine Pädagogik oder Therapie der Unterdrückten entnimmt die generativen Themen und Lernpotentiale der Situation vor Ort, knüpft an die Power der Unterdrückten, ihre Bilder, ihren Slang an. Es geht um Empowerment, um Stärkung der Gruppe, indem man an jedem seine Stärken mit Freude und Wohlgefallen bejaht - als Kehrseite der Wut über das Unrecht, was einen zusammengeführt hat. Es geht auch um Reflexion der sozialen Folgen eigener Machtausübung - und dazu muß man sie ausüben, nicht nur in der Gruppe, sondern vor allem auch nach außen, politisch. Hier kann ein Therapeut paradigmatisch Boden schaffen und animieren. Ich hoffe, an Jesus gezeigt zu haben, wie dieses Empowerment und seine Vollmacht Gestalt angenommen hatten.
Eine Wiederzuwendung zur kirchlichen Tradition nach Beschäftigung mit der Freiheiten und Zwängen der therapeutischen Arbeit und Theoriebildung in analytischer Absicht im Mittelteil dieser Arbeit, meiner 'summa theologiae' ist für mich die Korrespondenz mit einer biografisch sehr frühen Liebe. Ich habe Jesus nicht geliebt, weil man es mir aufgeschwatzt hat. Dieser Mann hat einen eigenen Reiz, durch alle Verzerrungen der Verehrung hindurch. Es ist der Versuch, den während der Studienzeit sehr apodiktisch-programmatischen Atheismus bei gleichzeitigem Fasziniertsein von der Person Jesu zu fundieren durch den Nachweis, daß alle Bestandteile des Propriums unseres Glaubens, die Spezifika des geoffenbarten Wortes Gottes, der christlichen Tradition, in ihrer behaupteten historischen Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit, aus der sich ihr Absolutheitsanspruch begründet, Abklatsch und Raubkopie früherer Religionen ist, Konglomerat und Synkretismus diverser mythologischer Vorläufer, und nichts Eigenständiges. Es ist nicht von Gott originell inspiriert, das Wort der Bibel, sondern verdankt sich einer über Jahrtausende herausentwickelten Kette orientalischer Religionen. Ich glaube an Jesus als Weg, Wahrheit und Leben.(Joh 14,6) Ich glaube an die Kirche als Gemeinschaft der SünderInnen. Aber ich teile nicht den Glauben der Kirche an Jesus als Delegationsversuch eigener politischer Weltverantwortung an den, den die Welt hingerichtet hat. Ich teile nicht den perennierenden Vergottungsprozeß, die Erhöhung Jesu zum Weltenrichter bei gleichzeitiger rigoroser und flächendeckender Mißachtung dessen, was als gut gesichert von ihm als Wille Gottes überliefert wurde. In den Diakonischen Bereichen der Kirche ist die Bemühung um Orthopraxie erkennbar, wenn auch überlagert von wohlfahrtsverbandlicher Institutionalisierung organisierter Nächstenliebe. In der Verkündigung aber wird pausenlos, flächendeckend und uns Pfarrer via Ordinationsgelübde als Berufszulassungsbedingung aufgenötigt die Unwahrheit über Jesus, den Mann der Wahrheit, gepredigt. Das Licht der Welt, gekommen ein Feuer anzuzünden, wird als zahmer Weichspüler schmutziger Westen im Jenseitshimmel verkauft, weil nur so die kirchlichen Steuereinnahmen florieren.
Wenn Gott als Movens und Logos der Weltmaterie die Tendenz der Liebe und ihre solidarische Durchsetzung als normative Macht in der Welt hat, so ist dieser Anspruch der Kirche, die Liebe zu befördern und damit das heimliche Wesen dieser Welt zum Vorschein zu bringen, heute nur noch peripher innerhalb der Kirche auszumachen, dafür aber um so mehr in den neuen sozialen Bewegungen, zu denen auch die Selbsthilfebewegung und auch die professionalisierten Hilfsangebote des Sozialstaates und der freien Träger gehören, soweit sie nicht ebenso ideologisch und sozialtechnologisch verharscht sind. In Wort und Tat geht es um eine universale, weltreligionsübergreifende, weltanschauungsübergreifende Einheitsfront im Kampf der Verwirklichung des göttlichen Wesens der Liebe, des Friedens und der Gerechtigkeit.
Das impliziert für das Selbstverständnis der Theologie die Ablösung von ihrer verengten Perspektive auf die als christlich ettikettierten Texte und den Übergang zu einer Weitung der Perspektive des Offenbarungsgeschehens auf das Welt-Gesamt der religiösen Überlieferung und seiner immanenten christologischen Tendenz(345) der Beförderung der Liebe in einer nicht eben liebevollen Welt. Nicht die Namen Gottes sind dem göttlichen Wirken im Unbewußten der Menschen wesentlich, sondern die Gleichnisse und Narrationen seines Heilshandelns als - mit Jesu Gleichnissen gesprochen - gütig vergebende und alle, auch Böse und vorzugsweise die Kranken, Krüppel und gesellschaftlich Ausgegrenzten, ernährender Vater, als nächtlich überraschender Bräutigam, der seine Geliebte mit seiner phallischen Kraft erfüllt und ihre Zukunft sichert. Hier sind Bilder einer noch ganz und gar uneingelösten Humanität erwachsen, die kulturübergreifende politische Modelle von Solidarität mit den Hilflosen ergeben. Solche Gottesbilder werden als gute innere Objekte individuell prägend und prägnant und erreichen darüber ihre kulturell-politische Wirksamkeit. Eine Kirche, die Waffen segnet und neben Polizeipfarrern und Militärpfarrern nur deshalb keine Mafiapfarrer abstellt, weil die Mafia ohnehin inoffiziell schon beste und höchstrangige geistliche Betreuung genießt, straft sich Lügen, wofern sie beansprucht, Christum zu treiben und zu verkündigen.
Dafür kann man von einer großen und verwickelten Geschichte der wechselseitigen epochalen Affizienzen der Religionen sprechen, die aus sich die Dynamik immer neuer Bildung von Synkretismen freisetzen. In der Geschichte der Religionen gibt es durch die Verwebungen multipler mythischer Perspektiven immerfort Neubildungen von Gottesvorstellungen. Die Glaubensgeschichte ist ein infiniter Prozeß fortschreitender Entbarbarisierung und Humanisierung mit dem Motor des homo absconditus in absconditas dei. Dabei ist die Affinität der religiösen Vorstellung mit dem Fortschritt der Produktivkräfte und dem Strukturwandel der Produktionsverhältnisse maßgeblich für ihre mögliche historische Rolle als Bedeutungs- und Hoffnungsträger von Subkulturen einer Gesellschaft.
In ihren Mythen transportiert sie die sozialen und materiellen Wünsche einer bestimmten Gruppe der Gesellschaft und wird so zu ihrem ideologischen Vehikel. Die alte Diskussion über Moral und Anpassungsideologie erhält etwa durch die profaschistische Option der katholischen Kirche im Hitlerreich eindrücklichste Illustration der menschenverachtenden Ausformungen und Entartungen der christlichen Tradition durch die Interesseleitung des sie aktualisierenden Priesterstandes. Der Klerus schreibt die psychischen Deformationen seiner Mitglieder zu Wesensmerkmalen Gottes um, ihren sadistischen Autoritarismus und ihr Bangen um ihr Ansehen im Angesicht des materialistischen Zeitalters der Aufklärung mit seiner Auflösung der Legitimationsgrundlagen kirchlicher Macht. Hier wird nicht Gottes Liebe in der Tat praktiziert, sondern unter weitgehender Ausblendung des Strukturwandels der Öffentlichkeit und ihres Lebens eine anachronistische Gegenwelt organisiert, die den Kontakt zur sozialen Realität weitgehend eingebüßt hat, weil die Lebensinteressen des Klerus von denen der übrigen Bevölkerung auch finanziell völlig abgekoppelt sind. Weil die Kirche sich immerfort nur selbst zu reproduzieren versucht, verliert sie ihre Substanz, die nach der Dialektik Christi in der Bereitschaft besteht, das angeblich Eigene und Eigentliche aufzugeben, um in seiner Nachfolge sich der Welt jeden Tag neu zu öffnen. Die Kirche hingegen ist vollauf damit beschäftigt, die Toten zu begraben.
Mit Whitehead(346) kann man von dem fortschreitenden Prägnantwerden der Gottesidee in den multiplen Manifestationen der Weltreligionen sprechen. Im Fortgang dieser Glaubensgeschichte als dem Wechsel der Bilder und Mythen von Gott schreibt sich als heimliche Tendenz, unabhängig von den Propheten, Religionsstifter und Heiligen, unabhängig von den Namen Gottes und denen seiner Manifestatoren, der Kinderwunsch nach einer heilen Welt in die Geschichte ein. Diese Hoffnung kann nicht mehr vergessen oder verdrängt werden: daß Gott die Tränen abwischt, daß kein Leid mehr ist. Hier findet das Lustprinzip seinen unmittelbarsten und sublimsten Ausdruck zugleich. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die Ideale der französischen Revolution, kennzeichnen auch die Ideale Jesu. Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung sind nur andere Formulierungen dieses Ideals, die heute den Status des höchsten Guts und der Abwendung der Weltselbstvernichtung zugleich tragen. Mit der Brüderlichkeit, der Solidarität Zarathustras mit dem untersten Hirtenstand, der Option Jesu für die Armen, mit der Geschwisterlichkeit der Gemeinschaft der Heiligen, zu der wir alle gehören oder keiner, ist die große Hoffnung auf eine erfahrbare Liebe Gottes sozial gestaltet worden. Die Solidarität Jesu mit den Leidtragenden ging bis zum Tod am Kreuz. Immer wieder und immer noch hat es brutale und bestialische Menschenopfer im Namen von Göttern gegeben, die meist das Ansehen auch der politischen Machthaber steigerten. Indem Menschen die Solidarität Jesu bewundern, mindern sie nicht die Wertschätzung, die sie den vielen anderen Engagierten entgegenbringen; sie findet vielmehr in diesem Mann und seiner Lebenskunst ihr Symbol, welches davon entlastet, sich selbst zum Symbol werden zu müssen, keimfrei sündlos und ausnahmslos immer nur solidarisch sein zu müssen. Die Bewunderung Jesu schaffte damals eine Solidarität engagierter Menschen und die Jesusbewegung war in all ihren Merkmalen eine Selbsthilfebewegung, deren Empowerment nachhaltig in der Geschichte gewirkt hat, trotz aller und neben all der Grausamkeit der Amtskirche. Jesus ist Symbol, Prototyp und Gleichnis von Freiheit gegenüber den herrschenden Rechtsnormen, von Solidarität, Vergebung und Brüderlichkeit geworden.
Was interessiert dies die Psychoszene? Die Sehnsucht nach Ganzheit und leibhaftiger Erfahrung ist in der Wendung der Psychoszene zur östlichen Religiosität und Philosophie, zu Yoga, Zen und Meditation zu einem ernstzunehmenden Gegenpol zur kirchlichen Verkündigung geworden. Perls ging 1962 im japanischen Kyoto ins Zen-Kloster.(347) Ich will durch den Aufweis der indoeuropäischen Gemeinsamkeit zwischen indischer Philosophie und christlich-mystischer Tradition(348) zeigen, daß das heutige Interesse am rechten Weg (Tao, Yin und Yang auf Autoaufklebern) durch Meditation nur eine historisch weit zurückliegende Einheit des religiösen Erbes rekapituliert, ohne sich dessen irgend bewußt zu sein. Nicht weil es exotisch ist, ist das östliche Denken von der Einheit der Gegensätze so populär geworden, sondern weil es zutiefst in unserer eigenen Tradition eingeschrieben und vergessen ist zugleich. Hegels dialektische Philosophie hat die Einheit der Gegensätze nach der kartesianischen Deduktionslogik neu in den abendländischen Diskurs gebracht und ist von der marxistischen Theorie als Logik von Materie, Natur- und Sozialgeschichte erkannt worden. Dieses Denken hat sich allerdings in der Bevölkerung nicht breitflächig durchsetzen können, erlebt aber heute in einer auf die Ebene der Interaktion verkürzten Version einen parareligiös ausformulierten Boom.
Beerbung der Religion geschieht entweder bewußt oder unbewußt. Wo es in der Therapie schon um Bewußtwerdung geht, ist die Aufklärung des für alle Helfer unseres Kulturkreises bestimmend gewordenen religiösen Erbes nicht uninteressant, wenn auch nicht gerade heilsnotwendig, sowenig wie Supervision.(349) Gegenüber einer amerikanistischen, sich pragmatistisch gerierenden Ausblendung des Geschichtlichen ist die psychoanalytische Theorie sich immer bewußt gewesen, in wie vielem wir uns massiv und unbewußt aus den Konditionen des Vergangenen verdanken. Aus diesem Grund scheint mir der fragmentarische Durchgang durch die zur Religionsgeschichte erweiterte Perspektive der Theologie instruktiv, um die heimlichen ethischen Prämissen heutiger Therapie und Sozialarbeit auf ihrem kulturellen Hintergrund aufzuhellen.
Ich behaupte, daß heute eine nicht-hegemoniale Sozio- und Psychotherapie die gegenüber den rituellen kirchlichen Hilfsangeboten effektivere und authentischere Fortsetzung und Reaktualisierung des Handeln Jesu darstellt. Die alltägliche Psychotherapie ist sicherlich nicht per se die Erfüllung und Einlösung der Utopie von Zwiesprache und Vergebung, Befreiung vom Bann der Sünde als der Entfremdung aus dem ursprünglichen Dialog. Aber sie ist klarer ausgerichtet auf diese Bewegung des Herzens. Die Medien des Gefühlsausdrucks sind in den vielfältigen Verfahren der Körpertherapie vom kirchlichen Modellieren, Malen, Musizieren, Singen, Theaterspielen(350) und Sprechen ausgeweitet auf den Ausdruck des »Bösen«, den Schrei, die Wut, den Haß. Damit werden kirchlich nicht lizensierte Bedürfnisdispositionen neu eingeholt in den Kontext der Sprachspiele und Körperspiele.
Wie Meditation Gotteserfahrung ist, soll auch Therapie Gotteserfahrung sein. Dies ist nicht anmaßend, sofern Gott als Kraft der Liebe, der Freiheit, der Brüderlichkeit und der Vergebung nicht die Ausnahme, sondern die zu wünschende und zu befördernde mögliche Regel, die Realität des alltäglichen Lebenszusammenhanges ist. Meditation und Therapie sind Weisen des Friedenschließens mit sich, so wie man ist, oft vermittelt über einen Menschen, der aufgrund seiner Selbstakzeptanz fähig ist zur Akzeptanz seines Klienten. Diese Versöhnung mit seiner eigenen Konstitution und Genese, seinen Stärken und Schattenseiten mündet in Dank und tiefe Freude und Teilnahme am Sein auch der anderen. Dieses mein Leben resultiert bei aller Selbstverantwortung eben nicht nur aus eigener Kraft, sondern verdankt sich der Mühe, ja dem Leid anderer, der Eltern, der Generationen von Lohnarbeitern und Sklaven in Abendland und Dritter Welt. Wir leben nicht allein für und aus uns selbst. Wir werden gehalten und getragen von der akkumulierten Überlebensorganisation unserer Kultur und Gesellschaft.
Der Wahrheitsgehalt der religiösen Einsicht soll dem der psychotherapeutischen Einsicht entsprechen. Freuds metatheoretische Entwürfe hatten zur Kritik der Zwanghaftigkeit des Rituals in der Religion geführt, ohne das Ritual der analytischen Grundregel gleichermaßen reflektieren zu können. Mit der Vorgabe von Inzesttabu und Ödipuskomplex als dem Zentralproblem der Menschen war Freud zwar fähig, die Brutalität vieler Rituale mit ihren offenen und verdeckten Menschenopfern aufzuspüren, mußte aber an den solidarischen Impulsen scheitern, die mehr sind als die Furcht der Brüderhorde vorm strafenden Vater. Mutualität und die Atmosphäre der Gleichnisse Jesu von den unverhofften Freudenfesten Gottes mit den Ärmsten lassen sich unter der Perspektive des Kampfes von Es, Über-Ich und Ich um die Selbstbeherrschung nicht verorten.
Gott ist die Erfahrung wechselseitiger Liebe, Hilfe, Solidarität. Sie wird in der Kirche so sehr gepredigt wie institutionell behindert. Gott wird erfahrbar in Vergebung, im Annehmen des Ist-Zustandes ohne jedes Ideal und ohne jedes Wenn und Aber. Das ist das Ende aller extrinsischen Zwanghaftigkeit. Gerade dies ist weder in Kirche noch im Therapievollzug möglich. Freud hatte zur kirchlichen Sexualdressur deshalb ein solch kritisches Verhältnis, weil seine eigene Regel den Orden der Analytiker auf weit mehr Keuschheit verpflichtet als der Klerus jemals imstande war, durchzuhalten.
Angesichts der weltweit perennierenden Massaker und des mit struktureller, juristischer Gewalt fortgeschriebenen innergesellschaftlichen Klassenkampfes zwischen beständig neuen Klassenbildungen um die Verteilung der Güter werden die Zweifel an der Berechtigung von Hoffnungsgehalten wie Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, Bewahrung des Lebendigen, Schutz des (nicht nur ungeborenen) Lebens unausräumbar. Traditionell werden sie Anfechtungen des Glaubens genannt: Sind hier nicht anachronistische Phantasien früherer Epochen festgehalten gegen jede erkennbare Tendenz des Weltgeschehens? Hat die gemeinsame Heilsintention von religiösen Hoffnungen und therapeutischer Globalzieltaxonomie eine realistische Chance in einer vom Kapital beherrschten Klassengesellschaft, in der sie bestenfalls die mittleren Klassen individuell restaurieren kann, während die unteren Klassen von einer pharmakologisch fixierten Psychiatrie bei Auffälligkeiten sediert und kaserniert werden?(351) Wird es uns gelingen, an einer Gesellschaft zu bauen und zu hüten, in der die Menschen einmal nicht mehr unter solchen Belastungen leben müssen, daß sie psychisch oder physisch krank werden, um der Last zu entkommen? Ist eine Kultur der Humanität langfristig durchsetzungsfähig in einem radikal konkurrenzorientierten Spätkapitalismus und seinen sich verschärfenden Krisen? Therapie als Kitt an der destruktiven Sozialordnung? Aber kann die Konsequenz dieser Einsicht sein, die Sorge um die Ärmsten, die Erkalteten, aufzugeben? Soll Therapie resigniert zur Neuauflage der merkantilen Arbeitshäuser geraten, zum Sarglager für die auf der Strecke Gebliebenen? Wieviel an historischem und wieviel an utopischem Recht hat also die Hoffnung, die sich am Grab noch aufrichten läßt? Braucht diese Hoffnung ein historisches Recht, muß sie sich ausweisen durch vergangene Erfolge therapeutischer Weltverbesserung? Oder ist diese Hoffnung eine vom Beweis enthobene, da sie sich auf etwas richtet, was so noch nicht gewesen ist, was nicht schon erreicht ist, sondern erst noch zu erreichen?
Auch bei der Erfindung des U-Boots war der Beweis, daß man unter Wasser fahren kann, erst am Ende erbracht. Die Erfindung einer gesunden Gesellschaft ist ebenso nicht vorab als erfolgreich erweisbar. Von diesem Prozeß des Heils gibt es in der sich über Synkretismen verwandelnden Geschichte der Manifestationen von Gottesbildern und Menschheitshoffnungen keine Erfolg garantierende und ein-eindeutige Tendenz-Latenz, nachweisbar wie Aids-Viren, sondern diese Hoffnung kann lediglich geglaubt werden und man kann um sie kämpfen mit der täglich mühevoll-liebevollen Arbeit des wechselseitigen Lernens und Lebens.
Meine Ausgangsfrage nach der analogia entis: handelt es sich in der Heilung der Psycho-, Somato- und Soziotherapie um das Heil Gottes in einer seiner heute unentbehrlichen Gestalten, habe ich bei aller Kritik von Selbstvergottungstendenzen in der Therapeutenszene(352) implizit schrittweise mit Ja beantwortet, ausgehend von einer traditionellen theologischen Position, die das Heil Gottes für die nicht-eintreffen-wollende Endzeit und vorscheinhaft in besonders sorgfältig angelegten Liebesritualen der kirchlichen Sakramentalpraxis(353) reserviert hatte.
Unter den Entsprechungen von Theologie und Therapie war eine die Theorie der Liebe; ob Emanation der Libido aus ihrem großen Reservoir ans geliebte Objekt oder Emanation der Liebe Gottes an die geliebte Welt durch den gnostischen Erlöser, die Weisheit, den Logos, den Sohn.(354) Darin war der zentrale trinitarische Bezug der Christologie aufgegriffen. Diese in Theologie wie psychoanalytischer Metatheorie rein spekulativ-mythologische Perspektive wollte die Reflexion auf den historischen Jesus als das fleischgewordene Wort Gottes veranschaulichen und verleiblichen. Die Lebenskunst Jesu hat wesentliche Momente mit der therapeutischen Technik gemein(355), allerdings mit der Freudschen Theorie bestenfalls die Unverführbarkeit, konvergiert aber stark mit dem Hier- und Jetzt-Prinzip von Perls. Das Vergebungshandeln Jesu findet Entsprechung im Akzeptanzprinzip der Therapie: alles zuzulassen und damit dem Verdrängten die Erlaubnis der Rückkehr ins Bewußtsein geben. Das dialogische Leben Jesu findet therapeutische Entsprechung in der behaupteten, strukturell aber prinzipiell unmöglichen Überwindung der Übertragung, die realiter bestenfalls die Rücknahme partieller Projektionen und Balken im Auge beiderseits wäre, motiviert durch die Taxonomie einer mutuellen Begegnung: dann wird man mehr sehen und hören, weniger vermuten und hineingeheimnissen. In einer letzten Tiefung läßt sie dem Anderen seine Geheimnisse und liebt ihn im Stande des homo absconditus, des in seiner Menschlichkeit noch unfertigen Menschen.
Die Vollendung der Schöpfung als Heilswerk des in der Materie und dem Unbewußten wirkenden Gottes zu einem universalen Friedensreich wird nicht durch psychische Widerstände oder solche der äußeren Natur gehemmt. Noch nie hatten wir soviel Essen auf dem Globus wie heute, noch nie starben so viele an Hunger. Das Böse ist in Wirtschaftsstrukturen des Kapitalismus manifest, in einem nicht mehr bedürfnisorientierten, verselbständigten Willen zur Macht um den Preis der Vernichtung von Leben. Solange die gesellschaftlich verfügbare Macht in den Händen einer Oligarchie machtbesessener Herrschaftseliten liegt, solange Demokratie nichts anderes ist als freie Wahl austauschbarer und sich gleichender Führertypen, ist der Handlungsbedarf nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung, einer demokratisierten Weltinnengesellschaft und einem Welt-Sozialstaat mit einem Optimum freier Selbstgestaltung der Produktions- und Versorgungsverhältnisse unter flächendeckender Sicherung der materiellen Grundbedürfnisse aller ein Ziel, welches nur mit der Kraft der Solidarität und nur unter partiellen Entbehrungen in friedlichen Kampfformen zu erreichen ist. Heiliger Geist als Kraft der Schwachen wird nicht in den Aufmärschen der Offiziellen erfahrbar, sondern in den Ritzen und Winkeln der engagierten sozialen Bewegungen. Sie sind allesamt Selbsthilfe für eine bessere Welt, die man leider nicht den Politikern einfach überlassen kann und darf. All diese Initiativen sind und bleiben immer Tropfen auf heiße Steine. Wir brauchen davon unendlich viele. Jeder und jede kann atmen und tropfen.