Standorte:
2.1.1 Pastoralpsychologie: Integration der Psychoanalyse in Theologie 435
2.1.2 Thurneysen: Anfangs theologische Skepsis gegen Psychotherapie 437
2.1.3 Barth/Bultmann: Psychoanalyse als Hilfsmittel kundigen Glaubens 439
2.1.4 Tillich: Korrelation zweier Interpretationsweisen im Dialog 441
2.1.5 Entäußerung der Theologie und Gewinn von Heilungswissen 444
2.1.6 Plausibilität des Evangeliums und Evidenz des Glaubens 445
2.1.6.1 Postmoderner Pluralismus und Vielfalt des gelebten Lebens 447
2.1.6.2 Glaubwürdigkeit als multidimensionale Evidenz im Diskurs 448
2.1.7 Ungenügen an kirchlicher Verkündigung und esoterische Wende 450
2.1.7.1 Orthopraxie als Bewährung des rechten Glaubens 450
2.1.7.2 Kirchliche Defizite in Dogma, Orthopraxie und Spiritualität 450
2.1.7.3 Kirchensoziologie: Vom Kirchenglauben zur Psychotherapie 452
2.1.7.4 Recht auf Geborgenheit und Anfechtung als Glaubensmotor 454
2.1.7.5 Dimensionen eines abgespeckten Glaubensbekenntnisses 454
2.1.8 Wiederentdeckung der Weib- und Leiblichkeit in der Theologie 455
2.1.9 Messianische Gestalt der Hoffnung und seelisches Heilwerden 458
2.1.9.1 Zur historisch-materialistischen Bibelauslegung 458
2.1.9.2 Glaubensgeschichte als Bildungsgeschichte der Gottesbilder 460
2.1.9.3 Jesu Gottheit als Utopie einer geheilten Menschlichkeit 465
2.2 Der Schöpfer und seine Einwohnung in der Schöpfung 467
2.2.1 Gott im Unbewußten: Reformulierungen natürlicher Theologie 467
2.2.2 Freud: Religion und Glaube als mythischer Wunsch 468
2.2.3 Der Gott der Väter und die Vaterreligion 469
2.2.4 Mythos und Aufklärung. Profit und Ohnmacht der Vernunft 476
2.2.6 Perls' Idee Gottes: Wahnsystem oder Beseelung der Materie? 482
Es gibt eine erstaunliche Fülle von ähnlichen Gedankenfiguren in Psychoanalyse und Theologie. Möglicherweise zeigt sich darin eine Stufe der Säkularisierung.(1) Nach der Desillusionierung der theistischen Prämissen bleiben beim Streit der Fakultäten im akademischen Dorf die von einem allzu hebephrenen Kinderglauben entleerten Dome der Dogmatik stehen, in die plötzlich eine neue Besetzerszene einmarschiert. Die psychoanalytische Neu-Besetzung alter Gedankengebäude durch die Beschreibung der menschlichen Seele frappiert bisweilen mit ungewöhnlichen Anklängen an die alten Schläuche der Tradition.
Handelt es sich hierbei um eine analogia entis, weil die Religion des Menschen Ausdruck seiner Seele ist, deren Verstehen identisch ist mit dem Verstehen seiner Religionsäußerungen, indem beide, Seelenausdruck und Religionsgestalt das Sich-zur-Sprache-Bringen oder umfassender: Sich-zur-Offensichtlichkeit-Bringen dessen ist, was im Innersten der Menschen in Schwachheit wirkend Gott ist und will? Wie entsprechen sich Rede von Gott und die vom Menschen?(2)
Ist der Mensch zum Menschen gemacht, indem er von Gott angesprochen ist durch eine »Bewegung Gottes herab zum Menschen« in Jesus Christus, die dem Menschen den süchtigen Aufstieg zur Göttlichkeit verwehrt(3), wie ihn römische, ägyptische und babylonische Herrscher im Inthronisationsritus demonstriert haben? »Eine aufgrund der Menschlichkeit Gottes (in der Identifikation mit dem Menschen Jesus; M.L.) sich vollziehende Bestreitung der Göttlichkeit des Menschen wäre die strengste Auslegung der Menschlichkeit des Menschen.«(4)
Um den Anthropomorphismus in der Rede von Gott kommen wir nicht nur deshalb nicht herum, weil jede menschliche Rede die Gestalt des Menschen vor Augen hat, sondern weil die Rede Gottes als Rede des Menschen Jesus sich formuliert hat.(5) Die analoge Rede von Gott hat ihren inneren Grund in der Menschlichkeit Jesu. Wie sein Reden von Gott in den Metaphern der Gleichnisse Gestalt gewann, so wird alles, was von Gott zu sagen ist, mit menschlichen Metapher zu erzählen sein. Und doch ist die Rede von Gott immer schon von der Sprache und dem Tun des Unmenschen durchdrungen, sind viele Bilder von Gott alles andere als Bilder der Liebe. Das zwingt zur Kritik der Gottesbilder, deren einziges Kriterium die Menschlichkeit ist. Gott als unter der rohen Gewalt verborgene Liebestendenz der Materie, als Innerstes, wird anthropomorph immer als der obrige, von oben kommende, von außen eingreifende - und nach Auschwitz - von außen nicht eingreifende Regent der Welt beschrieben.
Alle den Mythen entlehnten Würdetitel Jesu, der nur die Würde des Menschen beansprucht hat, spiegeln diese Anthropomorphie als Gestalt der Herrscher unter der Preisgabe des Blicks in der Proskynese. Die Vorstellung eines subjekthaft zur Welt kommenden Gottes, als sei er nicht gleichursprünglich immer schon in dieser Welt, die Rede von einer natürlicheren Theologie als Bestreitung der natürlichen Theologie, soll hier mit Entschiedenheit abgelehnt werden. Das Sein Gottes als das eines Außerirdischen, der aus der Langeweile seiner Präexistenz als l7go' zur Krippe Christi kommt, ist so wahrscheinlich wie Jungfrauengeburt und Auferstehung eines Untoten, der nicht mehr sterben kann. Wenn dennoch die Arbeiten Eberhard Jüngels herangezogen werden neben dem Werk Paul Tillichs, so, um eklektisch die Durchführung des Satzes, Gott ist Liebe, so durchzubuchstabieren, daß jegliches extra nos als eines des tiefsten, verborgensten intra nos aufscheint.(6)
Die phylogenetische Kinderstube der Menschheit wird zeitraffermäßig wiederholt von der Ontogenese des Individuums, dessen psychische Strukturbildung als Reaktionsbildung im Konflikt von Triebstruktur und Gesellschaft Thema und Gegenstand von Psychoanalyse und Therapie ist.
Ob hier nur Gedankenfiguren entliehen und strapaziert werden, um zwei sich gegenseitig fundamental bestreitende Erklärungsmodelle(7) der einen uns in mehrfachem Sinne betreffenden Wirklichkeit zu versöhnen, die um ihrer spezifischen Wahrheit willen nicht versöhnt sein dürfen? Schließt der Satz: »Gott macht uns« den Satz: »Wir machen uns Gott« wirklich kategorial aus? Oder ist die analoge Gedankenfigur Indiz einer Ähnlichkeit in der Beschreibung der einen unteilbaren Wirklichkeit des Menschen, die Theologie und Psychoanalyse in Sachen Menschlichkeit zu einer Einheit in der Verantwortung um das Heil der in sich seufzenden Kreatur in einer fortschreitenden psychischen Verelendung verbinden könnte?
Der Mensch, den es in der Theologie als Gegenüber zu Gott eben nur in steriler Abstraktion angesichts einer narrativen Fülle gelebten Lebens in den Evangelien gibt, die in manchem den Fallberichten der Analytiker ähneln und im Thema Leiden und Heilung konvergieren, dieser Mensch in seiner Lebensfülle und Fülle der Beschädigungen und Leiden ist das gemeinsame Thema beider Disziplinen. Die Aufhebung des Leidens ist ihr gemeinsames soteriologisches Ziel, vom Pfarrer endzeitlich erwartet, vom Therapeuten mit Sorge um die grauenvolle Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer psychischen Derivate und mit nicht weniger Skepsis über die Effizienz der eigenen therapeutischen Möglichkeiten gleichwohl zum obersten Ziel der eigenen Arbeit gemacht. Wie die Gnosis des Glaubens ist auch der Therapieprozeß gekennzeichnet als ein Ringen um Einsicht und um neue Möglichkeiten, allerdings im Gegensatz zu paulinischen Paränesen bestrebt, die verbotenen Kinderwünsche der Kinder Gottes so nachhaltig zu befriedigen, daß sie in den neurotischen Formen ihrer Entstellung nicht mehr hinderlich sind auf dem Weg zum eigenen Glück und dem der anderen. Alle kulturellen Errungenschaften sind die Erfüllung früher Kinderträume: was allen in die Kindheit scheint, Utopie von Heimat.(8)
Die historisch-kritische Exegese hat die biblische Glaubensgeschichte als Traditionsgeschichte von bestimmten, in Dialog, Diskurs oder Diktat aus benachbarten antiken Religionsgesellschaften in den eigenen theopolitischen Kontext importierten(9) Motiven und Motivkomplexen erwiesen. Zugleich aber im Tradieren auch als Interpretationsgeschichte alter Texte mit einem je nach historisch-politischer Konstellation neuen Sitz im Leben.(10) Glaube ist Weltdeutung, ist selbst interpretationsbedürftige Interpretation, die durchaus die Welt verändert hat mit der Veränderung der Interpretationen.(11) Dies macht ihn mit Psychoanalyse vergleichbar, die ihrerseits Interpretation ist. »Das Wort ist das Element, in dem sich jene Sinnstiftung entfaltet... Das 'Gehörte' aber ist in erster Linie 'Gesagtes', und das 'Gesagte' ist in den Mythen vom Ursprung und Ende das genaue Gegenteil von Spuren und Überlebseln; es interpretiert Urszenenphantasien, um die Situation des Menschen im Heiligen zu sagen.«(12)
Sowohl die Interpretationen der Welt und der inneren Vorgänge durch die Mythen, Riten, Symbole und Lehren des Glaubens als auch jene der Gesamtheit der Zeichen, die ein Analysand als 'Text' von sich gibt, - Traum, Inszenierung, Körperreaktion, Gestik, Mimik bis zum Symptom - sind »Sammlung des Sinns«(13) und »Übung des Zweifels«(14) zugleich. Glaube und Psychoanalyse wollen verstehen. Dabei ist die Psychoanalyse imstande, Texte der Glaubensgeschichte aufgrund der klinischen Erfahrung mit Träumen, Phantasien und Symptomen zu deuten auf die in ihnen verborgenen oder offensichtlichen Erfahrungsstrukturen als Ausdruck der zugrunde liegenden Ich-Organisation. Dies mag eine Reduktion des Glaubens sein, ähnlich den Untersuchungen des glaubensgeschichtlichen Kontextes auf soziale, geologische und politische Hintergründe.(15) Sie sind zum Thema kontextueller Exegese geworden und haben als wertvolle Bereicherung der Perspektiven des kundigen Glaubens längst Einzug in die curricularen Lehrstandards der Theologie gefunden.(16)
Lehrstandard und Wissen des zum Heilen und Helfen aufgebrochenen Glaubens ist Psychoanalyse und ihre methodischen Weiterführungen in Gestalttherapie, Bioenergetik etc. noch sehr partikular, aber mit vorsichtig fortschreitender Tendenz im Rahmen der Seelsorge geworden. So rankt sich etwa eine wachsende Szene von Pastoralpsychologie(17) um die Zeitschrift »Wege zum Menschen«(18), um nur ein Forum des fortschreitenden Diskurses zwischen Psychologie und Theologie zu nennen.
Von theologischer Seite war diese Begegnung anfänglich wegen der Gefahr des Propriumverlusts nur erlaubt als Indienstnehmen der offensichtlichen therapeutischen Effizienz psychotherapeutischer Fertigkeiten. Diese met1basi' e]' 3llo g4no' hatte zum einen einen ganz pragmatischen Grund: die Seelsorge als Praxis der Verkündigung, der kirchlichen Werbung, im Zuge der Durchpsychologisierung der westlichen Industriegesellschaften und des offensichtlichen Rückgangs der Nachfrage nach einer nur warnenden und mahnenden Seelsorge auf dem volkskirchlichen Absatzmarkt wettbewerbsfähig zu halten.
Mit dem therapeutischen Erfolg der Seelsorge sollte zum anderen, und dies ist die in der eigenen Motivationsstruktur der Theologen bewußt wahrgenommene und verbalisierte Intention, die pfarramtliche Seelsorgepraxis als Neuauflage der sakramentalen Geschäftsverrichtung der Buße in Fortsetzung der Heilungspraxis Jesu professionalisiert werden. »So kann das Gespräch zum Medium einer Glaubenserfahrung werden, in der Gottes Zuwendung und Erbarmen spürbar werden; so kann Beziehung zwischen Menschen Verkündigung sein.«(19) Das stalleigene Motiv für die Nachrüstung der Seelsorge durch die Weisheit der Psychoanalyse rührt aus dem Willen Gottes, »den« Menschen zu seinem Heil zuzurüsten. So nimmt das Vergebungs-Wort Gottes Gestalt an.
Von der alttestamentlichen Bund-Vorstellung leitet sich die Theologie der Pastoralpsychologie ab: »Die Pastoralpsychologie hat für ihr Selbstverständnis und ihre praktische Arbeit Beweggründe aus dem Glauben. Sie geht davon aus, daß sich Gott als der unwiederruflich Beziehungs- und gemeinschaftswillige Bundesgott geoffenbart hat und daß er will, daß die Beziehungen unter den Menschen gelingen.«(20)
Auch die Kollegialität von Theologie und Pastoralpsychologie in der Hermeneutik als personalem Prozeß eines Auslegungsgeschehens wird hier hervorgehoben. »Die Pastoralpsychologie weist auf den Zusammenhang von frühkindlichen Erfahrungen, den entwickelten Grundbedürfnissen des Menschen und der Gotteserfahrung hin: Denn der in der Bibel bezeugte Gott tritt für das Grundbedürfnis des Menschen ein, einen bleibenden Wert zu haben, Vertrauen und Geborgenheit zu erfahren, sich vertreten zu wissen und auf ganzheitliche Orientierung aus zu sein.«(21) Hier wird sogar der Gestalttherapie der Status eines Hilfsmittels eingeräumt: »Die Pastoralpsychologie geht ferner davon aus, daß jede seelsorgerliche Situation einen vorgegebenen Sinn hat, der sich in den verschiedenen Formen der Beziehungen verborgen darstellt. Psychologische Verfahren, wie etwa die Transaktionsanalyse oder die Gestalttherapie, können helfen, diesen vorgegebenen Sinn zu verstehen und gegen den Widersinn festzuhalten. Darin kommt die tragende Kraft des in der Schöpfung und in der Taufe wirksamen Gottes zum Ausdruck.«(22)
Neben der Evidenz-Therapie Freuds wird die therapeutische Kraft der szenischen Konfliktgestaltung (Agieren als Katharsis) mit Erfahrung der Aporie (Impass) und dem Beginn eines neuen Problemlösungsverhaltens (Schöpferische Potenz) hervorgehoben. Gestaltprozesse korrelieren so mit der Schöpfermacht Gottes. Die »dunkle Mitte seines Wesens«(23) in den Konflikten zwischen Trieb und Moral, Innen und Außen, wird mit der hamartiologischen Versöhnungslehre verstanden als Praxis des Gnadenwillens Gottes gegen den unter der Last seiner Sünde gefesselt Leidenden.
Die Zähigkeit pathologischer Symptomatik macht die Therapie oft zur crux. Je mehr die kristalline Charakterstruktur in therapeutischen Regressionsprozessen labilisiert wird, bevor sie neue Gestalt annimmt, um so archaischere Schmerzen tauchen wieder auf, deren Betäubung die Verdrängung leisten konnte. »Seelsorgerliche Gespräche können so Kreuzwege sein, wo in tragendem Vertrauen auf den Seelsorger Menschwerdung und Heilung erfahren und angenommen werden kann.«(24) Den Menschen in ihren oft unerträglichen Leiden empathisch beistehen, kann allein schon heilsam sein.
Die Evaluationsforschung hat gezeigt, daß nicht die technische Professionalität des Therapeuten, sondern seine Aufrichtigkeit und sein Mitgefühl für den Klienten ausschlaggebend für die Heilung sind: Nicht therapeutische Spitzentechnik heilt, sondern menschliche Wärme und Akzeptanz des Verschrobenen. Wie Gott den Stein, den die Bauleute verworfen haben, zum Eckstein macht, so kann die Annahme dessen, was die Moral wegzensierte und was dann als Symptom sperrig und eigenmächtig Platz nimmt, das Seligpreisen der Leidenden erfahrbar begründen: »denn sie sollen getröstet werden«.(25) Einander Christusse sein, wie Luther sagte, kann sich darin zeigen, »daß der Seelsorger das auf ihn zukommende Leiden nicht abwehrt, verdrängt oder vertröstet, sondern sich einfühlend darauf einläßt, ohne sich selber zu verlieren.«(26) Kat1basi' ins Leid, ins Mitleiden, diese Figuration der paulinischen Christologie, die in den Leiden des Apostels das Leiden seines Herrn gestaltet sieht, wird Paradigma der therapeutischen Solidarität mit den Opfern, auch denen der Kirche selbst.
Schließlich wird die Gruppe als »Sauerteig in der Geschichte der Kirche« gesehen. In der »Updateversion« der israelitischen 12-Stämme-Amphiktyonie, der Jüngerschar der Jesusbewegung, zeigen sich die Chancen der ecclesia viatorum. Angesichts der juristischen Verharschung der Kirche liegt in der Gruppensolidarität als der Prägnanztendenz der Kraft des Heiligen Geistes die Hoffnung auf Erneuerung(27), entgegen aller Skepsis fundamentalistischer Bibelkreise gegen Gruppendynamik.(28)
Zunächst konnte die theologische Anerkennung der Psychologie sich in der Pragmatik der Seelsorge etablieren. Sogar Ansätze zu einer Psychologie Jesu und der Jesusbewegung erfolgen in der Exegese.(29) So sagt etwa Kurt Niederwimmer: »Die Verwendung tiefenpsychologischer Methoden innerhalb der Exegese steht nicht im Gegensatz zur traditionellen historisch-kritischen Methode; sie ist vielmehr - wenn sie sachgemäß geschieht - ein Teil dieser Methode und setzt ihre bisherigen Ergebnisse bzw Problemstellungen voraus.« (30) Bis auf Thielickes und Thurneysens Verdikte fehlender Ganzheitlichkeit gegen die Psychotherapie(31) als Konkurrentin der Seelsorge wurde in der Systematischen Theologie vor der pastoralpsychologischen Bewegung keine explizite Auseinandersetzung mit der Psychologie und Psychoanalyse geführt.
Im Rahmen der Abgrenzung zur Psychoanalyse weist Thurneysen auf die anthropologische Differenz zur Freudschen Trieblehre hin - in einer Sprache, die Kriterien des Gnostizismus(32) erfüllt: »Die Hauptsache ist und bleibt das Geheimnis unseres Ich, das, von weither gerufen, seinen Weg vor sich hat und die Kraft und Freiheit immer neu gewinnen darf, ihn zu gehen. Das Geheimnis ist und bleibt, sagen wir noch einmal, der Mensch selber, der im Anrufe Gottes steht und von diesem Anrufe lebt, der Mensch, der also damit noch nicht erklärt ist, daß man die Summe seiner Triebabläufe zusammenrechnet, und der damit noch nicht geheilt wird, daß man, so wichtig dies auch für seine Heilung werden kann, die inneren Abspaltungen, die Triebausbrüche und Triebgebundenheiten ins Bewußtsein erhebt«(33) .
Thurneysen rechnet der Psychologie das Verdienst der Überwindung des Leib-Seele-Dualismus im Sinne alttestamentlicher Ganzheitlichkeit an.(34) Die Abspaltung von Persönlichkeitsanteilen in der Verdrängung beschreibe das Phänomen der Sünde als »Folge jenes Risses zwischen Gott und Mensch«. Sünde aber könne nur im »Hören auf Gottes gnädiges Rufen«, in der Vergebung geheilt werden.(35) »Daß ihm dabei, also im konkreten Prozeß seines inneren Sichsammelns, seines neuen Ergreifens der Steuerung seines Lebens, die Psychotherapie entscheidende Dienste tun kann, dürfte klar sein. Hier herrscht kein Widerspruch zwischen Psychotherapie und Glaube... es könnte vielmehr eine fruchtbare Zusammenarbeit stattfinden zwischen Seelsorge aus dem Glauben und einer Psychotherapie, die um ihre Grenzen weiß, die sich also aller Übergriffe weltanschaulicher Art in den Bereich des Glaubens enthält«.(36)
Hier hat Psychoanalyse die theologische Erlaubnis eines Hilfsmittels zur Integration der Persönlichkeit, solange sie keine ihrer eigenen anthropologischen Prämissen ins Spiel bringt. Dieser Maulkorb gegen das »naturalistische Menschenverständnis«, gegen »die merkwürdige Prävalenz der Sexualität in der Trieblehre der Freudschen Schule« und die religionskritsche Sicht des Glaubens als einer - schier unvermeidlichen - Illusion(37) verkürzt und beschneidet die Psychoanalyse in genau der Weise, wie der Glaube selbst nicht beschnitten werden möchte. Es zeugt von imperialer Arroganz, sprich: immenser Angst des Glaubens in der feindlichen Welt, diese mit ihren Impulse nur soweit zu akzeptieren, wie sie nicht so an die eigene Substanz geht, daß es zu wirklicher Konfrontation, zu Kontakt und geistigem Stoffwechsel als eines fröhlichen, gesunden gegenseitigen Austausches kommt. Von eben solchem »fröhlichen Wechsel« atmet nach Luther die Seele in ihrem Bezogensein auf Christus. Dieser Umgang mit Psychoanalyse ist paranoid, incurvatus in se zu nennen und versucht, auszunutzen, zu manipulieren, ohne sich wirklich auf einen Dialog, eine Begegnung einzulassen, wie Jesus es mit den Heiden tat. Es kommt zu keiner Korrelation, sondern zur Weigerung, das »Geheimnis der menschlichen Personalität« im psychoanalytischen Strukturmodell durchzuarbeiten. Statt auf Korrelation rekurriert Thurneysen auf Beschwörung.
Eine Konfrontation von Theologie und Psychoanalyse als Konkurrenz, Streit, Begegnung oder gar Dialog zweier hermeneutischer Entwürfe, als anthropologische Variante im Disput mit den Naturwissenschaften hat es auf einer breiten Ebene bis in die siebziger Jahre hinein kaum gegeben. Einsicht in die Notwendigkeit einer Begegnung zeigt Uhsadel: »Umgekehrt wird der Theologe sich klarmachen müssen, daß, wenn die Theologie es mit dem Menschen zu tun hat, er nicht an einer Wissenschaft vorübergehen kann, die sich um eine Erhellung des menschlichen Wesens bemüht.«(38) Aber auch hier bleibt Psychologie lediglich unter der Oberherrschaft des Evangeliums als Auftraggeber »Hilfswissenschaft der Theologie« in Katechetik, Homiletik und Liturgik und »das vorzüglichste Hilfsmittel der Seelsorge«(39) . Während Thurneysen die naturalistische Verwässerung des Glaubens befürchtet, vermutet Uhsadel viel eher eine dilettantische Verwässerung der Psychoanalyse durch den halbgebildeten Seelsorger, der psychologisiert.(40) »Die weltanschauliche Bedingtheit psychotherapeutischer Methoden dürfte nur dann eine Gefahr sein, wenn die Theologie des Seelsorgers auf schwachen Füßen steht und der klaren biblischen Begründung entbehrt, mehr noch, wenn er - trotz exaktester Theologie - selber im Glauben unsicher ist.«(41) Dieses Modell der Begegnung ist nicht mehr von der paranoischen Angst vor Substanzverlust geprägt, sondern von der Freude an Dialog, Perichorese, gegenseitiger Durchdringung. Eine fundierte psychotherapeutische Ausbildung der Seelsorger könnte verhindern, »sich gegenüber einer ernsthaften Wissenschaft abzuschirmen und auf diese Weise den Kontakt mit der Welt, der der Auftrag der Kirche ist, zu verlieren.«(42)
Traditionell steht die Vernunft immer hinter der vorgängigen Offenbarung, Verstehen folgt erst dem Glauben, der als historisch Erstere ist. Die dialektische Theologie beruft sich denn auch gerne auf Augustins »nisi credideritis, non intellegitis« und Anselms »credo, tu intellegam«.(43) Die Hure Vernunft (Luther) unterwirft sich dem axiomatischen Glauben. Fides quaerens intellectum.(44) Die Vernunft dient dem Denken des Glaubens. Theologie hat gegenüber der Philosophie die Vorrangstellung, die das Wort Gottes gegenüber jeglichem menschlichen Wort hat.
Barth beschreibt das Verhältnis von Theologie und Philosophie als »Gegeneinander und Miteinander«(45) zweier Aspekte der einen Wahrheit. Während der Philosoph von unten nach oben, von Phänomenen zu Strukturen induziert, deduziert der Theologe von oben nach unten: »Daß er sich vom Philosophen mit einer angeblich allgemein und so auch für ihn gültigen Ontologie, Anthropologie, Psychologie usw. beschenken lasse, kann natürlich nicht in Frage kommen: er hat sein zweites Problem in allen seinen Entfaltungen in seinem eigenen Zusammenhang und Stil aufzunehmen. Der Philosoph soll und kann ihm aber auf alle Fälle als advocatus hominis et mundi Mahnung sein, sein zweites Problem auf der ganzen Linie energisch und konsequent aufzunehmen.«(46) Der usurpatorische Alleingültigkeitsanspruch gibt sich apodiktisch, unduldsam, autoritär, maßt der Theologie im Streit der Fakultäten die oberste Stelle als Nabel der Welt an. Als »zweites Problem« schon nicht mehr »Proprium«, könnten jedoch Humanwissenschaften als »Advokaten der Menschlichkeit und Weltlichkeit« mehr Christum treiben als die Theologen selbst, so wie nach Jesus eine Heidin mehr Glauben hatte als in ganz Israel zu finden war: »Weiß er denn, ob es nicht Jesus Christus, das Licht, der Herr und Heiland der Welt ist, der ihn durch den Dienst des 'Weltweisen' in jener bestimmten Richtung zur Ordnung rufen, zu einer 'Gottesgelehrtheit' anleiten will«?(47) Barth räumt ein, philosophische und psychoanalytische Erkenntnisse könnten Wahrheitsgehalte aufweisen. Und immerhin werden Philosophie und Psychologie als theologische zweite Aufgabe betrachtet, im Objektbereich Welt, Mensch, Wirklichkeit, Wahrheit konvergierend. Die Seele des Menschen ist demnach etwas, was den Theologen mit seinem Auftrag, die Selbstoffenbarung Gottes an den Menschen zu denken, unbedingt angeht. Der Glaube muß sich immer auf der Folie der Menschlichkeit verstehen und aussagen, Psychologie ist integraler Bestandteil eines zum Menschen hin reflektierten Denkens des Wortes Gottes. Diese programmatische Implikation, diese Möglichkeit, als Theologe Psychologie zu treiben, läßt Barth drastisch ungenützt.
Bultmanns Dialog mit Heidegger zeigt in seiner existentialen Interpretation des Evangeliums als eines Beziehungsgeschehens, wie Theologie im Diskurs des jeweils aktuellen Zeitgeistes in die »Mythologie« geworfen ist, die gerade »in der Welt« ist. Ohne Mythos geht es nicht, es sei denn, wir hätten eine objektive, sachidentische Sprache, mit der wir aus Gottes Sicht gleichwohl quasi neutral über ihn reden können. Gott ist aber prinzipiell nicht objektivierbar. »Es zeigt sich also: will man von Gott reden, so muß man offenbar von sich selbst reden«.(48) Jede Rede von Gott ist ikonisch, angewiesen auf die Spiegelung des Imaginären aus der Welt der Menschen, die ihn als unsere Existenz bestimmende Wirklichkeit erfahren. Jeder Satz der Bibel ist ein Gleichnis für Gottes Wirken an uns und in Gefahr, ihn als von außen beobachtbare Tatsache zu verdinglichen. Den objektivierenden Charakter von Bild, Mythos und Symbol will Bultmann ersetzen durch analoge Narration aus eigenem Betroffensein, die Thomas' ontologische analogia entis versubjektiviert. »Darum ist auch solche Rede nicht ein Reden in Symbolen oder Bildern, sondern eine analoge Redeweise. Denn falls wir auf solche Weise vom handelnden Gott sprechen, erfassen wir Gottes Handeln als eine Entsprechung zu den Handlungen zwischen Menschen«.(49) Veränderbare Zeichen(50) sind die Bilder, mit denen wir uns Gott ausmalen. Wie unser Selbstverständnis mit dem Fortschritt der Wissenschaft mutiert, weisen mutierende Symbole auf »Wandlungen Gottes«(Barlach), der »in stets neuer Form Gestalt gewinnt« und uns in seinem Werden entspricht.(51) Die doxologische Differenz zwischen den Gottesbildern und Gott selbst innerviert die »entmythologisierende« Umsetzung biblischer Vorstellungen in Paradoxe philosophischer Mythik Heideggers. Wenn schon existentiale Interpretation dem Wort Gottes entspricht, dann aber auch, entgegen Bultmanns Ressentiment gegen Psychologismus, die psychoanalytische Interpretation dieser menschlichen Existenz.
Der erste Versuch, Psychoanalyse nicht nur als Hilfsmittel mit Abstrichen im Rahmen der praktischen Theologie zu fungibilisieren, sondern als Dialogpartner in der Systematischen Theologie zu vernehmen, ist der korrelative Ansatz von Paul Tillich.(52) Das Verhältnis von Theologie und Psychoanalyse wird bei ihm verhandelt unter dem Kapitel »Theologie und Philosophie«. Tillich sieht die Erkenntnis Gottes nur im Medium des Symbols zugänglich. »Aber obgleich Gott in dem Abgrund seines Seins vom Menschen in keiner Weise abhängt, ist Gott in seiner Selbstoffenbarung gegenüber dem Menschen abhängig von der Weise, wie der Mensch diese Offenbarung empfängt... Symbolisch gesprochen heißt das: Gott antwortet auf die Fragen des Menschen, und unter dem Eindruck von Gottes Antworten stellt der Mensch seine Fragen.«(53) Das bedeutet, es gibt keine direkte Art, Gott zu schauen, sondern alle Rede von Gott ist Reden in Bildern. »Alles, was über Gott gesagt werden kann, ist symbolisch.«(54) Dabei benutzt die religiöse Sprache die Erfahrung als Medium, welches über sich in seinem wörtlichen Sinne hinausweist. Religiöse Rede sagt im Modus der Immanenz das, was als Transzendentes anders nicht aussagbar ist. Wie Begriff und Sache nie deckungsgleich sind, so deckt auch das religiöse Symbol als Versuch, von dem zu reden, von dem man nicht reden kann(55), die Erfahrung Gottes nicht ab, die dem Menschen durch den sich offenbarenden Gott widerfährt und von der die Geschichten der Bibel zeugen. »'Gott' bleibt Metapher«(56), weil die Sprache des christlichen Glaubens »- wie jede religiöse Sprache - durchweg metaphorisch«(57) ist.
Daß sie »durchgängig metaphorisch strukturiert«(58) ist, hat religiöse Sprache mit der begrifflichen Objektsprache der Wissenschaften gemein. Den Unterschied von Glaubensreflexion als theologischer Aufgabe und Existenzanalyse als philosophischer Aufgabe sieht Tillich in der verschiedenen Fragerichtung: »Die Philosophie beschäftigt sich mit der Struktur des Seins an sich, die Theologie mit dem Sinn des Seins für uns.«(59) Die Arbeitsteilung der Disziplinen konvergiert jedoch in der Reflexion des Theologen: »Als Theologe entscheidet er nicht, was philosophische Wahrheit ist, und als Philosoph enthält er sich der Meinung über die theologische Wahrheit. Aber er kann nicht umhin, die menschliche Existenz und Existenz überhaupt in einer Weise zu sehen, daß die christlichen Symbole ihm sinnvoll und verständlich erscheinen. Seine Augen sind teilweise auf das gerichtet, was ihn unbedingt angeht... Wenn er etwas sieht, erwartet er nicht, es im Lichte seiner theologischen Antwort zu sehen. Er hält an dem fest, was er gesehen hat, und formuliert seine theologische Antwort neu. Er ist sicher, daß nichts von dem, was er sieht, den Kern seiner Antwort verändern könnte, denn dieser Kern ist der Logos des Seins, wie er in Jesus als dem Christus sich kundgetan hat.«(60)
Die Gewißheit, das Eigentliche des Glaubens nicht verlieren zu können, macht dem Theologen möglich, von der zwanghaften Selektion der Wirklichkeit nach dem Raster der jeweiligen Dogmatik loszulassen und sich der tatsächlichen Erfahrung der Wirklichkeit weniger vorab selektiv zuzuwenden. Phänomenologie des Offensichtlichen fließt so in die Subjektivität des Theologen ein, auf dem Wege über seine Personalunion mit dem Philosophen, der sich in ihm regt. Alsdann unterzieht er als Theologe die Antwort des Glaubens einer derartigen Revision, daß die Phänomene der Wirklichkeit, die ihm existentielle Fragen wecken, mit der neuformulierten Fassung der Sprache des Glaubens stimmig werden, sich entsprechen, korrelieren.
Die dreifache Korrelation als quantitative Datenübereinstimmung, als logischer Zusammenhang von Begriffen untereinander oder zum Gegenstand, und schließlich als Strukturentsprechung, die Zeichen realer Interdependenz von Dingen oder Ereignissen sind (61), prägt das Verhältnis des Glaubens: »Es gibt Korrelation in dem Sinne der Entsprechung zwischen religiösen Symbolen und dem, was durch sie symbolisiert wird.«(62) An der Nähe zur res significata hat die res significans ihre Wahrheit als adaequatio intellectus ad rem.(63) Als zweite Dimension bestimmt Tillich: »Es gibt Korrelationen im logischen Sinne zwischen Begriffen, die sich auf menschliche Bereiche und solche, die sich auf Göttliches beziehen.«(64) Die dritte Korrelation schließlich ist die von Gott und Mensch, Ergreifendem und Ergriffenem.(65)
Damit entsteht der hermeneutische Zirkel, wo die Frage des Menschen und die Antwort Gottes nicht mehr disparat oder aneinander vorbei reden, sondern sich wechselseitig schärfen, präzisieren durch zunehmende Angemessenheit. »Das ist ein Zirkel, der den Menschen zu einem Punkt treibt, wo Frage und Antwort nicht mehr voneinander getrennt sind.«(66)
Tillich kann sogar sagen, wir Menschen sind diejenige Frage, der Gott antwortet. Sinn konstituiert sich allererst aus diesem Dialog von Frage und Antwort, Offenbarung und Menschlichkeit. Korrelation als Sinnbeziehung eines fragenden Menschen und antwortenden Gottes ist zugleich anthropologische Grundlage.
Am Anfang war das Wort: Wort drückt Beziehung aus, ohne Beziehung kann es nicht zur Entstehung von Leben kommen. »Menschsein bedeutet: nach dem eigenen Sein fragen und unter dem Eindruck der Antworten leben, die auf diese Frage gegeben werden. Und umgekehrt bedeutet Menschsein: Antworten auf die Frage nach dem eigenen Sein erhalten und Fragen unter dem Eindruck dieser Antworten stellen.«(67)
Die Relation Gott-Mensch im Dialog von Frage und Antwort erweist sich als Konstitution von Sinn. Sie wird zur Methode der Systematischen Theologie: »Sie gibt eine Analyse der menschlichen Situation, aus der die existentiellen Fragen hervorgehen, und sie zeigt, daß die Symbole der christlichen Botschaft die Antworten auf diese Fragen sind.«(68)
In diesem Verfahren wird die Kenntnisnahme der Psychoanalyse relevant: »Die Analyse der menschlichen Situation bedient sich des Materials, das die menschliche Selbstinterpretation auf allen Kulturgebieten verfügbar gemacht hat. Die Philosophie trägt dazu bei, ebenso die Dichtkunst, die dramatische und epische Literatur, die Psychotherapie und die Soziologie. Der Theologe ordnet diesen Wissensstoff in bezug auf die von der christlichen Botschaft gegebene Antwort.«(69)
Psychoanalytische Erfahrung wird also in die Theologie so integriert, daß Aussagen über das seelische Geschehen den Aussagen des Seins Gottes entsprechen. Es sind zwei Beschreibungen der einen, uns unbedingt angehenden(70) Wirklichkeit, die zu vermitteln geradezu die Erotik des Glaubens ausmacht: Ohne selbstaussendende Hingabe an die - eben auch psychische - Weltwirklichkeit würde Gott sein Wort förmlich im Hals stecken bleiben müssen. Diese Hingabe als Perichorese zu denken, ist ein Programm, was über den Rahmen dieser Arbeit weit hinaus geht und hier nur stichprobenhaft, essayistisch und nicht als System unternommen werden soll.(71)
Tillich denkt im Modell Hegelscher Entäußerungstheologie(72) die These des Glaubens, die Antithese der Erfahrung und Synthese eines sich beständig in Aufnahme der Antithetik neuformulierenden Glaubens als dialogische Antwort zur Welt. Die Hingabe der Theologie an die Humanwissenschaften, die Psychoanalyse will empfangen aus der Selbsterfahrung der menschlichen Gattung, um im Bezugsrahmen empirischer Humanwissenschaften als einer verwissenschaftlichten und vor allem pragmatisch zur Beförderung des menschlichen Wohls hilfreichen Variante menschlichen Selbstverständnisses das Gesunden im therapeutischen Prozeß des Heilwerdens von Selbst, Gesellschaft, Natur - sofern es denn erfolgt - als die religiöse Erfahrung des Neuen Seins, Erfahrung der Welt unter der die technische Kälte allzu sturer Sozialstatistiken zur Menschlichkeit verzaubernden Perspektive der Symbole des Glaubens auszudrücken. In einer vollends verwalteten Welt drohen die Sozialwissenschaften zur Sozialtechnologie zu werden und geraten in den Bann von Herrschaftswissen, wenn ihnen, wie schon Freud in seinem Maschienenmodell vom Menschen, die Fähigkeit entgleitet, mit dem Herzen zu denken, wenn die Intuition der kindlichen Gefühle und unbeirrbar richtigen Wahrnehmungen von Schmerz und Lust verloren geht.
An dieser Stelle haben die Mythen der Religion als früheste Form des menschlichen Wissen und der Wissenschaft etwas von der Unmittelbarkeit und der Wärme bewahrt, die für die Gesundheit der Menschen wesentlicher ist als noch die exakteste Statistik. Der Boom an Phantasie-Romanen und -Filmen belegt die Sehnsucht der Menschen nach mehr als technischer Rationalität in der Bebilderung des eigenen Horizonts. Die Perspektive des Glaubens ist eine Perspektive des Genesens und Heilwerdens.(73) Sie korreliert mit dem hippokratischen Impuls der Humanwissenschaften: Solidarität mit den Leidenden. Soweit Humanwissenschaften diesem Impuls folgen, ist eine Perichorese mit der Theologie Ausdruck der Wahlverwandtschaft des Menschlichen im Sehnen und Seufzen nach Erfüllung und Erlösung.
Gegenüber einer lediglich administrativen Sozialtechnologie, der es um möglichst effiziente Verwaltung des Elends der Massen geht, wird der Glaube sich immer als empörter Einspruch artikulieren wollen. Von einer Humanwissenschaft, die dem Wohl der Menschen verschrieben ist, wird der Glaube und natürlich die Theologie lernen wollen. Dieser Dialog ist für die Theologie der letzten Jahrzehnte einer der mächtigsten Impulse geworden.
Die versierte Perspektive der Psychotherapien als Wissen vom Unbewußten und der leiblichen Ganzheit von Seele und Körper ist dabei, nimmt man Tillichs Bild der Korrelationen noch einmal auf, vom Zeitpunkt des Eindringens in den Leib des Glaubenden oder Theologen Erfahrung im Glauben, ist zunächst Subsystem im gesamten Horizont des Glaubens, kann aber so assimiliert werden, daß der Same der Wissenschaften die gesamte Erfahrung des Glaubens durchsäuert. Dabei rüstet umgekehrt das hoffnungsvolle Gestaltmuster der Wahrnehmung des Glaubens die neugierige Folie der human- und naturwissenschaftlichen Informationsselektion im physiologischen Akt der Wahrnehmung auf ein Mehr an Möglichem nach, docta spes.(74) Alle Dinge sind möglich für den, der glaubt.
Der Same der Wissenschaft, in die Diskurse kirchlichen Denkens eingedrungen, beeinflußt auf lange Sicht den Wahrnehmungscode des Glaubens und der Glaubenden in ihrer Verständigung untereinander und mit der Welt derart, daß sich als Frucht im Leibe Christi und Antwort Gottes auf die Frage des Menschen eine beispielsweise auch in der Dramaturgie der psychoanalytischen Paradigmata inszenierbare und einsetzbare Variante der Selbstdarstellungsformen des christlichen Glaubens entwickeln muß. Dies zeichnet sich mittlerweile schon sehr prägnant ab. Die Antwort des Glaubens artikuliert sich als Wort Gottes im erkundeten Bezugssystem auf Heilung ausgerichteter, also dem Status quo kritisch entgegenstehender Humanwissenschaften. Diese Schärfung des Wortes Gottes ist auch noch plausibel im Spektrum des fortgeschrittensten Standes der Wissenschaft. Die Hoffnung und Liebe des Glaubens sind dann Katalysatoren oder Fermente im Sauerteig empirischer Wahrnehmung.
Das Ziel der Gottesbeweise der natürlichen Theologie war immer, Gott im Rahmen des fortgeschrittensten Standes des derzeitigen Wissens plausibel zu erzählen. Erzählung ist das wesentliche Mittel, in dem die Geschichte Gottes als lebendige Geschichte zum Ausdruck kommt. Erzählungen am Lagerfeuer der Nomaden, etwa im Stamme Abrahams, waren die früheste Form solcher israelitischen Narrationen über den Gott der Väter. Das Leben des Glaubens bestand aus der Weitergabe von Erzählungen und ihren inhärenten Wahrnehmungsstrukturen, Zielrichtungen der Aufmerksamkeit.(75) Aus dieser Weitergabe lebt Glaube. Von Weitergabe zu Weitergabe hat im Zwischenstadium vielfach ein redaktionsgeschichtlich rekonstruierbares »Prüfte alles, das Gute behaltet!« stattgefunden, eine abermalige Befruchtung des Glaubens durch neues Wissen und Wissenschaften, so daß neue Dimensionen der Wahrnehmung und Erkenntnis in die alten Narrationen einfließen, in ihre kanonische Textgestalt genauso wie in ihren kirchlichen Kommentar, den wir als Theologie betreiben.
Theologie, seit je her apologetisch, hat als ihre spezifische Eigendynamik die doppelte Motivation der Selbstverständigung des Glaubens und des missionsorientierten Verständlichmachenwollens von Glauben. Weil der Glaube sich selbst umfassend verstehen will, sucht er nach möglichst vielen und umfassenden Dimensionen des Sinnzusammenhanges als eines sinnlich erfahrbaren - und nicht etwa kontrafaktisch transrealen - Lebenszusammenhangs. Das Wort ward Fleisch, nicht damit die fleischliche Welt doketisch verhöhnt werde, sondern als Faktum, in dem je nur Leben möglich ist, ernstgenommen. Jesu heilende Eingriffe stellen in vielen Fällen eine gestörte Sinnlichkeit wieder her; Lahme springen, Blinde sehen: so und nicht anders wird den Menschen frohe Botschaft zuteil. Das inkarnierte Wort liebt das Fleisch so, daß es alle seine Möglichkeiten und Fähigkeiten entwickeln hilft. Die Kraft der Spiritualität von Gregorianik besteht in ihrem sinnlichen Element. Alles wirklich Geistliche strotzt vor Sinnlichkeit.
Wenn der Glaubende im Überschwang seiner Evidenzerfahrung, in der Freude über Rettung oder Gesundung, pfingstmäßig leut- und redselig wird, sucht er nach Dimensionen des Sinnes, innerhalb dessen der Glaube auch dem Nicht-Glaubenden, dem zweifelnden Proselyten oder dem an Exaktes gewöhnten Empiriker in sich und mit dem empirischen Wissen stimmig und kompatibel und damit allererst plausibel erscheinen kann. Das ist das Aha, die Evidenz des Glaubens.
Der Glaube ist allgemein in unserer Gesellschaft unglaubwürdig geworden. Für die meisten distanziert volkskirchlich Passageriten konsumierenden Bürger besteht ein diffuses Nichtausgeschlossensein der Möglichkeit Gottes, aber massive Zweifel an Siebentagsschöpfung, Jungfrauengeburt, Wundertaten, Jenseits, Auferstehung und Weltgericht. Glaube und Naturwissenschaften zeichnen konkurrierende Erklärungssysteme, die einander rigoros ausschließen, und die Wissenschaften sind heute glaubwürdiger als die religiöse Weltdeutung geworden, wie es die Architektur der Hegelschen Phänomenologie mit dem Gipfel des absoluten Wissens indiziert. Die intersubjektive Konstitution der kollektiven Realität als Produktionsverhältnisse, Produktivkräfte und Reproduktionssektor, Distribution und Konsumption umfassender universaler Lebenszusammenhang bezieht ihre Strukturierung und damit Sinnsetzung längst nicht mehr aus säkularen Derivaten des Glaubens, sondern einer in einer Dialektik der Aufklärung ins barbarische umgeschlagenen Form verwissenschaftlichter gesellschaftlicher Naturbeherrschung. Deren Anarchie ist, von der Divergenz einzelner Kapitalinteressen herrührend, pluralistisch: sie erzielt einerseits ökologische und militärische Vernichtungserfolge, betreibt andererseits Aidsforschung und stellt für die, die sich sonst schon (fast) nichts gönnen, Hollywoodschaukeln her.(76) Der Hauptnenner dieses Pluralismus ist allerdings das kapitalistische Prinzip der Sicherung der Marktanteile. Die Diversifikation der Angebote und Absatzmärkte spiegelt sich ideologisch in einem Synkretismus der Stile und Oszillieren philosophischer Moden, das die aporetische Not der durch Klassenantagonismen und divergente Kapitalinteressen verunmöglichten Einigung auf eine universalisierbare Perspektive der Wahrheit zur positivistischen Tugend der Substitution von Wahrheit durch die propagandistische Effektivität einer Ideologie oder die momentane Zweckmäßigkeit eines Paradigmas macht.
Das postmoderne Bewußtsein zieht mit den Narrationen und Paradigmen der legitimatorisch fungierenden Geisteswissenschaften auch das Wahrheitsmonopol der naturwissenschaftlichen Wirklichkeits-Konstruktionen in Zweifel - zugunsten eines gleichberechtigten Nebeneinander aller sozialen Lebensformen und Subkulturen samt deren geistigem Ausdruck in Kunst und Wissenschaft.(77) Nicht zuletzt verdankt sich die Multiplizität dieses Pluralismus den Aporien des Physikalismus selbst, der aus der eigenen inneren Bewegung zur einander ausschließenden Aussagen über Wirklichkeit kommt.(78) Dieser Pluralismus zielt nicht nur auf eine Verwischung von Wahrheit zur Beliebigkeit, durch die alles legitimierbar ist, was die eigenen Machtinteressen gerade unterstützt, sondern in diesem Pluralismus kommt die Koexistenz der separaten Lebenszusammenhänge von den verschiedensten sozialen Verbände dieses Planeten in einem Prozeß fortschreitender Vernetzung zu einer Art Weltgesellschaft in Austausch und Dialog. Die verschiedenartigen Subjektanteile, nationalen, ethnischen und religiösen Anteile an der Wahrnehmung der Wirklichkeit und ihrer intersubjektiven Expression und Konstitution kommen in Dialog miteinander.(79)
Die Differenz der Formen der Anschauung und des Wissens, läßt kein einheitliches, universalistisches System der Philosophie oder Wissenschaft mehr zu, wie es Descartes vorschwebte , wohl aber Korrelation und Komplementarität als Dialog und Streit um die Wahrheit, die gerade in der Multiplizität der Perspektiven(80) zu finden ist. Damit ist der Austausch der Kulturen und Disziplinen, der Dialog und die Begegnung der Religionen und Wissenschaften, der interdisziplinäre Diskurs selbst das bestimmende Mittel der Wahrheitsfindung geworden und die Methode der Falsifikation als bestimmter Negation der Unwahrheit ist etwas grundsätzlich anderes als die kulturimperialistische Ausgrenzung der Wahrheitsperspektive mißliebiger und schwacher Subkulturen.
Das Wahre ist das Ganze: nur eine holistische Perspektive vermag die Momente der Wahrheit zu integrieren. Wenn das Ganze als universaler Verblendungszusammenhang einer verdinglichenden instrumentellen Vernunft aber zugleich das Unwahre ist, so sind damit die Strukturen des bisherigen Diskurses als die einer strukturellen Gewalt, als die von ideologischen Ausschlußverfahren erfaßt, als kulturelle Resultate einer ungleichen Begegnung der Gesellschaftssysteme und Völker dieser Erde. Die Rolle der theologischen Vormacht und Bevormundungen ist ausgereizt; der Theologie heute kommt dennoch die prophetische Funktion kritischer Reflexion dieses Diskurses zu. Ihre Optionen lassen sich heute stichwortartig konzentrieren auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung der Erde.
Der Erweis der Glaubwürdigkeit des christlichen Glaubens wird dadurch gebracht, daß eine Argumentationsfigur, die völlig ohne Adaption theologischer Motive auskommt, zu den selben oder ähnlichen Ergebnissen kommt, etwa in sozialethischen Fragen. Beispiel: Frieden als Ziel ist sowohl politisch der beste Zustand zu existieren, also nach wissenschaftlicher Logik, wie er zugleich als Ausdrucksform Gottes zum ethischen Ziel des Handelns der Christen erhoben wird. Aus dem universalisierten narzißtischen Wunsch nach Triebbefriedigung (Essen, Trinken, Geborgenheit und Wohnung, Wärme, Sexualität) läßt sich soziale Gerechtigkeit als Forderung nach grundlegender struktureller Umverteilung der gesellschaftlichen Reichtümer und Ressourcen ableiten; dieselbe wissenschaftlich begründbare Forderung ist aber auch (ohne großartigen Begründungszusammenhang) Grundforderung der Propheten und Jesu in der Bibel. Eine neue Weltwirtschaftsordnung ist gleichermaßen rational von der Universalisierung der menschlichen Grundbedürfnisse her mit dem Evidenzpol des eigenen Narzißmus herleitbar, wie auf einer komplementären, theologischen Argumentationsebene daneben aus dem Sättigungswillen der »Mutterliebe« Gottes zu verstehen. Erst wenn die gesamtgesellschaftlich autodestruktive und isolationistisch-chaotische Oligarchie der kapitalistischen Wirtschaftsmachthaber durch Demokratisierung und Vergesellschaftung der Produktionssphäre gebrochen ist, wird es überhaupt zu einer grundlegenden Änderung des Ausbeutungsverhältnisses zwischen Industrie- und Entwicklungsnationen kommen.
Theologie will den Glauben nicht als disparates Phantasiesystem neben dieser schlechten Faktizität des leider Realen formulieren, aber auch nicht nur als Einspruch Gottes gegen diesen selbstdestruktiven Betrieb des Moloch Kapital. Um glaubwürdig zu werden, muß Theologie Glauben als Narration dieser Faktizität darstellen, wie die Priesterschrift es in den Analen der Könige Israels intentierte; Heile-Welt-Systeme neben dieser derzeitigen gesellschaftlich produzierten Realität mögen esoterisch sein und diejenigen anziehen, die sich in der ihnen feindlichen Welt nicht recht einfinden können, begeben sich aber um die Intention einer universalen Mission, nach der alles Fleisch Gott sehen solle, die Realität Gottes in der Realität unserer schlechten Faktizität der Gesellschaft universal plausibel sein soll. Der Beitrag der Theologie zu dieser Offenbarung der Herrlichkeit Gottes besteht in der mühevollen Anstrengung des Begriffs und Diskurses, die multiplen Perspektiven der Völker, Nationen und Wissenschaften miteinander in Dialog und Streit zu bringen, den Austausch der Kulturen zu fördern und zu verstärken. Der Glaube an Gott steht nicht am Anfang, sondern erst am Ende dieses Diskurses, dessen Kriterien für den Ausschluß des Unwahren nicht die bisherigen Ausschlußgewohnheiten von Minoritätsmeinungen werden darf, denen die Lobby für eine gut finanzierte Werbung und Propaganda fehlte. Auch die Theologie hat Gott noch nicht. Sie bereitet nur seinen Weg. Dieser Weg kann nur der Weg aller sein, ein Konsens ohne Gewalt und Unterdrückung mißliebiger Positionen. Dann erst ist Gott p1nta 5n p0sin. Im himmlischen Jerusalem werden alle Sprache gesprochen, ohne daß Verwirrung eintritt. Es werden auch jene Dialekte der letzten freilebenden Stammesverbände am Amazonas gehört und gesprochen, die Mc Donald's ausrotten läßt zwecks Abholzung und Viehzucht für unsere Hamburger. Nur wer Recht und Position anderer ausschließt, verwirkt das eigene Recht auf Gehör.
Glauben wirkende Verkündigung, die nicht bereits Glauben voraussetzt, die dem Nicht-Glaubenden das Evangelium so darstellt, daß er es glauben kann ohne sacrificium intellectus, hat innerhalb der Theologie allerdings wenig Basis; allenfalls Exegeten können sich ihr Treiben auch vom fachkundigen Nicht-Glaubenden korrekt ausgeführt vorstellen - wohl deshalb, weil bahnbrechende Innovationen der Exegese, etwa die formgeschichtliche Schule, gerade von Nichttheologen, von Philologen in die Exegese eingeführt wurden.(81) Cullmann fordert gegenüber dem biblischen Text »Bemühen um Objektivität im Sinne des Verzichts auf unsere eigenen Fragestellungen«.(82) Käsemann traut Kenntnis und Anerkenntnis unterscheidend auch Nichtchristen exegetische Kompetenz zu: »Vom Schwergewicht des Ganzen kann man durchaus selbst als Nichtchrist etwas über das Evangelium in der Bibel merken«.(83) Nur eine Theologie, die auch dem Nichtglaubenden plausibel ist, kann ihre Aufgabe der Vermittlung des Evangeliums an Nichtchristen, kann ihren Dialog mit der Welt durchhalten. Dieser Dialog ist nicht gelungen.
Eine Kirche, die diesem Dialog nicht sich stellt, verwirkt nicht nur ihre Zukunft als Organisation, sondern zugleich die Zukunft der Liebe Gottes, von der sie lebt und die sie missionarisch weitergeben möchte. Missionarisches Handeln heute heißt: Glaubens- und Dialoggemeinschaft bilden mit Nichtchristen. Zum Wesen Christi gehörte, daß er keine Angst hatte, etwas zu verlieren. Eine Kirche, die diesem Wesen gemäß lebt, wird in dem notwendig anstehenden Dialog mit Nichtchristen vor der Preisgabe von theologischen Aussagen nicht zurückschrecken, die ihr im Lauf der Tradition lieb geworden sind, aber nicht zum innersten Kern des Liebesgeistes Gottes gehören.
Die Wundersgeschichten prophetischer Sagenkränze und der Evangelien brauchen heute nicht mehr als Tatsachenberichte behauptet zu werden. Es kommt darauf an, ob die im Gewand spätantiker Wundergläubigkeit formulierten Geschichten vom Wesen der Liebe Gottes in Jesus über dieses Wesen Gottes etwas sagen. Dies allein ist heute wesentlich, nicht das wundergläubige Gewand der Geschichte, so sehr die orientalische Kunst des Märchenerzählens und Fabulierens ihren gewinnenden zauberhaften Reiz ausstrahlt und den Hörer über die Gestalten der Gleichnisse auf die Gestalt dessen verweist, der alle Beziehungen in seiner Schwachheit durchdringt.
Die Kontakte zwischen Menschen, die sich als Christen verstehen oder zur organisierten Kerngemeinde der Kirche gehören, und denen, für die aufgrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse der Gebrauch des Wortes "Gott" sinnlos geworden ist, sind in der Alltagssituation kirchlicher und politischer Projekte, in denen es auf die Stärke gemeinsamen Handelns ankommt (Aktionseinheit), als ein Stück Orthopraxie vernünftiger Weltbewältigung entstanden. Im Bereich gemeinsamer Aktionen gibt es nach meinen Erfahrungen in Gemeindearbeit und politischer Kooperation in Friedensfrage, Ökologie und dem Kampf gegen ungleichen Tausch und soziale Verelendung einen fast problemlosen pragmatischen Konsens. In der Frage der handlungsleitenden Axiome und Theoreme gibt es dagegen starke Diskrepanzen. So eng der Konsens in der Frage der Orthopraxie, so unüberbrückbar der Dissens in der Frage der Orthodoxie, der die Wahrheit benennenden richtigen Lehre.
Es gibt ein außerordentlich stark ausgeprägtes Bedürfnis der Menschen nach Spiritualität. Von diesem Bedürfnis unterscheidet sich die Frage der theologischen Dogmatik. Die Sätze des Glaubens vermögen wohl in gottesdienstlichem Zusammenhang spirituelle Erfahrungen auszulösen. Doch sind ebenso völlig andere Momente Auslöser spiritueller Erfahrungen: Liturgische Rituale, Drogen, Fastenübungen, Meditationsübungen, schwarze Messen und alle Formen des Spiels.(84)
Aus der langen kirchlichen Tradition Europas hat die traditionelle kirchliche Dogmatik für das Bewußtsein der kirchlich gebundenen Menschen einen starken Stellenwert bei der Vorbereitung spiritueller Erfahrungen: Gott als Vater im Himmel, Lenker der Welt, Verantwortlicher für all das, was Menschen einander zufügen, Geber von Leben und Tod. Diese theistischen Axiome lösen nach wie vor bei der Mehrheit der Kirchentreuen spirituelle Erfahrungen aus. Ähnlich hat in Jugendsekten, spiritistischen Kulten und Meditationszirkeln ein bestimmter dogmatischer Bezugsrahmen einen spirituelle Erfahrung formenden und auslösenden Effekt. Der verblüffende Erfolg von Jugendsekten bis Wunderheilern ist Zeichen dafür, daß das Bedürfnis der Menschen nach Spiritualität keineswegs erloschen ist. Die Menschen wollen heute keineswegs religionslos leben, sondern sind getrieben von einer ungemein starken Sehnsucht nach Transzendenz: danach, daß der alltägliche Lebenszusammenhang nicht schon alles ist.(85) Spiritualität überschreitet die Grenze der Alltagserfahrung, ist die Stelle im Leben, wo ein Mensch über sich hinauswächst. Religion als Überschreitungserfahrung von Alltäglichem, als Grenz-Erweiterung des menschlichen Bewußtseins ist dann nicht nur psychohygienisch wichtig als Faktor und Moment glücklichen Lebens, sondern bildet eine Ebene des fortschreitenden Bewußtseins einer Gesellschaft, auf der rationale mit emotionalen Dimensionen des menschlichen Geistes in einzigartiger Tiefe verbunden sind. Solche spirituellen Erfahrungen sind vielleicht ebenso lebenswichtig für glückliche Menschen wie Essen, Trinken und Sexualität.
Jugendsekten und esoterische Zirkel dokumentieren heute, wie stark sich das Bedürfnis nach Spiritualität formiert, wie leicht es lenkbar ist und wie die Kirche in ihren Lebensäußerungen diesem Bedürfnis nicht gerecht werden. Es fehlt in den Kirchen an Spiritualität, obgleich die Kirche dafür der prädestinierte Ort in der Gesellschaft wäre. Zugleich fehlt es in der Kirche immer noch an Orthopraxie, Tun des Rechten, so daß die Kirchen nicht nur dem spirituellen Bedürfnis nicht gerecht werden, sondern auch nicht den ethischen Konsequenzen ihrer eigenen Lehre. In der Frage richtigen Lebens sind vielfach Nichtchristen den Kirchentreuen weit voraus. Daraus ergibt sich die ekklesiologische Frage, ob die Kirche nach Luther der Ort richtiger Lehre ist oder da existiert, wo der Wille Gottes getan wird, anstatt in der Anbetung des Herr, Herr-Sagens(86) gerade die Herrschaft Christi zu verhindern. Aus der Lehre Christi geurteilt hat die organisierte Kirche weitaus weniger Authentizität als viele unorganisierte Menschen, die sich nicht als Christen bezeichnen, denen aber sachlich diese Bezeichnung viel eher zukäme als den Kirchentreuen selbst. Um nicht nur Aktionseinheiten mit diesen vom Selbstverständnis her nichtchristlichen, von Christus aber selig gepriesenen Tätern des Willens Gottes zu machen, sondern auch einen gemeinsamen Begründungszusammenhang dieser Aktionsformen zu entwickeln, ist die Lehre des christlichen Glaubens zu überprüfen, was unter dem Aspekt der Gültigkeit des fortgeschrittensten wissenschaftlichen Wissens an biblischen Aussagen evident und plausibel ist.
Das Ziel einer solchen Unternehmung ist, aufgrund einer allgemeingültigen Glaubwürdigkeit des christlichen Glaubens mit allgemein nachvollziehbaren Sätzen ausgewiesener Wahrheit zu einer wiederum nicht mehr partikular-innerkirchlichen, sondern allgemein bejahbaren Spiritualität zu gelangen, die als einende Triebkraft die Solidarität und Durchsetzungsfähigkeit der gemeinsamen Aktionseinheit im politischen Handeln fördert. Eine solche Form der Spiritualität haben weder die organisierte Kirche noch die politisch im Sinne Jesu engagierten Menschen. Sie ist eine Erfahrungsdimension, die erst gemeinsam erschlossen werden muß. Es hat in der Geschichte der Kirche immer wieder solche Neu-Erschließungen von orthopraktischer Spiritualität gegeben. Solche orthopraktische Spiritualität ist aber nichts zeitlos gültiges, sondern verändert ihre Gestalt mit der Veränderung des Wissens und der gesellschaftlich gebotenen Formen richtigen christlichen Handelns.
Heute finden die diversen Verfahren der Psychotherapie genau den Zulauf, der der Kirche abgeht.(87) Psychoanalytisches Verstehen der eigenen Erfahrung und Grenzen ist attraktiver geworden als der sperrige Sinnkontext des Glaubens, wohl besonders auch der sperrige Lebenskontext, in dem Kirche sich der Welt präsentiert: die absolute Mehrheit der Christen in der Volkskirche, befragt oder nicht, ist ganz selbstverständlich abgeschreckt von den Gepflogenheiten der Verkündigungsaktionen. Dabei ist ein religiöses Interesse durchaus massiv vorhanden, Neugier auf Transzendenz, Ungenügen an der Tristess der Zahlen. 60 % der Befragten wünschen eine stärkere Seelsorge und moderne Verkündigung, während beidemale nur 30 % mit dem Status quo zufrieden sind.(88) Die große Bedeutung der Kasualien vereint das Bedürfnis nach Seelsorge und Orientierung, nach Liebe und Glauben in der sinnlichen Konkretion des eigenen, unter dem Einbruch einer Identitätsveränderung, eines krisenhaft zugespitzten Lebenszusammenhanges. Individueller Lebenssinn im persönlichen Gespräch ist gefragt, der konkrete deus pro me, mehr als eine unpersönliche Sonntagspredigt.(89)
In dieser Marktlücke individueller Sinnkonstitution konnten sich psychotherapeutische Interpretationsmodelle mit ihrer Basis dialogischer Beziehung und konkreter, biografisch um Evidenz ringender Erklärungsversuche weit effektiver etablieren als die dilettantischen Bemächtigungsversuche des mahnenden-warnenden Seelsorgers, der von jeder Intuition unbefleckt, auf missionarische Gelegenheiten lauert, der nur hört, hört, hört, um zu reden, zu reden und abermals zu reden.(90) Die volkskirchliche Situation gibt der Verkündigung und Seelsorge ein »Mangelhaft«, ist aber nicht endgültig desinteressiert, sondern gerade an persönlichen Antworten des Glaubens durchaus interessiert. Die Menschen wollen, daß ihre sinnliche Erfahrung strukturiert wird und in einen Horizont integriert, der die Kontingenz des einzelnen Lebens in den bergenden Zusammenhang der kollektiven Geschichte stellt, den die lukanische Theologie als Heilsgeschichte beschreibt.
Die doppelte Stimmigkeit innerhalb der eigenen Lebensgeschichte und mit der kollektiven Geschichte ist dabei gefragt. Beide Dimensionen des Sinns, systemimmanent und systemtranszendent, wollen die Menschen spürbar und evident erleben. Je weniger Kirche und mit ihr Theologie diesem mehrdimensionalen Sinnbedürfnis gerecht wird, um so mehr treten Psychotherapien an ihre Stelle. Zur Klärung des individuellen Lebenssinns ist Psychotherapie prädestiniert: der Theologie in ihrer Übung des Textverstehens ist die Übung des Verstehens lebendiger Texte in Form von Seelsorge deshalb nicht in gleicher Weise möglich wie den Therapeuten, weil ihr die klinische Erfahrung fehlt, die den Zugang zum als Sprache organisierten und sich äußernden Leib-Unbewußten eröffnet. Daß die somatische Klinik den Ärzten überlassen wurde und nicht priesterlicher Dienst blieb, wie zur Zeit Jesu, wo Krankheit als Sünde unrein war, offenbart das geringe Interesse des Klerus an der Leiblichkeit des Menschen, für dessen Seelenheil er angetreten ist.
Zu der neuen Spiritualität gehört das Recht der Menschen, in Gemeinschaft Ruhe und Geborgenheit zu finden, in der Gemeinschaft das zum Thema zu machen, was uns »unbedingt angeht«.(91) Das klagepsalmmäßig auszusprechen, was alle bewegt: erste und letzte Fragen, nach dem Sinne dieses so offensichtlich leidvollen und ungerechten Lebens, nach der letzten Bestimmung der Menschen, wenn es eine solche geben sollte. Was trägt uns in unserer unaufhebbaren Verlassenheit, in der jeder einsam seinen Tod stirbt und unwiderruflich vergeht? Warum ist für viele Menschen das Leben nur Qual und der Tod dann noch einmal? Mit welchem Zufall wird jemand in eine wahre Hölle hineingeboren, warum kann die bundesdeutsche Cola-Generation sich kaum Hölle vorstellen? Alle diese Fragen existieren und geben in der Art ihrer Beantwortung unserem Handeln letzte Koordinaten, die sich auswirken bis hinein in Zielrichtung und Intensität der politischen Verantwortung-Übernahme. Dieses Fragen treibt das gottverlassene Warum Christi am Kreuz, treibt Christum und gehört zur Anfechtung und zur inneren Bewegung des Neuen Seins.
Das gemeinschaftliche Nachdenken und Meditieren dieser letzten Fragen könnte als dogmatischer Innovationsprozeß der Kirche Nichtchristen und Christen verbinden in der Kirche als dem Ort einer Spiritualität, die solchen Fragen Raum gibt, ohne ihre traditionellen Antworten als die apriori schon richtigen darzustellen.
Wir verzichten auf die Behauptung, Gott habe die Welt geschaffen in der Art, wie es die Anfangskapitel der Bibel beschreiben. Gott ist nicht vor oder außerhalb der Welt, sondern in ihr. Wir glauben Gott nicht als Person, die alle Geschicke dieser Welt verantwortlich lenkt. Gott ist Geist, der die Herzen, Köpfe und Hände einzelner Menschen und Gemeinschaften zu bewegen imstande ist und der ohne diese ihn in sich tragende und von ihm getragene Gemeinschaft nicht ist. Insofern verkörpert Kirche Gott in der Welt. Kirche in diesem Sinn ist nicht kongruent mit der Organisation gleichen Namens. Das ist der Wahrheitsgehalt der Geschichten von den biblischen Propheten, von Jesus, von Heiligen und der nach Lukas liebeskommunistischen Gemeindebildung bis hin zur Pneumatologie. Weil Gott Geist ist, ist spirituelle Erfahrung Erfahrung Gottes, auch dort, wo sie nicht als solche bezeichnet und erlebt wird.
In eindrucksvoller Weise hat Jesus den Geist Gottes in Wort und Tat verdeutlicht. Als Quintessenz seines Auftretens läßt sich formulieren: Gott ist Liebe. Das Leben Jesu ist als Illustration dieses Satzes zu verstehen. Sein Bemühen, alle Menschen satt zu machen, bedeutet für uns heute eine neue Weltwirtschaftsordnung ohne Ausbeutung. Dies setzt eine tiefgreifende Änderung der kapitalistischen Herrschaftsformen voraus. Jesu Gewaltlosigkeit bedeutet heute einen radikalen Verzicht auf Militär und eine weitestgehende Einschränkung innerstaatlichen Gewaltgebrauchs. Das involviert den Kampf der Christen für Abrüstung. Die Liebe Gottes umfaßt die Menschen mit ihren Stärken und Schwächen, das zeigt das Handeln Jesu.
In der Art, wie die Kirche auf den Mann Jesus aufmerksam ist, zeigt sich die Herrschaft Jesu Christi. Sie lebt nicht aus der Verehrung eines Mannes, sondern aus der praktischen Aneignung dessen, was sein Leben entscheidend geprägt hat. Das kennzeichnet aufgeklärten Glauben, der den Ruf Jesu in seine Nachfolge nicht als theistische Vergötterung zur hierarchischen Marionette verkommen läßt. Jesus ist beeindruckendes Vorbild und als solches lebendig im Handeln der Christen. Das ist die Form seiner über den Tod hinausgehenden Lebendigkeit. In der Erinnerung des Lebens eines Toten wird seine Lebendigkeit bewahrt und in neuer Weise entfaltet. Wenn an der Geschichte von der Auferstehung etwas gültig ist, dann die verbildlichte Hoffnung darauf, daß das, was einen Menschen ausmacht, nach seinem Tod nicht erloschen ist, sondern in erneuerter Form wieder auflebt in anderen durch die Kraft der Erinnerung, die ein Teil der Kraft des Heiligen Geistes ist. Christliche Liebe geht in dieser Form der Erinnerung über den Tod hinaus.
Wegen der Vernachlässigung der Leiblichkeit konnte die Diastase von Seelsorge und Medizin/Psychotherapie entstehen, eine Trennung von Leib und Seele derart pflegend, daß körperliche Vorgänge bis auf Geburt und Tod kein Fall mehr für den Seelsorger waren. Angesichts der Erkenntnis, daß Inkarnation etwas mit der Körperlichkeit des Menschen zu tun hat und diese als Wohltat des Schöpfers bejaht(92), findet mit der Integration therapeutischer Erfahrung in die von der Geschöpflichkeit des Menschen redende Theologie eine Aufwertung des geschundenen und lustfähigen Leibes(93) statt.
Der Leib als das, was Paulus kreuzigte, ist Subjekt und Objekt der Autoaggression, Zerstörer und Zerstörtes. Der sich kreuzigende Leib ist krank, in Sünde. Diese Sünde frommer Selbstverleugnung und -zerstörung ist aber auch unter marktpolitischen Gesichtspunkten in einer von Männermagazinen »aufgefitteten« Sex-Kultur unbrauchbar geworden. Im Zeitalter des expandierenden Narzißmus und der hardcore-videomäßigen Verehrung der Genitalien würde körperfeindliche Predigt die Sonntagskollekten noch mehr schrumpfen lassen. Beate Uhse hat auch das Körperverhältnis in der dem flotten Volk heimlich aufs Maul schauenden Theologie affiziert. Weil paulinische Fleischfeindschaft langfristig beim Kirchensteuerzahler nicht ankäme, gab es marktgerecht schon mit Auftauchen der ersten Pornographie-Filme eine allmähliche Würdigung des Körperlichen in der Theologie. Einer Integration von Seele und Leib im Glaubenden steht damit nichts mehr im Wege.
Tillich sieht die Entdeckung der »vieldimensionalen Einheit« des »ganzen Menschen« als psychoanalytisches »Geschenk an die Theologie«.(94) »Der Helfer muß die ganze Person heilen. Eine teilweise Erlösung gibt es nicht.« (95) Der Impuls der Hinwendung der Seelsorge zur Psychoanalyse markierte eindeutige klerikale Defizite: »Das ungeheure Anwachsen der seelischen Störungen auf protestantischem Boden ist wenigstens teilweise durch die legalistische Verzerrung der protestantischen Botschaft bedingt... Aber als die seelischen Erkrankungen eine Massenerscheinung wurden, die sowohl den Einsatz im Krieg als auch den wirtschaftlichen Fortschritt zu beeinträchtigen drohten, und als die betroffenen Theologiestudenten und mit ihnen viele aktive Glieder der Gemeinden Hilfe nun gerade nicht bei ihrem Pfarrer, sondern bei Psychoanalytikern zu suchen begannen, fing man auch in den Kirchen an zu begreifen, daß etwas mit Predigt und Lehre nicht stimme... Die psychoanalytische Verfahrensweise, den seelisch Gestörten ohne Verurteilung und Anweisung anzunehmen, wurde das Vorbild für die Seelsorge.«(96)
Darin aktualisiert sich das reformatorische sola gratia. Mit dem Semipelagianismus der römisch-katholischen Theologie und des Pietismus, freien Willens gut wirken zu können, kritisiert Tillich auch dessen moralistische Konsequenz, vorbildlich gut sein zu müssen. »Je mehr man die unbewußten Triebkräfte auch in unseren bewußten Handlungen entdeckte, desto unmöglicher wurde der Appell an den 'freien Willen'.«(97) Die religiöse Selbsterfahrung Augustins oder Luthers hat paradigmatisch für ganze Generationen neue Gottesbilder evoziert.(98) Ebenso machte Freuds Kritik der Vaterreligion die Neuentdeckung mütterlicher Qualitäten Gottes möglich: »Von da aus gesehen möchte ich die kühne These aufstellen, daß die Psychotherapie und die Erfahrung der seelsorgerischen Beratung dazu beigetragen haben, das weibliche Element, das so offensichtlich im Protestantismus fehlte, wieder in der Gottesidee zur Geltung zu bringen.«(99)
Der Katholizismus meinte, sein patriarchales Gottesbild, entgegen dem priesterschriftlichen Diktum vom als Mann und Frau zum Bilde Gottes geschaffenen Menschen und seinem Verweis auf einen Männliches und Weibliches integrierenden Gott, durch den Mythos der jungfräulichen Gottesmutter zu einem Pantheon auffitten zu müssen, in dem Gott weiterhin männlich bleibt, aber durch die entsagungsvolle Fürbitte der Gottesmutter mitunter in der Härte seiner Zucht ermäßigt wird. Ein solches extratrinitarisches Nachrüsten des Götterhimmels verewigt nur noch mehr die Züge der Männlichkeit Gottes und spaltet sie von denen der himmlischen Damenriege ab. Der Gott, der trösten will wie eine Mutter (Jes 66,13), der beschenkt mit Gnade und Erbarmen, der das Verlorene sucht mit seinem guten Hirten, der alle wie eine Henne unter seine Fittiche nehmen will (Mt 23,37ff) und die Mühseligen und Beladenen erquicken (Mt 11,28), dieser Gott straft nicht nur unerbittlich, sondern orientiert sich in seinem Handeln an den Bedürfnissen seiner Kinder mehr als an ihrer Leistung. Das ist mütterlich-weibliches Element. Jesus, der Mann, zeugt von einem Gott mit ausgesprochen weiblichen Zügen.(100)
Die ärgerliche Erfahrung der Ohnmacht des Bewußten gegenüber den Potentialen des wie eine Sprache strukturierten und sich eigenmächtig äußernden Unbewußten hat der Theologie Tillichs die Kraft der Symbole gegenüber bloßen Vernunftpredigten neu vergegenwärtigt. »Solche Symbole haben ihre Wurzeln in den unterbewußten Tiefen des Einzelnen und der Gruppe. Der Einfluß der Symbole auf das Ganze des persönlichen Lebens gibt ihnen sowohl enthüllende als auch heilende Kraft.«(101)
Wort-Gottes-Theologien kranken an der Unterschätzung des illokutionär-performativen Sprechakt-Aspekts(102); der Ton macht die Musik. Symbole wie etwa Sakramente oder Kunstwerke sind »Gnadenmittel« der »Einwirkung der Gegenwart Gottes auf das Unbewußte« so, »daß alle Seiten des persönlichen Lebens erfaßt werden«.(103) Wie in der therapeutischen Begegnung zweier Persönlichkeiten die des Klienten an der des Analytikers zur »Erschaffung eines zentrierten Selbst« heranreift, so ist Gotteserfahrung als »heilende und rettende Kraft« ein Beziehungserlebnis, in dem alle Teile des Glaubenden zu lebensgeschichtlicher Reife integriert werden.(104)
Nach dieser Liste der psychotherapeutischen Anregungen für die Theologie resümiert Tillich: »Mir scheint, daß eine Theologie, die in dieser Weise Impulse von der Psychotherapie erhält, besser ist als eine ohne solchen Einfluß. Der Theologe täte gut daran, mit der psychotherapeutischen Bewegung in Verbindung zu bleiben. Der Seelsorger und Pfarrer sollte sich aber darüber im klaren sein, daß er in seiner Arbeit nicht nur einzelnen Menschen, sondern auch der Theologie dient und dadurch vielen Menschen hilft, die er persönlich nicht erreichen kann. Es könnte sehr wohl sein, daß sie durch ein Predigen geheilt werden, das auf einer Theologie fußt, in der die Ergebnisse und Erfahrungen des psychotherapeutischen Denkens lebendig sind.«(105)
Die historisch-materialistische Geschichtsschreibung beschreibt Geschichte als Abfolge verschiedener gesellschaftlicher Systeme, in denen zu beklagen ist, daß gesellschaftlicher Reichtum nicht gleichmäßig verteilt ist, sondern sich in der Verfügungsgewalt einer kleinen »Gruppe« befindet. Dieser Zustand wird von der unterprivilegierten Mehrheit der Gesellschaft als unbefriedigend erlebt. Die Lebensumstände prägen den Mitgliedern jeder dieser »Gruppen« einen spezifisch partikularen Interessenhorizont auf, der in dieser bestimmten »Gruppe« von nahezu allen geteilt wird. Diese Interessengemeinsamkeit wird als Klassenbewußtsein, als Wissen um die eigene Lage und die der eigenen »Gruppe« im Gesamtzusammenhang der ganzen Gesellschaft, bezeichnet.(106) Die um den gesellschaftlichen Reichtum rivalisierenden Gruppen oder Klassen führen im Ringen um Anteile an diesem ursprünglich nicht besitzbaren und privatisierten Reichtum einen Klassenkampf. Bisher waren alle Gesellschaftssysteme von ungleicher Verteilung der Güter gekennzeichnet und als Folge hiervon von Kämpfen um eine gleiche Verteilung. Die Methoden dieser Kämpfe sind verschieden und äußerlich heute, anders als zur Zeit von Spartakus oder den Bauernkriegen, kaum gewalttätig, da die Gewalt bereits in die juristischen Strukturen eingegossen ist: Handelsgepflogenheiten, Marktgesetze, militärisch-polizeilicher Zwang, Aufruhr, moralische Apelle, Verhandlungen, Diebstähle, Streik, Tarifabkommen sind nur einige Formen des Klassenkampfes. Zu den aktuelleren Fusionen von Kirche und Kapital im »Klassenkampf von oben« gehört, daß Krupp-Manager Cromme 1991 zur Legitimation seiner Massenentlassungen eine Kirchenkanzel als Podium angeboten bekommt.
Wenn alle bisherigen Gesellschaftsformen von der Urgesellschaft über Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus bis zum Kapitalismus von ungleicher Verteilung der Reichtümer bestimmt waren, wenn bisher jedes gesellschaftliche System von Kampf um diese Verteilung geprägt war, so ist auch die Bibel, geschrieben in der Zeit der antiken Sklaverei, davon nicht unberührt geblieben. In der Bibel spiegelt sich dieser Kampf wieder. Er ist aber selten explizit thematisch, wiewohl doch die Themen der biblischen Erzählungen durchwirkend.(107) Beispiele für die Unzufriedenheit der unterdrückten Klassen, die unter massiver sozialer Not leiden, sind: Der Mose-Aufstand in Ägypten, die Landnahme, die Sorgepflichtgesetze des Pentateuch gegenüber "Fremden", die Skepsis Jothams bei der Königswahl, die Inthronisation Sauls mit vieler Kritik, die feinen Spitzen gegen David in den Samuelbüchern, die massiven Klagen der Propheten gegen Königshof und Reiche, besonders Jesaja, Jeremia, Hosea, Amos. Im NT ist insgesamt ein Zug Jesu zu den sozial Schwachen und eine Beheimatung der Jesusbewegung unter den »Outlaws« in der stark ausgebeuteten Provinz Galiläa zu erkennen. Besonders Lukas betont diese Vorliebe Gottes zu den Armen und Unterdrückten. Auch der Jakobusbrief enthält massive Anklagen gegen die Reichen. Lediglich Paulus versteht, sich mit der gegebenen Ordnung zu arrangieren.
Die Bibel als von Menschen geschriebenes Wort Gottes nimmt teil an den Auseinandersetzungen um eine gerechte Verteilung der Güter. Daher bildet der Begriff Gerechtigkeit eine so wesentliche biblische Kategorie. Weltgericht als Umkehr der bisherigen Sozialordnung (Lazarus) wird in der Apokalyptik immer mehr zur erhofften Lösung der Frage, wieso Gott als Garant der Gerechtigkeit den Sünder ungestraft weiter Geld scheffeln läßt, während er den Frommen mit Schicksalsschlägen straft, obwohl dieser die sehr sozial ausgerichteten Regel der Tora einhält. Jubeljahr und Halljahr waren Maßnahmen, die im Namen Gottes als Gegensteuerung gegen die beginnende Konzentration von Landbesitz in der Hand geschäftstüchtiger Hofbeamter Jerusalems gedacht waren. Das Schlüsselerlebnis Israels, der Auszug aus der Sklaverei Ägyptens, beschreibt Gott als Befreier. Die Botschaft der Propheten beschreibt Gott als Kläger gegen die Reichen, die solche geworden sind durch unmenschliche Ausbeutungspraktiken gegen Leibeigene oder Sklaven.
In allen Klassengegensätzen läuft als ein Tenor die Parteinahme Gottes für die Schwächsten dieser Auseinandersetzungen durch die Texte. Im Handeln Jesu und der Apostel gewinnt diese Parteinahme für die unterdrückten Menschen die Gestalt der Hinwendung zu den Schwachen. Dabei konvergiert Unterdrücktsein nicht immer mit Armsein. Jesus verkehrt auch mit den Zolleintreibern und römischen Besatzungsoffizieren. Sein Verständnis von Unterdrücktsein ist sehr differenziert und überschreitet einen allzu eng gefaßten Klassenbegriff, nach dem vielleicht nur Fischer und Kleinbauern als wirklich arme Klasse Palästinas gelten könnten. Dennoch ist seine Grundhaltung gegenüber Reichen entschieden ablehnend. Die Briefe des NT setzen die Schärfung des Bewußtseins für die gegenseitige soziale Verantwortung fort und erträumen ein Bild der Gottesherrschaft, in der die Menschen nicht mehr wegen ungleicher Verteilung der Güter verfeindet sind.
Die Erzählungen der Bibel gehen in der Schilderung von Klassenkampf nicht auf. Sie setzen diese Situation als Selbstverständlichkeit voraus, um sie zu überschreiten. Die biblische Hoffnung ist auf ein Leben gerichtet, in dem die bisher Unterdrückten zu ausgleichenden Ehren kommen und für ihr anfängliches Leiden entschädigt werden. Kirche wird bei Lukas als ein urkommunistisches Miteinander beschrieben: alles gehörte allen. In diesem Motto ist auch die Lebenseinstellung Jesu getroffen oder die des Paulus: Alles ist euer, ihr aber seid Gottes.
Die Bibel ist Selbstoffenbarung des materie-immanenten Gottes durch Menschen. Diese Selbstexplikation Gottes durch die biblischen Akteure und Schreiber geschieht durch viele Widersprüche hindurch. Für die Redakteure der biblischen Texte zu einem verbindlichen Kanon dessen, was über Gott zu sagen sei, waren sie in ihrer Widersprüchlichkeit vereinbar. Erst das neuzeitliche, von der aristotelischen Logik geprägte Denken erlebt die biblischen Widersprüche als Beleg für die Unangemessenheit der Bibel als Auskunft über Gott. Der Historische Materialismus versteht die biblischen Widersprüche als Zeugnisse entweder von verschiedenen Klasseninteressen (z.B. Ja oder Nein zum Königtum) oder als Zeugnisse verschiedener geschichtlicher Stadien einer sich wandelnden Auffassung der biblischen Autoren über die Seinsweise Gottes. Ich spreche hier von einer Glaubensgeschichte im Verlauf der Geschichte Israels. Die innere Bewegung dieser Glaubensgeschichte läßt sich als ein Reinigungsprozeß der Aussagen über Gott verstehen, die das ideologische Resultat eines praktisch veränderten Umganges der Menschen miteinander ist. Die Verfriedlichung des Gottesbildes gipfelt im Handeln und Denken Jesu, welches Johannes mit dem zentralen Satz begriffen hat, der das kürzeste Bekenntnis zu Jesus und seinem Werk ist: Gott ist Liebe.
Wenn Theologie sich dem epochalen Geist naturwissenschaftlichen, soziologischen und psychoanalytischen Denkens nicht entzieht, kann sie schließlich um so exakter auch ihren Einsatz singen, der über die Entdeckung archetypischer Kraftpole in der Erinnerung religiöser Symbole und ritueller Praxisfiguren(108) zur Dimension der Gestalten des Neuen hinausgeht: der messianischen Hoffnungsgehalte als Kritik des im gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs schlecht Faktischen.
So beschreibt Ernst Lange als »Bildungsgeschichte des Lernwesens Mensch« die biblische Verheißungsgeschichte der Menschen, »die sich auf neue Erfahrungen einlassen, weil Gott sich ihnen in diesen Erfahrungen zusagt... eine Erfahrung, die nicht nur etwas über Gott aussagt, sondern immer zugleich neue Wirklichkeit erschließt und erhellt.«(109) Das Wissen des Glaubenden über das noch Ausstehende der eschatologischen Verheißungen hält zum derzeit historisch Erfüllten eine konstruktiv-kritische Spannung, mit der Glaube dann allerdings nicht nur Abbild der mangelhaften Realität ist, sondern gegen sie kritisch seine Optionen von einer umfassenden Versöhnung, einer weltweiten Gerechtigkeit und Friedensordnung stellt: »Wichtig ist, daß der Glauben ein ureigenes Interesse hat, dieses Wissen an der Erfahrung zu bewähren, weil seine eschatologische und seine christologische Gewißheit daran hängt, daß er diesen Streit für sich entscheiden kann.«(110) Das »Innovationswissen« des Glaubens, daß das hier derzeit Verwirklichte noch nicht alles ist, »muß sich am Erfahrungswissen ausweisen, muß sich der Bestreitung durch die Erfahrung stellen und an ihr bewähren. Ich meine, daß wir ein Beispiel solchen Innovationswissens, das sich am Erfahrungswissen gegenwärtig zu bewähren hat, in der Bewegung des gewaltlosen Widerstands, des bürgerlichen Ungehorsams haben, d.h. einer neuen Gestalt des denkenden Widerstands in der Form der Ergebung im Glauben.«(111)
Der hermeneutische Beitrag der Psychoanalyse für eine vieldimensionale Theologie kann durch seine Schärfung der Sensibilität helfen, jene imperialistischen Entartungsformen des Glaubens, die als solche noch nicht am Anfang durchschaubar waren, auszumerzen.(112) Ob Theologie dies auch ohne Impulse aus menschenfreundlichen Humanwissenschaften zustande bringen könnte, läßt sich schwer sagen. Wissenschaftsgeschichtlich kamen Innovationen im Bereich der Theologie selten von innen heraus. In der alttestamentlichen Exegese wäre zB eine solche Ausmerzung fällig: es können unter dem Satz, Gott ist Liebe, die Massaker israelischer »Beutebannung«, im Heiligen Krieg Jahwe geopfert(113), nicht mehr als Wille Gottes verstanden werden, sondern als blindwütige, rationalisierte Angstreaktion vor Vergeltung durch überlebende Feinde.
Mit A.N. Whiteheads spinozistisch-prozeßtheologischem Ansatz wären solche Verirrungen als Larvenstadien der Offenbarung der Gottesidee anzusehen: »Die Religion ist in die menschliche Erfahrung eingedrungen, vermischt mit den rohesten Phantasien barbarischer Vorstellungen. Stufenweise, langsam, stetig kehrt die Vision im Lauf der Geschichte in edlerer Form und mit klarerem Ausdruck wieder.«(114) Gott, unter dem Eindruck der Relativitätstheorie und des Feldbegriffs(115) als einem von interdependenten »Anlässen« mit steigender Prägnanztendenz, ist nicht mehr thomistisch und kausalmechanisch prima causa und primum movens der Schöpfung, sondern »Prinzip des Konkretwerdens«(116) im Prozeß der Verwirklichung einer aus der unendlichen Fülle der Möglichkeiten, worin zugleich auch Begrenzung und Bestimmtheit liegt.(117) Es »ist die Eine unendliche Substanz Spinozas.«(118) Wenn Gott gedacht ist als Subjekt, so ist er auch Bewußtsein, welches wählen kann. Dabei ist Gott in jenseits der Materie, sondern er ist die Materie, weil Bewußtsein immer der Vollzug materiell faßbarer bzw. noch nicht vollständig erfaßter Vorgänge ist.(119) Die göttliche Selbstbegrenzung der unendlichen Möglichkeit konkretisiert sich als Entropie, als auswählende Bezogenheit, die in der Wahl epigenetisch und normativ Wertmuster schafft.(120) Die Erwählungslehre hat diese ethnozentrische Selbstüberschätzung des einzig von Jahwe erwählten Volkes Israel auf die in der Besonderheit sind konkretisierende Allgemeinheit der Liebe Gottes hin auszulegen. Die Liebe macht das Geliebte unverwechselbar. Sie ist irreversibel, der Wunsch (Freud) unzerstörbar. Die Liebe hört nicht auf. Sie ist ewig.
Jüngel sucht Antwort auf die Theodizeefrage mit einer autogenerativen Wortspieltechnik vermeintlicher Tautologien, die allerdings vorzugsweise mit konträren Inhalten angefüllt werden, die im Paradox der Homousie der Trinität entsprechen. Coincidentia oppositorum oder Behauptung einer All-Einheit der Gegensätze führen schließlich auf eine Theologie, die der Einheit der Gegensätze im Buddhismus des Atman sich annähert.(121) Die absconditas dei sub contrario hat das Konträre eingeschlossen, umgreift das Böse und hebt so das Nichtige, den Tod, in sich auf, wobei Aufhebung nicht die Tötung des Todes wie in Jesu Auferweckung ist, sondern die Akzeptanz des Todes, indem das Konträre, Böse, Entgegenstehende nicht mehr als das Andere, Feindliche, Nicht-Identische bekämpft wird, sondern akzeptiert wird und wiedererkannt als das Eigene. Damit wird die Projektion zurückgenommen ins erkennende Ich hinein. Die Rücknahme der Projektion im Akt des Erkennens nimmt dem Bösen die Bosheit, weil sie verstanden wird als verstellte Sehnsucht. Die Wiederaneignung des Verworfenen, Abgespaltenen, Exkommunizierten, das war das Werk Jesu. Jesus hat das Böse so in die Liebe aufgenommen, daß es selbst von dieser Liebe durchdrungen wurde, hat die Finsternis hell gemacht. Gott wäre nicht nur das Verdrängte, sondern auch das Schlummernde, noch nicht Heraufgekommene. Für diese Art des Seins Gottes als Liebe ist die Metapher vom Regiment unangemessen. Das In-Möglichkeit-Sein Gottes ist keine der menschlichen Allmacht der Mutter oder des Vaters vergleichbare Potenz, die das Leben des Kindes garantiert, ermöglicht und weiterführt. Die Allmacht Gottes kann kein Leben retten. »Mein Reich ist nicht von dieser Welt«, läßt Johannes Jesus sagen. Nicht die gnostische Folie des anderen Aion, der präexistent in die gefallene Welt erlösend eingreift, ist hier wesentlich, sondern aus der Perspektive dieser Welt ist der Ausdruck dieser Art von göttlicher Allmacht das Kreuz, die Schwachheit, das Leiden, die Vernichtung der Liebe.
Was hat es für einen Sinn, von einer Allmacht zu reden, die nur in Leiden und Schwäche erfahrbar ist? Wenn damit nicht die Grenzenlosigkeit des masochistischen Wunsches gemeint ist, wäre redlicher, ganz auf das primärnarzißtische Grandiositätsgefühl des allmächtigen Objekts zu verzichten und das Symbol der Allmacht für die Bezeichnung der spezifischen Macht Gottes nicht mehr zu verwenden. Wäre nicht mehr geholfen, wenn wir gleich ohne Umschweife von der Ohnmacht Gottes sprechen würden, statt von der Allmacht, die sich im Ertragen und Überstehen des Kreuzestodes zeigt und die für den Menschen Jesus der tatsächliche qualvolle Tod war? Die Dialektik der Macht in der Schwäche zeigt sich allerdings in der Liebe und im Therapieprozeß: Hier offenbart die Fähigkeit, sich ganz und gar verletzbar und sensibel zu machen und zu zeigen, die größte Potenz der Hingabe. Allmacht als Macht zur radikalen Hingabe in aller Schwachheit ist hier tatsächlich die größere Stärke im Vergleich zu einer selbstsicheren und selbst-absichernden Zurückhaltung oder der rohen physischen Gewalt der Vergewaltigung oder der sublimeren strukturellen Gewalt des Pokerns mit Liebesbeweisen und -entzug. Die Offenbarung des Begehrens macht angreifbar, verletzlich, indem sie dem Anderen die Möglichkeit der Ablehnung eröffnet. Sie spielt dem Anderen die Macht der Verschmähung zu, die in gewissem Sinne die Vernichtung des Begehrens bedeutet. Die Offenbarung eröffnet die eigene Vernichtung, darin ist sie ein Verzicht auf die Schutzfunktionen der Verborgenheit. Als selbstgewählte Schutzlosigkeit ist Offenbarung dann auch Macht des Machtverzichts. Dennoch ist diese Macht des Liebenden, sich schwach zu machen, keine Allmacht im Sinne des herkömmlichen Begriffs göttlicher Macht, die imstande ist, militärische Siege über überlegene gegnerische Truppen zu gewährleisten, wie im Alten Testament von Gott bejubelnd gesagt wird.
Das Subjekt des Handelns bei Jüngel ist immer Gott, der Mensch Empfangender. Diese Perspektive einseitigen Gebens ist in der menschlichen Mutualität singulär, weil der Gebende in irgendeiner Weise immer auch empfängt, sei es auch nur den Dank. Die Passivität, der der von Gott geliebte Mensch ausgesetzt ist, entsprach keinesfalls der Aktivität Jesu. Die übersummative Intersubjektivität des Geistes der Sektengruppe ist durch die Verwobenheit einer Vielfalt von Passivitäten und Aktivitäten konstituiert. Die Vorstellung, Gott sei alleiniges Subjekt eines Heilshandelns, der Identifikation mit dem Menschen Jesus, wird der Tatsache nicht gerecht, daß jeder gesellschaftliche Identifikationsprozeß, von Zuschreibungen bis Introjektionen, geprägt ist von einer Interpunktion der Ereignisfolgen, von Kommunikation und Dialog. Nur wenn Gott nicht Gegenüber der Menschen ist, sondern sich als Etwas in den Menschen regt, dergestalt, daß jeder Teil hat an dieser Regung, ohne sie je zu beherrschen oder der einziger zu sein, dem diese zukommt als erfahrene, nur dann ist die Rede von einer nicht-dialogischen Aktion Gottes in, mit und unter den Menschen als menschliches Handeln der Menschen miteinander sinnvoll. Wenn Gott handelt, indem Jesus gehandelt hat, so fällt als coincidentia oppositorum der Vater mit dem Sohn zusammen. Diese Perichorese verweist auf die Durchdrungenheit der Schöpfung durch den Schöpfer.
Als Selbstbegrenzungsprozeß der unendlichen Möglichkeiten ist deus sive natura zugleich Anselms id, quo majus cogitari nequit.(122) »Gott ist die letzte Begrenzung und Seine Existenz ist die letzte Irrationalität«, darin »Grundlage aller Vernunftmäßigkeit«.(123) Und: »Gott ist nicht konkret, aber er ist der Grund der konkreten Wirklichkeit.«(124) Der purifikatorische, entbarbarisierende Selbstoffenbarungsprozeß Gottes in seiner Heilsgeschichte(125) ist dann die komplementäre andere Seite der Ursprungsgeschichte des Bewußtseins(126), die mythologisch sich darstellt als eine sich fortschreibende Interpretationsgeschichte der Bibel, die stets alte Texte und neue Deutungsraster korreliert zu einem sich wandelnden Sitz im Leben. Archaische Lebensszene, liturgisch zum Kultspiel dramatisiert, drückt im Szenario Gottes von der gesamten gesellschaftlichen Lebenssituation präformierte innere Befindlichkeit projektiv aus.(127)
Dieses Verständnis des Mythos ist die komplementäre Seite, der Außenaspekt des lebendigen Dialogs zwischen Gott und Mensch, in dem Gott auf die Frage des Menschen revelatorisch derart antwortet, daß der Mensch diese Antwort als Projektion aus der archetypischen Tiefendimension seines kollektiven Unbewußten empfängt, durch welches er in die Beziehung zu Gott untrennbar eingebettet ist. Dies ist der innere Grund, weshalb das Drama Christi in tiefer Korrelation zur kollektiven unbewußten Idealisierung der spätantiken Erlösungssehnsüchte steht.
Christus ist die Wunscherfüllung der Sehnsüchte der Menschen damals. Seine Geschichte als Inkarnation Gottes, von Stallgeburt über gezielte Regelverletzung, Heilungswunder und vollmächtige Predigt gehorsam bis zum Tode am Kreuz, der ihm den Namen über allen Namen verschafft - darin liegt generatives Material(128) der messianischen Gemeinde, die von Gott Freiheit seufzend ersehnt.
Dabei wurde die Geschichte des historischen Jesus wohl nicht erst nach seinem Tod ins messianische, befreiende, erlösende Spezialhandeln der höchsten und tiefsten Kraft des Kosmos aufgefaßt: Das Bekenntnis, Jesus sei Gott, sowenig es Jesus selbst eigen war, reagierte mit den mythischen Mitteln der Antike auf die beeindruckende Evidenz, die Leben, Handeln und Reden Jesu bei den Menschen hinterlassen hatten, mit denen er zusammengekommen war.
So unvollkommen der Rekurs auf den Mythos von Messias, Menschensohn, Auferstehung und Parusie als Antwort des Glaubens auf das Leben Jesu auch ist: in aller seiner Einzigartigkeit ist Jesu Lebensart zugleich Vorbild, »Utopie eines Menschenmöglichen, dessen Kern und eschatologische Brüderlichkeit er vorgelebt hat«(129), welches auf Nachfolge, Imitatio dei und paradiesschlangenmäßiges eritis sicut deus explizit ausgerichtet ist. Es ist Lebenskunst für Jedermann. Die Verallgemeinerungsfähigkeit, besser allgemeine Heilsamkeit und größere Humanität dieser Lebenshaltung, will das Kerygma durch den inflationären Trend der Hoheitstitel und ihres inhärenten Universalitätsanspruchs verdeutlichen: So leben wie Jesus ist möglich für alle Menschen, nicht nur Wanderradikale, und gibt den Kindern Gottes Freiheit und Würde, gibt Sinn und Trost als neuen Inbegriff einer unbezähmbaren Lebendigkeit, erlöst von der kosmischen Angst der Unterdrückten (Rm 8) und dem perspektivlosen Immergleichen eines sich an seiner eigenen kasuistischen Tradition ins Absurde anstatt ins Humane bewegenden Judentums.
Als Lebenskünstler der Humanität mitten in den harten Bedingungen eines Wanderpredigerlebens im ärmsten Teil der jüdischen Provinzen entwickelt Jesus eine Hoffnung erweckende Solidarität mit den Opfern des Systems, den Mühseligen und Beladenen, Kranken, Verfolgten, Dissozialen, bei denen gleichwohl die reineren Herzen seligzupreisen sind.
So sehr auch der paulinischen Sühnopfertheologie noch Henkermentalität anhaftet und Relikte des Moloch-Kultes, in dem Kinder geopfert werden: Von der israelitischen Beutebannung zur Bergpredigt führt ein irreversibler Weg einer schrittweisen Humanisierung der Gottes-Hypostasen als Wunsch-Utopien einer ersehnten künftigen Kommunikationsgemeinschaft. »Es besteht also ein Funktionszusammenhang zwischen wachsendem Selbsteinsatz der Stifter ins religiöse Geheimnis einerseits und der eigentlichen Verkündigung, dem menschlich gewordenen Wunderabgrund auf der anderen Seite, auf der der Frohbotschaft. Und der wachsende Selbsteinsatz gründet sich schließlich in jenem spezifischen Überschreiten, womit jeder religiöse Akt beginnt und worin der produktive alle anderen Ausfahrten oder Vor-Scheine hinter sich läßt. Dies spezifische Überschreiten erweist sich, je reifer Religionen auftreten, als das einer nun allerstärksten Hoffnung, und zwar des Totum einer Hoffnung, das die ganze Welt mit einer ganzen Vollkommenheit in Rapport setzt.«(130)
Wenn Gott als »Geheimnis der Welt« verhandelt wird oder als absconditus sub contrario, so verbirgt sich hinter dieser Rede die Unzugänglichkeit der Gotteserfahrung mit den Mittel sprachlicher Rationalität. Die Denkbarkeit und Sagbarkeit Gottes ist im Gleichnis, in der Metapher und ihren Narrationen beheimatet, ist im Mythos angesiedelt, nicht in der mathematischen Formel. Vor der Logik des l7go' jeo« kapituliert der Verstand. Sie ist ihm entzogen wie das Unbewußte dem Bewußtsein.
Wenn das menschliche Subjekt nicht im Bewußtsein allein angesiedelt ist, sondern eher zentriert in seiner Leiblichkeit, zu der wie die Spitze eines Eisbergs auch das Sich-Wissen und wissendes Handeln gehört, wenn also das Drängen des Buchstabens vorwiegend im Unbewußten pulsiert, in der komplex strukturierten Materie des beseelten Körpers, so würde sich in der üblichen Übertragung menschlichen Selbstverstehens auf die Bebilderung Gottes, die so verbotene wie unumgängliche Attribution Gottes ergeben: Gott muß nicht gedacht werden als höchstes Bewußtsein, sondern als Sein, welches möglicherweise gar kein Bewußtsein oder ähnliches hat, dafür aber nicht weniger materielle Realität, Sinnhaftigkeit, Intentionalität, ja auch Intersubjektivität. Theologie wäre dann nicht mehr die reflektierte Wiedergabe der vorgängigen, in dreiteiliger Serie exklusiv für uns reportierten Selbstoffenbarung Gottes in der ziemlich blutigen Geschichte Israels, der Lebenskunst Christi mit ihrem blutigen Ende und der euphorischen Geschichte der Kirche mit ihrer pneumatischen Windstille, sondern die traditionell an dieser biblischen Narration geschulte und fokussierte Awareness für die Realität Gottes in der ganzen Materie, nicht nur in der Exklusivität religiöser mythologischer Paradigmata, die in der Glaubensgeschichte immer wieder zum Wechsel der Gottesbilder geführt haben und führen werden. Gott als unbewußte Sinnhaftigkeit, mehr als nur Person und so wenig beliebig wie das neurotische Symptom beliebt ist: eine von der bewußten Welt verkannte Insistenz auf der unaufhebbaren Wahrheit des trotz aller Tabus drängenden Begehrens nach Liebe.
Damit ist das Bewußtsein selbst als nur ein mögliches unter vielen Symptomen des Lebensvollzugs begriffen. Die Wahrheit verbürgt sich nicht allein in seiner Klarheit. Sie muß überhaupt nicht vom Bewußtsein begriffen sein, solange vom Bewußtsein nicht Unwahrheit als irritierende Störeinflüsse in der Art des Über-Ichs introjiziert werden, die dann allerdings zur Klärung der Wahrheit nötigen, weil sie den Leib durcheinanderbringen, den Welt-Leib ökologisch mortifizieren.
Darum sind auch Kinder dem innewendigen Reich Gottes in uns so nahe, obwohl sie seinen Selbstoffenbarungen in den drei Exklusiv-Serien der Bibel nicht gelauscht haben. Natürliche Gotteserkenntnis ist auch die Prophetie mit ihren zuweilen psychotischen Revelationserlebnissen, natürlich ist auch die Einfachheit Jesu, natürlich ist die apostolische Trauerarbeit über den mörderischen Verlust ihres Herrn und schließlich: natürlich ist, daß die Prinzipien der Herrschaft nicht verloren gingen in den Zweitausend Jahren Parusieerwartung, während Zungenrede, Wunderheilungen, lukanischer Liebeskommunismus und die johannäische Bruderliebe in vielem erkaltet sind. Der Unterschied von Erkenntnis Gottes aus seiner Selbstmitteilung im Exklusivreport mit mannigfachen Schreibfehlern (sola scriptura) oder aus der Natur(131) ist fiktiv, Monopolanspruch der kanonischen Redakteure, setzt Gott fest auf nur diese eine Auswahl der Narrationen, ist Gott gegenüber anmaßend und fesselnd, dessen Geist weht, wo er will, nicht wo er soll, wie die Ketzergeschichte illustrieren könnte.
Freud sieht im »Leonardo«, seiner härtesten Kritik, Religion als »regressive Erneuerung der infantilen Schutzmächte« und im Herrgott »psychologisch nichts anderes als ein(en) erhöhte(n) Vater«.(132) In der »Neuen Folge der Vorlesungen« stellt er das »großartige Wesen der Religion«, in Antithese zur scharfen Kritik der »religiösen Denkhemmung«(133) und der lebenslangen Infantilität der Kinder Gottes als Trias von primitiver Vorform der Wissenschaft, Trost im Unglück und juristische Regelung des Zusammenlebens heraus. »Sie gibt ihnen Aufschluß über Herkunft und Entstehung der Welt, sie versichert ihnen Schutz und endliches Glück in den Wechselfällen des Lebens, und sie lenkt ihre Gesinnungen und Handlungen durch Vorschriften, die sie mit ihrer ganzen Autorität vertritt.«(134) Die Wissenschaft hat die menschliche Wißbegierde zu versorgen begonnen; die politischen Strukturen der Völker sind weitgehend religionslos durch ein positives Recht und Tarifkämpfe geregelt; die Moral wird von der Zigarettenwerbung bestritten. Nur Trost gibt es in der Gesellschaft selbst in Beratungsstellen, Happy-End-Melodramen und Führer-Reden kaum ohne intensive religiöse Einlagen. Die Tröstung basiert auf der Allmacht des Schöpfers und Bewahrers, der auch im Unglück und Leiden noch retten kann. »Die Lehre ist also, daß die Welt von einem menschenähnlichen, aber in allen Stücken, Macht, Weisheit, Stärke der Leidenschaft vergrößerten Wesen, einem idealisierten Übermenschen geschaffen wurde.«(135) Dieser Schöpfervater, in fast allen Religionen nachweisbar, ist dem leiblichen Vater abgeborgt: »Die Psychoanalyse schließt, es ist wirklich der Vater, so großartig, wie er einmal dem kleinen Kind erschienen war. Der religiöse Mensch stellt sich die Schöpfung der Welt so vor wie seine eigene Entstehung.«(136) Der erwachsene Mensch hat gleichwohl nicht die Schicksalsmacht, die er seinem Vater aus der Froschperspektive einst zuschrieb; er ist den Fährnissen und Unbillen des Lebens hilflos ausgeliefert. »Er mag also auch jetzt noch nicht auf den Schutz verzichten, den er als Kind genossen hat. Längst hat er aber auch erkannt, daß sein Vater ein in seiner Macht eng beschränktes, nicht mit allen Vorzügen ausgestattetes Wesen ist. Darum greift er auf das Erinnerungsbild des von ihm so überschätzten Vaters der Kinderzeit zurück, erhebt es zur Gottheit und rückt es in die Gegenwart und in die Realität. Die affektive Stärke dieses Erinnerungsbildes und die Fortdauer seiner Schutzbedürftigkeit tragen miteinander seinen Glauben an Gott.«(137) Das Tabu als Regulativ des sozialen Konnexes ist für Freud mit den moralischen Forderungen des leiblichen Vaters verknüpft und weist sicherlich auf die Begrenzungserfahrungen und Traumata der frühen Kindheit zurück. »Durch ein System von Liebesprämien und Strafen wird das Kind zur Kenntnis seiner sozialen Pflichten erzogen... Alle diese Verhältnisse trägt dann der Mensch unverändert in die Religion ein. Die Verbote und Forderungen der Eltern leben als sittliches Gewissen in seiner Brust weiter«.(138) Solange der Mensch Gott gehorcht, schützt Gott den Menschen vor Gefährdungen. »Endlich hat man sich im Gebet einen direkten Einfluß auf den göttlichen Willen und damit einen Anteil an der göttlichen Allmacht gesichert.«(139) So gilt: »bis zum Gefühl der kindlichen Hilflosigkeit kann man den Ursprung der religiösen Einstellung in klaren Umrissen verfolgen.«(140)
Freuds anfängliche Illusion von einem Primat des Intellekts und der Vernunft(141) revidiert sich in der Studie über die Teufelsverschreibung des Malers Christoph Haintzmann zur Erkenntnis, daß die Psychoanalyse selbst mythologisch ist und in der klinischen Praxis in der Tat mit inneren Dämonen zu ringen hat.(142) »Die Dämonen sind uns böse, verworfene Wünsche, Abkömmlinge abgewiesener, verdrängter Triebregungen. Wir lehnen bloß die Projektion in die äußere Welt ab, welche das Mittelalter mit diesen seelischen Wesen vornahm; wir lassen sie im Innenleben der Kranken, wo sie hausen, entstanden sein.«(143) Die Introjekte des Über-Ich nehmen im Prozeß ihrer seelischen Rezeption immer mehr den Status mythischer Gestalten und Gewalten an. Im Unbewußten sind sie autonom, ihre Macht entspricht der göttlichen oder dämonischen. Das »Drängen des Buchstabens im Unbewußten«(Lacan) personifiziert sich immer wieder in Liäson mit den Tagesresten, den Introjekten der äußeren Realität, zu solchen Dämonen oder Göttern. So gibt es Gott als innere Realität extram rationem.
Albrecht Alt hat dargestellt, wie aus den einzelnen Stammesgöttern, diesen »nach menschlichen Individuen bezeichneten Gottheiten«(144), im Prozeß der Konsolidierung verschiedener Nomadenstämme auf dem Boden des sog. Kulturlandes Israel eine Verschmelzung der Gottheiten stattfand: es bereitete sich »auf dem Wege der Göttermischung das Verlassen und Verschwinden der ursprünglichen Bezeichnungen und Auffassungen vor.«(145) Diese Stammesgötter ohne Ortsbindung haben ihren Namen von Personen, »die zur Zeit der Entstehung dieser Kulte lebten, und es erhebt sich die Frage, was diesen Individuen im Verhältnis zu den betreffenden Numina eine so besondere Bedeutung verlieh, daß ihre Namen einmal für immer, weit über Lebzeiten hinaus, in die Bezeichnung der Götter hineingenommen wurden.«(146) Alt sieht den Grund für diese Verewigung darin, daß der betreffende Mensch die erste Theophanie des Gottes hatte, der daraufhin seinen Namen trug.(147) Er stellt auch fest, »daß diesen Göttern von Anfang an ein besonderes Maß von Anpassungsfähigkeit an die Veränderungen der Lebenslage ihrer Verehrer zu eigen war, eben weil bei ihnen die Bindung an die Menschen alle anderen Beziehungen überwog.«(148) Das gilt auch für die Vätergeschichten der Genesis. Wir müssen »auch Abraham, Isaak und Jakob als Offenbarungsempfänger und Kultstifter für die betreffenden Numina betrachten und eben darin die Wurzel der Überlieferung von ihnen erkennen.«(149) Die redaktionelle Rückdatierung der Vätergeschichten vor Mose und Josua vor die »Landnahme«, ist anachronistisch.(150) Die kanaanäischen Elim des Kulturlandes waren in der Tat ortsgebunden. Sie wurden bei der Landnahme mit den Wandergöttern der Nomadenstämme amalgamiert: »Die Aneignung der Heiligtümer Palästinas nahm in der Überlieferung die Form an, daß die Ahnen Israels nun als Offenbarungsempfänger und Kultstifter der dort vorgefundenen Numina in die örtlichen
Von diesen Untersuchungen Alts ist nur ein kleiner weiterer Schritt zur Vermutung, daß ursprünglich nicht die Theophanie des Kultstifters seinen Namen in den Namen Gottes eingetragen hat, sondern die Identität der Namen eine historische Identität der Namensträger in Form von einer leichten grammatischen Verschiebung tradiert: Warum sollte »der Gott Abrahams« nicht ehedem der »Gott Abraham« gewesen sein, mithin der von seinen Verehrern selbst wiederum ja unzweifelhaft in das Zentrum aller Narrationen gestellte Kultstifter höchstpersönlich? Dann wäre Abraham selbst die Theophanie Gottes, so wie der ägyptische oder babylonische König Sohn und Bild Gottes und damit Gott selbst war.(157) Was Freud allgemein religionsgeschichtlich hat formulieren wollen und anhand von Frazers Untersuchungen entwickelte, läßt sich also paradigmatisch - mit einer bei Alt um die soziologische Perspektive der nationalen Konsolidierung erweiterten Funktionstheorie des religiösen Mythos - als Ausdruck des narzißtischen Wunsches im Vorstellungsrahmen einer animistisch beseelten Natur begreifen. In der Tat ist auch die Lebenspraxis des Kultgründers und Theophanen zur Stammesnorm geworden und seine magische Macht zum Schutz des Stammes, einem Schutz, der über sein eigenes Leben hinausreichte. Soweit die biblische Stichprobe zur Ableitung des Glaubens aus den spezifischen Charakteristika des Kultstifters, der ja immer der Stammesvater war.
Die Fiktion Barths, die menschlichen Beziehungen seien nur sündhaft entfremdete und verzerrte Entstellungsformen des göttlichen Urbildes, der menschliche Vater nur Abklatsch des himmlischen, täuscht über die religionsgeschichtliche Ableitbarkeit der Attribute Gottes aus dem vorfindlichen kulturellen Lebenszusammenhang hinweg. Der königliche Thronsaal ist nicht nach den Beschreibungen der prophetischen Thronvision Jahwes eingerichtet worden, sondern war das geschichtlich Erstere. Die Gottesbilder und Gottesattribute sind immer der zeitgeschichtlichen Realität nachgängig. Erst sekundär wird für die Widerfahrnis der Theophanie ein Wort gesucht, welches ihr gleicht. Die Erfahrung Gottes drängt zur Verdichtung der Signifikanten, zur Steigerung der Metaphern und zur Geschichte ihrer Metonymien als sprachlicher Überbietung, die über das Urerlebnis gleitet. Metaphern und Symbole sind Gleichnisse, Verweise, Imaginationen, nie ist der Begriff eins mit seiner Sache. Nur unter dieser Differenz läßt sich von analogia entis sprechen, die Barth so suspekt war.(158) Der wahre Grund, weshalb Gott uns zutiefst entspricht(159), liegt in den Wurzeln seiner Entstehung: von Anfang an hat er präzise der Bedürfnisdisposition seines Kultstifters entsprochen. Im Bild Gottes ist das Bild des Stammesvaters eingeschrieben.(160) Die Bilder von Jahwe Zebaoth oder die prophetischen Thronvisionen nach der Art des jeweiligen Königshauses zeigen ein durch und durch menschliches(161) Antlitz Gottes: furchteinflößend wie der wirkliche Richter, Heerführer oder König. Zugleich schützend und mit einem brachialen apodiktischen Recht für Ordnung sorgend, entsprechen die Gaben Jahwes und sein Gesetz der realen Rolle des sozialen Herrschaftsapparats. Die mythischen Gestalten entsprechen den Gestalten der eigenen erlebten Geschichte und sind deren psychische Introjekte, gleichgültig, ob sie unter dem Eindruck der väterlichen Drohmacht oder der begehrlichen Partizipation an seiner Machtfülle identifikatorisch verinnerlicht worden sind. Als Introjekte führen sie das Eigenleben mythischer Gestalten: sie sind nicht mehr unmittelbar verfügbar, sondern, genau wie der mächtige pater familias, nur durch werbendes Feilschen in Gebet, Zauberspruch oder Beschwörung(162) aus ihrer Ataraxie des in Unbewußte zurückgezogenen Über-Ichs hervorzulocken. Wenn Gott in Christus den messianisch-politischen Erwartungen der Juden gerade nicht entsprach, als Gekreuzigter den Wünschen nach dem grandiosen Schützerobjekt widersprach, erweist sich nach Barth darin, daß er etwas anderes als nur Wunschprojektion ist. Barth verkennt den Sadismus eifersüchtiger Liebe: auch ein gekreuzigter Gott, als unschädlich gemachter Vater, kann Wunschbild der Menschen sein, zugleich Wunsch nach einem sympathischen, mitleidenden Sohn-Gott.(163) Gerade das Bild vom sich in Christus offenbarenden Gott, der mit der Barth eigenen Unbeirrbarkeit unentwegt auf seine grandiose Differenz zu anderen Göttern und dem »falschen Selbstverständnis« des natürlichen Menschen ante christum bedacht ist, ist die präpubertäre Vision eines »weltbesten«, um seine Identität bangenden Gottes, der seiner nicht sicher ist und darum alle mit einer »vollzogenen« Versöhnung foppt, die keinen einzigen Krieg verhinderte. Eine solche k4nosi' ist nur eine doketische Maske für den Hochmut »Gottes«.
In aller Entzogenheit(164) der Gottheit steht diese mythische Gestalt eben nicht quer zum Begehren der sozialen Verbände. Der Mythos ist die damalige aktuelle politische Option und Vernunft. Zugleich bewahrt der Mythos vergangene Geschichte auf: in dem babylonischen Kultspiel der Schöpfung, dem Gilgamesch-Epos, welches modifiziert zum Anfang der Bibel wurde, lebt das Wissen um die Frühjahrsüberschwemmung zwischen Euphrat und Tigris fort, in der Mose-Tradition historische Exodus-Erfahrungen der autochtonen Chabiru Ägyptens.(165) So hat Freud dem Mythos neben der Wunscherfüllung die Bewahrung von Erinnerung historischer Ereignisse in entstellter Form sehr zu Recht zugesprochen: »Wir bemerken jetzt, daß der Schatz der religiösen Vorstellungen nicht allein Wunscherfüllungen enthält, sondern auch bedeutsame historische Reminiszenzen... Die religiöse Lehre teilt uns also die historische Wahrheit mit.«(166) Wenn Freud nach dem Satz von der Wiederkehr des Verdrängten (Vatermordes) nun religiöse Phänomene als »Wiederkehren von längst vergessenen bedeutsamen Vorgängen in der Urgeschichte«(167) begreift, und Religion, sofern »sie die Wiederkehr des Vergangen bringt«, als Wahrheit bezeichnet(168), so verfällt er allzuleicht selbst einer biblizistischen Leichtgläubigkeit dessen, was dasteht. Da er nicht mit historisch-kritischen Exegese-Resultaten vertraut war, ist ihm dies kaum anzulasten. Man kann in der biblischen Redaktionsgeschichte bei der Erweiterung von Sagenkränzen kaum Einschübe beobachten, stattdessen um so mehr Anfügungen oder Vorausstellungen. Das bestehende Textkontingent wird ungern in seiner gewachsenen Struktur angetastet. Nach einer ähnlichen Verfahrensweise neigen wir dazu, das je Neueste unserer Erfahrung entweder an den Anfang oder an das Ende der bestehenden Geschichte zu verlegen. Im Modus der Protologie drücken wir so unsere innigsten Hoffnungen, unsere eschatologischen, messianischen Erwartungen aus: das Paradies steht nicht am Anfang, sondern am Ende der Geschichte, wenn überhaupt.
Nach eben dieser Neigung zur Protologisierung und Ontologisierung des Wunsches verhält sich Freud, wenn er die Wahrheit des Wunsches unvermittelt zu einer Wahrheit der Realgeschichte stipuliert. Er überträgt seinen Wunsch, den Vatermord als Triebkehrseite des ambivalenten, aber gehorsamen Wiener Bürgers zum anthropologischen Grunddatum zu universalisieren, auf die Moses-Tradition. Indem er Mose als vornehmen Ägypter, der sich zu den Kindern Israels als Befreier herabließ und sie zugleich auf seinen Monotheismus (=analytische Grundregel) verpflichtete, darstellt, hat er schon die Ambivalenz von Schutz und Repression entwickelt, der dann die veränderte Fassung des Ödipusdramas folgt: Mose wird selbst erschlagen von den Israeliten (Messias Freud in der IPV nur ein wenig von Perls). Erst von da an transportiert der Glaube seine heimliche Urschuld, die Christus sühnen soll. So wild diese Exegese auch den ödipalen Urwunsch Freuds in die Exodustradition einträgt, ohne Wissen, daß diese Tradition völlig disparat von sowohl Sinai-Vulkan-Theophanie als auch den Kulturlandtraditionen des Dekalog erst sekundär zu einer Ereigniskette aufgemischt wurde, es zeigt sich hier: wir nehmen Geschichte immer unter dem wildexegetischen Brillenblick unserer eigenen Interessen wahr und es gibt keine exakte Historiographie, die einer Reduktion des vergangenen Faktischen durch das erkenntnisleitende Interesse enthoben wäre. Noch der exakteste Exeget impliziert seine möglichen Ergebnisse; man kann dem hermeneutischen Zirkel nicht entrinnen, aber man kann ihn reflektieren. Wahrheit ist deshalb nie das extra nos der bruta facta, sondern immer schon das pro me individuell Sinn konstituierender produktiven Aneignung von Geschichte.
Es wäre angemessen, Freuds Rede von der Wahrheit im Mythos zu präzisieren: Im Mythos begegnet uns historische Wahrheit in einer vom Wunsch entstellten Form als Idealgeschichte und nicht als Realgeschichte.(169) Diese Erkenntnis gelingt Freud an anderer Stelle: in der Ablösung der infantilen Verführungstheorie durch den die allzu lüsterne Verwandschaft gütig schützenden Verzicht auf Rekonstruktion des Originalvorfalles mit der Einsicht, es komme auf die Tatsache allein schon dieser Mißbrauchsphantasie an, wie triftig auch immer sie sei, um die Hysterie zu begründen. Wie Psychoanalyse nicht Originalvorfälle thematisiert, sondern verwitterte Monumente vergangener Tage in ihrer entstellten, deformierten Gestalt bearbeitet, so ist der Mythos nie die reine Wahrheit, sondern Wahrheit, die ihre Gestalt mit der Wanderung durch die Zeiten modifiziert.
Perls nannte dies den Fluß der Gestalten im experimentum mundi et hominis. Auf die gute Gestalt der Erfüllung und selbstregulierten Grenzkontakt zur Umwelt im offenen Prozeß der unendlichen Analyse ist der Mensch quasi natürlich schon immer angelegt: er trachtet danach, komplett zu sein und nicht krankhaft reduziert; auch nicht um seine Vergangenheit: das Hier und Jetzt umfaßt ja schon immer die Verwobenheit in der Zeit. Wie Analyse und Theoriebildung stets unfertig sind, im p1nta âe@ Heraklits, so ist auch das wandernde Gottesvolk des Hebräerbriefs nie endgültig angekommen.(170) Das überströmende, schöpferische Sein Gottes ist im Werden, geht in das Todes-Nichts Jesu und setzt sich frei als selbst Vergängliches.(171) Und bei diesem Fluß durch das irreversible Zeitkontinuum gilt selbst noch im Stillstellen der Zeit während der Agonie am Kreuz, der Impass-Phase, dem Satori oder der gottesdienstlichen Erinnerung das Prinzip der Integration. »Es gibt keine gegenwärtige Identität des Menschen ohne Kontinuität mit seiner Vergangenheit.«(172) Die Dialektik der Mythen ist im Dialog mit dem sozialen und zeitlichen Kontext ein genuin messianisches Geschehen der Entfaltung der Wahrheit im Sturm der Geschichte.(173) Die deuteronomische Redaktion der Königsanalen hat die Trümmer königlicher Diktatur nicht verwischt und damit schon als Hofchronik Herrschaftskritik begonnen. Indem sie so Antwort bleibt auf die Bedürfnisse und Interessen der Gegenwart, formatiert die mythische Narration die ursprüngliche Textversion nach soteriologischer Maßgabe. Der Mythos hat rettende Funktion: er orientiert in der Welt durch Erinnerung vergangenen Glücks, schafft tröstende Horizonte mitten in der Gewärtigung eines nicht enden wollenden Kontinuums von Unterdrückung und Leid und entwirft Visionen eines glücklicheren Zusammenlebens. Der Mythos ist Utopie.(174)
In »Totem und Tabu« konstruiert Freud nach dem Muster der Hegelschen Phänomenologie eine genetische Sukzession von Animismus, Offenbarungsreligion und Wissenschaft.(175) Nach diesem Schema sind Naturvölker primitive Wilde und der Erfinder der Atombombe ein Träger der Vernunft. Der krude Szientivismus sieht in der technischen Innovation die Quelle des besseren Lebens: Wissenschaft ist ihm der »einzige() Weg, der zur Kenntnis der Realität außer uns führen kann«(176) und diese Erziehung zur Realität ist wiederum das einzige wirkliche Mittel, »wodurch wir unsere Macht steigern und wonach wir unser Leben einrichten können«.(177) Daß die »außerordentlichen Fortschritte in den Naturwissenschaften... das Maß von Lustbefriedigung... nicht erhöht« und die Menschen »nicht glücklicher gemacht« haben, weiß Freud.(178) Noch in »Warum Krieg?« hält er resignierend am szientistischen Vernunftprimat fest: »Der ideale Zustand wäre eine Gemeinschaft von Menschen, die ihr Triebleben der Diktatur der Vernunft unterworfen haben... aber das ist höchstwahrscheinlich eine utopische Hoffnung.«(179)
In der Tat ist diese Vernunft diktatorisch: Wo Es war, soll Ich werden - diese Losung verrät das Programm eines Eroberungskrieges und Analyse wird denn auch als dreifacher Kampf des Analytikers beschrieben gegen öffentliche Meinung, Widerstand des Patienten und die eigene Gegenübertragung.
Einer Vernunft, die geradezu imperialistischen Bemächtigungsdrang entfaltet, sich die Erde untertan macht(180), muß das Unbewußte zwangsläufig Widerstand entgegensetzen, zumal ihm von der Moral dieser Vernunft metapsychologisch eine »angeborene Neigung des Menschen zum Bösen« und zur Grausamkeit in der Manifestation des Todestriebes supponiert wird.(181) Weil sich das Begehren immer schon im Stande einer massiven moralischen Entwertung weiß, die auch in der Analyse nicht so wertfrei aufgehoben ist, wie der Analytiker zunächst vorgibt, lebt es als Verdrängtes immer schon unter dem Selbstschutz des Stigmatisierten.(182)
Die Metapsychologie vom Todestrieb als einer Neuauflage mittelalterlicher Hamartiologie perpetuiert die Ächtung. Wie sollte das Unbewußte noch ohne Widerstand auf diese Diskriminierung sich offenbaren können? Widerstand und neurotisches Symptom sind allererst Produkte eben der Vernunft, die unter dem Versprechen der Heilung das Unbewußte mit einen zweiten Versuch der Zähmung attackiert. Das Programm, aus Es Ich zu machen, ist Freuds Illusion. Es kann gar nicht darum gehen, das Es dem Ich gefügig zu machen, weil das Ich allemal zu schwach ist, um alle Kapazitäten des Es zu realisieren. Möglich ist allenfalls, die Grenzen zwischen Ich und Es anzuschmelzen, das Ich zu sensibilisieren für die Vielfalt und schöpferische Kraft des Es, der Materie im Begriff ihrer Bewußtwerdung. (Weizsäcker)
Freud sieht später, daß man nicht Vernunft jenseits des Mythos betreiben kann, sondern alle Vernunft sich je und je im Modus mythologischer Rede wird ausdrücken müssen, ja, daß sie in der Verdrängung des Magischen durch die materialistische Wissenschaft eine fatale Wiederholung des Verdrängten ereignet, ja daß dieses Rezidiv in graue Vorzeit dämonischer ausfallen kann als die Höllenphantasien der Zeit der Zauberer. Sowohl die alltägliche Klinik als auch die Schrecken der Nazikultur lassen ihn wieder an Teufelsmächte glauben. Entgegen allem Gerede von Entmythologisierung reklamiert er schließlich für die Vernunft, zu der der Kranke in der heilenden Redekur gebracht werden soll: »Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie«.(183) Man kann nicht nicht-mythologisch reden. Alle Rede ist Metapher, ist Gleichnis, nie Abbild der res signifikata, sondern bestenfalls guter Wegweiser. »Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie. Allen Stoff empfängt sie von den Mythen, um sie zu zerstören, und als Richtende gerät sie in den mythischen Bann... Die Dialektik der Aufklärung schlägt objektiv in den Wahnsinn um. Der Wahnsinn ist zugleich einer der politischen Realität.«(184)
Das »ozeanische Gefühl«, das »Einssein mit dem All« in Mystik, Yoga und Zen, Trance und Extase bedeutet ebenfalls eine Regression, diesmal jedoch nicht zum kindlichen Schutz durch den grandiosen Vater, sondern als »Wiederherstellung des uneingeschränkten Narzißmus«(185) und als »Regressionen zu uralten, längst überlagerten Zuständen des Seelenlebens«.(186) Erik Homburger Erikson hat diese präödipalen Konfluenz-Erfahrungen mit der stillenden Brust und der wärmend-bergenden Mutter als zentralen basalen Grund der ontologischen Sicherheit begriffen.(187) In der archaischen Verschmelzung entsteht das nötige Grundvertrauen des Geborgenseins, was für jeden künftigen Kontakt und jede künftige Abgrenzung zur Umwelt entscheidend wichtig sein wird. Die Dialektik guter Grenzen lebt von deren anfänglicher totaler und späterer periodischer Überschreitung.
Während die Vernunft als Diskurs der Sprache sich etablierte, gründet der Mythos auf einer wesentlich breiteren und andersartigen Basis: Aus der imaginären und narrativ vermittelten Inkorporation der Stammesväter oder Massenführer als kollektiven Leitbildern erwächst ein gemeinschaftsbildender gemeinsamer Bezugspunkt. In einer nicht nur narrativen Begegnung von Unbewußtem des Einen und Unbewußtem des Anderen transportieren sich die Gehalte dieser Inkorporationen und theophanen Imagines. Diese Ebene könnte man im Gegensatz etwa zum wissenschaftlichen Diskurs topologisch als die dynamische Ebene des interaktiv sich fortschreibenden und verändernden kollektiven Unbewußten bestimmen. Dieses im illokutionären oder auch lokutionären Dialog der Unbewußten sich als Gruppennorm übersummativ und überindividuell herausbildende kollektive Unbewußte drückt sein Begehren im Mythos aus. Im Mythos werden unbewußte Gehalte veröffentlicht und transportiert. Sie werden so zu neuen Introjekten im Unbewußten anderer. Wenn Hegel von einem objektiven Geist als einem der Vernunft spricht, so müßte man stattdessen von einem objektiven Geist als einem der Vernunft und der Unvernunft zugleich sprechen, dessen topisches Reservoir die seelische Ebene des Unbewußten aller Mitglieder eines sozialen Verbandes sind. Die therapeutische Erfahrung von Übertragung und Gegenübertragung(188) zeigt, daß in der analytischen Dyade immer schon vor jedem gesprochenen Wort ein intensiver Dialog der Unbewußten erfolgt, der mit der koenästhetischen Wahrnehmung, die noch den Kindern eigen ist, angemessener erfaßt werden kann als mit den sprachgesteuerten Reduktionen der Wahrnehmung Erwachsener, die wir Verdrängung nennen. Der illokutionäre, performative Austausch zwischen den Menschen ist ungleich effizienter, wirkmächtiger, formbestimmender als jeder lokutionäre Diskurs.
Wenn das Es der Ort der prophetischen Offenbarungsvisionen ist und der Ort des Gebets, so heißt diese Öffnung des Ichs zum Es hin in der Sprache der dialektischen Theologie: Hören auf das Wort Gottes.(189) Ist der christologische Interzessor von Rm 8 nicht genau das, was Perls mit dem Zeigarnik-Effekt als Tendenz zur guten Gestalt, zur Heilung dem Unbewußten attestiert? Das Motiv der geschlossenen Gestalt oder, aufs Ganze des Lebenspanoramas gewendet, der gelingenden Integration des Verdrängten, ecksteinmäßig Verstoßenen in die Person hat fundamentale messianische Züge. M
Daß die Versöhnung nicht ohne den Schmerz Gottes am Kreuz geht, hat seine Analogie im therapeutischen Durcharbeiten des Impass: Erlösung von der Macht vergangener Verletzungen im dauerhaft kränkenden Schuldzusammenhang gibt es nur, indem man noch einmal durch die Hölle dieser Verletzungen hindurchgeht und einen anderen Weg ins Leben von dort aus auferstehungsmäßig und ex nihilo desperationis eine neue Kreativität von Verhalten entwickelt, der den hermetisch-hermeneutischen Regelkreislauf der Schuld und ihrer autogenerativen Reaktionsbildungen und Wiederholungszwänge erfolgreich durchbricht.(191)
Versöhnungslehre mit dem Kreuz und der Auferstehung Christi als der Vorbedingung einer Befreiung von der zwanghaften Regelkreisläufen der Schuld(192) und experimenteller Therapieprozeß in Abfolge von Rollenverhalten, Angst-Blockade, Implosion, Explosion und Neuorientierung entsprechen einander. Das bedeutet kein Plädoyer für die Hinrichtung Jesu, sondern stellt im christologischen Mythos als einer Form der apostolischen Trauerarbeit um den Gekreuzigten Relations-Analogien fest: Nur die Konfrontation mit dem Negativen wird dieses auch überwinden. Jesus ist ein Mann, der diese Konfrontation nicht vermieden hat. Dieser Mut macht lebendig.
Fazit: Die biblischen Texte stellen nur die Spitze eines Eisbergs von religiösem Erleben des jüdischen Volkes dar. Zentrale Erfahrungen wie Offenbarungsempfang und prophetische Vision zeigen die innige Verwobenheit von Tagesresten, mythischer Tradition durch bekannte Narrationen und unbewußter »Bearbeitung« zu neuen halluzinatorisch wahrgenommenen Traumarbeiten. Sprechen durch Traum zeigt, daß Gottes Offenbarung ihren Weg nimmt durch das Unbewußte des Propheten, bis hin zur Psychose bei Jeremia. Wie jede Psychose Realität verzerrt bearbeitet, so fließt in die visionäre Offenbarung Gottes immer schon Realität ein, ob als Tagesrest oder narrative Tradition introjiziert. Im homo absconditus offenbart sich der deus absconditus(193) nie ohne vielsträhnigen Bezug zur aktuellen politischen Situation seines Volkes.(194) Auch prophetischer Traum und Schreckgesichte beinhalten politische Vernunft. Sie sind zugleich schärfste Logik und verschlungenste Übertragung von Bildern, Symbolen aus anderen Zusammenhängen aufgrund einer im Prozeß der Revelationsarbeit des Propheten entdeckten inneren Kohärenz der Metapher mit dem Offenbarungsgehalt, dem Aussagesinn. Das Unbewußte, in dem Gott sich offenbart, ist keines jenseits der Vernunft, sondern in und mit der Vernunft. Es ist allerdings ebenso keines jenseits des Wahnsinns, sondern in und mit dem gelehrten Wahn. Das extra nos Gottes, welches die Theologie je und dann beschworen hat, ist keines der außerirdischen Faktizität der Existenz Gottes, sondern wurde immer gedacht als ein pro me, ein persönliches Bezogensein. Das Reich Gottes inwendig in uns (Luk 17,21) kann nun verstanden werden als eines der innerpsychischen Realität jenseits der Vernunft einer Aufklärung, die den Wahnsinn als stummes Raunen von sich abgespalten hat(195) und sich damit selbst verkürzt und verkrümmt hat. Der Makel eines totaliter äußerer und innerer Natur immanenten Gottes, das Böse der Menschen, den Sadismus, als dunkle Seite seines liebenden Seins nicht totaliter auszuschließen, führt zu einem anderen Umgang mit dem Bösen: »Wenn man den Begriff der Repräsentanz aufgreifen will, mußte man ohne Einschränkung sagen, daß alles, was ist, Gott repräsentiert.«(196) Die Hermeneutik des Bösen in der Psychoanalyse kann selbst noch bei den widerlichsten Mördern im Begehren des Verbrechers den Wunsch nach Liebe und Geliebtwerden und seine oft grauenvolle Kränkung und Enttäuschung entdecken. Mit den Augen der Liebe betrachtet entpuppt sich dann das Böse oft als grauenvolle Entstellung des Guten, des Liebesanspruchs. Auch das Böse ist ein Harren auf Erlösung, bedarf der Therapie.(197)
Therapie will für das subjektive oder gesellschaftliche Befinden immer auch Erlösung von dem Bösen, dem Übel (Mt 6,13: 2ll! â«sai üm0' 2p/ to« ponhro«). So ist das zur Vernunft hinzutretende Moment im Heilsprozeß als der Verlängerung des Schöpferhandelns dessen, der alles neu macht, die Kreativität. Der Glaube in konstruktiver Ergänzung der analytischen Vernunft "bietet zur Befreiung des kranken Menschen aus seinen psychischen Teufelskreisen nicht nur jene kritische Rationalität und Ich-Stärke an, die oft gegen die psychischen Strategien des Bösen aufgeboten wird, sondern auch jene neue spontane Lebendigkeit, deren jene kritische Rationalität als ihrer Atmosphäre bedarf, um sich frei entfalten zu können... Die christliche Symbolik, die die Situation des Menschen in der Passion Gottes darstellt, die seine Erinnerung wach und seine Hoffnung offen hält, ... setzt nicht apathische Herrschaftsrationalität, sondern mitleidende Vernunft frei. 'Wir erkennen, soweit wir lieben', sagte Augustin und machte damit die Liebe zum Ermöglichungsgrund für die Erkenntnis."(198) Gestalttherapie als kreativer Prozeß(199) kann theologisch verstanden werden als die Selbstexplikation der Schöpfermacht Gottes in den Problemlösungsversuchen des um seine Freiheit, Lebendigkeit und auch Vulnerabilität ringenden Klienten, der mehr will als nur Arbeitsfähigkeit und Genußfähigkeit in einer verwalteten Welt. Der Lehre von der imago dei und der paulinischen Gleichgestaltungsidee zufolge manifestiert sich in der menschlichen Selbstregulation die regula fidei einer vivifikatorischen Hoffnung auf neues Leben, welche am schlecht Faktischen einer totalitären und pathologischen Gesellschaft ungleich mehr zu leiden hat als der - wie Perls sagt(200) - Angepaßte.
Wie Freud war Perls Jude und teilt von daher die Vatermordtheorie: Wem der eigene Vater derartig bigott und diktatorisch aufgewartet hat, der kommt vermutlich kaum um eine intensive Auseinandersetzung mit dem Autoritarismus der Religion herum. Mit Freud begreift auch Perls Religion zunächst als kollektives Wahnsystem.(201) Es war früher einmal sinnvoll und gab Orientierung.(202)
Gott als prima causa erfüllt für Perls nur Lückenbüßerfunktionen einer möglichen wissenschaftlichen Kosmologie.(203) Religion ist Realitätsvermeidung und Dauerinfantilität mit Als-ob-Fiktionen oder gar vollends psychotischer Wahn.(204)
Gott ist eine Projektionsfigur menschlicher Allmachtswünsche(205) und der religiöse Masochismus verleiht ihm ein straflüsternes Antlitz.(206) Weitgehend ist für Perls Religion identisch mit Zwangsmoral, Masochismus, Retroflexion und Schuldgefühlen gegenüber den unerfüllbar scharfen religiösen Gesetzen des Pentateuchs. Die Projektion Gottes verändert den Realitätskontakt ins leicht paranoide.(207)
Später deutet sich bei Perls eine andere Sicht an: In der "Mülltonne" kann er Gott als prima causa der Weltmaterie und Lenker des Organismus anfragen.(208) Dennoch erscheint ihm die Balancetheorie Friedlaenders stimmiger als eine theologische Schöpfungslehre.(209)
Der Gedanke einer von Bewußtsein beseelten Materie(210) läßt zumindest ein Weiterdenken in Richtung auf Spinozas Deus sive natura oder die paulinischen Formeln von Gott, der p1nta 5n pasin ist (1 Kor 15,28), zu. Auch wenn Perls den "Leonardo" Freuds kaum gelesen haben wird, wo vorsichtig von Leonardos "spinozistische(r) Denkweise"(211) die Rede ist, läßt sich auch hier die jüdische Tradition der Einwohnung Gottes in seiner Schöpfung als das heimliche und zentrale Motiv herauslesen, in dem der an Buber geschulte Perls und Freud mit Spinoza konvergieren.(212) Die Idee Gottes ist dann zugleich eines des Natursubjekts: "Wir zeigen alle noch zu wenig Respekt vor der Natur, die nach Leonardos dunklen, an Hamlets Rede gemahnenden Worten 'voll ist zahlloser Ursachen, die niemals in die Erfahrung traten'... Jedes von uns Menschenwesen entspricht einem der ungezählten Experimente, in denen die ragioni der Natur sich in die Erfahrung drängen."(213) Diese "Mythik der Schöpfung"(214), die bei Perls bis auf Meditationen über seine Katze(215) und die Kategorienlosigkeit des Satori(216) von physikalistischen Beispielen als Garanten des Realen geprägt ist, kann als zur offenen Adäquatheit fortschreitende(217) Verschränkung von innerer und äußerer Natur, als Begegnung von Mensch und Welt(218) begriffen werden, wie es bei Tillich, Buber und Bloch geschieht. Eine der Konsequenzen des Innewerdens für die therapeutische Technik im Dialog der Unbewußten per Übertragung und Gegenübertragung wäre der - bei Ferenczi beispielhafte - Verzicht auf nosologische Kategorien.
Der historische Jesus hat die Gesetze der Reinheit und der Dissoziation des Unreinen in einer eigentümlichen Verkehrung der Werteordnung zugunsten der gesellschaftlichen Opfer angefochten. So viele seiner Streitgespräche dienen dem Ziel, die Klischees und Stereotypen der Ausgrenzung ad absurdum zu führen, die Klassifikationen ihrer Brüchigkeit zu überführen, um die Grenzenlosigkeit der Liebe des Vaters deutlich zu machen, der über allen seine wärmende und bergende und manchmal auch sengende Sonne aufgehen läßt. Das Gegenüber ist nicht "der Pharisäer", "der Nicht-Jude", "die Hure", sondern ein ganz besonderer Mensch mit all seiner Lust und Not.
Und selbst bei aller Unterscheidungsfähigkeit zwischen den idealtypischen Klassifikationsmerkmalen der WHO-ICD oder der DSM-III-R, dem Diagnoseglossar der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung(219), und der Einzigkeit eines jeden Patienten: immer ist der Arzt geneigt, auf seine Kundschaft erlernte Klischees zu übertragen, lebt in einer permanenten berufsbedingten Übertragungsneurose, von deren Qualität einer self-fulfilling prophethy(220) er oft so wenig ahnt wie der Paranoiker vom circulus vitiosus seines die Befürchtungen allererst durch entsprechendes Verhalten gegenüber der Umwelt als deren Gegenreaktion provozierenden Wahns. Wenigstens hat Perls für sich begriffen, daß er paranoide Muster transportierte, aber nicht realisiert, daß er sie auch in den isolationistischen Rezidiven psychoanalytischer Klassifikationslust blind wiederholte. Das Gegenüber ist eben nicht "der Neurotiker", "die Hysterica" oder der "Fallensteller" und Manipulierende(221) und es geht in der Zieltaxonomie auch nicht um eine dubiose Art der Neuschöpfung als ein Machen des Therapeuten, "wirkliche Menschen hervorzubringen".(222)
Den Anderen als Gabe mit all seinen Gaben, als Aufgabe mit all seinen Belastungen und Unerträglichkeiten zu gewahren und ihn vom Objekt des Spieles Therapie zum Subjekt im Angesicht eines anderen Subjekts zu machen - das ist Sache des gelebten Lebens. Dieses wird aber auch durch schlechte Theorie schon verstellt.