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Diese Arbeit ist ein Mammutwerk geworden. In den sechs Jahren seit 1990, dem Beginn des Projektes, hat sich mein Wissensstand über Psychotherapie von einer anfänglichen Idealisierung als dem einzig hinreichenden Instrumentarium zur Erforschung der Herzen gewandelt bis zu einer sehr kritischen und behutsamen Arbeit des Umganges mit dem therapeutischen Handwerkszeug. Diese Entwicklung spiegelt sich in der relativen Naivität, mit der noch die seichte Expertise über Perls und die ersten hundert Seiten über Freud geschrieben sind. Der Reiz dieser Arbeit war für mich, in Gebiete einzudringen, die mich immer schon interessiert haben, aber fachlich völlig neu waren; auch die Beschäftigung mit Iranistik und Sozialpolitik war für mich ein Novum.
Da alles überdeterminiert ist im 'Seelenapparat', kann man auch fast jeder Deutung etwas abgewinnen. Daher war in der Eingangsphase meiner Fortbildung am Fritz-PerlsInstitut für Gestalttherapie/Integrative Therapie, flankiert von vorliegender Arbeit, die Entdeckerfreude am multiplen Sinn ziemlich jeder menschlichen Regung im Vordergrund. Dazu kam eine Mystifikation, unter der ich immer gelitten habe, abgeleitet vom allwissenden Gott (Ps. 26,2; 44,22; 139): Der Psychoanalytiker hat wie ein Vater oder Polizist den direkten Einblick ins Unbewußte, sieht etwas, was ich nicht sehe, durchschaut, enttarnt, entlarvt meine Sündhaftigkeit, meine inkonsistente, gebrochene Moral. Die Phantasien der Zensuierung waren reichhaltig - entsprechend zur realen Gesellschaft, in der mehr zensiert wird, als für ein reibungsloses Zusammenspiel nötig wäre.
Nachdem ich beide Rollen erprobt und durchgespielt habe, nachdem ich anfänglich dem Analytiker jedes Wort geglaubt habe, als wäre es die Wahrheit über mich, habe ich im Fortgang der Analyse, der Fortbildungsseminare und in den Rückmeldungen meiner Freunde immer tiefer verstanden, wie sehr die Deutungen des Analytikers mit seiner eigenen Geschichte zusammenhängen und wie sehr die Fusion solcher zwei Biografien im therapeutischen Arbeitsbündnis, angereichert und verunreinigt durch die Metatheorien von Arzt und Ausbildungskandidat oder der Gruppen mit ihren Meinungsmachern und Meinungsführern, zu allen möglichen Konfusionen, Interpretationen und Verhaltensexperimenten führen, nur nicht zur Wahrheit über mich. Der Ettikettierungseffekt, ja die Stigmatisierung durch solche sehr vorschnell und oberflächlich angebrachten Deutungen und der Meinungslevel über psychisch Krankes in Therapiegruppen haben mich immer skeptischer gegenüber dem Verfahren Therapie werden lassen. Die Unterschiede zwischen den Schulen sind dabei nahezu vernachlässigenswert.
Nachdem ich die inneren Inkonsistenzen Freuds und den wissenschaftsgeschichtlich interessanten Dogmatisierungsprozeß jeder Schule als eine Verflachung der Erkenntniswilligkeit begriffen hatte, nachdem ich die eigenen neurotischen Ängste und Widerstände der Analytiker Freud, Horney, Reich, Perls u.v.a.m. entdeckt hatte, begann ich nachzudenken, wie die Konfusion einer Neurotikergeneration, die eine zweite Neurotikergeneration selegiert und erzieht, in ihrer nach langen Widerständen endlich etablierten und kassenfinanzierten Standeshybridität zu relativieren sei im Sinne von Verbraucherschutz des Patienten. Das zentrale Problem ist die völlig gegen Störfaktoren abgeschottete Deutungsmacht des Therapeuten, der, solange er den Widerstand des Patienten als Indiz der Triftigkeit seiner hermeneutischen Vorannahmen betrachtet, das gesamte analytische Deutungsnetzwerk, mit oder ohne Todestriebmischungen, abspulen kann, ohne daß der Patient die geringste Chance hätte, eine andere Deutung zu entwickeln. Er hat nur die Wahl, die Fachterminologie als treffende Beschreibung seiner Problematik zu akzeptieren und adaptieren, oder die Therapie zu wechseln, um unversehens wieder mit einer ähnlichen Sondersprache einer Therapieschule Vorlieb nehmen zu müssen. Die mutuelle Analyse Ferenczis war, neben sehr undogmatischen Erfahrungen mit meiner Lehrtherapeutin Bettina Hausmann, ein Ausweg aus dem Dilemma der Macht und Abhängigkeit in der Therapie. Dieses Thema durchzieht die Arbeit auf fast jeder Seite: Wie können wir miteinander zu unseren Gefühlen, zu unseren tiefsten Einsichten, zu unserem Glauben vordringen und ihre Intentionen als Motor unseres Handelns neu einrichten? Wie können wir gemeinsam unsere Triebzensuren prüfen und, wo nur noch glückshinderlich, nicht mehr schützend, durch eine neue gemeinsame Bewertung erweitern: durch eine liberalere Zensur der Erlaubnis, zu sein, wie ich bin, und so auch gut zu sein? Das präzis ist angewandte Rechtfertigungslehre vom gnädigen Gott.
Dem gegenüber nehmen sich psychiatrische Diagnoseglossare immer noch wie Strafgesetzbücher aus, sind alter Äon, gehören, mit Luther, zum Reich der Welt, nicht zur Heilsgeschichte eines Gottes, der, als Logos in Materie und Unbewußtem seiner Schöpfung unmittelbar immanent, latent wie der homo absconditus selbst, zur Offenbarung seiner Herrlichkeit in der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit seiner Kinder drängt und in ihrem Seufzen, im Sehnen und Harren der äußeren und inneren Natur, seiner bestimmten Negation der Negativität dieser noch unvollkommenen Schöpfung Ausdruck verleiht. Psychotherapie ist eine der Handlungsebenen dieser bestimmten Negation im Aufschrei der seelischen Leiden.
Diese heilsgeschichtlich-messianische Perspektive von Rm. 8 ist die ständige Folie, auf der die Aufhebung der Verdrängung diskutiert wird und mit der aus der Vision eines Friedensreiches von Wolf und Lamm grasend beieinander, im Schäferhund längst realisiert, die Visionen machtfreier Beziehungen selbst zwischen Amtsträgern und Laien, Profis und Neulingen entwickelt werden. Das Starre am Glauben ist, ähnlich dem Symptom, daß er zeitlos und nur schwer irritierbar ist; man kann auch ihn verdrängen, aber die Verdrängung politischer Hoffnung auf eine Welt ohne Tränen ist genauso beschädigend wie die Kastration der multiplen sexuellen Wünsche durch die lockere Biederheit in der Kirche, in Freuds Umkreis und im Gestalttherapie-Institut. Der Glaube als Hoffnung ist nicht wahr. Er wird nur wahrheitsfähig im Sinne des Wunsches: wenn er sich erfüllt, wenn die Vision zu dem wird, was der Fall ist. Sexuelle Wünsche sind meist noch fast leicht zu erfüllen; den verrückten Jahren mit meiner wundervollen Geliebten Heike Sching verdankt der erste Teil seinen Protest gegen Freuds Verklemmtheit. Die politischen Wünsche universal realisierter menschlicher Würde dagegen sind fast kaum erfüllbar. Die therapeutischen Wünsche, zwischen beiden oszillierend, sind mittelschwer erfüllbar: In einer mutuellen Therapie, die ihr ganzes Material konsequent aus den Alltagserfahrungen und ihrem Sprachausdruck bezieht, die als immanente Analyse die Formen und Strukturen des lustvollen und des leidvollen Erlebens und Verhaltens zu begreifen sucht, ohne sich um diagnostische Zuschreibungen zu kümmern. Der Abschied von der Definition als Auftakt zur Infinition, zur Erweiterung des Seienden um das Mögliche, ist ein Grundzug des Glaubens Jesu und der Gestalttherapie gewesen und befreit die, die mit dieser Offenheit arbeiten und lieben, zur experimentellen Zukunftswerkstatt ihrer Träume, Wünsche und Persönlichkeiten. Psychotherapeutische Metatheorien haben daher einen prinzipiell hypothetischen Charakter, der zu äußerster Vorsicht im Umgang mit ihrer Nosologie nötigt. Sie ist bestenfalls das Kartenhaus, welches im Angesicht des lebendigen Menschen nach und nach zusammenfällt, je mehr hinter den abstrakten Übertragungen aus den Archiven meines Wissens ein mir vertraut werdender Mensch in seiner leiblichen Einzigkeit zu mir durch das Sortiment meiner methodischen Brillen und verfahrenstechnischen Scheuklappen durchdringt.
Nun zum Aufbau der Arbeit: Der Anfangsteil befaßt sich mit Perls Leben und Lehre, mit Freud, Lacan, Ferenczi, Reich, Horney, der Berliner Schule der Gestaltpsychologie, Friedlaender, Smuts, Moreno und Petzold. Er mündet in eine Kritik der am Fritz-Perls-Institut erlebten Therapiegruppen-Ideologie der aufsteigenden Mittelschichten, die gegenüber dem Elend der unterprivilegierten Mehrheit vollends blind sind.
Der Mittelteil ist meine theologische Reflexion einer Heilsgeschichte, in der Gott als Intentionalität der Materie erst allmählich prägnant wird in der Entwicklung von den frühesten, immer schon religiösen Bewußtseinsformen, dem Ahnenkult, der Magie, dem Schamanismus - über die konsolidierten Formen der 'Hoch'religionen des alten Orient, die allesamt in hellenistisch bunter "Postmoderne" die Bausteine zur Entstehung des Christentums aus der erinnernden Vergegenwärtigung des Juden Jesus geliefert haben. Ähnlich wie Sölle sehe ich Jesus als Lebenskünstler einer Intensität von Leben, die man als Inbegriff von Heilsein, Gesundheit, Integrität und Liebe bezeichnen kann und die automatisch therapeutisch ist. Christologie als sprachliche Erhöhung zum mythischen Monster des allsonntäglich neu geopferten Eucharistie-Helden begreife ich als eine Trauer-Reaktion wie auch die Ostervisionen. Es gibt einen großen Schatz weniger mythischer Partikel im Acker der Evangelien, wo die Menschlichkeit Jesu uns zu unserer eigenen Menschlichkeit verführt. Die sehe ich mit Ernst Fuchs und weniger mit Jüngel als Zentren heutiger Glaubenslerngeschichte. Daß gerade sie, die Impulse von Vergebung, Befreiung, Hoffnung, Aufbruch aus einer gesetzesfixierten Sklavenhaltergesellschaft, in einer sozialwissenschaftlichen Arbeit aufgegriffen werden, scheint wie ein fundamentalistischer Rückfall in graue Vorzeit. Eine empiristische Quantifizierung von Menschlichkeit in der Sozialwissenschaft kann sich allerdings ebensowenig vom Vorwurf befreien, daß das Quanten-Paradigma der Prozente eine lediglich andersartige Mythologie der Zahlen ist, die aus der Verlegenheit helfen soll, in die uns der grundsätzliche metaphorische Charakter unserer Verständigung und also unserer Wissensformen bringt. Wenn also schon Mythen, ob Zahl oder Sagenkranz, warum nicht Narrationen reaktivieren, die das Herz beben lassen vor lauter Sehnsucht danach, daß die Welt endlich so sei.
Ich habe in den Teilen über Vorsokratiker und Kosmologien viel Griechisches und Hebräisches eingebaut, vielleicht zu Unrecht auf theologische Leser hoffend. Die Materialsammlungen sollten in der Theologie eine universalhistorische, Religionen übergreifende Perspektive liefern, in der das Christentum - als eine der vielen und möglichen Offenbarungen der Prägnanz-Tendenz des alles in seiner großen Schwäche durchwaltenden Gottes auf dem Weg zu seinem Reich in dieser Welt - sein historisches Recht eingeräumt bekommt als Bruderreligion neben anderen, mit dem Bruder Jesus als Leitbild, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Daß dieser theologische Teil in einer sozialwissenschaftlichen Dissertation Unterschlupf findet, während - bis auf Joachim Scharfenberg und natürlich Christian Gremmels - theologische Professoren, bei denen die Arbeit einmal begonnen wurde, diese Arbeit wegen zuviel Freud, zuwenig Schuldifferenzierungen, zuwenig eigener Hieroglyphenübersetzung und zuwenig Barth- und Luther-Paraphrase ablehnten, zeigt etwas von der Fachlichkeit der Theologie als bekenntnisgefesselter und daher - wie der Fall Küng, Drewermann und Lüdemann zeigt - nicht wissenschaftlicher Fakultät, die gerade diesen Anspruch mit dem puren Gestus engagierter Seriosität um so heftiger verteidigt, je mehr seine Unterfütterung weggefressen ist. Für diese Seriösen geht es nicht an, daß das Proprium des christlichen Glaubens verwässert wird durch Aufweis seiner Vorläufer in anderen Religionen. Vor allem herrscht ein sola scriptura, ein ungebrochener Glaube daran, daß die einzige legitime Quelle der Theologie die Bibel sei und alles, was über sie von Theologen geschrieben ist; wer Nicht-Theologen zitiert, macht sich für Theologen schon vorab verdächtig und wird freundlichstenfalls als Religionsphilosoph akzeptiert, anregend, aber kein legitimer Denker des Wortes Gottes. Diesen inzüchtigen Abschottungen gegen die interdisziplinäre Erfassung von Realität und Weltverantwortung, die zugleich in grenzenloser Überheblichkeit das Denken dieses Wortes Gottes für ihr eigenes Treiben in Anspruch nehmen, muß gesagt werden, daß Jesus bei Ungläubigen mehr Glauben gefunden hat als in ganz Israel. Wenn es überhaupt von Interesse bleibt, von Gott als Wort zu reden, so ist das Feld dieses Diskurses die Gesamtmenge unseres Wissens überhaupt. Die Theologie bildet hierin eine minimale, irrelevante und methodologisch beständig nachhinkende Teilmenge - soviel sei zur Ehre der Theologie zugestanden, die die Ehre Gottes behauptet und beschwört.
Im Schlußteil über Selbsthilfe wird deren Funktion im Sozialstaatsabbau und ihre Kritik an der inkompetenten Hierarchie therapeutischer Helfer reflektiert mit dem Ziel, gleichberechtigte Beziehungen unter den Menschen, zu denen auch professionelle Helfer gehören, zu befördern. Darin allein liegt schon ein massives Heilungspotential. Eine Indikation, welche Menschen aufgrund der Schwere ihres Leidens professionelle Therapie benötigen, und welche sogar effektiver in Selbsthilfegruppen finden, was sie brauchen, wird angerissen. In den ca. 650 Aufsätzen zur Selbsthilfe, die ich eingearbeitet habe, war diese Frage noch gar nicht reflektiert, vor allem nicht auf dem Boden der Evaluationsforschungen Grawes. Wenn hier nun irgendetwas für die Forschung Neues erbracht wurde, wäre es dieser situative, bedürfnis- und prozeßbezogene, kritische und gläsernde Umgang in der Wahl der Methoden, mit denen sich ein Mensch etwas Gutes im schlechten Leben zu tun gedenkt.
Diese Arbeit ist keine politische. Sie bewegt sich um einen entpolitisierten Bereich, in dem es zentral um eigenes Leid geht, welches zunächst einmal die Aufmerksamkeit für das öffentliche Leben mindert. Es ist aber nicht auszuschließen, daß das Empowerment der Selbsthilfegruppen durch kleinste, unpolitische Interventionen ins öffentliche Leben langfristig eine unmerkliche, weil schleichende Veränderung des Denkens und Umgehens mit Kränkung und Krankheit bewirkt. Ob dies unsere Zukunft nachhaltig angenehmer macht, bleibt abzuwarten. Wenn aber irgendwo Ansatzstellen im Kampf gegen die psychische Verelendung sind, dann am ehesten genau dort, wo Menschen die ersten Schritte aus ihrer nicht selbst verschuldeten Unmündigkeit zu tun gezwungen sind.