Hermes geht vorbei

Geht Hermes wirklich vorbei oder ist er nicht vielmehr stets gegenwärtig? Versicherungen setzen auf den vertrauenerweckenden Klang des Namens, Umzugsunternehmen nutzen die Assoziation zu dem schnellen Boten, und die Bundesregierung beschwört die Zuverlässigkeit des Außenhandels mit dem Namen des Hermes, durch den die Exportgeschäfte abgesichert werden. Hermes-Bürgschaften werden seit 50 Jahren den deutschen Exportfirmen zugesichert, die Aufträge für jene Länder ausführen, bei denen nicht sicher ist, ob sie die Leistung auch werden bezahlen können (Fregatten für die Türkei, Staudämme für China und Indien, Atomkraftwerke für Brasilien). Gerade der jetzigen Regierung bereitet der Zielkonflikt zwischen Entwicklungshilfe und Exportförderung einiges Unbehagen, das aber der Wirtschaftsminister Müller mit dem Hinweis auf die 400.000 Arbeitsplätze, die Hermes schafft, zu dämpfen weiß. In dem Bemühen, zwischen dem Recht auf Arbeit hier und den Menschenrechten dort zu vermitteln, leuchtet eine Eigenschaft des Hermes auf, die uns noch begegnen wird: die List.

Zwar ist die Allgegenwart des Mythos im Wirtschaftsleben am Auffälligsten, aber er ist auch in Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts von erheblichem Gewicht, wie im folgenden gezeigt werden soll. Die Denkfigur des Hermes wird besonders dort eingesetzt, wo es um Grenzüberschreitungen der Erkenntnismethoden geht. Umberto Eco erläutert die Lage folgendermaßen: "Gerade die für den abendländischen Rationalismus typische Denkfigur des "modus ponens (wenn p, dann q; nun ist p; also q)" wird im Namen des Hermes-Prinzips aufgehoben und zum Modus der anderen Vernunft, in der etwa assoziative Einfalt, Plötzlichkeit, bildhaftes Denken und ästhetische Erkenntnis gleichermaßen bedeutsam werden. Zwar lässt sich etymologisch wohl keine Verbindung zwischen Hermes und Hermeneutik herstellen, aber die Versuche, zwischen dem Eigenen und Fremden zu vermitteln, sind in einer Weise identisch, dass Hermes doch als Namenspatron der Hermeneutik taugt. In polemischer Absicht ernennt Jochen Hörisch Hermes zum Schutzgott der Hermeneuten, die nichts als "trügerische Verständigung" im Sinn hätten. Hermes wie Hermeneuten seien "Virtuosen der Verwirrung", die immer schon da sind, wo sie doch erst hin gelangen wollen. Demgegenüber stellt Jean Greisch mit der Erläuterung der hermeneutischen Grundsituation klar, dass die dekonstruktivistische Kritik an der Hermeneutik, sie würde stets das Eigene privilegieren, an der zentralen Intention vorbeisehe, in einem unabschließbaren Prozess das Fremde mit dem Eigenen so zu vermitteln, dass das Andere das Selbst erweitert und doch das Andere bleibt; Hermes werde zum Gott des "Selbst als ein Anderer" (S. 35). Man kann hinzufügen, dass Dekonstruktivisten in ihrer Polemik gegen die Hermeneutik schlicht Hermes mit Hestia verwechseln, die Beharrlichkeit am häuslichen Herd und damit das "Selbst ohne den Anderen" darstellt.

Die umfangreichsten philosophischen Studien zu Hermes finden sich in dem fünfbändigen Werk von Michel Serres (1969-1980), "Hermes I-V", das zu studieren, ich mir für die nächsten Jahre vornehmen muss. Wohl vertraut aber ist mir das Werk, das die Summe aus der Hermes-Philosophie zieht "Der Parasit" (1981). Hermes ist der Parasit: er hat sich an Knotenpunkten der Kommunikation niedergelassen, regelt sie, beutet sie aus, vermittelt sie weiter, zieht seinen Profit daraus: "Alles geht durch Hermes' Hände. Er ist an einer günstigen Stelle plaziert... Alles geht durch seine Hände, weil alles sich zwischen seinen Händen mehr oder weniger verwandelt. Der Verteiler ist auch ein Transformator." (70) Das Werk erschöpft sich aber nicht in der Kritik an der parasitären Erkenntnisform, vielmehr bleibt diese ein Faszinosum, denn unter Ausschluss des Dritten gäbe es nichts Überraschendes, Ungeregeltes, Irreversibles (280). Hermes ist auch der Herr der Missverständnisse - nicht immer aus Absicht, denn beim Übersetzen stellen sich Ungenauigkeiten ein; häufig genug aber doch halbbewusst, denn wer Missverständnisse schafft, kann anschließend auch bei ihrer Deutung behilflich sein. So schaffen Hermeneuten bisweilen ihren Arbeitsplatz selber.

Harold Bloom hat in seinen Schriften zum Western Canon das Falschlesen ('misreading') zur Methode gemacht. Wenn die Überlieferung stimmt, dann verwendete man in Griechenland - wenn Gespräche ins Stocken gerieten - Missverständnisse sich einstellten - die Redewendung "Hermes geht vorbei."

Was ist das für eine Figur, welche Elemente bestimmen den alten Mythos?

Wesenszüge so vielseitig, dass es schwer ist, die Kernelemente des Mythos zu fassen. Als populärster der griechischen Götter hat er im Laufe der Jahrhunderte manche fremde Züge angenommen.

Nach der Überlieferung (in einem Nach-Homerischen Hymnos) ist er schon von Geburt an ein Schelm: Gerade geboren, verlässt er die Höhle der Maya, tötet eine Schildkröte, macht aus dem Panzer eine Leier, auf der er gleich spielt. Stiehlt dem Apoll 50 Kühe und treibt sie, um eine falsche Spur zu legen, rückwärtslaufend, zur Höhle, erfindet das Feuer und bringt den Göttern ein Opfer.

Am nächsten Morgen liegt er wieder artig in der Wiege. Apollon hat seine Rinder inzwischen gefunden und schleppt Hermes vor den himmlischen Richter Zeus. Listig verweist er darauf, dass er die Rinder nicht "heim"getrieben habe und wird freigesprochen. Auf dem Rückweg versöhnt er sich mit Apoll, schenkt ihm die Leier, bekommt den Hirtenstab. Seine Redegewandtheit zeigt sich schon hier.

Bei soviel Freundlichkeit wird er in die Welt der Götter aufgenommen und zum Seelenführer der Menschen ins Totenreich.

Das ist der Anfang des Wirkens als Herr der Wege, Schützer der Kaufleute (Attribute der Reiseschuhe, des Hutes, beides mit Flügeln), aber er kann sie auch in die Irre führen. Hermes ist der Gott der plötzlichen Änderung beschenkt aber auch die Menschen (Hermes-Segen) mit unerwarteten Funden und Schätzen, wobei nach der Herkunft nicht immer gefragt werden darf.

Durchgängige Leistung der Gestalt des Hermes ist sein Mittlertum: zwischen Menschen und Göttern, zwischen Lebenden und Toten, zwischen Tag und Nacht, Heimat und Fremde. Wichtigstes Medium ist die Sprache, die ihn zum Meister der Kommunikation und Bildung macht.

Es ist die produktive Kraft der Mythen, dass sie immer wieder neu erzählt werden können, mit immer anderen Akzenten, überraschenden Perspektiven. Dabei ist der Kern des Stoffes relativ beständig, die Ränder aber sind höchst variabel. Nicht nur in Ökonomie und Philosophie, sondern auch in der Literatur des 20. Jahrhunderts ist der Mythos des Hermes vielfältig aufgegriffen und gestaltet worden. Fünf Versionen aus drei Werken möchte ich im folgenden vorstellen und zeigen, wie gegenwärtig der Mythos ist und wie er aktiv in die Diskurse über Moral und Bildung eingreifen kann.

Früh im Jahrhundert begegnet Hermes uns in der Gestalt des (1) Psychopompos, als Seelenbegleiter aus der Unterwelt. Rilkes Gedicht "Orpheus. Eurydike. Hermes" (1904) hält den Augenblick fest, in dem Orpheus sich nach Eurydike umsieht und sie endgültig verlieren wird. Vorbild für das Gedicht ist das römische Relief eines verlorenen griechischen Originals, das Rilke in Neapel mehrmals gesehen hat. In dem Gedicht rücken die Motive Tod ("Und ihr Gestorbensein erfüllte sie wie Fülle") und Kunst (Orpheus spielt die Leier, "daß eine Welt aus Klage ward, in der alles noch einmal da war") in den Mittelpunkt der Darstellung. Hermes bleibt am Rande: er führt Eurydike aus der Unterwelt, bis Orpheus sich umsieht und er sie, dem Gesetz folgend, ins Reich des Todes zurückbegleiten muss. Er tut es "mit trauervollem Blick". Hermes ist eine Figur, die die Beiden versteht, ihre Wünsche ausführt, ihnen ihre freie Entscheidung lässt, gleichzeitig über die Einhaltung des göttlichen Gesetzes wacht und mit den Betroffenen trauert, wenn sie es verletzen und umkehren müssen. Hermes ist kein Totengott (wie Hades), der die Menschen aus dem Leben reißt, sondern ihr verständnisvoller Begleiter. Er ist überhaupt kein Gott, der ein festes Bild der Wirklichkeit vertritt, sondern ein Mittler zwischen unterschiedlichen Ideen. Hermes ist nicht immer der menschenfreundlichste, aber der menschlichste der Götter.

Diese Charakterisierung trifft ohne Frage auch für die Varianten des Mythos zu, die Thomas Mann in seinen Werken vom "Tod in Venedig" (mit Tadzio als Seelenbegleiter) bis zu "Felix Krull", den Mme. Houpflé als "geschmeidigen Gott der Diebe" bezeichnet) gestaltet hat. Kerényi gegenüber gestand Thomas Mann am 24.3.1934, dass Hermes seine "Lieblingsgottheit" sei und Kerényi wiederum hat ihn durch seine Hermes-Darstellungen so rechtzeitig auf den Mythos aufmerksam gemacht, dass er die Konzeption der Tetralogie "Joseph und seine Brüder" bestimmt hat. Vor allem im vierten Teil "Joseph der Ernährer" wird Joseph in vielfachem Sinne zu der modernen Variante des Hermes; gestaltet in der Pose des Hermes von Lysipp (an Kerényi 20.2.1934).

Über den Psychopompos hinaus (der Joseph auch ist, wenn er etwa seinen Vorgänger an Potiphars Hof "Mont-Kaw in den Tod geleitet) belebt der Erzähler verschiedene Varianten des Mythos wieder: Als (2) Psychagoge begleitet Joseph nicht nur die Menschen, sondern er beschwatzt sie auch. Der Roman setzt ein mit der Szene am Brunnen, in der wir Joseph in "schönem Gespräch" mit seinem Vater finden, in zweckfreiem Austausch von Gedanken und Geschichten. Als Geschichtenerzähler bewährt Joseph sich immer wieder. Mit seinen Erzählungen beruhigt er die Großen, aber sie dienen ihm auch dazu, sie in seinem Sinne  zu beeinflussen. Mit absichtsvollen Geschichten schwärzt er die Brüder beim Vater an, vermittelt den Brüdern ein Bild seiner eigenen Bedeutsamkeit, womit er sie dermaßen gegen sich aufbringt, dass sie Joseph schließlich in die Grube werfen, aus der ihn ismaelitische Händler retten und nach Ägypten verkaufen. "Klug beschwatzende Rede" wird sein rhetorisches Vermögen genannt und die Menschen am Hof Potiphars "wußten wohl, daß er durch schöne und kluge Rede, wie sie sie nicht fertig gebracht hätten, seinen Weg gemacht [...] hatte." Dabei erkennen die Menschen an, dass er nicht nur zu seinem eigenen Vorteil zu sprechen weiß, sondern auch für das allgemeine Wohl. Ein Meisterstück seiner beeinflussenden Rede ist der Versuch, sich dem Pharao, nach der Deutung der Träume, als oberster Planer der Volkswirtschaft des Landes anzudienen: "Wenn ich in mein Gefängnis zurückgekehrt bin, werde ich in Gedanken das Gespräch mit den Großen fortsetzen und sagen, wie man Vorsorge in Zeiten der Fülle treffen kann, damit Arme und Reiche in den Zeiten der Dürre keine Not leiden" - so etwa denkt er laut seinen Wirtschaftsplan durch, so dass Pharao ratlos fragt: "Hast du nun gesprochen oder hast du nicht gesprochen?" (S. 1070) Unterstützt von der klugen Mutter tut Pharao schließlich, was Joseph ihm nahegelegt hat: er ernennt ihn zum Groß-Wesir, zum "Freund der Ernte Gottes", "Schattenspender des Königs" und "Vize-Gott". Durch seine Redegewandtheit erwählt, wird Joseph zum Mittler zwischen Traum und Wirklichkeit, dem Willen Pharaos und den Bedürfnissen der Menschen, zwischen Planskizze und Ausführung, zwischen Leben und Tod (S. 1308). Die schönen Reden dienen zwar einerseits der Unterhaltung und seelischen Beruhigung der Mitmenschen, sind andererseits aber durchaus kunstvolle Mittel, den persönlichen Aufstieg Josephs und zugleich das allgemeine Wohl des ägyptischen Volkes zu befördern.

Eine zentrale Rolle nimmt Joseph in dem Roman als (3) Hermeneut (Interpret) von Geschichte und Träumen ein. Die anderen Figuren, sein Vater Jakob vor allem, begreifen die mythischen Erzählungen (von der Werbefahrt, von dem Schleierbetrug oder dem Segensraub) als Orientierung und Trost für die Gegenwart; Joseph deutet die Geschichten aus dem Horizont der Gegenwart neu und gewinnt ihnen veränderte Bedeutungen ab. Noch für Jaakob und seine zehn Nicht-Rahel-Söhne sind die Mythen das sichere Geländer aus der Vergangenheit in die Zukunft; vor allem bei schmerzhaften Erfahrungen wächst Trost aus dem überlieferten Mythos. (So versucht Jaakob sich über den vermeintlichen Tod Josephs damit hinwegzutrösten, dass Gott das Opfer, das er im Falle Isaaks nicht angenommen hat, nunmehr eingefordert hat.) Joseph erst verlässt die Spur der Überlieferung und nutzt sie für seinen neuen Weg: Er tut das im Übermut, als er den Schleier, der in der Vergangenheit zur Verhüllung der Wahrheit diente, gebraucht, um sich gegenüber den Brüdern zu erheben und daraufhin in die Grube geworfen wird. Mit Weitsicht verlässt Joseph die Spur des Schicksals, als er Geschichte nicht mehr nur geschehen lässt, sondern als Volkswirt in Ägypten selbst gestaltet. Damit tritt er heraus aus der Kette der Segensspendung und begründet eine Gesellschaftsordnung, in der nicht der Segen des Vaters, sondern die eigene Vernunft bestimmend wird. Der Mythos wird zu einem Element der Aufklärung. In ähnlicher Weise haben auch in den Jahren 1943–1945 Horkheimer und Adorno die Dialektik von Mythos und Aufklärung bestimmt.

Das Meisterstück seiner Interpretationskunst ist die Auslegung der Träume des Pharao von den sieben vollen und leeren Ähren sowie von den sieben fetten und mageren Kühen. Wie ein guter Lehrer es anstellen muss, so lässt Joseph im Gespräch Pharao selbst die Deutung finden: "Dieser Knecht vermag nichts anderes, als ihm wahr zu sagen, was er schon weiß" (S. 1066). Nimmt man beide Träume zusammen, so enthalten sie die Weissagung von den sieben fetten und den sieben mageren Jahren; die Segensfrist der vierzehn Jahre ist "der Raum der Vorsorge" (S. 1070). Wie Joseph sich selbst als "Zuchtmeister der Fülle" andient, haben wir schon gehört. Es ist das Hermes-Prinzip, das Joseph bei der Auslegung der Mythen, der Träume und der überlieferten Erzählungen anwendet: Nach dem Wahrheitskern der Geschichte zu fragen, ihn in die gegenwärtige Situation zu übersetzen und für die Lösung anstehender Probleme zu nutzen. Das entspricht der Arbeit der Hermeneuten: Die Sinnpotenziale an den gegenwärtigen Fragen zu brechen und Antworten zu finden, in denen die fremden Erfahrungen die vertrauten Probleme bereichern und reflektiert lösen helfen. Nach diesem Prinzip verfährt auch der Erzähler, indem er die biblische Josephs-Geschichte so erzählt, dass dem Verständnis des Mythos als Wiederholung des Gleichen sein Potenzial zur Veränderung (appellative Kraft noch heute) und für Deutungsvarianz gegenübertritt. Mit dem Paradigmenwechsel von der gehorsamen Erfüllung der Forderungen des Mythos zu seiner freien, produktiven Deutung wird der Mythos zu einem Medium von Aufklärung und Bildung. Dies ist ein Element des Gedankens von der Humanisierung des Mythos: dass das Maß des Handelns und Denkens nicht von der Tradition geboten wird, sondern aus gegenwärtigen Interessen nach Menschlichkeit und Glück wächst. Die Humanisierung des Mythos lässt sich auf vier Ebenen nachweisen: (1) Die Mythen werden selber menschlicher (siehe etwa die Bedingungen im Strafvollzug). (2) Der Weg des Joseph ist eine großangelegte Bildungsgeschichte, die aus einem selbstverliebten Narziß durch "Gruben"-Erfahrungen einen mitfühlenden Menschen und einen sozialen Ernährer der Menschheit macht. (3) Darüber hinaus ist es Josephs große Leistung, die unterschiedlichen Kulturen Israels und Ägyptens miteinander zu versöhnen. Nicht Kampf und Krieg sind angesagt, sondern Integration zu gemeinsamem Vorteil: Mit dem Wissen um Noahs Vorsorge kann Joseph die fruchtbaren Jahre im Nildelta für seine Konjunkturprogramme nutzen, um allen Völkern auch in Phasen der Rezession leiblichen Wohlstand zu sichern. Dem Mythos wird seine ausgrenzende Gewalt genommen und die integrative Leistung zurückgegeben. Das ist die humane Kraft des jüdischen Mythos, die gegen die vernichtende Macht der Nazi-Mythen gesetzt wird. (4) Das Erzählen selbst ist schließlich human zu nennen, insofern es die Wahrheit in die Schwebe bringt. Die Quelle der Genesis-Erzählung wird befragt, neue Episoden werden erzählt, Versionen werden verglichen, nach Wahrheitsgehalt untersucht, die Perspektive des Erzählers wird mit der der Figuren konfrontiert, so dass Ironie entsteht, die alle Gewissheiten freundlich aufhebt. Das ist vergnügliche Rede, die das Andere gelten lässt.

Mit der Deutung von Träumen und Geschichten fasst Joseph aber nur einen Teil seiner Aufgaben; er möchte auch im Sinne dessen, was er als richtig erkannt hat, tätig werden. Er ist nicht nur Interpret der Geschichte, sondern auch ihr Akteur. (4, Volkswirt) Handeln und Händlergeschick gehören zu Hermes' hervorragenden Eigenschaften. Joseph greift schon aktiv in die Geschichte ein, als seine Brüder ihn an die Ismaeliter verkaufen wollen. Seinen Dienst bei Potiphar nimmt er auf, indem er Warenlisten anfertigt und Übersicht in den Handel bei Hofe bringt. Zum Chef-Ökonom von Ägypten steigt er auf, als er dem Pharao erklärt, wie aus der richtigen Traumdeutung ein Wirtschaftsplan gewonnen wird, den er alleine auch politisch durchsetzen kann. Aus dem Philologen der Träume wird der Wirtschaftsminister mit einem intelligenten, auf 14 Jahre angelegten antizyklischen Konjunktur-Programm mit beachtlicher sozialer Komponente; denn in den Jahren des Mangels soll man "austeilen [...] den Kleinen und Armen, den Großen und Reichen aber soll man verkaufen" (S. 1095). Eine solche soziale Marktwirtschaft meinte Thomas Mann in Roosevelts Politik zu erkennen, den er "eine Hermes-Natur gewandter und heiter-kunstvoller Vermittlung" nennt. In dieser Maske eines "amerikanischen Hermes und hochgewandten Boten der Klugheit" (AuN 688) wird Joseph zum "Wohltäter und Ernährer fremden Volkes und seiner Nächsten" (NSt 182, vgl. Ru 63). Wie wir in dem Roman lesen können, führt er seine Aufgaben nicht ohne erhebliche Durchtriebenheit und Schläue aus, aber immer in bester Absicht. (Hermes-Kredit als Geld in den Säcken der Brüder) Die neue Wirtschaftspolitik, die sich der Deutung der Träume verdankt, ist die eigentliche Dimension der Humanisierung des Mythos: ihn "den faschistischen Dunkelmännern aus den Händen" zu nehmen und "ins Humane um[zu]funktionieren". (18.2.1941) Insofern ist der "Josephs"-Roman auch eine Auseinandersetzung mit dem Faschismus und ein Plädoyer für eine menschenwürdige Politik.

Trotz aller Ernsthaftigkeit des Themas liegt über dem Erzählten ein Ton der Heiterkeit. Der wird immer dann deutlich hörbar, wenn Joseph seine Spiele spielt: mit dem Vater, mit Pharao oder mit seinen Brüdern. Offensichtlicher noch als im "Josephs"-Roman wird das Schelmische der Hermes-Figur im "Felix Krull" ausgezeichnet. Als Felix Mme. Houpflé das erste Mal bestiehlt, ruft sie, erfreut über die Erniedrigung, aus: "Hermes! Er weiß nicht, wer das ist, und ist es selbst!" Hermes als (5) Schelm lässt sich in der Gestalt des Felix Krull in mancherlei Details nachweisen: In seinem Diebsgelüst, seiner Schwatzhaftigkeit, seinem Nach-dem-Munde-Reden und seinem Wandern zwischen den Welten. Aber im Unterschied zu Joseph ist er sich der mythologischen Tiefe seiner Identität nicht bewusst und bleibt ein oberflächlicher Spieler. Außerdem fehlt seinen Aktionen jene soziale Verantwortlichkeit, die Josephs Handeln auszeichnet.

Mit dem Akzent auf dem Schelmischen wird der Hermes-Mythos auch im weiteren Verlauf des Jahrhunderts dichterisch ausgemalt. Unser letztes Beispiel betrifft eine kurze Episode aus Max Frischs autobiographischem Roman "Montauk":

"HERMES GEHT VORBEI

Titel einer Oper, die ich einmal habe schreiben wollen: ein Paar, das sich ins Museum geflüchtet hat, und dann eine Gruppe mit Führer, der die Statue kennerhaft erläutert, und niemand bemerkt, dass die Statue gar nicht mehr da ist; Hermes ist vom Sockel gestiegen, um das Paar zu führen - Komödie mit viel Irrungen ..." (S. 96)

Weil der Plan nicht ausgeführt wurde, lässt er unserer Phantasie große Spielräume: Die Kunst, die sich heiter in das Leben mischt, die dem Betrachter lebendig wird; das Werk, das gar nicht mehr anders greifbar ist, als in der Erläuterung des kunstsinnigen Führers; die Kunst, die mit ihrer Beschreibung identisch wird, die sich von ihrer musealen Erhabenheit befreit. Was machen die Besucher, wenn sie die Täuschung bemerken: Verurteilen sie den Betrüger, stellen sie eine Kopie her oder erfinden sie einen Gesang, der das Verlorene im Lied aufbewahrt? Was wird aus dem Paar, was aus Hermes? Peter Wapnewski nimmt das Bild zum Anlass, um unter dem Titel "Hermes steigt vom Sockel" das Werk Max Frischs insgesamt zu würdigen:

"Hermes, der 'vom Sockel gestiegen' ist, um zu führen [...], und dank dessen geländekundigen Künsten alle, die ihm folgten, auf den großen latenten Teil ihres Wesens, ihrer Möglichkeiten, ihrer Chancen stoßen konnten: Hermes also wird in diesen Tagen 65. Kein Recht zu der Aufdringlichkeit einer Gratulation, aber Grund zum Dank." (S. 253)

Schon wieder ist Hermes dabei, zu Grenzüberschreitungen zu verführen. Halten wir ihn einen Augenblick auf der Grenze fest und fragen grundsätzlich, wie die Attraktivität der alten Mythen im 20. Jahrhundert zu erklären ist. (Gilt auch für die Gestalten des Uni-Emblems) Die Antworten sind im Prinzip schon angeklungen:

  • 1. Verdichtete Erfahrungen der Menschheit (Denkbilder)
  • In den Mythen haben sich Elementarerfahrungen der Menschheit bzw. Grundtatsachen des Lebens verdichtet, die über Erzählungen immer neu an die jungen Generationen weitergegeben werden. Im Falle des "Joseph"-Romans wird von der Liebe und der Täuschung (im Bild des Schleiers), vom Sturz in die Grube und Wegen der Befreiung aus ihr, von Träumen und Wirklichkeiten, von Segen und Betrug, von Schicksal und Freiheit sowie von Schlaf und Tod erzählt. Dabei ist es gerade falsch, von archaischen Mustern zu reden, denn, wie der Roman beweist, kommt es darauf an, die alten Geschichten neu zu deuten, zu aktualisieren und vom Sockel zu holen. Es gibt überzeugende Versuche, die eigene Wahrheit der Mythen zu beweisen (vgl. Kurt Hübner oder Hans Blumenberg). Ich selbst prüfe die Aktualität der Literatur mit der Kategorie der Denkbilder und frage, inwieweit die literarischen Versionen der Mythen Erfahrungen vermitteln, die das Wissen der Gegenwart erweitern.
  • 2. Die andere Vernunft
  • Literatur dieser Komplexität ist nicht nur Objekt der Analysen, sondern selber eine Form von Erkenntnis, der rational-analytischen Form durchaus ebenbürtig. Was wir dem "Josephs"-Roman an Einsichten über den Umgang mit Geschichte, die Hybris, die Freiheit der Interpretation oder die ökonomische Vernunft entnehmen können, kann sich mit Befunden der Wissenschaften durchaus messen. Arts and sciences stehen im Englischen noch gleichberechtigt nebeneinander; Kunst und Wissenschaft sind auch hierzulande hin und wieder von gleichwertiger Erkenntnisleistung, wie jeder nachvollziehen kann, der unsicher ist, ob er seine Lebensanschauungen primär der eigenen Erfahrung, wissenschaftlichen Einsichten oder der Lektüre von Büchern verdankt.
  • 3. Diskurse der Ethik
  • Mythische Erzählungen gründen auf Geschichten der Götter; in ihnen werden also Normen des richtigen Handelns und Denkens diskutiert. Die Grenzen zwischen Ästhetik und Ethik werden fließend, wenn etwa von Josephs Verhalten nicht nur erzählt wird, sondern die Folgen vom Erzähler bewertet werden: dass er seinen Sturz in die Grube durch seine Überheblichkeit selbst verursacht habe; dass er durch die Traumdeutung nicht nur sich selbst dient, sondern das ganze Volk vor dem Verderben rettet. Der Roman plädiert für menschliches Maß gegen Barbarei und gegen einen absolutistischen Anspruch der Überlieferung. "Ethiko-pragmatische Funktion des Mythos" hat Manfred Frank die Leistung der mythischen Erzählungen für die normativen Diskurse in der Gesellschaft der je neuen Gegenwart genannt, denen es um Pluralität der Geltung geht.
  • Mit der Frage nach der Leistung der Literatur und des Mythos bin ich bei meinem zentralen Interesse angekommen: der Bedeutung von Literatur für die Bildung junger Menschen. Pointiert formuliert, ist es die Frage nach den Bildern für die Bildung. Die angesprochene Literatur selbst ist voller Lerngespräche. Der Eliezer jeder Generation macht die Jungen des Hauses bekannt mit dem Wissen der Zeit. Jaakob erzählt den Söhnen die Geschichten seines Geschlechts, damit sie sich der Traditionen bewusst werden. Joseph führt seine Brüder und den Pharao durch sokratische Gespräche zur rechten Einsicht, und bei Max Frisch steigt Hermes vom Sockel, um das Kunstwerk zu erklären. Der Autor Thomas Mann wählt den Stoff aus, baut ihn um, aktualisiert entscheidende Elemente und interpretiert den Mythos neu. Wir Leser schließlich vernehmen den Erzähler, versuchen ihn zu verstehen und die gewonnenen Fragen und Antworten weiter zu vermitteln.

    Die besondere Bedeutung des Hermes-Mythos wächst auf einer weiteren Eigenschaft seiner Gestalt: der des Lehrgeschicks, das auch Pharao an Joseph lobt, wenn er feststellt, dass sich in ihm "Lehre und Wahrheit umarmen" (S. 1091). Hermes ist dem Didaktiker nahe, weil er der Mittler ist zwischen den Systemen Literatur und Erziehung, zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen dem Verständnis für die Kunstwerke und ihrer Leistung für die Erweiterung des Horizonts der jungen Menschen, zwischen Literatur und Leben. Dabei geht es keinesfalls darum, die Gegensätze zu versöhnen, sondern ihre Spannung zu nutzen, denn nur aus den Differenzen wachsen überraschende Erfahrungen und neues Wissen. Lernen kann man nur von dem Fremden, Unvertrauten, nicht aber von dem Gleichen und Vertrauten. Nur in glücklichen Momenten stellt sich eine Verbindung zwischen den Bereichen her - das ist die übertragene Bedeutung des Hermes-Segens. Man darf aber auch sagen, dass es die Augenblicke sind, in denen Bildung sich ereignet. Es ist sicher richtig, dass Hermes sich an den Knotenpunkten des Wissens plaziert hat und auch hin und wieder parasitär lebt (und Geld für die Passagen kassiert), aber ohne seine unvermeidliche Mittlerarbeit blieben die Wissensbezirke und Lebensbereiche voneinander getrennt. Hermetik träte an die Stelle der Hermeneutik, Grenzüberschreitungen fänden nicht mehr statt, Wissenserwerb würde Bildung ersetzen. Da ist es gut, wenn Hermes vom Sockel steigt und sich unter die Leute mischt, um die Mittlertätigkeit wieder aufzunehmen. Selbst wenn er es nicht ohne Ironie tut und nicht ohne Missverständnisse zu erzeugen, aber einer ist da, der Grenzüberschreitungen wagt. Auch wenn es heißt: "Hermes geht vorbei", können wir sicher sein: Er kommt wieder und führt uns doch ein Stückchen näher zur Wahrheit.