Die Herausbildung von Denkschulen hängt vermutlich vor allem von zwei Faktoren ab: Geschlossenheit und Eingänglichkeit der Lehre und institutionelle Rahmenbedingungen. Krafts Philosophie, insbesondere wie er sie in seiner „Erkenntnislehre“ vertreten hat, war zwar von bemerkenswerter Geschlossenheit. Die „Erkenntnislehre“ verfasste er aber im hohen Alter; die institutionellen Rahmenbedingungen waren für Krafts Wirken sehr schlecht. Dies muss als Hauptgrund für Krafts verhaltene Wirkung gelten. War er aber gänzlich ein "Denker ohne Wirkung" (Hubert Schleichert)? Ein ganz so ernüchterndes Urteil mag ich nicht zu fällen. Krafts Denken hat insbesondere im deutschen Sprachraum dort Spuren hinterlassen, wo man den Anschluss an eine „kritische“ Art des Philosophierens suchte. Hans Albert hat zum Beispiel seine Kritik an Dingler von Kraft übernommen (vgl. Albert 1991).
Kommentatoren zu Krafts Werk deuten immer wieder auf einen Punkt: Kraft habe wichtige Punkte des „kritischen Rationalismus“ vorweggenommen. Dies kann nur so verstanden werden, dass es große Überschneidungen zwischen Poppers Deduktivismus und Krafts hypothetisch-deduktiver Methodologie gibt. Kraft hat aber kein falsifikationistisches Programm entwickelt. Es kommt Kraft nicht darauf an, programmatisch Theorien strengen Tests auszusetzen, um dann mit der Methode von „Versuch und Irrtum“ immer weiter fortzuschreiten. Für ihn ist es allerdings ausgemacht, dass empirische Sätze nur einen hypothetischen Geltungswert haben. Dezidiert weist Kraft auch auf einen wichtigen Unterschied zu Popper hin. Dort, wo dieser von einem konventionalistischen Element in seiner Philosophie spricht (Popper 1989), nämlich auf der Ebene der Prüfsätze, wendet Kraft ein, dass nicht die Übereinkunft für (oder gegen) einen Prüfsatz spricht, sondern die Übereinstimmung mit der Erfahrung (Kraft 1947, Kraft 1960, Kraft 1951). Ein Prüfsatz hat die Aufgabe festzustellen, ob eine Theorie gilt oder nicht. Dazu werden aus der Theorie Prognosen abgeleitet, die dann mit den erlebten und in Sätzen ausgedrückten Erfahrungen verglichen werden. Kraft positioniert also seinen Empirismus gegen Poppers Basissatzonventionalismus. (Ob allerdings dieser Gegensatz strikt aufrecht zu erhalten ist, ist zweifelhaft: Denn Krafts Äußerungen hinsichtlich der empirischen Basis gehen dahin, dass diese bereits die Funktion verloren hat, Sätze epistemisch auszuzeichnen. Den einzigen Sätzen die diese Funktion übernehmen könnten, den so genannten Konstatierungen, spricht Kraft diese Funktion ab. Konstatierungen sind zwar psychologischen unbezweifelbar, aber sie können keine Funktion innerhalb des logischen Prüfzusammenhangs übernehmen.)
Hinsichtlich der Wahrnehmungsbasis seiner empirischen Wissenschaft mag es auf dem ersten Blick so aussehen, dass Kraft von einer unumstößlichen Basis spricht, einer genaueren Analyse hält dieses Urteil allerdings nicht stand. So deutet sich in Kraft bereits an, was der berühmteste seiner Schüler vollziehen sollte: eine Philosophie, die nicht mehr von absoluten Grundlagen ausgeht, ihr Fundament in einer normativen Entscheidung sieht und die letztendlich – wenn man sie konsequent (und wohlwollend) bis an ihr Ende denkt – in eine Form des Pragmatismus münden muss. Eine Position also, die Paul Feyerabend bezogen hat. Feyerabend hat bei Kraft dissertiert und war studentischer Leiter des von Kraft geführten Diskussionszirkels, welcher dem „Österreichischen College“ zugeordnet war (Feyerabend 1980:228). Krafts und Feyerabends Auffassung hinsichtlich der Wahrnehmungen ähneln sich sehr stark: es wird einerseits eine Beeinflussung der Wahrnehmung durch adaptierte „Theorien“ oder auch vorsprachliche kognitive Dispositionen angenommen, andererseits wird auch der Wahrnehmung und den Reaktionen der Menschen eine wichtige Funktion zuteil. Sie können, sofern sie grundlegende kognitive Gemeinsamkeiten des Menschen betreffen aber als Basis fungieren. Diese Verhaltensweisen haben nach Feyerabend nichts mit dem Sinn einer Aussage zu tun, sondern betreffen das Verhalten von Individuen. Folglich nennt er sie auch die „pragmatische Theorie der Beobachtung“ (Feyerabend 1962, Feyerabend 1960:72). Auch Feyerabends Argumentations gründet sich also noch deutlicher als Krafts auf grundlegende anthropologischen Annahmen.
Bei Feyerabend ist aber auch offensichtlich, dass er die Grundlagen seiner Philosophie auf dem Boden der praktischen Philosophie sieht (vgl. z.B. Feyerabend 1961). Hier ist nun der Geltungsstatus der erkenntnistheoretischen Position als solche betroffen. Indem er derart argumentiert, führt er eine Argumentation weiter, die bei Kraft ihren Ausgang genommen hat, und lässt sie letztendlich auf dem Gebiete der praktischen Philosophie einmünden. Diesen Schritt allerdings hätte Kraft nie getan; in seinen Schriften finden sich so gut wie nie Äußerungen über die politische Situation, obwohl er genug Gründe zur Klage gehabt hätte. Die erkenntnistheoretischen Festsetzungen Krafts münden bei Feyerabend in das Zugeständnis, letztendlich ethische Fragen zu behandeln (z.B. Feyerabend 2002:58f; Feyerabend 1960:61 und 65). Im Grunde lässt sich Feyerabends Position als eine Verschmelzung der Philosophie Krafts und Popper verstehen, denn Popper hat in seiner „Offenen Gesellschaft“ ausdrückliche sozialphilosophische Fragen berührt und letztendlich den normativen „Entschluss-Charakter“ betont. Es darf jedoch nie übergangen werden, dass Feyerabend eine Vielzahl von Ansichten absorbiert hat (vgl. Feyerabend 1980:214ff).
Neben diesen persönlichen Kontakten, die sicherlich zu einem Ideentransfer beitrugen hat Kraft auch mit seinen Schriften zur Wertphilosophie und Ethik eine gewisse Wirkung entfalten können. Dieser Aspekt seines Werkes ist auch der am besten erforschte (siehe vor allem Vollbrecht [2004].) Die Rezeption schwankt zwischen Anerkennung (so etwa dass Kraft etwa die Trennung von Phrastikon und Neustikon Hares teilweise vorweggenommen habe, vgl. Hare 1997:37 und Vollbrecht 2004:210ff für eine eingehende Untersuchung) und dem Vorwurf, seine Position würde sich naturrechtlichen Position annähern. Dieser Vorwurf ist deshalb bemerkenswert, weil in ihm angesprochen wird, was bereits hier Gegenstand der Kritik war: Kraft sucht durch den Anschluss an die Praxis. Indem er unternimmt, jene Normen zu identifizieren, die seiner Meinung nach nicht negiert werden können, sofern man nicht gleichzeitig die Grundlagen der menschlichen Kultur ablehnen möchte, hat er Ansichten perpetuiert, die im Grunde nur seine anthropologischen Grundannahmen ausdrücken. Somit stößt man wieder auf weitgehende implizite Annahmen, die Kraft trotz aller Mühen nicht deutlich gemacht hat. Es drängt sich der Eindruck auf, dass hier ein Punkt erreicht wurde, an dem die Analyse ein Ende hat. Es ist ein Punkt der Selbstevidenz, der auch andere Ansätze des Logischen Empirismus eint. Der Vorwurf, in naturrechtliche Argumentationen zurückzufallen, läuft dann darauf hinaus, dass Kraft auf dem Gebiete der Wertphilosophie diesen Punkt nur vermeintlich erreicht hat und in Wirklichkeit man nur von einer voreiligen Fixierung von vorgefunden Normen sprechen könne. Kraft sei also eine Petitio principii unterlaufen. Es wäre ein interessantes Unterfangen diese Petitio principii auch hinsichtlich des (bei Kraft normativ verstandenen) Erkenntnisbegriffs zu identifizieren – dies kann aber hier nicht unternommen werden.
Jan Radler