Johann Friedrich Spittler Portrait

Priv.-Doz. Dr. med. Johann Friedrich Spittler

Facharzt für Neurologie und Psychiatrie

Lehrbefähigung/-befugnis für Neurologie

(mit neuropsychiatrischem Schwerpunkt)

Medizinische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum

(retired)

Interessen

»Das menschliche Bewusstsein

»Menschenbild und irreversibler Hirnfunktions-Verlust ("Hirntod")

»Medizinethik: Patientenwille, Therapiebegrenzung und Therapiebeendigung

»Eigentätige Lebensbeendigung und Suizid-Beihilfe

Das menschliche Bewusstsein

Schon seit der Zeit vor Erfindung der Computertomographie, der Kernspintomographie und der Positronentomographie haben mich die Fragen nach dem Verhältnis unserer geistigen Funktionen zu unserem Gehirn beschäftigt. Das hat mich von der Beschäftigung mit den epileptischen Anfällen (zum Teil mit Bewusstseinsverlust) in die Neurologie und die Psychiatrie geführt. Als Grundlagenfach habe ich 3 Jahre Pathologie und Neuropathologie gelernt. Wenn man nach dem Tod eines Menschen, den man vereinzelt auch in seinem Leben gekannt hat, und nach der Obduktion, sein Gehirn in der Hand hält, dann fragt man sich: Was kann oder will man von den in diesem Gehirn während seiner Lebendigkeit abgelaufenen Wahrnehmungen, Erinnerungen und Gedanken denn denken?

Literaturangaben
Spittler, J. F. (1992): Der Bewußtseinsbegriff aus neuropsychiatrischer und in interdisziplinärer Sicht. Fortschr Neurol Psychiat 60: S. 54-65
Zusammenfassung Die Lehre von den Bewußtseinstörungen als dem Achsensymptom oder der klinischen Leitlinie der akuten, prinzipiell reversiblen organischen Psychosen und Wiecks Trennung der Bewußtseinsstörungssyndrome von den Durchgangssyndromen (ohne Beeinträchtigung des Wachbewußtseins) ist als Lehrbuchwissen etabliert und zumindest partiell in das neurologische und psychiatrische Alltagswissen eingegangen. In der Neuropsychiatrie der organischen Psychosen wie in der Medizin insgesamt sind das Wachbewußtsein (Wachheit), das Reflexivbewußtsein (charakterisiert durch großhirnkortikale, mentale Leistungen), die Wachbewußtseinsstörungen (Somnolenz, Sopor, Koma) und die Reflexivbewußtseinsstörungen (bei den organischen Psychosen als Durchgangssyndrome) zu unterscheiden. In den letzten Jahrzehnten steht die klassische phänomenologisch deskriptive Psychopathologie des Bewußtseins und seiner Störungen als nicht messende Methode unter dem nachwirkenden eliminativen Verdikt des Behaviorismus. Auch wegen der inhaltlichen und personellen Trennung der Neurologie von der Psychiatrie ist sie nur noch unter dem Aspekt der Konstruktion quantitativer Skalen, jedoch kaum grundsätzlich Gegenstand eingehender methodenkritischer Reflexion gewesen. In der Zwischenzeit haben die Philosophie und Psychologie eine neue Unbefangenheit gegenüber dem Bewußtseinsbegriff entwickelt. Die mehr naturwissenschaftlich-biologischen Arbeitsrichtungen haben weitergehende Erkenntnisse über die selbstorganisierenden Eigenschaften hochrückgekoppelter Systeme wie über zerebrale Funktionen als die Basis bewußter Leistungen erarbeitet. Im Grenzgebiet beider Bereiche entsteht eine fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit. Vor diesem Hintergrund werden verschiedenartige Aspekte des Bewußtseins in relevanten Nachbarfächern der Medizin dargestellt. Als aus der klassischen Tradition geprägte Gebiete werden die Philosophie, die philosophisch orientierte Psychiatrie, die deskriptive Psychologie und die postbehavioristische Psychologie betrachtet. Ihnen gegenüber werden neurobiologisch orientierte Gebiete der klinischen Neuropsychologie, der Neurophysiologie und der Neurophilosophie dargestellt. Diese Entwicklungen und Erkenntnisse sollten für eine aktuellere und umfassendere Sicht der Psychopathologie des Bewußtseins nutzbar gemacht werden.

Spittler, J. F. (1994): Akute organische Psychosen – Befunde, Methodologie und Erkenntnistheorie der Bewußtseinsstörungen und des Bewußtseins aufgrund der Untersuchung von 300 Patienten. (Habilitations-Schrift), Bochum
Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit verfolgt absichtlich zwei zusammenhängende und andererseits grundsätzlich zu unterscheidende Ziele. Einerseits werden die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung der akuten psychischen Störungen auf körperlicher Grundlage, der akuten organischen Psychosen vorgelegt. Die Befunde werden in üblicher Weise dargestellt (Ebene I) und einer pragmatischen Ergebnisdiskussion (Ebene II) unterzogen. Auf diesem empirischen Fundament wird der bei der Diagnostik der akuten organischen Psychosen zu beobachtende Abstraktionsprozess in methodologischer Hinsicht (Ebene III) analysiert. In weiteren metatheoretischen Abstraktionsschritten werden erkenntnistheoretische (Ebene IV) und ontologische (Ebene V) Überlegungen vorgelegt. ... Diese Ergebnisse und ihre Interpretation werden für eine Betrachtung des menschlichen Bewußtseins (Ebene V) aus neuropsychiatrischer Sicht genutzt. Die gegenüber den physikochemischen zerebralen Funktionen als ‚emergent‘ verstandenen Bewußtseins-konstituierenden Aspekte der Wachheit (des Wachbewußtseins) und der Vigilität (auf der Ebene des Bewußtseins: der Attentionalität) werden von dem Reflexivbewußtsein (gekennzeichnet durch Inhalte und ihre Verknüpfung) unterschieden und die evolutionäre Gliederbarkeit verschiedener Leistungen wie ihrer Störungen dargestellt. Als besondere, den diagnostischen Prozeß wie alle bewußten menschlichen Entscheidungen und Handlungen kennzeichnende Eigenschaft wird die Intentionalität iS. der bewußten wie unbewußten Zweckbestimmtheit oder dezidierten Absichtlichkeit herausgestellt. Von einer Handlung (oder Entscheidung) werden ihre Ziele bzw. Kriterien unterschieden und ihr ‚supervenienter‘ Setzungscharakter herausgestellt. In der anorganischen ziellos-zwangsläufigen Gesetzmäßigkeit, der Zweckmäßigkeit biologischer Baupläne, der Zweckbestimmtheit von Instinkthandlungen und der menschlichen Fähigkeit zu absichtlich zielverfolgenden Handlungen wird eine evolutionäre Entwicklungsreihe gesehen, die mit der Komplexität der Strukturen und Phänomene allein nicht erschöpfend zu erklären ist.

Menschenbild und irreversibler Hirnfunktions-Verlust ("Hirntod")

Die Untersuchung zur Feststellung des irreversiblen Funktionsverlustes des Gehirns erlernt man nur unter anfänglicher eigener Beunruhigung und Zweifeln. Im Verlaufe der immer gründlicheren Beschäftigung stellt sich folgende Frage:
Wenn wir in unserer normalen Sprache das Wort "ein Mensch" gebrauchen, was haben wir für eine Vorstellung?
Ich meine, dass wir immer unverzichtbar auch die Vorstellung einer aktiven Beweglichkeit und geistiger Lebendigkeit einschließen.
In einer tiefen Bewusstlosigkeit gibt es beides nicht, aber eine Bewusstlosigkeit kann sich - in vielen Fällen vollständig - zurückbilden. Nach meinem eigenen kritischen Nachprüfen wie auch nach der medizinischen Fachliteratur ist die Feststellung des irreversiblen Funktionsverlustes des Gehirns bei korrekter Durchführung der Untersuchung sicher und definitiv. Wenn also ein auf der Intensivstation beatmeter menschlicher Körper endgültig jegliche Hirnfunktion und damit zwangsläufig jegliche aktive Beweglichkeit und geistige Funktion eingebüßt hat, ist es dann wirklich zutreffend, von einem (lebenden) Menschen zu sprechen? Ist es nicht korrekter, von einem "hirntoten noch überlebenden menschlichen Körper" zu sprechen? Ich habe Jahre für die Klärung meiner Beurteilung gebraucht und bin von der Richtigkeit dieser Überlegung überzeugt.
Die nach Eintritt des Hirntodes gelegentlich zu beobachtenden Bewegungsabläufe müssen vor dem Hintergrund gründlicher neurologischer Kenntnisse als im Rückenmark geschaltete Reflexe und keineswegs als willkürlich verstanden werden.

Literaturangaben
Spittler, J. F., Wortmann, D., Düring, M. v., Gehlen, W. (2000): Phenomenological diversity of spinal reflexes in brain death. Eur J Neurol 7: S. 315-321
Zusammenfassung Nach den bisherigen Berichten der Literatur werden nach Eintritt des Hirntodes mono-, oligo- und polysegmentale spinale Reflexe und Automatismen („motorische spinale Schablonen“ nach Gerstenbrand) bis zum terminal-spinal-hypoxisch ausgelösten Lazarus-Phänomen beobachtet. Bei 278 Untersuchungen mit der Fragestellung des Hirntodes bei 235 Patienten (207 Feststellungen des eingetretenen Hirntodes) waren bei 42 Untersuchungen bei 27 Hirntoten spinale Reflexe auffällig. In 15 Fällen handelte es sich um mono-/oligosegmentale Muskel-Dehnungs-Reflexe, in 37 Fällen um kutaneo-, tendo- und tracheo-muskuläre polysegmentale spinale Reflexe, in 8 Fällen um reizunabhängige spinale motorische Automatismen. Angesichts der retrospektiven Analyse sind Angaben zur tatsächlichen Häufigkeit nicht möglich. Bei den beobachteten spinalen Schablonen imponiert die interindividuelle Variabilität bei intraindividueller Monotonie der spinalen motorischen Schablonen. Zwischen den Reflexen und Automatismen scheint nur ein gradueller Unterschied in der spinalen Fazilitation/Exzitation zu bestehen. Für die klinische Diagnostik können bei aller interindividuellen Variabilität der spinalen motorischen Schablonen folgende Charakteristika herausgestellt werden: • Stereotype Auslösbarkeit auf begrenzt variablen Reiz, • invariante Latenz und Dauer in Abhängigkeit von der Zahl beteiligter spinaler Segmente, • Habituation bei rascher, fehlende Habituation bei langsamer Reizfolge, • ähnliches Auftreten als reizabhängige Reflexe und spontane Automatismen, • monotone Stereotypie der Reizantwort / des Automatismus.
Summary In brain death, spinal reflexes and automatisms are observed which may cause irritation and even doubt in the diagnosis. In the literature there are no dedicated descriptions of the diversity and of neuroanatomical considerations. In 278 examinations of 235 patients for the determination of brain death, on 42 occasions obvious spinal reflexes and/or spinal automatisms were observed in 27 brain dead bodies. Because they were not systematically searched for, minute forms have probably been missed. The reflexes (R) and automatisms (A) are described according to the time of observation in relation to the development of brain death, the presumable spinal localization and the possible phylogenetical interpretation. Especially disquieting examples are discussed in more detail, e.g. monophasic EndotrachealSuction-ThoracicContraction-R supposedly switched in segments C2-6 or TrapeziusPinch-ShoulderProtrusion-R conveyed by the accessory nerve (terminology according to the scheme: for the reflexes, Trigger-Response-R: for the automatisms, Movement-A). After these experiences a more thorough examination showed frequent observations of rather minute forms of spinal reflexes, as well as automatisms and even the Lazarus sign (in possibly more than two thirds of the examinations). An estimation of the factual frequency would necessitate special attention to those much more frequent but less obvious minute spinal reflexes and automatisms.

Spittler, J. F. (2003): Gehirn, Tod und Menschenbild – Neuropsychiatrie, Neurophilosophie, Ethik und Metaphysik. Kohlhammer, Stuttgart
Zusammenfassung Kap.: 7.0 Nachgedanken
Wie mit einer Last stehen wir da mit unserem Wissen um die Bedeutung des Hirnunterganges für Erleben, Erinnern und Antworten des Menschen. Mit dem Gedanken an Levinas sehen wir die ausschließliche körperliche Maske eines nicht mehr als personale Identität und als Gegenüber erlebbaren, nicht mehr lebenden Menschen, eine Lebendigkeits-Maske, vor der wir nur noch Trauer über die unwiderrufliche Endgültigkeit des Todes empfinden können. Vielleicht beugen wir uns der Einsicht, dass ein geistiges und empfindendes mütterliches Erleben für das Ausreifen einer Schwangerschaft keine notwendige Bedingung ist. Dennoch brauchen wir die gefühlsmäßige Konzentration der Mutter (und vielleicht auch des Vaters) auf das im Bauch werdende Kind keineswegs als eine überflüssige Gefühligkeit anzusehen. Eine solche rationalistische Denkweise wäre ein Ausdruck der menschlichen Kälte in dieser Welt. Mit vielleicht manchmal vergeblicher, aber niemals sinnloser mitmenschlicher Zuwendung können wir antworten.
Lange Erfahrung mit der Untersuchung im dissoziierten Hirntod verstorbener Menschen gibt Sicherheit auch in der Beurteilung seltenerer Abweichungen von dem Gewohnten, etwa bisher so nicht gesehener spinaler Reflexe oder Automatismen. Wenn man sich selbst gegenüber wach bleibt, bemerkt man die eigene Routine im Untersuchungsablauf, die einen erstmaligen Beobachter irritieren mag, und kann sich Aufmerksamkeit erhalten für die Begegnung mit den umgebenden Mitbetroffenen. Wenn man das Nachdenken über die Vorstellung eines Rollentausches zwischen Arzt und Patient zulässt, dann stellen sich Fragen. Welche Behandlung möchte man denn für sich selbst in einem zum Hirntod führenden Krankheitsverlauf im Gesamthirntod, Großhirntod oder Hirnstammtod, für wünschenswert halten? Sicherlich hat man im Gesamthirntod und im Großhirntod – sofern es letzteren überhaupt geben sollte – keine Wahrnehmung, so dass man einem solchen Verlauf sehr gelassen entgegensehen kann. Das nicht auszuschließende Erleben in einem totalen Locked-In-Syndrom, einer möglichen Form des Hirnstammtodes, scheint nicht anders vorstellbar als ein Horror, in dem man sich nur das raschestmögliche Ende jeglichen Wahrnehmens und jeglichen Erkennen-Könnens wünschen kann. Werden wir einen gnädigen Arzt finden, der uns in aller Aufmerksamkeit und Behutsamkeit auch das Auge der inneren Wahrnehmung zu schließen gestattet? Werden wir selbst – in aller Unvollkommenheit – aufmerksame und behutsame Ärzte sein? (Das Buch ist nur noch gelegentlich antiquarisch zu finden.)

Medizinethik: Patientenwille, Therapiebegrenzung und Therapiebeendigung

In der klinischen ärztlichen Tätigkeit in einer neurologischen Uniklinik wird man unausweichlich mit schwierigen Entscheidungs-Anforderungen konfrontiert und versucht, diese unter ethischen Gesichtspunkten zu beantworten.

Literaturangaben
Spittler, J. F. (2000): Unaufhaltsame Atemmuskelschwäche und Beendigung maschineller Beatmung: Tun oder Unterlassen? Ethik Medizin 12: S. 236-46
(Keine Zusammenfassung: Fallschilderung eines Spätzustandes einer amyotrophen Lateralsklerose und ethische Analyse der Handlungs-Optionen)

Spittler, J. F., Fritscher-Ravens, A. (2001): Der Patientenwille zwischen Rechtsprechung, ärztlicher Sachlichkeit und Empathie. Dtsch Med Wochenschr 126: S. 925-928
Zusammenfassung Therapiebegrenzung gemäß einem artikulierten Patientenwillen oder einer Patientenverfügung wird zunehmend diskutiert - insbesondere unter der Frage rechtlich wirksamer Formulierungen für den Fall der Kommunikationsunfähigkeit. Die konkrete Umsetzung kann schwierig sein. Die Bundesärztekammer veröffentlichte Richtlinien, Institutionen und Verbände Anleitungen und Formulare. Die Diskussion ist im Fluss, die einschlägige wissenschaftliche Forschung steht am Anfang. Ärzte sind von den Anforderungen der Patientenverfügungen betroffen, äußern sich aber eher selten. In dieser Situation ist die Analyse exemplarischer Kasuistiken hilfreich.

Spittler, J. F., Bauer, A. W. (2002): Fall und Kommentare: Zur Problematik des mutmaßlichen Willens am Lebensende. Ethik Medizin 14: S. 28-33
(Keine Zusammenfassung: Locked-in-Syndrom ohne Möglichkeit der sicheren Kontaktaufnahme, Frage der Therapie-Entscheidungen)

Spittler, J. F. (2003): Begrenzungen der Autonomie im Locked-In-Syndrom – Eine Pflicht zum Leben? In der Reihe: Körner, U. (Hrsg.): „Berliner Medizinethische Schriften“ Humanitas, Dortmund 48: S. 27
Zusammenfassung Von heute auf morgen kann ein bis dahin gesunder Mensch durch einen Schlaganfall im Hirnstamm in eine vollständige oder fast vollständige Bewegungsunfähigkeit bei uneingeschränkt wachem Bewusstsein (Locked-In-Syndrom) geraten. Der monate- bis jahrelang aussichtslose Verlauf kann den Menschen zu einem nachdrücklichen Sterbewunsch bringen, den er selbst nicht verwirklichen kann. Dargestellt werden die Verläufe eines 68 Jahre alten Patienten (M) und einer 73 Jahre alten Patientin (F). M. wünschte dringend eine Tötung auf Verlangen oder einen assistierten Suizid, konnte aber den dafür entscheidenden eigentätigen Handgriff mangels ausreichend effektiver Bewegung nicht ausführen und verstarb in einer interkurrenten Pneumonie. F. äußerte bei liegender PEG-Sonde klar ihren Willen zu einem Ernährungs- und Flüssigkeitsverzicht. Ein Befolgen dieses Willens wurde jedoch von der Betreuerin abgewehrt. Der Vormundschaftsrichter lehnte eine Intervention unter Bezug auf die derzeitige gesellschaftliche und juristische Diskussion ab. Damit ist die Patientin bei kaum begrenzter Lebenserwartung zu weiterem Leiden verurteilt.
Mögliche Handlungsalternativen, ihre ethische Beurteilung und die Psychologie des Verhaltens und Urteilens in unserer Gesellschaft werden im Bewusstsein unserer Geschichte diskutiert. Die moderne Medizin ermöglicht Lebensverlängerung, manchmal unter Inkaufnahme von Leidensverlängerung. Der daraus erwachsenden Verantwortung für das Leiden des Anderen dürfen wir uns in einer Begegnungs-ethischen Perspektive nicht entziehen. In der abwehrenden und diffamierenden gesellschaftlichen Kontroverse böte eine gesetzliche Regelung eine Aussicht auf eine Klärung.

Spittler, J. F. (2005): Flüssigkeitsverzicht – Ethische Maßstabsfindung in der gesellschaftlichen Kontroverse. Dtsch Med Wochenschr 130: S. 171-74
(Keine Zusammenfassung: 3 Fallschilderungen eines Flüssigkeitsverzichts mit unkompliziertem Versterben)
Spittler, J. F. (2005): Flüssigkeitsverzicht als Therapie-Begrenzung: Verdurstenlassen = Töten = Mord? Die Schwester Der Pfleger 44: S. 390-95
(Keine Zusammenfassung)

Eigentätige Lebensbeendigung und Suizid-Beihilfe

Das Thema der Suizid-Beihilfe wird in der deutschen Gesellschaft problematisch gesehen und sehr kontrovers diskutiert. Hier werden keine weiteren Informationen zu diesem Thema, sondern ausschließlich die Veröffentlichungen wissenschaftlicher Arbeiten in seriösen Fachzeitschriften angegeben.

Literaturangaben
Spittler, J. F. (2004): Die präsuizidale Entwicklung zu einem assistierten Suizid. Nervenheilkunde 23: S. 292-96
Zusammenfassung Drei Patienten mit neurologischen Krankheitsbildern und ihre Angehörigen wurden über Wochen bis Monate in der Vorbereitung eines assistierten Suizids begleitet, zwei bis zur Ausführung in der Schweiz und einer bis zum Tod durch eine interkurrente Erkrankung. Zahlreiche Gespräche ermöglichten einen Einblick in Entstehungsbedingungen, Begründungen und Motive. Insgesamt sieben Coping-Phasen wurden unterschieden, die Therapie-Hoffnung, die Verunsicherung, die Depression, die Konkretisierung, die spirituelle Reorientierung, die Gelöstheit sowie eine Nachverarbeitungsphase der Nahestehenden. Sie weisen variable Dauern, Überlappungen, Vorgriffe und »Flashback« sowie interpersonale Asynchronien auf. Zu einem besseren Verständnis hilft die Beachtung der Komplementarität von Bilanz- und Appell-Aspekten und der Ambitendenzen der Patienten wie ihrer Umgebung. Formal ist die Entwicklung zu einem assistierten Suizid durch eine »Schwellensituation« absehbarer Verschlechterungen und eine »Prognose-Schere« mit abnehmender Selbstständigkeit bei kaum begrenzter Lebenserwartung gekennzeichnet. Dieser entspricht eine »Bewertungs-Schere« mit intellektueller Souveränität und als entscheidend erlebten Einbußen von Selbstwert, Autonomie und Würde. Darin zeigt sich eine Komplementarität von Unfreiheit und Freiheit der geplanten Suizidentscheidung. In einer Begleitung, die eine behutsame personale Begegnung verwirklicht, kann dem Gehenden Geborgenheit und Trost vermittelt und erkennendes Reifen ermöglicht werden.
The presuicidal development towards an assisted suicide
Summary Three patients are presented in their development during the planning of an assisted suicide. The underlying illnesses were: a progressive motor neuron disease starting in infancy, progressive multiple sclerosis, and locked-in syndrome after an ischemic-hemorrhagic brainstem stroke. The latter, unable to perform a forceful enough hand-movement to switch the PEG-pump died from pneumonia. The other two committed suicide in Switzerland. Numerous conversations with the patients and their relatives gave insight to the reasons and motifs. Seven stages of coping can be distinguished: hoping for therapy, losing certainty, depression, setting plans in motion, spiritual reorientation, letting-go, and for the relatives: working through the aftermath. The distinction of the stages will be qualified by variability of duration, overlap, anticipation and flashback, as well as interpersonal variations between all concerned. For a better understanding one has to keep in mind that appealing for help and taking stock exist complementarily, and that ambiguous tendencies exist in both the patient and in his/her environment. Formally the development towards an assisted suicide is marked by a threshold of anticipated increasing deterioration, as well as the dichotomy between a prognosis of an almost undiminished life-expectancy and an increasing loss of independence. This leads to the perception of an increasing rift between the desire to survive, and decreasing self-respect, autonomy and dignity. This rift demonstrates the complementary nature of freedom and dependancy involved in making this decision. If those accompanying manage to realise a careful personal encounter the one leaving can be granted comfort, consolation and a growth in understanding and development.

Spittler, J. F. (2006): Argumente, Gründe und Motive auf dem Weg in einen assistierten Suizid. Nervenheilkunde 25: S. 855-60
Zusammenfassung Zwei Patienten wurden in der Vorbereitung assistierter Suizide begleitet. Bei einem weiteren wurde die Begleitung abgebrochen, weil zumutbare eigene Schritte nicht erbracht wurden. Vordergründige Argumente (A) waren Bewegungsbehinderungen, Aktivitätseinschränkungen und Schmerzen. Als maßgebliche Motive (B) fanden sich der Verlust einer beruflichen oder partnerschaftlichen Sinnerfüllung ihres Lebens und die Angst vor zunehmender Abhängigkeit – Einbußen von Selbstwert, Selbstbestimmung und Würde. Frühe Einflüsse (C) waren traumatische Entwürdigungserfahrungen und Verluste von Bezugs- bzw. Identifikationspersonen. Überlebensdemotivierende peristatische Bedingungen (D) fanden sich im familiären Pflegekontext mit dem Unwillen, weitere Pflege beanspruchen zu müssen, und außerfamiliär in der Entwürdigung durch die ambulante Pflege. In der ablehnenden Reaktion der Umgebung werden die Angstbesetzung eines evolutionär alten, biologisch-archetypischen Überlebensimpulses und die Frustration eines Fürsorgeimpulses identifiziert. Bei einem Abbruch der Begleitung bleibt die Rechtfertigung zweifelhaft. Auch wenn der Verlust schmerzhaft bleibt, kann den Gehenden in einer personalen Begegnung Solidarität und Geborgenheit vermittelt werden.
Arguments, reasons and motives on the way to an assisted suicide.
Summary Two patients were accompanied on their way to an assisted suicide. In another patient supporting his intention was suspended. The grounds of their decision can be distinguished into A: ostensible arguments, B: grounding reasons, C: early imprinting influences and D: peristatic conditions. As ostensible arguments (A) the patients overtly complained about their impairments, disabilities and pain, but behind these the grounding reasons (B) were the loss of a gist in their lives, the loss of hope for a partnership or an occupational vocation, the loss of self-esteem, autonomy and dignity. Imprinting influences (C) could be found in early violations of their self-esteem and losses of near relatives. Demotivating peristatic conditions (D) could be found from the unwillingness to accept further being cared for. Outside the familial context the impersonal and incapacitating institutional care was feared. If one looks to the side of the society, reasons and motives for their reactions could result from an evolutionary old, biological and archetypal social drive to survive and from the frustration of the drive to care. In a personal encounter those willing to commit suicide can be given accompaniment and shelter – the sorrow about the loss remains with the living.

Spittler, J. F. (2009): Psychiatrische, ethische und existenzielle Aspekte bei Suizid-Beihilfe-Ersuchen (Kongress der deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, Berlin 26.11.2009). Poster
Zusammenfassung In der Diskussion der Suizidbeihilfe spielt die Frage nach einer krankheitswertigen Einschränkung der freien Willensbestimmung bzw. Selbstbestimmungsfähigkeit eine entscheidende Rolle. In der Schweiz ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung eine Suizidbeihilfe bei als Begründung angegebener psychischer Störung möglich und zur Feststellung des freien Willens ein psychiatrisches Gutachten erforderlich. Material und Methode: Nach Antrag an eine Beihilfe anbietende Organisation wurden bei 52 Personen entsprechende Gutachten angefertigt und analysiert. Ergebnisse: In der Begründung der Suizidabsicht standen in 14 Fällen körperliche und in 29 Fällen psychische Erkrankungen bzw. Störungen im Vordergrund, in 9 Fällen der entschiedene Wille bei psychischer Gesundheit und Normalität. Die Einsichtsfähigkeit wurde in 5 Fällen als krankhaft bestimmt (darin teilweise realistisch) in 12 Fällen als teils krankhaft teils rational bestimmt und in 43 Fällen als abgewogen rational beurteilt. Die Beihilfe wurde in 37 Fällen uneingeschränkt, in 12 Fällen mit Bedenken befürwortet; einmal wurde eine nochmalige stationäre psychiatrische Therapie gefordert, in 2 Fällen von einer Beihilfe abgeraten. Die für die Beurteilung herangezogenen Kriterien werden diskutiert. Folgerung: Auch bei deutlich durch eine psychische Störung mitbestimmten Suizid-Beihilfe-Begehren findet sich in der weit überwiegenden Zahl entweder eine sehr realistische Einschätzung der Lebens- und Leidenssituation oder/und ein sehr selbstbewusst autonomer Selbstbestimmungswille.

Spittler, J. F. (2011): Ärztliches Ethos und Suizid-Beihilfe (Schriftenreihe Band 2, SterbeHilfe Deutschland e. V.). Books on Demand, Norderstedt
Schlusskapitel Was ergibt sich für ein überzeugendes ärztliches Ethos?
Mit dem Beschluss des Deutschen Ärztetages in Kiel 2011 hat sich die deutsche Ärzteschaft der doppelten Verantwortung sowohl für den maximal möglichen Lebensschutz als auch für einen maximal möglichen Respekt gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Patienten verweigert. In der heutigen aufgeklärten pluralistischen Gesellschaft ist ein obrigkeitsstaatlicher, ausschließlicher Lebensschutz nicht mit dem Selbstverständnis vieler Menschen vereinbar. Der Beschluss steht im Widerspruch zu der europäischen Menschenrechtskonvention, jedenfalls so wie sie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgelegt wird. Eine Suizid-Beihilfe führt uns in das ethische Dilemma und den inneren Konflikt zwischen Lebensschutz und Selbstbestimmung. Die Ärzteschaft muss sich ihrer Verantwortung in dieser gesellschaftlichen Situation stellen. Eine Verweigerung gegenüber dem Selbstbestimmungsanspruch kann nicht das letzte Wort der Ärzteschaft an unsere Gesellschaft sein – das ist mit einem überzeugenden ärztlichen Ethos nicht zu vereinbaren.

Neitzke, G., Coors, M., Diemer, W., Holtappels, P., Spittler, J. F., Wördehoff, D. für die Arbeitsgruppe „Ethik am Lebensende“ in der Akademie für Ethik in der Medizin e. V. (AEM) (2013): Empfehlungen zum Umgang mit dem Wunsch nach Suizidhilfe. Ethik Medizin 25: S. 349-365
Open access: http://www.springerlink.com/openurl.asp?genre=article&id=doi:10.1007/s00481-013-0256-6
Spittler, J. F. (2014): Suizidbeihilfe in Deutschland – Ein Versuch über zwischenmenschliches Verstehen. AufklärungKritik 21: S. 222-30
Schlussabsatz Wie sollen wir handeln?
Diese Überlegungen führen zurück zu den Mahnungen von Claude Lanzmann und Shoshana Felman: Das nachvollziehende Verstehen ist konstitutiv für die Entscheidung zum persönlich mithelfenden Handeln in dem existenziellen Begehren einer Begleitung in einen Suizid. Das Verstehen muss im tiefgreifenden Bewusstsein aber auch im Respekt für die Grenzen mitmenschlichen Verstehenkönnens gefunden werden. Solche Grenzen zeigen sich beispielsweise in einer unterschiedlichen intellektuellen Differenzierung der Argumente oder in Eigenheiten einer mehr abweisend eigenständigen oder mehr sich anlehnenden Persönlichkeitsprägung. Hier muss ein angemessener Weg mit kritischer Befragung bis zu eventueller Ablehnung und manchmal notwendiger fürsorglicher Fremdbestimmung gefunden werden. Dies setzt ein Wissen um die Anmaßung der unausweichlich auch fremdbestimmenden psychiatrischen Beurteilung und einen Respekt für die Andersartigkeit des Anderen voraus. Angesichts der derzeitigen gesellschaftlichen und offiziellen politischen Diskussion muss aus dem mitmenschlichen Verstehen – um der Ernsthaftigkeit der Bedürfnisse der Menschen gerecht zu werden – auch eine Entscheidung zu persönlichem politischem Handeln abgeleitet werden. Weniger gründlich reflektierte Reaktionen sind zu erwarten und müssen mit der Ernsthaftigkeit des eigenen Standpunktes beantwortet werden.

Spittler, J. F. (2015): Selbstbestimmung und psychische Störung bei Suizid-Beihilfe-Ansinnen. Nervenheilkunde 34: S. 1026-31
Zusammenfassung Ziel: Bei Menschen mit einem Suizid-Beihilfe-Ansinnen an eine Organisation stellt sich die Frage der Urteilsfähigkeit und Selbstbestimmtheit bei einer zugrunde liegenden oder beteiligten psychischen Störung, insbesondere einer Depression.
Methodik: Nach 420 psychiatrischen Gutachten werden die psychischen Störungen, Symptome, Krankheitsbilder und die Einschätzungen der Einsichts-, Urteils- und Willensbildungsfähigkeit dargestellt.
Ergebnisse: Die 186 Haupt- und Nebendiagnosen psychischer Störungen zeigen ein breites Spektrum von Verursachungen und Schweregraden. Die Einsichts- und Urteilsfähigkeit wurde unter diesen in 7,5% als krankhaft bestimmt, in 54,8% als sowohl psychopathologisch bzw. psychodynamisch beeinflusst und zugleich rational bzw. realistisch und in 37,6% als abgewogen rational beurteilt.
Schlussfolgerungen: Bei Suizid-Beihilfe-Ansinnen an eine Organisation müssen psychopathologische Syndrome differenziert eingeschätzt werden und bedeuten weit überwiegend keine erhebliche Einschränkung der Urteilsfähigkeit oder der selbstbestimmten Willensbildung.
Competence, assisted suicide and psychiatric disorder
Summary Objective: People seeking support for assisted suicide from an organisation often also suffer from psychiatric disturbances. The question arises wether this impairs competence of judgement and justification for assistance.
Material and methods: On the basis of 420 psychiatric reports symptoms and disturbances are analysed.
Results: In 186 cases the main or a secondary diagnosis was a psychiatric one, ranging from schizophrenic residual syndrome, episodic or chronic depression to personality disorder. In these cases the competence of judgement had been considered pathologically or psychodynamically impaired but at the same time rational and realistic in 54,8% and as clearly rational in 37,6%.
Conclusion: Psychiatric symptoms have to be carefully differentiated in people seeking support for assisted suicide. In the majority of cases these do not result in a significant impairment of competence.

Spittler, J. F. (2016): Urteilsfähigkeit und Selbstbestimmung bei psychischer Störung und Suizid-Beihilfe-Ansinnen. Schweiz Ärztezeitung 16.3.: S. 435-437
Schlussfolgerungen Bei einem an eine Organisation herangetragenen Ansinnen auf Suizid-Beihilfe zeigt die eingehende Untersuchung eine breite Variabilität somatischer, psychischer und psychopathologischer Aspekte. Eine pauschale Unterstellung einer aufgrund einer psychischen Störung aufgehobenen oder massgeblich eingeschränkten Urteils- und Willensbildungsfähigkeit ignoriert diese Realität. Jede Situation muss individuell differenzierend beurteilt werden. Die Subjektivität grenzwertiger Beurteilungen wird als grundsätzlich unausweichlich gesehen, muss aber immer auch selbstkritisch abgewogen werden. Die durch psychische Störungen mögliche Einschränkung der Willensbildung erfordert eine Fürsorge für entsprechend erkrankte und eingeschränkt urteilsfähige Menschen. Wenn ein fürsorglich wohlwollender ärztlicher oder gesellschaftlicher Paternalismus in eine selbstschützende oder abwehrende Fremdbestimmung umschlägt, kann der Patient sich dieser nur mit zielstrebigem Verheimlichen seiner Planungen entziehen. Hier ergeben sich ethisch schwierige Entscheidungen zwischen psychiatrisch-therapeutischer Fürsorge, Schweigepflicht und Selbstbestimmungsrespekt, Entscheidungen mit einer schicksalhaften Dimension.

Spittler, J. F. (2017): Suizidverhütung und Suizidbeihilfe – Unterschiedliche Erfahrungsbereiche. Nervenheilkunde 36: S. 416-422
Open Access: http://www.schattauer.de/index.php?id=5236&mid=27597&L=0
Zusammenfassung Nach Antrag auf Beihilfe zu einem Suizid wurden 494 psychiatrische Begutachtungen zur Urteils- und selbstbestimmten Willensfähigkeit erstellt; diesen folgten 261 assistierte Suizide. Die Ergebnisse werden Daten aus der Suizidtherapie und Suizidstatistik gegenübergestellt. Antragsteller auf Suizidbeihilfe geben langzeitige grundsätzliche Überlegungen (MW: 16 Jahre) und konkrete Planungen (MW: 5 Jahre) an. Für die einsamen Suizide wurden kürzere Bedenkzeiten (76% < 1 Woche) und Entschlusszeiten (97% < 1 Tag) berichtet. Die Altersverteilungen einsamer vs. assistierter Suizide: In der 7. Lebensdekade sind die prozentualen Häufigkeiten vergleichbar (einsam: 15,8%, assistiert: 13,8%); in der 1. bis 6. Dekade überwiegen einsame Suizide (56,6%; 8. bis 10. Dekade: 27,6%), in der 8. bis 10. Dekade überwiegen assistierte Suizide (63,2%; 1. bis 6. Dekade: 23,0%). Geschlechterverteilung: einsam: Männer 74,0%; assistiert: Männer 34,5%. Unter den Begründungen gelten bei den einsamen Suiziden psychische Störungen und Suchten als überwiegend, gerichtsmedizinische Statistiken bestätigen diese Verteilung. Bei den assistierten Suiziden ist das Verhältnis umgekehrt (somatisch 58,9%, psychopathologisch: 26,3%, andere: 11,1%). Angesichts dieser Hinweise dürfen die Erfahrungen der Suizidprävention und -therapie nicht unkritisch auf die Suizidbeihilfe projiziert werden.
Suicide-prevention and suicide-assistance – different experiences.
Summary The development towards suicide assistance is critically viewed from the perspective of suicide prevention and therapy. Medical and particularly psychiatric assessment undertaken in cooperation with organisations providing suicide assistance reveal differences in comparison with ‘solitary’ suicide. Following requests for suicide assistance 494 extensive psychiatric assessments were carried out which considered the ability to understand, critically evaluate, and self-determined expression of will. 261 of these cases resulted in assisted suicide. These results are compared with data from publications on suicide therapy and suicide statistics in Germany. Those requesting suicide assistance give long-term, fundamental considerations/reasons (mean: 16 years), and actual planning (mean: 5 years). Solitary suicides show shorter periods of consideration (76% < 1 week), and of reaching the final decision (97% < 1 day). Age distributions for solitary vs. assisted suicide show: percentages for those in the 70s are roughly the same (solitary: 15.8%, assisted: 13.8%). Solitary suicides are higher between 10s and 60s (56.6%; 80s to 100s: 27.6%), assisted suicide is more common between the 80s and 100s (63.2%, 10s to 60s: 23.0%). The gender balance shows reverse relations (solitary: male 74.0%; assisted: male 34.5%). Reasons for solitary suicide are seen as predominantly due to psychiatric issues or substance abuse. Forensic statistics support this relation of underlying illnesses or disorders. The distribution is reverse in assisted suicides (somatic 58.9%, psychiatric: 26.3%, other: 11.1%). Taking these differences into account knowledge gained from suicide prevention and therapy should not be projected onto assisted suicide without critical reflection.

Spittler, J. F. (2018): Assistierter Suizid oder Weiterleben – Eine Nachuntersuchung. Nervenheilkunde 37: S. 738-44
Zusammenfassung Nach eigeninitiativer Suche nach einer Beihilfe zu einem Suizid wurden 494 Menschen eingehend psychiatrisch untersucht. Hier wird über die weiteren Verläufe berichtet. Es folgten 53,6% assistierte Suizide (“AssS”), 9,7% natürliche Todesfälle und 2,0% einsame Suizide. Bei 18,2% konnten telefonisch Katamnesen (“Lebend”) erhoben werden. Im Vergleich überwiegen bei AssS somatische Leiden (59,2:18,9%, p < 0,001), bei den Lebenden psychische Störungen (32,2%:11,3%, p < 0,001). Bei den Lebenden wurde das körperliche Befinden schlechter angegeben, das psychische Befinden trotz größerer Häufigkeit psychischer Störungen besser als bei AssS. Die Entscheidungskompetenz wurde in die drei Teilaspekte Einsichts-/ Urteilsfähigkeit, Selbstbestimmtheit und Wohlerwogenheit differenziert. Hier finden sich im Detail Unterschiede, die sich insgesamt nicht als gewichtig interpretieren lassen. Von den Lebenden halten 50% entschieden und teilweise dringend an ihrem Lebensbeendigungswunsch fest.
Die weiterhin eine Beihilfe zu einer Lebensbeendigung Suchenden haben zuallermeist keine oder nicht hilfswillige Angehörige und keinen Hausarzt, mit denen ein Gespräch möglich oder die zu einer Hilfe bereit wären.
Assisted suicide or staying alive – a follow-up investigation
Summary A comprehensive psychiatric assessment was conducted on 494 people who had on their own initiative sought assistance to commit suicide. This article reports on subsequent developments. There were 53.6% assisted suicides („AssS“), 9.7% natural deaths and 2.0% unassisted suicides. In 18.2% of cases, it was possible to collect follow-up information by telephone („Living“). In comparison, the majority of AssS patients were suffering from somatic conditions (59.2:18.9%, p < 0.001), whilst the Living were suffering from mental disorders (32.2%:11.3%, p < 0.001). The physical well-being of the Living was reported as being worse, and their mental health – despite the high frequency of mental disorders – as being better than in AssS. Patients’ decision-making capacity was divided into three subcategories: their ability to think and judge, their degree of self-determination and their capacity to make well considered decisions. Here, differences in detail were identified which were not found to be decisive overall. Among the Living, 50% remained committed – some firmly – to their decision to end their lives.
Those patients who continued to seek assistance to commit suicide mostly have either no family relatives or none willing to assist them, and no General Practitioner with whom they can talk or who would be willing to help them.

Spittler, J. F. (2019): Das Dammbruch-Argument als Begründung des Sterbehilfe-Verbots und eine gesellschaftlich vertretbare Suizid-Beihilfe. PflegeRecht S. 348-353
Kernsätze Nach diesen eigenen Erfahrungen und unter einer Absicherung durch ermittlungsbehördliche Kontrolle erscheint unverständlich, wie und worin tatsächlich eine Gefährdung schutzbedürftiger Mitglieder unserer Gesellschaft bestehen könnte.
Die eigeninitiativ gesuchten und freiwilligen Mitgliedschaften in Sterbehilfe-Vereinigungen und die in diesem Rahmen durchgeführten assistierten Suizide bedeuten also in unseren alternden Gesellschaften nicht eine Bedrohung, sondern einen tatsächlichen Bedarf. Man kann sich fragen, ob dieser tatsächliche Bedarf auf Dauer mit einem Verbotsgesetz mit Weiterlebenszwang abgewehrt werden kann.
Nach den eigenen Erfahrungen sind umfänglich geplante und bezüglich der Freiverantwortlichkeit umfangreich dokumentierte assistierte Suizide in allen Fällen mit letztmaßgeblich eigentätiger Handlung des Suizidenten durchführbar. Wenn man die konkreten Erfahrungen in Betracht zieht, besteht kein Bedarf, die tradierte Rechtsordnung mit der Strafbarkeit der Fremdtötung und der Straffreiheit der Selbsttötung infrage zu stellen.
In der Schweiz wird die Einhaltung eines geordneten Verfahrens mit Schutz vor mangelhafter Selbstbestimmtheit und etwaigem Missbrauch durch die etablierte obligatorische ermittlungsbehördliche Kontrolle gewährleistet.In den Niederlanden wird die Einhaltung der Verfahrensregeln also durch die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen und der Suizid-Beihilfe bewirkt.
Aus dieser wechselseitigen Zumutung kann eine Verpflichtung abgeleitet werden, einerseits des Suizidenten, seine Absicht nachvollziehbar zu begründen, und andererseits des Helfers, mit bestmöglicher Offenheit, Aufmerksamkeit und Fürsorglichkeit zu handeln. Über die rechtlichen Anforderungen hinaus bedeuten diese situationsimmanenten Bedingungen einen faktischen Schutz vor übereilten Suizidabsichten.
In der Rechtsordnung der BRD ist die Unterscheidung zwischen strafbarer Tötung auf Verlangen und strafloser Beihilfe zum Suizid etabliert. Für eine Änderung besteht nach eigener wie nach sehr viel umfangreicherer Erfahrung in der Schweiz – wie vorstehend dargelegt – kein Bedarf.
Ein von einer Vereinigung mit freiwilliger Mitgliedschaft vermitteltes Vier-Augen-/Vier-Ohren-Gespräch mit einem zu dem Suizid-Beihilfe-Begehren grundsätzlich offen eingestellten Arzt (oder Psychologen mit psychiatrischer oder psychotherapeutischer Expertise) bietet eine qualifizierte, sinnvolle und zugleich weltanschauungs-unabhängige, gegenüber dem Bedürfnis nach autonomer Selbstbestimmung respektvolle Möglichkeit zur Vermeidung mangelhaft erwogener Suizid-Absichten.
Demnach würde es in Deutschland genügen, den § 217 StGB mit einer weiteren Ausnahmeregelung zu ergänzen, die es Organisationen, z.B. der DGHS, vielleicht auch Ärzten – bei Einhaltung eines definierten Verfahrens und dessen behördlicher Kontrolle – ermöglichen würde, straflos Beihilfe zu leisten. Dies würde den vom Gesetzgeber intendierten Sinngehalt des § 217 StGB – den Lebensschutz gegenüber einer inakzeptablen schiefen Ebene – und die Gesetzgebungsautonomie des Deutschen Bundestags unangetastet lassen. Dazu wären die Entscheidungsfreiheit einschränkende oder auch nur einem Zweifel unterstellende Suizidkonfliktberatungsstellen nicht erforderlich, sondern nachträglich überprüfende Kontrollkommissionen ausreichend. Sie könnten bei den Gesundheitsbehörden oder den Ärztekammern angesiedelt werden und sollten, wie in den Niederlanden, interdisziplinär besetzt sein.
In diesem Sinne ist die bestehende Strafandrohung des § 217 Abs. 1 StGB die Voraussetzung, unter der die von der weit überwiegenden Bevölkerung befürwortete und von zahlreichen Menschen für sich persönlich gesuchte Sterbehilfe in Form der Suizid-Beihilfe ermöglicht werden kann.

Spittler, J. F. (2020): Freiverantwortlichkeit und natürlicher Wille bei Lebensbeendigungs-Absicht im Hinblick auf eine Demenz. PflegeRecht S. 70-76
Kernsätze Phasen-Unterscheidung im Verlauf einer fortschreitenden Demenz: Geistige Gesundheit / Manifeste Kurzzeitgedächtnisstörungen / Mangelhafte gedankliche Konsistenz / Semantisch uneindeutige sprachliche Äußerungen / Zerfall der Denk- und Gesprächsfähigkeit / Verlust der sprachlichen Äußerungsfähigkeit.
Als beurteilungs-relevante Kriterien einer verbalen oder nonverbalen Äußerung werden hier einerseits die Entscheidungs-Kompetenz bzw. die Freiverantwortlichkeit und andererseits Absichtlichkeit und zweckhafte Zielgerichtetheit herausgestellt.
Empirische Befunde (2 Fallgeschichten): Nach diesen Erfahrungen gibt es im Verlauf einer demenziellen Entwicklung nur eine sehr begrenzte Phase manifester Kurzzeitgedächtnisstörungen mit hinreichend zweifelsfrei erhaltener Einsichts- und selbstkritischer Urteilsfähigkeit, in der die Entscheidungs-Kompetenz und Freiverantwortlichkeit für einen assistierten Suizid anerkannt werden kann und muss. Eine mangelnde Entscheidungs-Kompetenz würde nach deutschem Recht eine Strafbarkeit wegen Totschlags bedeuten. Nur in der Phase einer hinreichenden Entscheidungs-Kompetenz kann also eine Beihilfe zu einem Suizid straffrei ausgeführt werden.
Unter der Voraussetzung der Freiverantwortlichkeit ist in allen Fällen, auch bei fast vollständiger Lähmung, eine Lebensbeendigung mit eigentätiger letztentscheidender suizidaler Handlung möglich, z.B. mit einem absichtsvollen Öffnen einer Infusion durch eine minimale Bewegung des Suizidenten selbst: Für eine etwa ärztlich durchzuführende Tötung besteht also aus der praktischen Sicht kein Bedarf.
Möglichkeiten im Hinblick auf eine Demenz für diejenigen Menschen ..., die über den Verlauf oder eine Abkürzung des eventuellen Verlaufes nachdenken und entscheiden wollen:
a) Ein frühzeitiger Suizid mit Verzicht auf Lebenszeit: Der Nachteil einer solchen Entscheidung ist der Verzicht auf möglicherweise noch zufriedenstellend zu erlebende Lebenszeit. Manche Menschen formulieren im Alter sehr überzeugend, dass sie ein erfülltes Leben gelebt haben und leicht auf noch mögliche Lebenszeit verzichten wollen. Zu bedenken ist im Falle eines vorhandenen Ehepartners oder vorhandener Kinder, dass diese von einem Verlust betroffen werden. Dies kann insbesondere bei vorangegangenem Miterleben eines Demenz-Verlaufs eine vom Gehenden sehr bewusst intendierte Entlastung, aber auch das Zurücklassen im Verlust und Schuldgefühle wegen nicht genügender Fürsorge bedeuten. Deshalb ist eine intensive Kommunikation mit dem Ziel eines Einverständnisses so wichtig.
b) Restriktive Anordnungen für den späteren Verlauf einer Demenz: In einem solchen Verlauf können aktuelle, nicht mehr entscheidungs-kompetente, nicht mehr freiverantwortliche Willensäußerungen – ein sog. natürlicher Wille – zu einer früheren restriktiven Patientenverfügung in Widerspruch stehen.
Notwendige Differenzierungen des natürlichen Willens: Ein Kriterium für die Bedeutungshaltigkeit und damit die Rechtserheblichkeit eines natürlichen Willens ist nicht einfach zu formulieren. Zum Kriterium für das hier anstehende Thema wird ein »absichtlich zielgerichteter Zweckbezug« in Betracht genommen, der sowohl bei weitreichend überlegter Planung als auch in einfach zustimmendem oder ablehnendem Verhalten zu sehen ist. In Bezug auf die Beachtlichkeit ist eine Unterscheidung notwendig: Kann man bei der Beurteilung einigermaßen sicher sein, dass bei dem Betroffenen selbst ein absichtlich zielender Wille vorhanden ist oder wird von der Umgebung deren Bedürfnis nach einem Absichts-Verständnis gefolgt?
Schlussgedanke: Wir werden uns darauf einrichten müssen, dass ein Verzicht auf Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr und das dann unausweichliche Zuschauen bei einer zunehmenden Abmagerung oder einer zunehmenden Austrocknung unseren bisherigen Fürsorge-Gewohnheiten und unseren bisherigen medizinethischen und pflegeethischen Grundsätzen zuwiderlaufen kann. Wir haben bisher in der Rechtsprechung zu Patientenverfügungen den Grundsatz, dass diese über den Verlust der aktuellen Selbstbestimmungsfähigkeit hinaus zu respektieren sind. Wir werden den sehr bewussten Selbstbestimmungswillen von Menschen zu respektieren lernen müssen, die den Spätverlauf einer Demenz als mit ihrem Selbstverständnis ihrer menschlichen Würde unvereinbar ansehen und dies bei noch erhaltener Entscheidungs-Kompetenz in einer restriktiven Patientenverfügung festlegen.

Spittler, J. F. (2020): Sterbehilfe in Deutschland? Eine neurologisch-psychiatrische Sicht. NJOZ 20: S. 97-99
Abstract Das Verbot der geschäftsmäßigen Suizid-Beihilfe gem. § 217 StGB hat Auswirkungen, die wohl so nicht vorhergesehen worden sind, die ausschließliche Zulassung einer einmaligen Beihilfe gemäß Abs. 2, also einer unprofessionellen Hilfe, und den Druck in Richtung eines Exports in die Schweiz. Drei Gerichtsurteile mit konträren Aussagen zur Suizid-Beihilfe (BVerwG, NJW 2017, 2215; BGH, NJW 2019, 3092; VG Köln, Beschl. v. 19.11.2019 – 7 K 8461/18) und der Blick in die Nachbarländer Schweiz und Niederlande regen zu Überlegungen zur möglichen Entwicklung der Sterbehilfe in Deutschland an.

Spittler, J. F. (2020): Rettungspflicht beim Suizid – Geschichte und aktuelle Entwicklung der Rechtsprechung aus ärztlich-psychiatrischer Sicht. MedR 38: S. 101–105
Abstract Vor dem Hintergrund der Diskussion um Strafbarkeit oder Nicht-Strafbarkeit der Beihilfe zu einem Suizid und der Entwicklung der Rechtsprechung des BGH von 1954, 1984 und 1987 wird die Bedeutung des jüngsten Urteils v. 3. 7. 2019 skizziert. Dieses Urteil stellt die in allen früheren Urteilen bereits unterschiedlich angesprochene Bedeutung und Maßgeblichkeit der Freiverantwortlichkeit heraus. Aus ärztlicher Sicht können jetzt erstmalig empirische Befunde beigetragen werden: Gründlich erwogene und dann freiverantwortliche, im Gespräch mit einem Anderen z.B. Verwandten oder Nahestehenden (gem. § 217 Abs. 2 StGB) oder einem Arzt kommunizierte und begründete Suizide mit dann nachfolgender Beihilfe unterscheiden sich deutlich von den allgemeinen, in einer Vereinsamungs-Situation ausgeführten Konflikt- und Verzweiflungs-Suiziden. Damit ist nach jetzt höchstrichterlich bestätigtem Rechtsverständnis eine Garanten-/Rettungspflicht bei einem freiverantwortlichen (assistierten) Suizid zu verneinen, beim Hinzukommen zu einem nicht unzweifelhaft freiverantwortlichen, allgemeinen, „einsamen“ Suizid nach wie vor geboten.

Spittler, J. F. (2020)(Problemstellung und Anmerkung zu): Rechtsprechung: Zur Bedeutung der Freiverantwortlichkeit für die Rettungs- und Garantenpflicht bei einem Suizid. StGB §§212, 216, 323c; BGB 1901 – BGH, Beschl. v. 3.7.2019 – 5 StR 132/18 (LG Hamburg). MedR 38: S. 120-125
Leitsatz / Problemstellung / Anmerkung Leitsatz (BGH): Angesichts der gewachsenen Bedeutung der Selbstbestimmung des Einzelnen auch bei Entscheidungen über sein Leben kann in Fällen des freiverantwortlichen Suizids der Arzt, der die Umstände kennt, nicht mit strafrechtlichen Konsequenzen verpflichtet werden, gegen den Willen des Suizidenten zu handeln.
Problemstellung (Spittler) S. 120: Nach dem BGH-Urt. v. 4. 7. 1984 (BGHSt 32, 367, sog. Wittig-Fall) galt im Strafrecht über nahezu 35 Jahre bei einem bewusstlosen, noch lebenden Suizidenten eine generelle Rettungspflicht und, falls der Hinzukommende ein Arzt war, eine Garantenpflicht. Begründet war dies mit dem Übergang der Tatherrschaft auf den Hinzukommenden ab dem Augenblick der Bewusstlosigkeit des Suizidenten. Dem damals behandelnden Hausarzt war bekannt gewesen, dass seine Patientin zu ihrem verstorbenen Ehemann, ihrem „Peterle“, gewollt hatte. Weil die Frage der Freiverantwortlichkeit nicht vertiefend erörtert worden war, hat das Urt. vor dem Hintergrund der damaligen gesellschaftlichen Diskussion Kritik erfahren (u.a. Eser, MedR 1985, 6). Seit 1990 ist die Beachtlichkeit des Patientenwillens auch nach Eintritt einer Bewusstlosigkeit gesetzlich festgeschrieben und – jedenfalls für Patientenwillens-konforme Therapiebeendigungs-Entscheidungen auch mit Versterbensfolge – in nachfolgenden Urteilen bestätigt worden (BGH, Urt. v. 25. 6. 2010, – 2 StR 454/09). Jetzt wurden dem BGH erstmals zwei Freisprüche nach unterlassenen Rettungsversuchen nach Suizid (2012 bzw. 2013) unter dem Strafvorwurf des Totschlags bzw. der versuchten Tötung auf Verlangen durch Unterlassen zur abschließenden Beurteilung vorgelegt. In dem Hamburger Verfahren handelte es sich um einen in Zusammenarbeit mit dem Verein Sterbehilfe Deutschland (organisiert) ärztlich assistierten Suizid bei 2 hochbetagten Damen mit nicht lebensbedrohlichen körperlichen Erkrankungen mit eingehend dokumentierter, zusätzlich durch Zeugenaussagen bestätigter Freiverantwortlichkeit (Duttge, MedR 2017, 139, Hillenkamp, MedR 2018, 379, Eser, MedR 2018, 734, Hoven, MedR 2018, 741). In dem zugleich behandelten Berliner Verfahren litt die Patientin an einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung mit begleitender chronischer Depressivität und war bei durch Zeugenaussagen bestätigter Freiverantwortlichkeit nach Einnahme des tödlichen Mittels von ihrem Hausarzt in der Bewusstlosigkeit über 3 Tage bis zur Todesfeststellung begleitet worden (BGH, Urt. v. 3.7.2019, – 5 StR 393/18). Die Suizidbegleitungen betrafen also einerseits einen alters-perspektivischen Suizid mit mäßig körperlich beeinträchtigenden Altersgebresten und andererseits eine nicht kurzfristig lebenslimitierende Erkrankung. Die Suizide hatten vor Inkrafttreten des §217 StGB stattgefunden, eine Strafbarkeit wegen geschäftsmäßigen Handelns bestand also noch nicht. In Rückblick auf die Entscheidung des BVerwG v. 2. 3. 2017 entsteht also für den Erhalt eines für eine eigentätige Lebensbeendigung geeigneten, dem BtMG unterliegenden Mittels zu den vorauszusetzenden Kriterien eines „gravierenden körperlichen Leidens“ bzw. einer „extremen Notlage“ erheblicher Klärungsbedarf (BVerwG, Urt. v. 2.3.2017, 3 C 19.15).
Anmerkung (Spittler) S. 124/5: Bemerkenswert an dieser rechtsgeschichtlichen Entwicklung ist, dass das Wittig-Urteil von 1984 seine grundsätzliche Bedeutung behält und dass dessen Geltung ausschließlich für den Fall einer unzweifelhaften Freiverantwortlichkeit des Suizids eingeschränkt wird: Im Fall des Hinzukommens zu einem bewusstlosen, noch lebenden Suizidenten und unklarer Willensbestimmung gilt unverändert eine Rettungs- bzw. für einen nahen Angehörigen oder Arzt eine Garantenpflicht. Die Frage, ob das Verschreiben oder Verschaffen suizidgeeigneter Medikamente einen Anknüpfungspunkt für eine Rettungspflicht im Sinne der Ingerenz darstellt, wurde im vorliegenden Fall nicht erörtert, da die Herkunft der Medikamente unaufgeklärt war. (Die Frage ist jedoch im gleichzeitig verhandelten Berliner Fall ebenfalls nicht straf- begründend beurteilt worden). Ob die Argumentation, dass der Suizid in jedem Fall als „Unglücksfall i.S.d. §323c Abs. 1 StGB“ aufzufassen sei (Abs. 4 a), dauerhaft aufrecht zu erhalten sein wird, erscheint aus psychiatrisch-ärztlicher Sicht fraglich. Zwischen den allgemeinen Suiziden und planvoll assistierten Suiziden bestehen erhebliche Unterschiede. Nach wohlbedachter Erwägung in Freiverantwortlichkeit ausgeführte assistierte Suizide werden – vielleicht erst in einer gewissen Zukunft – auch „bei natürlicher Betrachtung“ nicht mehr als Unglücksfälle im geläufigen Wortsinne bezeichnet werden können. In Zukunft wird es zur Vermeidung unnötiger Ermittlungs- bzw. Strafverfahren zweckmäßig sein, die Freiverantwortlichkeit und die Untersagung von Rettungsbemühungen hinreichend eindeutig zu dokumentieren. Für einen Arzt bestehen die unterschiedlichen berufsrechtlichen Regelungen der Landesärztekammern mit bzw. ohne Verbot der Suizid-Beihilfe unabhängig von diesem Urteil. Es wird von der Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsbeschwerden gegen den §217 StGB abhängen, welche Bedeutung das aktuelle BGH-Urteil für eine zukünftig denkbare individuell ärztliche oder organisierte Suizid-Beihilfe – etwa nach Schweizer Vorbild – in der BRD entfalten wird.

Berghäuser, G., Boer, T. A., Borasio, G. D., Hohendorf, G., Rixen, S., Spittler, J. F. (2020): Brauchen wir eine Neuordnung der Sterbehilfe in Deutschland? MedR 38/3: im Druck
Abstract Im Rahmen einer medizinrechtlichen Tagung an der Universität Augsburg haben internationale Expertinnen und Experten verschiedener Fachrichtungen kontrovers die Frage diskutiert, ob in Deutschland die Neuordnung der Sterbehilfe angezeigt ist. Die Referentinnen und Referenten haben ihre wesentlichen Thesen für den vorliegenden Beitrag zusammengefasst.
(Beitrag Spittler:)
Die Thematik ist insbesondere aufgrund der ausstehenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 StGB von aktueller Bedeutung. Insgesamt besteht in Bezug auf die derzeitige Rechtslage zur Sterbehilfe große Rechtsunsicherheit. Die Entscheidungen der obersten Gerichte in Deutschland in den letzten Jahren verfolgen keine einheitliche Linie. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht 2017 erstmalig ein Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben anerkannt, der genaue Inhalt und die Reichweite dieses Grundrechts sind jedoch nach wie vor unklar. Sodann hat der Bundesgerichtshof im Frühjahr dieses Jahres einen Schadensersatzanspruch gegen Ärzte und Ärztinnen wegen unterlassenen Behandlungsabbruchs bei krankheitsbedingtem Leiden verneint. Im Juli 2019 wiederum hat der Bundesgerichtshof unter Berufung auf die gewachsene Bedeutung der Selbstbestimmung des Einzelnen auch bei Entscheidungen über sein Leben in Fällen des freiverantwortlichen Suizids zwei Ärzte, die diese Umstände kannten, von strafrechtlichen Konsequenzen freigesprochen, weil sie ansonsten gegen den Willen des Suizidenten gehandelt hätten. Nach wie vor besteht von ärztlicher Seite Unsicherheit über eine mögliche Strafbarkeit nach § 217 StGB. Zudem wird die Beihilfe zur Selbsttötung für Ärzte und Ärztinnen in manchen Berufsordnungen der Landesärztekammern ausgeschlossen. Daneben gibt es ungeklärte Rechtsfragen im Zusammenhang mit der ärztlichen Unterstützung beim sog. Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeitszufuhr sowie bei der palliativen Sedierung. Dies sind nur einige Aspekte des Themenbereiches zur Sterbehilfe, die kontrovers diskutiert werden.

Spittler, J. F. (2020): Freiverantwortlichkeit sub specie suicidii – Eine neuropsychiatrische Betrachtung. Aufklärung und Kritik Heft 3: S. 25-33
Kernsätze Aus ärztlich-psychiatrischer Sicht stellt sich die Frage nach der Entscheidungskompetenz des/der Anfragenden, in juristischer Terminologie der Freiverantwortlichkeit. Im Verlauf von 494 Untersuchungen von Suizidbeihilfe-Nachsuchenden bleibt ein Nachdenken über Freiheit und Verantwortlichkeit einer solchen Entscheidung nicht aus. Ein ausschließender formal logischer Widerspruch zwischen deterministisch kausaler Verursachung und menschlicher Willensfreiheit kann nicht zwingend behauptet werden. Aufgrund der psychodynamischen Betrachtungsweise müssen wir feststellen, dass die Frage eines voraussetzungslos unabhängig freien Willens eher ablehnend zu beantworten ist. Mit dieser Überlegung nähern wir uns der Erkenntnis, dass wir in wohl allen Zusammenhängen nicht eine grundsätzliche, voraussetzungsunabhängige Freiheit unseres Denkens und Handelns, sondern immer eine Freiheit von bestimmten Einschränkungen, also einen relativen Freiheits-Begriff gebrauchen. Mit Bezug auf Suizid und Beihilfe geht es bei der Frage der Freiverantwortlichkeit also abgesehen von der grundsätzlichen Handlungs-Möglichkeit (-Freiheit?), unser Leben beenden zu können, um Fragen der relativen Freiheit: – von Irrtümern, Selbsttäuschungen oder anderen Einengungen unseres Denkens, – von krankhaften oder vergleichbaren psychischen Störungen, – von einer Beeinflussung durch andere Menschen, unmittelbar oder mittelbar durch menschen-gemachte Vorschriften oder Gesetze, – von dem Zwang unbeeinflussbarer Gegebenheiten („höhere Gewalt“) u.a. auch lebenslimitierender körperlicher Krankheiten. Wenn man einen strengen Begriff von Freiverantwortlichkeit vertritt, dann muss die Freiheit der Willensbildung bei einer psychischen Beeinträchtigung als zumindest partiell beeinträchtigt, also als nicht vollgültig gegeben beurteilt werden. Wenn die therapeutischen Möglichkeiten nicht aussichtsreich sind, dann muss eine so eingeschränkte Willensfreiheit dennoch als beachtlich, der Wille zu einem Suizid mit Beihilfe als rechtlich relevant zugestanden und als Konsequenz eine vom Suizidenten untersagte Rettung unterlassen werden. Für die in der gesellschaftspolitischen Debatte als schutzbedürftig herausgestellten Interessen schwächerer Mitglieder unserer Gesellschaft vor einem eventuellen Gedrängt-Werden in Richtung einer Lebensbeendigung war bei den 494 Untersuchten keine Gefährdung zu erkennen. Von Beihilfe-Aspiranten wurde teilweise vorgetragen, dass Angehörigen oder der Solidargemeinschaft Belastungen erspart werden sollten. Dieses Argument wurde ausschließlich sekundär in einer ,ceterum censeo‘-Bedeutung, einverständlich rücksichtsvoll und überzeugend eigenständig vorgebracht. Die gesellschaftliche Entwicklung ist bereits jetzt deutlich und wird sich absehbar weiter verschärfen: Alterung, Pflegebedürftigkeit und Akademisierung der Pflege mit geringerer Bereitschaft zu einfachen pflegerischen Tätigkeiten werden zunehmen; die kompetente und individuell-personale mitmenschliche Zuwendung wird angesichts der Größe des Problems weiter abnehmen; wir werden als Gesellschaft der Frage einer humanen Sterbehilfe bei Hochaltrigkeit immer weniger entrinnen können. Bei erschöpfter therapeutischer Beeinflussbarkeit körperlicher oder psychischer Erkrankungen bzw. Unabänderlichkeit des Alterns beschränkt sich die Wahlmöglichkeit auf die Alternativen des Weiterlebens und Erduldens oder der eigentätigen assistierten Lebensbeendigung. Hier erfährt die Entscheidungsfreiheit eine unabänderliche Einengung, innerhalb deren die psychiatrische Kategorie der Einwilligungskompetenz und als deren Konsequenz die rechtliche Kategorie der Freiverantwortlichkeit in vielen Fällen dennoch zu bejahen sind. Neben der Verantwortlichkeits-Anforderung der Gesellschaft an den Suizidär sind einerseits die soziale Verantwortung der Gesellschaft für den Einzelnen und andererseits die Verantwortung des Einzelnen gegenüber seiner sozialen Umgebung von Bedeutung. Menschen, die sich für eine Suizid-Beihilfe zur Verfügung stellen, müssen die implizite psychologische Botschaft im Blick haben und als Bedingung der Beihilfe mit dem Suizidär thematisieren. So können negative Auswirkungen auf die unmittelbare soziale Umgebung und auch auf unsere Gesellschaft vermieden oder wenigstens so gering wie möglich gehalten werden. In erkenntnistheoretischer Hinsicht handelt es sich bei der psychiatrischen oder psychologischen Einschätzung der Entscheidungskompetenz – wie bei allen hochkomplexen Phänomenen – um einen bis auf Weiteres in Anteilen unausweichlich intuitiven und nicht definitiv formalisierbaren, sondern einen voraussetzungsbewusst synthetisch-integrativen Beurteilungs-Akt.

Spittler, J. F. (2020): Eckpunkte zu einem Suizidhilfe-Gesetz – Eine ärztliche und speziell psychiatrische Sicht. NJOZ 19: S. 545-48
Leitsatz/Kernsätze Nachdem das BVerfG den § 217 StGB für nichtig erklärt hat, wurde angekündigt, möglichst bald eine gesetzliche Regulierung zu erlassen. Von interessierten Organisationen und Bundestagsabgeordneten werden verschiedene organisatorische Modelle diskutiert, häufig das Konfliktberatungs-Modell. Aus der ärztlichen und medizin-rechtlichen Sicht wurden bisher einige Gesichtspunkte nur mangelhaft in den Blick genommen, insbesondere die Wechselbeziehungen des BGH-Urteils vom 3.7.2019 mit der Entscheidung des BVerfG vom 26.2.2020 und einige spezifisch medizinische Gesichtspunkte.
V. Denkbare Konkretisierungen eines regulierten und liberalen Verfahrens
– Sicherung einer ordnungsgemäßen Suizid-Beihilfe durch Strafbarkeit oder Sanktions-Androhung bei Nicht-Einhaltung eines vorgeschriebenen Verfahrens.
– Zu überprüfendes allein maßgebliches Kriterium nach BGH und BVerfG: „Freiverantwortlichkeit“ mit „Einsichts- und Urteilsfähigkeit der Entscheidung“, „Mangelfreiheit des Suizidwillens“ und „innerer Festigkeit des Suizidentschlusses“.
– Die denkbaren Verfahrens-Alternativen unterscheiden sich in ihrer Zudringlichkeit bzw. Zumutbarkeit für den Suizid-Aspiranten nach vorheriger oder nachträglicher Überprüfung.
– Bisher gilt ein Arztvorbehalt für ein Rezept mit Erfordernis der ärztlichen Untersuchung und Beurteilung.
alternativ: Institutionalisierung mit festzulegender Besetzung einer Beratungsstelle (oder einer akkreditierten Suizid-Hilfe-Organisation?) mit Ausgabe einer Abgabegenehmigung für den Apotheker.
– Ausgabe des Medikamentes direkt an den Suizidenten mit unbeaufsichtigtem (?) Verbleib oder an einen den Suizid begleitenden Arzt oder an einen autorisierten / bevollmächtigten Suizid-Begleiter der Sterbehilfe-Organisation.
– Die Durchführung der Suizid-Assistenz ausschließlich durch Ärzte wird vorerst weitgehend an der nur geringen individuellen Bereitschaft und an dem vorerst weiterbestehenden berufsrechtlichen Verbot bzw. Tabu scheitern,
alternativ: Beihilfe durch freiwillige geschulte Laien-Begleiter.
– Triggerung des Überprüfungsverfahrens durch die Todesbescheinigung.

Hoven, Elisa; Hilgendorf, Eric; Jaklin, Martina; Spittler, Johann F. (2020): § 217 StGB und das berufsrechtliche Verbot der ärztlichen Suizidassistenz. Vorgänge – Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 229: S. 47ff
Zusammenfassung Schon seit 2011 empfiehlt die Musterordnung der Bundesärztekammer (MBO-Ä) in § 16 den Landesärztekammern, in ihre Satzungen ein berufsrechtliches Verbot der Suizidbeihilfe für Ärzte aufzunehmen. Von den 17 Landesärztekammern haben 10 dieses Verbot in ihre Berufsordnungen aufgenommen. Die restlichen Kammern (Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Westfalen-Lippe) sind den Vorgaben nicht gefolgt und haben lediglich Empfehlungen ausgesprochen. Die unterschiedliche Umsetzung von § 16 MBO-Ä hat zu einem uneinheitlichen Berufsrecht in Deutschland geführt, das die kontroversen Positionen innerhalb der Ärzteschaft widerspiegelt. Dieses uneinheitliche Berufsrecht führt zu weiterer Rechtsunsicherheit in Sachen Sterbehilfe, die damit erneut zum Fall für die Gerichte wird. Den bisherigen Höhepunkt der juristischen Kontroverse um das berufsrechtliche Verbot ärztlicher Suizidbeihilfe markiert eine Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichtes (VG) im Rechtsstreit zwischen dem Berliner Arzt Uwe-Christian Arnold, damals auch stellvertretender Vorsitzender von Dignitas Deutschland, und der Berliner Ärztekammer.1 Das Gericht verwarf mit seiner Entscheidung eine Untersagungsverfügung der Berliner Ärztekammer, die nach seiner Auffassung formell und materiell gegen höherrangiges Recht verstoße. Mit den zu erwartenden Auswirkungen der anstehenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 217StGB auf das ärztliche Berufsrecht befasste sich das zweite Panel der gemeinsamen Tagung von Humanistischer Union und Friedrich-Naumann-Stiftung am 9. Mai 2019. Wir dokumentieren diese Diskussion in leicht bearbeiteter Form.

Spittler, J. F. (2020): Die Freiheit der Suizid-Hilfe - wie handeln? Vorgänge – Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 229: S. 93-100
Leitsatz/Kernsätze Das Bundesverfassungsgericht hat über die Zulässigkeit von organisierter, professioneller Suizidhilfe entschieden. Damit ist die Frage des Ob geklärt. Wie eine solche Hilfe idealerweise ablaufen sollte, um die Suizidwilligen nicht unnötigen weiteren Belastungen auszusetzen und zugleich die Gefahr eines Missbrauchs auszuschließen, ist damit noch nicht gesagt. Dieser Frage geht der folgende Beitrag nach. Der Autor, selbst seit vielen Jahren in der Suizidbegleitung tätig, formuliert auf der Grundlage seiner Erfahrungen einige Mindestanforderungen zum Ablauf organisierter Suizid(bei)hilfe.
• In Übereinstimmung mit den vom BVerfG formulierten Verhältnismäßigkeits-Anforderungen ist für die Sicherung des Lebensschutzes die Strafbarkeit von Totschlag und Tötung auf Verlangen die notwendige Voraussetzung.
• Dafür sind eine angemessene Dokumentation von Freiverantwortlichkeit und Eigentätigkeit des Suizids und eine nachträgliche Prüfung – wie in den Niederlanden – unter den Möglichkeiten des bestehenden Strafrechts hinreichend und für Betroffene und Mitbetroffene menschenwürdig zu gestalten.

Spittler, J. F. (2020): Suizidhilfe und die letzten Stunden im Leben eines Menschen vor einer Lebensbeendigung. MedR 38: S. 908-911
Abstract/Kernsätze Seit das Bundesverfassungsgericht den § 217 StGB für nichtig erklärt hat, ist die Suizidhilfe ungeregelt. Inzwischen sind Aktivitäten des Gesundheitsministeriums bekannt geworden und Vorschläge für eine gesetzliche Regelung erschienen. In der deutschen Rechtsordnung sind der ärztliche Rezeptvorbehalt und der Suizid als nicht natürliche den Ermittlungsbehörden meldepflichtige Todesart zu berücksichtigen. Im Regelungseifer droht eine suizidenten-fürsorgliche Perspektive aus dem Blick zu geraten. Vier denkbare Modelle, das Konfliktberatungsmodell (Deutschland), das gewohnheitsrechtliche Modell (Schweiz), das ärztliche Verordnungs-Modell (Oregon) und das Prüfungsgremien-Modell (Niederlande) werden unter dem Blickwinkel der möglichen Belastung für Suizident, Angehörige, Suizidhelfer und die Ermittlungsbehörden diskutiert.
Kernsätze
– Eine den Lebensschutz sichernde Überprüfung assistierter Suizide könnte nach Niederländischem Modell – nachträglich – durch ein spezielles Gremium mit juristischer und ethischer Expertise stattfinden (einzurichten etwa bei Gesundheitsämtern, bei Ärztekammern oder Vormundschaftsgerichten).
– Das Überprüfungsverfahren könnte durch eine gesonderte Kennzeichnung des assistierten Suizids im Totenschein ausgelöst und durch Beifügung erforderlicher Dokumente zum Totenschein ermöglicht werden.
– Unter dem Aspekt des gebotenen Respektes für die Beteiligten wäre dies das menschenwürdigste Modell und würde damit den eindeutigen Vorgaben des BVerfG am besten gerecht.

Spittler, J. F. (2021): Mangelfreiheit eines freiverantwortlichen Suizidhilfe-Ersuchens – eine Betrachtung des juristischen Begriffs aus ärztlicher Sicht. medstra 7: S. 89-93
Abstract/Konklusion Nach ständiger und letztgültiger höchstgerichtlicher Rechtsprechung ist Voraussetzung für die Straffreiheit einer Hilfe zu einem Suizid mit Verzicht auf eine anschließende Rettung die Freiverantwortlichkeit. Diese ist näher charakterisiert durch die Begriffe: Einsichts- und Urteilsfähigkeit, Mangelfreiheit und innere Festigkeit sowie Wohlerwogenheit. Aus psychiatrischer Sicht problematisch, weil mangelhaft spezifiziert, ist der Begriff der Mangelfreiheit. Von besonderer Bedeutung sind Mängel der Willensbildung infolge krankheitsbedingter Defizite bei psychischen Störungen, etwa einer Depression, einer Schizophrenie, bei fortschreitender Demenz oder nach Schlaganfall. Hierzu werden in der Praxis der Suizidhilfe aufkommende Argumente für die Abwägung zwischen Patientenwillen und Lebensschutz und Konsequenzen der Entscheidungen dargestellt und ein Ausblick auf denkbare Entwicklungen gesetzgeberischer oder richter-rechtlicher Spezifizierungen versucht.
Medizinisch-rechtliche Konklusion
Für die rechtliche Beurteilung können aus psychologischer und medizinethischer Sicht und in gesellschaftspolitischer Hinsicht (Spittler NJOZ 2020, 545 ff; Spittler Vorgänge 2020, 93 ff; Spittler MedR 2020, 908 ff.) die nachstehenden Schlussfolgerungen beigetragen werden:
– Nach den bisher bekannt gewordenen Entwicklungen ist von der Gesetzgebung eher keine differenzierte Klärung dieser konkret drängenden Fragen zu erhoffen.
– Die einzige psychiatrisch und medizinethisch überzeugende Lösung kann nur darin liegen, bei einfach erhaltener Urteilsfähigkeit zwischen einer krankhaft begründeten Mängelbehaftetheit und der Entschiedenheit einer gefestigten Willensbildung abzuwägen und damit das Kriterium der Mängelfreiheit zu relativieren.
– Es hat den Anschein, dass diese Fragestellung am Beispiel der Depression, der Schizophrenie, der Demenz oder kognitiver Einbußen z.B. nach Schlaganfall der Rechtsprechung vorgelegt werden muss, damit eine Klärung innerhalb des im BVerfG-Urteil niedergelegten Orientierungsrahmens möglich wird.

Spittler, J. F. (2023): Suizidbeihilfe – Offene Diskussion notwendig (Leserbrief). Dtsch Arztebl 120: S. A 1326/7
Abstract/Kernsatz Aus der Sicht eines seit 20 Jahren in der Suizidhilfe tätigen Neurologen/Psychiaters mit inzwischen 700 gutachtlichen Untersuchungen zur Freiverantwortlichkeit und circa 55 Prozent großenteils persönlichen Begleitungen begrüße ich das Scheitern der beiden Gesetzentwürfe für die Suizid-Aspiranten mit großer Erleichterung, aber auch mit Zwiespalt. Die Inkraftsetzung des Gesetzentwurfes von Castellucci/Heveling wäre nicht nur für mich persönlich ein Anlass für eine erneute Klage vor dem BVerfG gewesen, der Gesetzentwurf Künast/Helling-Plahr wäre erträglich gewesen, hätte aber bei der weitverbreiteten Ablehnung in der Ärzteschaft für die Suizid-Aspiranten erhebliche Schwierigkeiten – und auch Kosten – verursacht.
Schlusssatz
In einer mitmenschlich fürsorglichen Suizidhilfe ist die derzeit obligate Überprüfung durch die Ermittlungsbehörden mit dem Erscheinen von Bereitschafts- und Kriminalpolizei insbesondere für die betroffenen Angehörigen eine Belastung. Beide Gesetzentwürfe hätten zu diesem Gesichtspunkt nichts gebracht. Das Verfahren einer nachträglichen Kontrolle durch ein spezialisiertes Prüfgremium mit ggf. fakultativer Beteiligung der Ermittlungsbehörden ermöglicht eine menschenwürdige Gestaltung dieser letzten Minuten eines Menschenlebens und des Coping-Prozesses für die Angehörigen.

Spittler, J. F. (2023): Assistierter Suizid – Praktische Erfahrungen in Deutschland. In: Anselm-R, Karle-I, Lilie-U, Meyer-Magister-H (Hrsg.); „Was tun, wenn es unerträglich wird?“ Penguin Random House Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh : S. 139-152
Abstract/Kernsatz 1. Im Hinblick auf die Fortgeltung von (ggf. eine Rettung untersagenden) Patientenverfügungen hat der Bundesgerichtshof Leipzig die Rechtsprechung am 3. Juli 2019 revidiert. Unter der Bedingung bestehender »Freiverantwortlichkeit« (mit Einsichts- und Urteilsfähigkeit, innerer Festigkeit und Mängelfreiheit der Willensbildung) hat er eine Rettungspflicht verneint. Das 2015 in Kraft gesetzte Verbot »geschäftsmäßiger« – d.h. wiederholter – Beihilfe (§ 217 StGB) hat das Bundesverfassungsgericht Karlsruhe am 26. Februar 2020 für nichtig erklärt. Damit ist auch eine mehrfache Tätigkeit in der Suizidhilfe möglich. Der Totschlag (§ 212 StGB) und insbesondere die Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) bleiben unverändert strafbar und weiterhin gilt eine Rettungspflicht für die allgemeinen »einsamen« (Verzweiflungs-)Suizidversuche. 2. Das persönliche ärztliche Handeln Mit dem Credo, nur für das Leben tätig sein zu wollen, kann man sich den Bitten der Menschen gegenüber verschließen oder sich öffnen. 3. Die Vorbereitung Die Initiative zu den einzelnen Schritten bleibt immer bei den Anfragenden. 4. Die praktische Durchführung Darüber hinaus bietet die assistierende Person den Angehörigen an, für eventuellen Gesprächsbedarf weiter zur Verfügung zu stehen. Praktisch immer haben im Vorfeld ausreichende Gespräche stattgefunden, so dass kaum noch Fragen offen sind. 5. Die Erfahrungen in medizinischer Hinsicht Die körperlichen Krankheiten überwiegen mit zusammen 61,6 % also deutlich. 5.2. Die körperlichen oder/und psychischen oder/und altersperspektivischen Begründungen Wenn man die maßgeblichen und die teilmaßgeblichen Begründungen jeweils addiert, dann ergibt sich eine maßgebliche oder teilmaßgebliche körperliche Begründung in 71,2 %, eine entsprechende psychische Begründung in 29,8 % und eine entsprechende alters-perspektivische Begründung in 23,7 %. 5.3. Konfessionszugehörigkeit und Gläubigkeit nach Selbsteinschätzung Wenn man zusammenfasst, gehörten zur Zeit der Begutachtung 15,5 % der (römisch) katholischen, 27,4 % der evangelischen und 46,2 % keiner Konfession an. Die Menschen verstanden sich in sehr unterschiedlichem Maße als gläubig bis ungläubig und glaubten oder hofften überwiegend nicht an oder auf ein Weiterleben nach dem Tode. 5.4. Die Beurteilung der Einsichts- und Urteilsfähigkeit Die prozentual weit überwiegende Feststellung einer erhaltenen Einsichts- und Urteilsfähigkeit von 96,7 % (rational und realistisch) ist offensichtlich Folge eines bereits zuvor abgeschlossenen, gründlichen Überlegungsprozesses. 5.5. Die Alternative der Palliativmedizin Angesichts der Verschiedenartigkeit der Begründungen für eine Suizidabsicht bedeutet die Palliativmedizin nur für knapp 30 % ein mögliches, aber im Verhältnis 10:1 abgelehntes und die unbeeinflusste Selbstbestimmung bevorzugendes Angebot. 5.6. Inanspruchnahme der Suizidhilfe und andere Verläufe Der verhältnismäßig hohe Prozentsatz erfolgter Suizidhilfen (54,0 %), der sich bei längerem Zuwarten noch weiter erhöhen dürfte, ist nach den von den Suizid-Antragsteller:innen angegebenen Begründungen als Folge der zuvor weitgehend abgeschlossenen eigenen Überlegungen anzusehen. 5.7. Suizidhilfe und Suizidprävention Daraus folgt, dass die Erkenntnisse von den einsamen Suiziden nicht undifferenziert auf die assistierten Suizide übertragen und Forderungen nicht ohne gesonderte Begründung abgeleitet werden dürfen. 6. Fürsorge für Lebensrecht und Selbstbestimmungsrecht Damit steht ein Gutachter in Grenzfällen in der Verantwortung, beides, sowohl den Schutz vor einer übereilt lebensbeendenden Entscheidung und das Recht auf Selbstbestimmung gegeneinander abzuwägen. 7. Die Begleitung zum und im Suizid Die Personalunion von Gutachter:in und Suizidhelfer:in ermöglicht das Entstehen eines Vertrauensverhältnisses, ermöglicht ein mitmenschlich begleitetes, gelassenes Sterben und eine zugewandte Begleitung Angehöriger. Nur ein solcher Ablauf kann als menschenwürdiges begleitetes Sterben unserer mitmenschlichen Pflicht genügen.

Spittler, J. F. (2024): Die Differenzierung der Freiverantwortlichkeit aus der Sicht der Suizidassistenz. Nervenheilk 42: S. 41-48
Zusammenfassung Nach Antrag auf Beihilfe zu einem Suizid wurden 688 Menschen ärztlich-psychiatrisch zu ihrer Freiverantwortlichkeit untersucht. Für die Einsichts- und Urteilsfähigkeit, die innere Festigkeit bzw. Dauerhaftigkeit, die Mängelfreiheit der Willensbildung und die Wohlerwogenheit wurden Kriterien entwickelt. Das mittlere Alter betrug 67,3 Jahre (Spanne 20–108), der Anteil der Frauen 65,1 %, der Männer 34,7 %, divers 0,1 %. Unter den Diagnosen fanden sich – maßgeblich und teilmaßgeblich jeweils insgesamt – körperliche Krankheiten in 75,3 %, psychische Störungen in 27,3 % und die (höhere) Altersperspektive in 34,0 %. Die Einsichts- und Urteilsfähigkeit wurde in 64,0 % als abgewogen rational und in 32,4 % als körperlich oder psychisch begründet nüchtern realistisch beurteilt. Unter dem rechtlich geforderten Aspekt der Mängelfreiheit wurde eine „Beeinflussung” der Willensbildung u. a. durch körperliches oder psychisches Beschwerdeerleben von einer „Beeinträchtigung” der Willensbildung unterschieden. Vorwiegend bei letzterer muss die Nachdrücklichkeit und Eindeutigkeit der Willensbekundung im Verhältnis zu dem Grad der Beeinträchtigung abgewogen werden. Im Verlauf wurde von 54,9 % der Begutachteten eine Suizidhilfe in Anspruch genommen.

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P.-D. Dr. med. Johann F. Spittler
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