Können Ego-Shooter amokläufe begünstigen oder sogar hervorrufen

Der Erfurter Amoklauf in Öffentlichkeit und Wissenschaft


Nach dem Amoklauf vom 26.4.2002 in Erfurt ging ein Aufschrei durch die deutsche Medienlandschaft. Die Gewalttat des Robert Steinhäuser an den Schülern und Lehrern des Gutenberg-Gymnasiums, der Schule, der er ein Jahr zuvor verwiesen worden war, wirkte alarmierend, denn Amokläufe von ähnlichem Ausmaß hatte es vor Erfurt noch nicht in Deutschland gegeben.


Nach einer Phase der Fassungslosigkeit begann die Suche nach den Schuldigen. Natürlich war Robert Steinhäuser der Täter, aber wer oder was hatte ihn zu seiner Tat getrieben? Sowohl Medien als auch Politiker beteiligten sich eifrig an der Suche, die alsbald zu dem bekannten Ergebnis führte: Neben „brutaler“ Musik von Bands wie Slipknot oder Marylin Manson und gewalthaltigen Videofilmen seien vor allen Dingen Egoshooter, also Computerspiele in denen virtuell Gewalt ausgeübt wird und die Robert Steinhäuser konsumierte, die Ursache seines Rachefeldzug. Seit Erfurt sind Ego-Shooter wie Counterstrike oder Doom in Verruf geraten (interessanterweise wurde das Spiel Counterstrike nie bei Steinhäuser gefunden, er präferierte andere Spiele), denn sie seien „Killerspiele“, die das Töten trainieren und belohnen würden. Die aktuelle Regierung reagierte-und forderte in ihrem Koalitionsvertrag vom November 2005, Produktion sowie Vertrieb solcher Spiele zu verbieten.

Purer Aktionismus oder berechtigte Beschränkung?

Die vorliegende Arbeit will sich genau dieser Problemstellung widmen, will sich dem Thema nicht mit Panik, sondern sachlich und vorbehaltlos (in jede Richtung) nähern.

Die Arbeit ist in insgesamt fünf Teile gegliedert. Der erste Teil beschäftigt sich mit dem Erfurter Amoklauf im Detail. Das heißt, der Tathergang wird beschrieben und der Täter, die Person Robert Steinhäuser, wird aufgeschlüsselt. Von besonderem Interesse sind dabei seine Freizeitaktivitäten und die Medien, die er konsumierte. Hierbei kann es sich natürlicherweise – und das ist wichtig - nur um Rekonstruktionen handeln. Es wurde im Übrigen bewusst ein bestimmter Fall eines von einem Jugendlichen begangenen Amoklaufs aufgegriffen, damit der Bezug zur Realität vorhanden ist, die Arbeit also nicht völlig theoretisch bleibt. Desweiteren wurde gerade Erfurt und nicht zum Beispiel Littleton gewählt, weil es sich bei Erfurt natürlich um einen deutschen Ort handelt und damit auch die Reaktionen, medial oder politisch, spezifisch deutsch waren. Ich vermutete, in Deutschland auf eher striktere Verordnungen zum Thema Gewaltspiele zu stoßen, als in Amerika. Diese Vermutung wurde nicht enttäuscht. Somit gestaltete sich die Beantwortung der Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Anschuldigungen an die Computerspielindustrie noch interessanter.

Der zweite Teil der Arbeit zeigt die Bandbreite der medialen und auch politischen Reaktionen auf die Gewalttat des Robert Steinhäusers auf. Die Reaktionen waren auf eine Art sehr ähnlich (Benennung von „Schuldigen“), aber auch sehr vielfältig (in der Wahl des „Schuldigen“). Weitgehend einig war man sich allerdings, lieber eine monokausale statt eine multikausale Erklärung des Ereignisses zu liefern.

Eine bezeichnende Aussage:

„Wir werden wohl nie über einen unmittelbaren wissenschaftlichen Beweis für einen direkten Zusammenhang von Taten wie dieser und der Darstellung von Gewalt verfügen. Aber ist das überhaupt notwendig?“
Gerhard Schröder 2003


In diesem Teil der Arbeit geht es vor allen Dingen darum, die Mechanismen, die nach schockierenden und oftmals unverständlichen Taten zu Tage treten, exemplarisch zu veranschaulichen.
Im darauffolgenden, dritten Teil der B.A.-Arbeit, werden die gewalthaltigen Spiele, die von vielen als Grund alles Übels angesehen werden, nämlich die sogenannten Ego-Shooter genau definiert und voneinander differenziert. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Spiel „Half-life“, welches von Robert Steinhäuser regelmäßig konsumiert wurde. Desweiteren werden die Konsumenten, die Zielgruppe vorgestellt und die Frage nach der Attraktivität genau dieses Computerspiel-Genres wird erörtert.


Im Anschluss an diese eher praktischen Untersuchungen folgt der wissenschaftlich-theoretische Teil der Arbeit. Im vierten Sinnabschnitt nämlich wird die Frage nach einem Einfluss gewalthaltiger Computerspiele auf die Aggressionsbildung des jeweiligen Spielers diskutiert. Dazu ist zu sagen, dass zu dem Thema medialer Gewalt allgemein und ihrer Wirkung auf den Rezipienten eine unüberschaubare Anzahl von Publikationen vorliegt. Außerdem ist der Tenor der Medienwissenschaftler und Pädagogen keinesfalls einstimmig. Ich habe deshalb versucht, eine Überblicksdarstellung zu schaffen, an deren Ende eine Zusammenfassung und eine Bewertung stehen. Zunächst muss eine Unterscheidung zwischen der passiven Aufnahme medialer Gewaltdarstellungen und der Interaktivität erfolgen. Erstaunlich ist hierbei, dass Gewaltdarstellungen in einem Video- oder Fernsehfilm größere Auswirkungen auf dass Aggressionsverhalten der Konsumenten haben (können), als Gewaltdarstellungen in einem Computerspiel. Besonders Ladas lehnt dabei auch eine Gleichsetzung von realer und virtueller Gewalt ab. Das virtuelle Töten in Computerspielen sei (im Gegensatz zu Gewaltdarstellungen im Film) ohne jede inhaltliche Bedeutung, sondern diene nur als Mittel zum Zweck, nämlich der erfolgreichen Bewältigung des Spiels. Empathie zu den „Opfern“ gebe es nicht, denn sie wären nichts weiter als bessere Schießbudenfiguren.

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Außerdem wichtig im Zusammenhang mit Computerspielen, ist die Definition des Begriffs „Gewalt“ und daran anschließend die Abgrenzung zu „virtueller Gewalt“. Auf Grund neuester neurophysiologischer Untersuchungen könnte man davon ausgehen, dass diese beiden genannten Arten von Gewalt eigentlich nicht unterschieden werden sollten, denn anscheinend könnten bei der Ausübung virtueller Gewalt dieselben Gehirnareale aktiviert sein wie sie es auch bei der Ausübung realer Gewalt sind. Dieser (bis jetzt noch) These setzen einige Forscher das Argument entgegen, dass Gewalt zwar nicht virtuell sei, nur weil sie virtuell verübt wird, aber, weil das Opfer kein reales Opfer sei, dass vor allen Dingen auch nicht geschädigt würde.

Im Anschluss an die Definition von Gewalt wird unter Anwendung der Theorie der angstinduzierten Aggression und Zuhilfenahme der Begriffe „schmutziger“ und „sauberer Gewalt“ erklärt, wann Aggression entsteht. Danach werden einige klassische Erklärungsansätze zur Wirkung von medialen Gewaltdarstellungen auf das Aggressionsverhalten der Konsumenten, wie zum Beispiel die Katharsisthese oder die Suggestionsthese (um mal die beiden Thesen zu nennen, die im stärksten Widerspruch zueinanderstehen), vorgestellt und beurteilt. Der letzte Unterpunkt widmet sich der kritischen Hinterfragung der Ausführungen Dave Grossmanns . Dieser betreute nach dem Littletoner Amoklauf die Schüler der Columbine High School und sieht einen direkten Zusammenhang zwischen dem Konsum von Ego-Shootern der Littleton-Täter und ihres Amoklaufs. Mit dieser Zuspitzung des Themas auf Ego-Shooter und Amoklauf läutet sich schließlich der fünfte und letzte Teil der Arbeit ein. Nach einer kurzen Zusammenfassung der Ergebnisse der vorherigen theoretischen Arbeit wende ich mich dort der Ausgangsfragestellung zu und beschäftige mich erneut mit Robert Steinhäuser und dem Erfurter Amoklauf. Am Ende der Arbeit habe ich die möglichen Ursachen für Steinhäusers Amoklauf erklärt und versucht zu beweisen, dass Ego-Shooter in diesem Fall, wie aber auch in jedem anderen Fall keine Mitschuld an Steinhäusers Vorgehen tragen können. Es ist zwar bewiesen, dass Gewaltdarstellungen im Spiel kurzfristig eine erhöhte Aggression ausbilden können, aber eine erhöhte Aggression führt nicht automatisch zu Gewalttätigkeit. Diese eher nutzungsbegleitenden Wirkungen dürfen jedoch nicht mit einer Computerspielwirkung verwechselt werden und daher keinesfalls als alleinige Erklärung der Tat Steinhäusers herangezogen werden. Eine Verbesserung der Schießfertigkeit und Geschicklichkeit durch Konsum von First Person Shootern ist allerdings nicht von der Hand zu weisen.

Wie schon erwähnt, ist die Zahl der Veröffentlichungen zu medialer Gewalt im Allgemeinen unglaublich hoch. Eine klare Ja/Nein Antwort auf die Frage, ob Computerspiele schuldig daran sein können, wenn ein Jugendlicher Amok läuft, gibt es nicht. Dass gewalttätige Computerspiele kurzzeitig zu Erregung, zu stärkerer Aggression führen können ist zwar bewiesen. Die Vermutung, dass sich nach regelmäßigem Computer spielen die aggressiven Tendenzen erhöhen können, gilt ebenfalls als wahr. Ein Amoklauf bleibt jedoch eine Tat, der ein zu komplizierter Ursachenkomplex zu Grunde liegt, als dass man ihn allein mit gewalttätigen Computerspielen erklären könnte. Dahingehenden passt auch die These, dass Gewaltdarstellungen nicht immer die gleiche Wirkung haben, sondern dass das Individuum darüber „entscheidet“, ob sich die Wirkung in Gewalt äußert oder nicht. Faktoren wären dabei zum Beispiel psychische Erkrankungen, erlittene Traumata, individuelles Selbstwertgefühl, aber auch das Geschlecht oder die Religion.

Die Ermittlung des wahren Forschungsstandes wurde auch dadurch erschwert, dass sich viele Autoren sehr emotional und wenig objektiv zu diesem Sachverhalt äußern. Die Panik, vor allen Dingen vieler Pädagogen, ist fast greifbar, wie zum Beispiel in Heinz Buddemeiers Veröffentlichung „Medien und Gewalt – Wie und warum wirken Gewaltdarstellungen? Zum Medium Film zum Beispiel schreibt dieser: „[…]Durch Geräusche und Hintergrundmusik können ebenfalls starke Effekte erzielt werden. Diese Mittel steigern den Unterhaltungswert, bedeuten aber letztendlich eine Verhöhnung der Opfer, auf deren Kosten man sich unterhält.“ Auch viele Statistiken sind auf Grund ihrer jeweiligen Untersuchungsmethode umstritten. Für die Arbeit habe ich dennoch erst einmal nur wenig selektiert, um eine allgemeine Meinung zur „Stimmungslage“ zu erhalten.