Bohr & Einstein, Druck 23.05.2022 Seite 13

Niels Bohr und Albert Einstein – eine spannungsreiche Freundschaft1

Michael Drieschner



Bohr und Einstein waren die großen Physiker unseres Jahrhunderts. Dabei ist Physik in unserem Jahrhundert nicht irgendeine Spezialität, die eben auch ihre größten Vertreter hat, sondern Physik ist die grundlegende Naturwissenschaft, die unsere Sicht von der Welt auch für die übrigen Naturwissenschaften prägt; und in unserem Jahrhundert hat ein Umbruch unserer wissenschaftlichen Weltsicht stattgefunden, der auf einem Umbruch eben der Physik beruht. Und diesen Umbruch der fundamentalen Wissenschaft Physik haben wir zu großen Teilen Niels Bohr und Albert Einstein zu verdanken.

Die beiden großen Physiker sind nun nicht nur nebeneinander und unabhängig voneinander Genies der Naturwissenschaft gewesen, sondern sie haben sich gut gekannt, waren befreundet und haben miteinander intensiv um das Verständnis dieser neuen Weltsicht gerungen. Und in diesem Ringen haben die beiden gerade prototypisch die beiden Positionen vertreten, die man gegenüber der Revolution in unserem Weltbild einnehmen kann und die auch heute noch diejenigen Gelehrten einnehmen, die sich damit beschäftigen: Man kann sie im wesentlichen einteilen in ein Lager, das Bohr folgt, und ein Lager, das Einstein folgt.

Ich möchte zunächst den Werdegang der beiden großen Freunde kurz skizzieren, aus dem man ihr Herangehen an die Wirklichkeit schon etwas besser verstehen kann, in ihrer Gemeinsamkeit und in ihrem Gegensatz.



1.) Einstein


Albert Einstein ist 1879 in Ulm geboren und in München aufgewachsen. Seine Eltern stammten beide aus jüdischen Landgemeinden in Württemberg. Diese Herkunft wird für Einstein später eine große Rolle spielen, obwohl seine Eltern dem assimilierten Judentum angehörten und jüdische Bräuche in Einsteins Elternhaus keine Rolle spielten.

Der Vater war zunächst in Ulm an einem Familienbetrieb beteiligt, gründete nach Alberts Geburt in München eine kleine elektrotechnische Fabrik, mit der er zunächst auch Erfolg hatte.

Albert lernte offenbar spät sprechen – seine Schwester erzählte später, er habe als Kind immer nur komplette Sätze sprechen wollen, habe sich die im stillen zurechtgelegt und vor sich hin gesagt, bis er schließlich zufrieden war und den Satz laut aussprach; das dauerte natürlich eine Zeit. Er spielte fast nur allein, und wie er später erzählte hat ihn schon als fünfjährigen ein Kompaß fasziniert und zum Denken angeregt, dessen Nadel augenscheinlich durch unsichtbare Kräfte bewegt wurde.

Nach der Volksschule besuchte er das Luitpold-Gymnasium in München. Daß er ein schlechter Schüler gewesen sei, ist eine Legende. Aber er kam mit der Schule wegen ihres autoritären Stils nicht zurecht. Es gibt ein Klassenfoto aus dieser Zeit (Bild 1) – vor gut 100 Jahren – auf dem er selber recht pfiffig in die Gegend schaut, aber seine beiden Nachbarn ganz vorschriftsmäßig die Hände an die Hosennaht legen.

Als dann der Vater seine Fabrik nach Norditalien verlegte, zog die übrige Familie mit und Albert sollte in München die Schule beenden. Er reiste aber statt dessen seiner Familie sehr schnell nach und wollte nicht nur die Münchner Schule, sondern auch die deutsche Staatsangehörigkeit und seine Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde aufgeben. Nach einer halbjährigen Pause bei den Eltern besuchte er schließlich noch ein Jahr die Kantonsschule in Aarau in der Schweiz, wo die Atmosphäre weniger autoritär war und er sich wohlfühlte. Nach dem Schulabschluß studierte er in Zürich an der ETH fürs Lehramt in Mathematik und Physik. Auch dort brachte ihn sein Dickkopf offenbar gelegentlich in Schwierigkeiten: Sein physikalischer Lehrer Heinrich Weber gestand ihm zwar seine Intelligenz zu, hielt ihn aber für faul und sagte ihm: "Sie haben einen Fehler. Sie lassen sich nichts sagen." – Einstein hat sich auch da in seinem Unabhängigkeitsdrang weniger an den offiziellen Studiengang gehalten, sondern lieber auf eigene Faust die Dinge erforscht, die ihm interessant und wichtig erschienen – wie schon als Schüler:

"Im Alter von 12 – 16 machte ich mich mit den Elementen der Mathematik vertraut inklusive der Prinzipien der Differential- und Integralrechnung. Dabei hatte ich das Glück auf Bücher zu stoßen, die es nicht gar zu genau nahmen mit der logischen Strenge, dafür aber die Hauptgedanken übersichtlich hervortreten ließen. Diese Beschäftigung war im ganzen wahrhaft faszinierend; es gab darin Höhepunkte, deren Eindruck sich mit dem der elementaren Geometrie sehr wohl messen konnte – der Grundgedanke der analytischen Geometrie, die unendlichen Reihen, der Differential- und Integralbegriff. Auch hatte ich das Glück, die wesentlichen Ergebnisse und Methoden der gesamten Naturwissenschaft in einer vortrefflichen populären, fast durchweg aufs Qualitative sich beschränkenden Darstellung kennenzulernen (Bernsteins naturwissenschaftliche Volksbücher, ein Werk von 5 oder 6 Bänden), ein Werk, das ich mit atemloser Spannung las. Auch etwas theoretische Physik hatte ich bereits studiert, als ich mit 17 Jahren auf das Züricher Polytechnikum kam als Student der Mathematik und Physik." (Autobiographisches S.5).

Die Aversion dieses Lehrers bewirkte auch, daß er als einziger unter den Studienkollegen im Anschluß an das Studium keine Stelle an der ETH bekam; nach einiger Zeit der Arbeitslosigkeit bekam er aber durch die Vermittlung seines Freundes Marcel Großmann eine Stelle als technischer Experte dritter Klasse beim "Eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum" in Bern, dem schweizerischen Patentamt, mit einem Gehalt von 3500 Franken – im Jahr, nicht etwa im Monat. Das war im Juni 1902, Einstein war Schweizer Staatsbürger geworden. Er heiratete seine serbische Studienkollegin Mileva Maric – gegen den Widerstand der Eltern – und es begann eine wissenschaftlich ungeheuer produktive Zeit, die er später auch als die glücklichste seines Lebens empfand. Mit zwei Freunden – Maurice Solovine und Conrad Habicht – gründete er einen Debattierklub, den sie „Akademie Olympia“ nannten. (Bild 2) Einstein berichtete später, daß diese im Spaß so genannte Akademie wesentlich seriöser arbeitete und weniger kindisch war als die "echten" Akademien, mit denen er später in Berührung kam.

Ein Freund beschrieb die Atmosphäre dieser ersten Ehezeit nach einem Besuch bei Einsteins: "Die Wohnungstür stand offen, denn der vor kurzem gewaschene Boden sowie die im Korridor aufgehängte Wäsche mußten trocknen. Ich betrat Einsteins Zimmer. Mit einer Hand schaukelte er den Kinderwagen, in dem das Kind philosophisch ruhig liegt ..., im Mund hatte Einstein eine schlechte Zigarre, und in der anderen Hand ein offenes Buch. Der Ofen rauchte fürchterlich." – Die Arbeit beim Patentamt und die familiären Verpflichtungen ließen ihm aber doch offenbar viel Zeit für die Arbeit an wissenschaftlichen Problemen (Bild 3). In einem einzigen Jahr – 1905 – erscheinen gleich vier Arbeiten von ihm, aus ganz verschiedenen Gebieten der Physik, deren jede für sich „nobelpreiswürdig“ gewesen wäre. Eine der Arbeiten enthält die Spezielle Relativitätstheorie, für die Einstein vor allem berühmt geworden ist; eine zweite den quantenmechanischen fotoelektrischen Effekt, mit der er entscheidend zur Entwicklung der Quantenmechanik beitrug. (Bild 3a)

Damit war Einstein ein berühmter Mann. Er habilitierte sich (wobei es für ihn charakteristisch ist, daß sein erstes Habilitationsgesuch abgelehnt wurde, weil er keine Habilitationsschrift beigefügt hatte – so wenig hatte er sich um die "Formalien" gekümmert, die ihm zuwider waren), 1909 wird er außerordentlicher Professor in Zürich, schon 1911 bekommt er in Genf einen Ehrendoktor, ebenfalls 1911 wird er ordentlicher Professor zunächst in Prag, ab 1912 in Zürich und ab 1914 in Berlin.

Da uns an seinem weiteren Leben vor allem die Diskussion mit Bohr interessiert, will ich hier Einsteins biographische Skizze abbrechen und nur ergänzen durch einen Text, mit dem er den Kollegen Max Planck zu dessen 60. Geburtstag (1918) beschrieb – mit dem er aber zweifellos auch sich selbst meinte:

"Es treibt den feiner Besaiteten aus dem persönlichen Dasein heraus in die Welt des objektiven Schauens und Verstehens; es ist dies Motiv mit der Sehnsucht vergleichbar, die den Städter aus seiner geräuschvollen, unübersichtlichen Umgebung nach der stillen Hochgebirgslandschaft unwiderstehlich hinzieht, wo der weite Blick durch die stille, reine Luft gleitet und sich ruhigen Linien anschmiegt, die für die Ewigkeit geschaffen scheinen. Zu diesem negativen Motiv aber gesellt sich ein positives. Der Mensch sucht in ihm irgendwie adäquater Weise ein vereinfachtes und übersichtliches Bild der Welt zu gestalten und so die Welt des Erlebens zu überwinden, indem er sie bis zu einem gewissen Grade durch dies Bild zu ersetzen strebt."



2.) Bohr


Lassen Sie mich den Abschnitt über Bohr beginnen mit einer Schilderung C. F. v. Weizsäckers von seinem ersten Eindruck (ZW 773): (Bild 4)

Bohr war damals 46 Jahre alt, für mich Neunzehnjährigen ein alter Mann. Er war von mittlerer Größe, die Haltung leicht gebeugt. Der Kopf, oft betrachtend und wie schüchtern ein wenig schief geneigt, schien aus zwei verschiedenen Hälften zu bestehen. Die schmale, hohe Stirn unter schon ergrauenden, etwas schütteren Haaren, die er beim Nachdenken raufte, durchfurcht: die ungeheure Intensität des Denkens. Die etwas füllige untere Hälfte des Gesichts, wulstige Lippen, etwas hängende Backen: ein freundlicher dänischer Bürger. Ein oft scheues Lächeln, das das Gesicht durchblitzte, einte beide Hälften. Die Augen, tief unter den buschigen Brauen, schienen gleichzeitig genau auf die Dinge zu blicken und durch die Dinge hindurch in eine uns anderen unergründliche Ferne; den Mitmenschen blickten sie scheu und zugleich gütig an, wie ich es sonst nie gesehen habe.

Ein Wort über die Hände. Heisenberg, der schmächtige blonde junge Mann, hatte die sehnigen künstlerischen Hände des Pianisten, fähig, Akkorde zu greifen. Bohr hatte die etwas fleischigen, breiten, starken, sicheren Hände eines Holzschnitzers. Er konnte Dinge anfassen.“


Niels Bohr ist 1885, sechs Jahre nach Einstein, in Kopenhagen geboren. Anders als Einstein wächst Bohr ganz im sicheren bürgerlichen Milieu seiner Heimat heran. Der Vater ist Professor für Physiologie in Kopenhagen, die Mutter stammt aus einer jüdischen Bankiersfamilie, ihr Vater war in Kopenhagen Parlamentsabgeordneter. – In Dänemark ist die Emanzipation der Juden längst Selbstverständlichkeit; aber auch für Bohr wird seine jüdische Herkunft unter dem Druck der Deutschen später wichtig werden. – Niels Bohr und sein jüngerer Bruder Harald lernen schon als Kinder im Elternhaus gelehrte Diskussionen mit Kollegen des Vaters aus anderen Fakultäten kennen – zwangloses Beispiel für den heute so intensiv aber vergeblich geforderten "interdisziplinären Dialog". Anders als Einstein sind die Brüder Bohr begeisterte und erfolgreiche Sportler, sie segeln, fahren Ski und spielen Fußball; Harald spielt als Läufer in der Nationalmannschaft, die für Dänemark bei der Olympiade die Silbermedaille gewinnt; Niels wäre beinah als Torwart auch dabei gewesen. Während Einstein schon als Schüler selber seine manuelle Ungeschicklichkeit als Motiv für sein theoretisches Interesse anführt, (Bild 5) ist Bohr ein zuverlässiger und geschickter Handwerker. Er ist in der Familie gefragt für knifflige Reparaturarbeiten, als Physikstudent bläst er sich die kompliziertesten Glasgeräte selber, und Heisenberg schildert in seinem Dialogbuch: „Der Teil und das Ganze“ Bohrs handwerkliche Souveränität aus den späteren Jahren so:

Christian brachte ein halb vom Schnee zerstörtes Windrad mit, das offenbar meine Freunde bei einem früheren Aufenthalt konstruiert hatten – vielleicht um Stärke und Richtung des Windes anzuzeigen, vielleicht auch nur, weil es lustig aussieht. Natürlich beschlossen wir nun, ein neues und besseres Windrad aufzustellen. Niels, Felix und ich versuchten jeweils ein solches Gebilde aus einem Stück Küchenholz zu schnitzen. Während Felix und ich bemüht waren, eine aerodynamisch ideale Form, also eine Art Propeller, herzustellen, beschränkte sich Niels darauf, die beiden Flügel als zwei im rechten Winkel gegeneinander verstellte Ebenen aus einem Stück Vierkantholz zu schnitzen. Im Endergebnis aber zeigte sich, daß unsere ideal gedachten Propeller mechanisch so ungenau gebastelt waren, daß sie sich nur schlecht im Winde drehten, während Niels' Windrad so gut ausgewogen war und in allen Einzelheiten, zum Beispiel bei der Bohrung für den Stift, um den sich das Rad drehen sollte, so sauber gearbeitet war, daß es sofort als das beste anerkannt und aufgestellt wurde und sich in der Tat völlig fehlerlos und schnell im Wind drehte. Über die beiden anderen Versuche sagte Niels nur: »Ja, die Herren sind so ehrgeizig« Aber er war offenbar ehrgeizig in Bezug auf saubere Handwerksarbeit gewesen, und das paßte gut zu seiner Einstellung zur klassischen Physik“.


Bohr – auch wieder ganz anders als Einstein – ging von der ersten bis zur letzten Klasse auf dieselbe Schule in Kopenhagen, die "Gammelholm"-Schule. Er galt als langsam, gutmütig, unfähig jemanden zu ärgern. Schon in der Schule beschäftigte er sich intensiv mit philosophischen Problemen. Er erwähnte später öfter den Roman von Poul Martin Møller "Geschichte eines dänischen Studenten", in dem der dänische Student – mit dem sich der Autor wohl identifiziert, ebenso wie der Leser Niels Bohr – einem Freund schildert, wie er ganz durcheinanderkommt bei dem Versuch, die verschiedenen Iche auseinanderzuhalten, in die er sich aufspaltet, wenn er sich selber beim Denken betrachtet: Einerseits denkt er, zugleich aber denkt er daran, daß er denkt; und wenn er dies denkt, dann ist er eigentlich schon ein Dritter, der von außen das Ich betrachtet, das denkt, und auch das Ich, das das Denken denkt; etc., das ist beliebig weit fortsetzbar. – Bohr kam später oft auf das Problem zurück, daß man nicht gleichzeitig die Sprache benützen kann – sozusagen naiv sprechen –, und die Bedeutung der Worte, die man gebraucht, analysieren. Beide Handlungsweisen sind notwendig, aber sie schließen einander aus. Bohr beschreibt die Sprache als ein Netz von Beziehungen zwischen den Individuen, die sie sprechen; jedes Individuum "hängt in dem Netz", zieht Fäden und wird an ihnen gezogen. „Wir hängen in der Sprache“, berichtet Aage Petersen, sein späterer Assistent, als ein häufiges Wort Bohrs. Auch in einem anderen Zusammenhang greift Bohr die Anregung durch Poul Martin Møller auf, indem er sagt: „Im Spiel des Lebens sind wir immer zugleich Schauspieler und Zuschauer.“

Bohr studierte Physik, ebenfalls in Kopenhagen, gewann schon mit zwanzig einen Preis für eine theoretische Arbeit, und bestand glänzend sowohl Diplom- wie Doktorprüfung – letztere mit 25 Jahren. Da es in Kopenhagen schon kaum jemanden gab, der seine Dissertation verstehen konnte, ging er nach der Prüfung nach Cambridge zu Thomson und nach Manchester zu Rutherford. Rutherford hatte gerade entdeckt, daß die Masse des Atoms in einem vergleichsweise winzigen Kern konzentriert war. Bohr erfand dazu kurze Zeit später eine Theorie, die klassische und quantenmechanische Aspekte mischte – das heute sog. Bohr’sche Atommodell. Bohr war sich voll der Probleme und Widersprüche dieses Modells bewußt; nach der klassischen Physik konnte es so etwas unmöglich geben. Erst die Quantenmechanik, zwölf Jahre später von Werner Heisenberg gefunden, brachte eine befriedigende Lösung der Probleme. Bohr aber war mit der Erfindung des Atommodells berühmt geworden.



3.) Die Diskussion


Eine der vier großen Arbeiten Einsteins im Jahre 1905 war ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Quantentheorie. Einstein benutzt da die Entdeckung Plancks, daß Licht nur in bestimmten Quanten abgegeben und aufgenommen werden kann, zur Erklärung des lichtelektrischen Effekts. Dieser Effekt besteht darin, daß Licht, das auf eine Metalloberfläche trifft, aus dem Metall Elektronen herausschlagen kann. Man hat festgestellt, daß die Energie eines austretenden Elektrons nicht von der Intensität der auftreffenden Strahlung abhängt, sondern nur von ihrer Frequenz – grob gesagt, von der Farbe des auffallenden Lichts. Einsteins Erklärung bestand darin, daß er kühn die Plancksche Quantenhypothese fortsetzte und annahm, daß Licht überhaupt aus solchen „Quanten“ besteht, wie Planck sie postuliert hatte; auch hier schon ein Punkt, wo es dem Autor – in diesem Fall Einstein – klar war, daß diese Lösung gemäß der klassischen Physik unmöglich war. Einstein schrieb darüber später in einem autobiographischen Text, den er seinen „Nekrolog“ nannte, seine Leichenrede:

All dies war mir schon kurze Zeit nach dem Erscheinen von Plancks grundlegender Arbeit klar, so daß ich, ohne einen Ersatz für die klassische Mechanik zu haben, doch sehen konnte, zu was für Konsequenzen dies Gesetz der Temperaturstrahlung für den licht­elektrischen Effekt und andere verwandte Phänomene der Verwandlung von Strahlungs­energie sowie für die spezifische Wärme (insbesondere) fester Körper führt. All meine Versuche, das theoretische Fundament der Physik diesen Erkenntnissen anzupassen, scheiterten aber völlig. Es war, wie wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen worden wäre, ohne daß sich irgendwo fester Grund zeigte, auf dem man hätte bauen können. Daß diese schwankende und widerspruchsvolle Grundlage hinreichte, um einen Mann mit dem einzigartigen Instinkt und Feingefühl Bohrs in den Stand zu setzen, die haupt­sächlichsten Gesetze der Spektrallinien und der Elektronenhüllen der Atome nebst deren Bedeutung für die Chemie aufzufinden, erschien mir wie ein Wunder und erscheint mir auch heute noch als ein Wunder. Dies ist höchste Musikalität auf dem Gebiete des Gedankens.“ (Schilpp dt., S.17)

Bei diesen Anfängen war es Bohr, der lange Zeit skeptisch blieb gegenüber der Abweichung von der klassischen Physik. Bohr war 1912 nach einem Jahr in England nach Kopenhagen zurückgekehrt, hatte geheiratet (seine Biografin Ruth Moore wird nicht müde, die fruchtbare Harmonie dieser Ehe für den ganzen Rest des Lebens zu betonen – auch wieder ganz anders als bei Einstein) (Bild 6), war in Kopenhagen zunächst Assistent, dann nach seiner Arbeit über das Atommodell Professor geworden. 1921 bezog er ein neues Institut für theoretische Physik, das nach seinen Plänen eigens für ihn gebaut worden war, wo er auch mit seiner Familie wohnte.

Carl Friedrich von Weizsäcker schreibt über die Wirkung Bohrs in einem Vortrag zu seinem 100. Geburtstag (ZW S.771) :

Der bedeutendste sichtbare Erfolg Bohrs in dieser Zeit war seine Theorie des periodischen Systems der Elemente. Seine wichtigste theoretische Leistung war die nichtrastende Arbeit an der Aufklärung der Struktur der Quantentheorie. Das Wirkungsvollste war jedoch, daß Bohr eine Schule schuf, die vielleicht in der Geschichte der Physik nicht ihresgleichen hat.

Das große Vorbild Bohrs war Rutherford. Der bullige, mächtige, optimistische, gütige Neuseeländer wurde der Lehrer und sehr bald der Freund des schüchternen, menschenfreundlichen, tief denkenden und grenzenlos zähen Dänen. Rutherfords experimentelles Institut stand den besten jungen Forschern der ganzen Welt offen. Rutherfords eigene Intensität, seine Fähigkeit, zu wollen und zuzuhören, schuf die Atmosphäre der völlig freien und nie verzettelten Diskussion, in der sich die neuen Ideen herausarbeiteten. Dasselbe wollte Bohr für die Theorie schaffen, und es ist ihm gelungen. Sein Institut in Kopenhagen wurde 1921 eingeweiht. In ihm wurde in den nächsten zehn Jahren die endgültige Gestalt der Quantentheorie aufgeklärt.“

Bis in diese Zeit zögerte Bohr, die Lichtquantenhypothese, die Einstein schon 1905 aufgestellt hatte, zu akzeptieren. „Wenn Einstein mir ein Funktelegramm schickt, er habe jetzt den endgültigen Beweis für die Lichtquanten gefunden, so beweist die bloße Tatsache, daß das Telegramm ankommt, daß die Theorie der elektromagnetischen Wellen richtig ist und somit Einstein unrecht hat.“ – so soll Bohr argumentiert haben.

Im Sommer 1920 lud Max Planck Bohr zu einem Vortrag nach Berlin ein; dort traf er zum ersten Mal mit Einstein zusammen. Sie diskutierten tagelang die anstehenden physikalischen Fragen, und Bohr schrieb darüber später: "Die Diskussionen, auf die ich in Gedanken oft zurückgekommen bin, fügten zu meiner großen Bewunderung für Einstein einen tiefen Eindruck von seiner vorurteilsfreien Haltung." Die nächsten Jahre brachten eine rasche Weiterentwicklung, in deren Zentrum Bohr und Einstein sich beteiligten. 1923 veröffentlichten Bohr, Kramers und Slater eine Arbeit über die Strahlungstheorie, nach der sogar der fundamentale Satz von der Erhaltung der Energie im Kleinen nur im statistischen Mittel gültig sein sollte, nicht aber für jeden einzelnen Prozeß. Es zeigte sich sehr bald, daß dieser Ansatz falsch war, aber auch diese Erfahrung trug zur Weiterentwicklung der Theorie bei. Schließlich gab der damals erst 23jährige Werner Heisenberg im Jahr 1925 der Quantenmechanik die endgültige mathematische Form. Der geniale Heisenberg hatte in jugendlichem Schwung die richtige Formulierung getroffen, aber es dauerte Jahre – im Grunde bis heute –, um zu verstehen, was dieser neue Formalismus wirklich bedeutete. Einstein schrieb Heisenberg einen Glückwunsch, der endete: "In aufrichtiger Bewunderung, Ihr A. Einstein" – immerhin der weltberühmte große Einstein dem damals unbekannten jungen Springinsfeld Heisenberg. Heisenberg hatte von vornherein betont, daß er eine Theorie formulieren wollte, die sich nur mit den beobachtbaren Größen beschäftigte und darauf verzichtete, eine etwa noch dahinterstehende Wirklichkeit zu beschreiben. Er meinte, damit ganz im Sinne Einsteins zu handeln, wie es Einstein in seiner Begründung der Relativitätstheorie vorgeführt hatte. Heisenberg beschreibt in seinen Dialog-Erinnerungen "Der Teil und das Ganze", wie er Einstein in einem Gespräch auseinandersetzt, daß es doch vernünftig sei, in eine Theorie nur die Größen aufzunehmen, die beobachtet werden können, und fährt fort (S. 90f):

"»Aber Sie glauben doch nicht im Ernst«, entgegnete Einstein, »daß man in eine physikalische Theorie nur beobachtbare Größen aufnehmen kann.«

»Ich dachte«, fragte ich erstaunt, »daß gerade Sie diesen Gedanken zur Grundlage Ihrer Relativitätstheorie gemacht hätten? Sie hatten doch betont, daß man nicht von absoluter Zeit reden dürfe, da man diese absolute Zeit nicht beobachten kann. Nur die Angaben der Uhren, sei es im bewegten oder im ruhenden Bezugssystem, sind für die Bestimmung der Zeit maßgebend.«

»Vielleicht habe ich diese Art von Philosophie benützt«, antwortete Einstein, »aber sie ist trotzdem Unsinn. Oder ich kann vorsichtiger sagen, es mag heuristisch von Wert sein, sich daran zu erinnern, was man wirklich beobachtet. Aber vom prinzipiellen Standpunkt aus ist es ganz falsch, eine Theorie nur auf beobachtbare Größen gründen zu wollen. Denn es ist ja in Wirklichkeit genau umgekehrt. Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann. Sehen Sie, die Beobachtung ist ja im allgemeinen ein sehr komplizierter Prozeß. Der Vorgang, der beobachtet werden soll, ruft irgendwelche Geschehnisse in unserem Meßapparat hervor. Als Folge davon laufen dann in diesem Apparat weitere Vorgänge ab, die schließlich auf Umwegen den sinnlichen Eindruck und die Fixierung des Ergebnisses in unserem Bewußtsein bewirken. Auf diesem ganzen langen Weg vom Vorgang bis zur Fixierung in unserem Bewußtsein müssen wir wissen, wie die Natur funktioniert, müssen wir die Naturgesetze wenigstens praktisch kennen, wenn wir behaupten wollen, daß wir etwas beobachtet haben. Nur die Theorie, das heißt die Kenntnis der Naturgesetze, erlaubt uns also, aus dem sinnlichen Eindruck auf den zugrunde liegenden Vorgang zu schließen."

Als sich dann herausstellte, daß Heisenbergs Theorie in entscheidenden Punkten nur statistische Voraussagen machen konnte, war Einstein schon sehr viel weniger angetan, und er war umso erleichterter, daß Erwin Schrödinger 1926 eine klassische Feldtheorie vorlegte, die genauso wie die Theorie Heisenbergs die physikalischen Phänomene erklärte. An seinen Freund Besso schrieb er am 1. Mai 1926: "Schrödinger hat ein paar wundervolle Arbeiten über die Quantenregel gemacht. Das riecht nach tiefer Wahrheit." Auch andere Physiker waren erleichtert, daß die Physik, wie es schien, doch nicht so revolutionär umgekrempelt wurde. Heisenberg beschreibt in seinen Erinnerungen die Reaktion auf einen Vortrag Schrödingers in München und seine, Heisenbergs, Verteidigung der eigenen Theorie: „Wilhelm Wien antwortete recht scharf, daß er zwar mein Bedauern darüber verstünde, daß es nun mit der Quantenmechanik zu Ende sei und daß man von all dem Unsinn wie Quantensprüngen und dergleichen nicht mehr zu reden brauche; aber die von mir erwähnten Schwierigkeiten würden zweifellos von Schrödinger in kürzester Frist gelöst werden.“ (S. 105) – Allerdings bewies Schrödinger selber kurz darauf, daß seine eigene und Heisenbergs Theorie, so verschieden sie auch auf Anhieb aussahen, in ihrer physikalisch relevanten Struktur genau gleich waren. Der Einstein-Biograph Abraham Païs schreibt dann auch zu der zitierten Briefstelle, das sei das letztemal gewesen, daß Einstein sich so positiv zu der neuen Quantenmechanik geäußert habe.

1927 ist das große Jahr der Grundlagendiskussion: Heisenberg veröffentlicht seine berühmte Arbeit "Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik", in der er seine Unschärferelation einführt; Bohr hält den nicht weniger berühmten Vortrag auf dem Volta-Kongreß im Como, wo er seinen Begriff der Komplementarität einführt; und schließlich treffen Bohr und Einstein auf dem 5. Solvay-Kongreß zusammen und diskutieren über Tage in ungeheurer Intensität die Konsequenzen der neuen fundamentalen Theorie. (Bild 7) Diese Diskussion will ich mich nun zuwenden.

Bohr hat diese entscheidende Diskussion mit Einstein liebevoll und genau in einem Einstein gewidmeten Sammelband beschrieben. Man spürt Bohr auch durch diesen Text noch, über zwanzig Jahre später, die Erregung an, mit der beide diese Diskussion geführt haben. (Bild 8)

Einstein glaubte nicht, daß die Quantenmechanik die Lösung der fundamentalen Fragen der Physik sein sollte. Das konnte doch nicht sein, seiner Ansicht nach, daß eine Theorie nur statistische Voraussagen für bestimmte Experimente bieten sollte, aber keinerlei Beschreibung der Natur, wie sie wirklich, hinter den Phänomenen, ist; daß die Theorie eine solche Beschreibung von Wirklichkeit geradezu verbot. Einstein erwartete von einer Theorie, so ungewohnt und neuartig sie sonst sein mochte, daß sie eine "Schau" auf die eigentliche Wirklichkeit erlaubte, die Struktur der Welt objektiv vor demjenigen ausbreitete, der es verstand, sie zu sehen. – So hatte er es in seiner Geburtstagsansprache für Max Planck beschrieben. Eine Theorie, die nur Voraussagen für Meßergebnisse gestattete, und das auch noch nur statistisch – ohne daß man sich auch nur vorstellen durfte, daß dahinter noch eine eigentliche Wirklichkeit verborgen sei: das konnte für Einstein nicht die endgültige Theorie sein.

Bohr dagegen war von seiner Denkweise und Anlage her mit dieser Form von fundamentaler Theorie sehr zufrieden. Sie stellte die Individualität, wie er es nannte, der Naturprozesse heraus, von der man gar nicht erwarten konnte, daß sie sich im Sinne der klassischen Mechanik in objektiv ablaufende Einzelvorgänge würde zerlegen lassen; in dieser neuen Physik konnte er insbesondere die Komplementarität wiederfinden, die er auch sonst überall sehen konnte. Schon mit den Verwirrungen des Studenten in Møllers Roman hatte er sympathisiert, weil der Gebrauch der Sprache sowie ihre Analyse notwendig sind, sich die beiden Aspekte aber gegenseitig ausschließen – also im Sinne von Bohrs Como-Rede komplementär sind. Bohr war wohl erstaunt, aber sicher auch erfreut, daß er diese komplexen Zusammenhänge sogar in der so objektiven und nüchternen und von ihm geliebten Physik wiederfinden würde. Weizsäcker beschreibt das in seiner Rede (ZW 787):

Eine systematische Darstellung seiner Philosophie hat Bohr nicht geschrieben. Er war der tiefste philosophische Denker unter den Physikern seiner Zeit; ein Fachphilosoph war er nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er sich die philosophische Fachbildung hätte erwerben können. Er war dazu gleichsam ein zu leidenschaftlich philosophischer Kopf; er begann mit dem Buch zu diskutieren, ehe er es zu Ende gelesen hatte. Es lag ihm nicht, was den Geisteswissenschaftler ausmacht, fremde Gedanken in ihrem Zusammenhang zu interpretieren; ihm ging es zu direkt und sofort um die Wahrheit selbst. Wenn er aber vor der Wahrheit stand, so stand er vor einem unaussprechbaren Abgrund.

Diesen Abgrund freizuhalten vor dem leichtfertigen Zugriff logischer Konsequenzen, war wohl der tiefste Zweck seines Begriffs der Komplementarität. Es war kein primär physikalischer Begriff. Die Denkweise war ihm von jeher vertraut. Die große Entdeckung von 1927 war für ihn, daß es sogar in den Grundlagen der Physik Situationen gibt, die nur komplementär zu beschreiben sind.“

Dazu formulierte er schließlich ein drittes Prinzip, das der Korrespondenz, nach dem die quantentheoretische Beschreibung von Objekten, wenn man diese Objekte mit bekannten Gegenständen aus dem Labor oder aus dem täglichen Leben identifizieren konnte, auch wieder in einer sehr guten Näherung der Beschreibung dieser Objekte in der klassischen Physik gleichen sollte. Bohr konstatierte geradezu die Notwendigkeit der klassischen Begriffe für die Beschreibung der Wirklichkeit. Denn die Quantenmechanik beschreibt nur Möglichkeiten, etwa in dem Sinn, daß sie angibt, mit welcher Häufigkeit bei allen möglichen Messungen bestimmte Ergebnisse gefunden werden. Mit der Quantenmechanik allein kann man also die Welt nicht beschreiben, denn man muß ja auch sagen können, was man wirklich getan hat und was sich wirklich ereignet hat. Die Quantenmechanik bekommt also einen empirischen Gehalt erst dadurch, daß man sie um die Beschreibung der Wirklichkeit mit klassischen Begriffen ergänzt. Bohr wird nicht müde zu betonen, daß diese klassischen Begriffe ihren eindeutigen Sinn und ihren Zusammenhang nur durch die klassische Physik bekommen.

Darin kann man aber nun ein großes Problem erkennen: Die klassische Physik hat sich als unzureichend zur Beschreibung der Wirklichkeit erwiesen. Wenn man genau hinschaut, ist die klassische Physik sogar unmöglich konsistent durchzuführen; sie führt zur sog. „Ultraviolettkatastrophe“, und das hatte Max Planck schon zu seiner ersten Einführung des Wirkungsquantums genötigt. Aus diesem Grund wurde ja die Quantentheorie eingeführt, und gemäß der Quantentheorie ist die klassische Physik genaugenommen falsch. Andererseits bekommt die Quantentheorie ihren empirischen Gehalt, also den eigentlichen Sinn erst durch die Verwendung von klassischen Begriffen im Rahmen der klassischen Physik. Wie läßt sich das vereinbaren? – Die Lösung liegt darin, daß die klassische Physik für die Beschreibung so großer Gegenstände wie der Meßgeräte im Labor und der Gegenstände unserer alltäglichen Welt zwar genaugenommen falsch, aber in einer so guten Näherung doch richtig ist, daß man die Abweichung von der richtigen Theorie experimentell nie wird feststellen können. Das Problem beschäftigt uns bis heute: Es stimmt zwar alles in sehr guter Näherung, aber wenn man es ganz genau nimmt, kann man nicht leugnen, daß ein Widerspruch besteht. Ich glaube zwar, daß wir mit diesem Widerspruch prinzipiell in jeder physikalischen Beschreibung leben müssen, aber mathematisch gesonneneren Geistern ist dieses Zugeständnis unerträglich.

Das sind aber neuere Diskussionen. Kehren wir zunächst zur Auseinandersetzung zwischen Bohr und Einstein auf dem Solvay-Kongreß von 1927 zurück! Man kann ihre Intensität an Amateur-Schnappschüssen ablesen, die Paul Ehrenfest dabei gemacht hat – selbst Pionier der neuen Wissenschaft und mit beiden befreundet (Bild 8a).

Seit der Lichtquantenhypothese hatte sich die Argumentationsrichtung umgekehrt: Wollte Bohr damals die Theorie nicht akzeptieren, daß elektromagnetische Strahlung aus einzelnen Quanten besteht, so suchte nun Einstein Widersprüche oder wenigstens Brüche in der neuen von Bohr vertretenen Theorie. Bohr beginnt seine Beschreibung dieser entscheidenden Tage so (Bild 9, S.41):

Bei der allgemeinen Diskussion in Como vermißten wir alle die Teilnahme Einsteins, aber bald danach, im Oktober 1927, hatte ich Gelegenheit, ihn in Brüssel auf dem 5. Physikalischen Kongreß des Solvay-Instituts zu treffen, der dem Thema “Elektronen und Photonen” gewidmet war. Auf den Solvay-Tagungen war Einstein ja von Anfang an eine der markantesten Persönlichkeiten, und zu dieser Sitzung waren viele von uns mit großer Spannung gekommen, um Einsteins Reaktion auf den neuesten Stand der Entwicklung zu erfahren, der unserer Ansicht nach eine befriedigende Klärung der Probleme gebracht hatte, die von ihm selbst zuerst so scharfsinnig aufgeworfen worden waren. Während der Diskussionen wurde das Thema durch Beiträge von vielen Seiten beleuchtet und die im Vorhergehenden erwähnten Argumente erneut vorgetragen. Einstein hingegen gab seiner tiefen Besorgnis darüber Ausdruck, daß in der Quantenmechanik von einer kausalen Beschreibung in Raum und Zeit so weitgehend Abstand genommen wurde.

Um seine Haltung zu veranschaulichen, verwies Einstein in einer der Sitzungen auf das einfache, in Bild I dargestellte Beispiel eines Teilchens (Elektron oder Photon), das durch ein Loch oder einen engen Schlitz in einem Schirm dringt, der in einiger Entfernung vor einer photographischen Platte aufgestellt ist. Infolge der Beugung der mit der Bewegung des Teilchens verbundenen Welle, die in dem Bild mit dünnen Strichen angegeben ist, kann man unter solchen Bedingungen nicht mit Sicherheit voraussagen, an welchem Punkte das Elektron auf die photographische Platte auftreffen wird: man kann nur die Wahrscheinlichkeit berechnen, mit der das Elektron bei einem Versuch in irgendeinem gegebenen Bereich der Platte gefunden wird. Die scheinbare Schwierigkeit dieser Beschreibung, die Einstein so stark empfand, ist folgende Tatsache: Wenn in dem Versuch das Elektron an einem Punkte A der Platte registriert wurde, dann ist es unmöglich, daß ein Effekt dieses Elektrons jemals an einem anderen Punkte (B) beobachtet werden könnte, obwohl die Gesetze der gewöhnlichen Wellenfortpflanzung für einen Zusammenhang zweier solcher Vorgänge keinen Spielraum lassen.

Einsteins Haltung entfesselte eifrige Diskussionen in einem kleineren Kreis, und Ehrenfest, der mit uns beiden seit vielen Jahren eng befreundet war, beteiligte sich hieran in außerordentlich lebhafter und fördernder Weise. Selbstverständlich erkannten wir alle, daß in dem obigen Beispiel die Situation kein Analogon zur Anwendung von Statistik bei der Behandlung komplizierter mechanischer Systeme ist. Sie erinnerte vielmehr an die Voraussetzungen für Einsteins eigene früher gemachte Schlußfolgerungen über die eindeutige Richtung individueller Strahlungseffekte, die in so schroffem Gegensatz zu einem einfachen Wellenbilde steht (vgl. S. 35 f.). Die Diskussionen kreisten indessen um die Frage, ob die quantenmechanische Beschreibungsweise die beobachtbaren Phänomene erschöpfe oder ob, wie Einstein behauptete, die Analyse weitergetrieben werden und im besonderen eine erschöpfendere Beschreibung der Phänomene unter Berücksichtigung der genauen Bilanz von Energie und Impuls in individuellen Vorgängen erreicht werden könne.“

Zur näheren Erläuterung kann das später berühmt gewordene „Doppelspalt-Experiment“ dienen, das ich Ihnen kurz beschreiben will. Auch hierzu gibt es Zeichnungen in dem Bericht Bohrs (Bild 10), oben sehr schematisch, unten in dem von Bohr gepflegten Stil, den er „pseudo-realistisch“ nannte. Man muß sich darüber im klaren sein, daß es sich hier immer um „Gedankenexperimente“ handelt, also um eine Untersuchung dessen, was die Theorie liefern würde, wenn man mit ihrer Hilfe bestimmte Situationen beschreiben würde. Ein wirkliches Experiment dieser Art ist erst sehr viel später möglich gewesen.

Die Wellentheorie ergibt in dieser Situation, wie im oberen Bild erläutert, eine Überlagerung der beiden Wellenzüge aus den zwei Spalten, ein seit langem bekanntes Beugungsbild. Wenn man nur einen Spalt öffnet, dann ergibt sich ein anderes Beugungsbild, das ebenso gut aus der Optik bekannt ist. So weit ist die Sache klar und auch nach der klassischen Physik ganz verständlich. Das Problem wird sichtbar, wenn man sich klarmacht, daß die so beschriebenen Wellen nicht eine kontinuierliche Intensität darstellen, sondern die Wahrscheinlichkeit, an einem bestimmten Ort ein Teilchen zu finden – so wie es in dem ersten Bild erläutert war. Betrachten wir nun ein solches Teilchen (Bild 11). Man kann dann so argumentieren: Das Teilchen fliegt entweder durch Spalt A oder durch Spalt B. Wenn es durch Spalt A fliegt, dann ist es dem Einfluß dieses Spalts ausgesetzt und trägt zu dem Beugungsbild bei, das diejenigen Teilchen bilden, die durch Spalt A geflogen sind. Das entsprechende gilt für diejenigen Teilchen, die durch Spalt B fliegen. Wenn also beide Spalte zugleich offen sind, dann muß nach diesem Argument eine Figur entstehen, die dem gleichzeitigen Auftreten von beiden Beugungsbildern entspricht, so wie es auf dem Bild angedeutet ist. – In Wirklichkeit entsteht aber das aus der Optik bekannte Beugungsbild am Doppelspalt, das ganz anders aussieht als die Überlagerung der beiden Beugungsbilder an den Einzelspalten. Aus der Optik ist das verständlich, es ist aber völlig unverständlich, wenn man berücksichtigt, daß diese Bilder sich zusammensetzen aus den Einschlagstellen vieler Elektronen, die alle einzeln durch den Schirm mit den zwei Spalten geflogen sind.

Im Sinne der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation kann man dieses Resultat so interpretieren, daß ja die Quantenmechanik die Teilchen auch nicht so beschreibt, daß sie auf einer bestimmten Bahn fliegen; daß man also auch nicht eine solche Annahme stillschweigend einführen dürfe, wenn sie – wie bei diesem Gedankenexperiment – auf Widersprüche führt. Einstein gefiel aber diese Schlußfolgerung gar nicht, und er versuchte, in immer neuen Varianten dieses Versuchs zu zeigen, daß man doch, wenn man es raffiniert genug anstellt, genauer messen kann als die quantenmechanische Beschreibung reicht. Das lief meist so ab, daß Einstein seine neue Anordnung beschrieb, mit der er doch die Quantenmechanik überlisten wollte, und Bohr nach einigem Nachdenken – manchmal durch eine ganze Nacht – zeigte, daß nach den bekannten physikalischen Gesetzen, einschließlich Einsteins eigener Gravitationstheorie, die vorgeschlagene Anordnung doch nicht die Quantenmechanik überlisten konnte. Ich kann das hier nicht im Detail beschreiben, ich will Ihnen nur noch die letzte pseudo-realistische Darstellung zeigen, die Bohr in seinem späteren Bericht abdruckt. Man sieht, wieviel komplizierter die Anordnung im Laufe der Diskussionen schon geworden ist (Bild 12).

Zum Abschluß dieser Beschreibung ist hier ein weiterer Schnappschuß der beiden (Bild 13), die offenbar noch auf dem Weg zum Bahnhof – stelle ich mir vor – diskutieren: Bohr redet noch immer auf Einstein ein; hartnäckig, wie er ist, gibt er die Hoffnung nicht auf, Einstein zu überzeugen. —


Im Jahr 1935 hat Einstein schließlich mit seinen Mitarbeitern Boris Podolsky und Nathan Rosen einen Aufsatz veröffentlicht, der unter dem Kürzel „EPR“ Geschichte gemacht hat. Er trägt den Titel: Can quantum mechanical description of physical reality be considered complete?”in deutscher Übersetzung: „Kann man die quantenmechanische Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit als vollständig betrachten?“. Darin zeigen die Autoren – wieder an einem Gedankenexperiment –, daß man eine Eigenschaft, die man an einem Objekt feststellt, ohne es zu stören, diesem Objekt doch nicht in jedem Fall als „an sich“ vorhanden zuschreiben kann. David Bohm hat 1951 dieses Gedankenexperiment vereinfacht und John S. Bell hat 1964 eine Rechnung dazu vorgelegt, die direkt zu messen erlaubt, ob die Quantenmechanik stimmt.

Bell war ein genialer Theoretiker, Engländer, am CERN in Genf, der sich in der „realistischen“ Weltsicht mit Einstein einig fand. Er tüftelte so lange an dem Gedankenexperiment von EPR herum, bis er folgendes fand: Man betrachte eine Versuchsanordnung, in deren Zentrum jeweils ein Partikel in zwei Teile zerfällt, die in entgegengesetzter Richtung davonfliegen. Das ursprüngliche Partikel habe den Drehimpuls (Spin) 0, die beiden davonfliegenden Teile jeweils den Drehimpuls ½ħ. Da dieser Zerfall ohne Wechselwirkung mit anderen Gegenständen stattfindet, bleibt dabei der Gesamt-Drehimpuls erhalten, so daß nach Auffassung der klassischen Physik die Drehimpulse der beiden Teile genau entgegengesetzt sein müßten, damit der Gesamt-Drehimpuls weiterhin 0 ist. In der Quantenmechanik ergibt sich das gleiche, wenn man den Drehimpuls an beiden Teilobjekten in derselben Richtung mißt: Dann müssen die Drehimpuls-Werte genau entgegengesetzt sein. Es ist dagegen eine Besonderheit der Quantenmechanik, daß der Experimentator bestimmen kann, in welcher Richtung er den Drehimpuls mißt; er bekommt dann eines von endlich vielen Meßergebnissen, im einfachsten Fall des Spin ½ħwie ihn Bohm für sein Gedankenexperiment annimmt – eines von zwei Meßergebnissen, die man z. B. plus und minus nennen kann oder, in dem beliebten Neudeutsch, „up“ oder „down“. Wenn man also den Spin der beiden Zerfallsprodukte in derselben Richtung mißt, dann findet man immer bei einem plus, beim anderen minus; die Drehimpulse sind streng korreliert. Wenn die Meßrichtungen nicht genau gleich sind, sondern in einem Winkel – nennen wir ihn qzueinander stehen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, daß die Meßer­gebnisse genau entgegengesetzt sind, nach der Quantenmechanik w = cos2 q.

Bell führt nun folgende Überlegung an:

Nehmen wir an, der Meßwert plus oder minus hängt von irgendwelchen Eigenschaften ab, die das jeweils gemessene Teilchen selber hat; das können irgendwelche Eigenschaften sein, er macht darüber keine weiteren Annahmen. Diese Eigenschaften sollen auf die gemessenen Teilchen mit irgendeiner Wahrscheinlichkeit verteilt sein; Bell macht auch darüber keine spezielleren Annahmen. Bell kann zeigen, daß unter diesen sehr allgemeinen Bedingungen die genannten Wahrscheinlichkeiten innerhalb bestimmter Grenzen sein müssen und – das ist das Überraschende an seiner Überlegung –: die quantenmechanischen Werte liegen deutlich außerhalb dieses Bereichs (Bild 14). Damit gibt die Bell'sche Überlegung eine Möglichkeit, direkt nachzumessen, ob die Annahme – die nach dem Weltbild der klassischen Physik völlig selbstverständlich wäre –, daß die Meßergebnisse bestimmt sind von Eigenschaften, die die gemessenen Objekte haben, richtig sein kann. In den 70er Jahren sind solche Messungen gemacht worden und haben, wie man es ja kaum anders erwarten konnte, die Quantenmechanik bestätigt.

Damit hat sich, lange nach Einsteins Tod, gezeigt, daß sich Einsteins Traum von einer Physik, die die Welt als etwas abbildet, was einfach vorhanden ist, nicht erfüllen läßt. Moderne Realisten suchen heute noch einen Ausweg aus dieser Konsequenz, indem sie annehmen, daß ein Meßergebnis beeinflußt werden kann von der Einstellung eines beliebig weit entfernten anderen Meßgeräts, und zwar augenblicklich, gegen die spezielle Relativitätstheorie, und auch noch so, daß dieser Einfluß sich prinzipiell auf keine andere Weise nachweisen läßt als durch solche Korrelationen. Hier werden, scheint mir, Theoretiker zu ausgesprochen abenteuerlichen Konsequenzen gezwungen, wenn sie versuchen, um jeden Preis das gewohnte und geliebte Bild einer Natur aufrechtzuerhalten die „da draußen“ in jedem Detail bestimmte Eigenschaften hat, unabhängig davon, ob und wie wir diese Eigenschaften beschreiben können.


Einstein hat mit seiner hartnäckigen Diskussion solcher Gedankenexperimente, gerade wegen seiner Abneigung gegen die Quantentheorie, entscheidend zur Klärung ihrer philosophischen Relevanz beigetragen. Man kann an dem tiefen Gegensatz der Auffassungen Bohrs und Einsteins – beide ein Leben lang gründlich durchdacht –, die noch heute die Auseinandersetzungen bestimmen, etwas ablesen: Eine philosophische Position drückt, auch im hellsten Licht der Rationalität, vor allem das Lebensgefühl, eine Grund­befindlichkeit des Menschen aus, der so philosophiert.

Lassen Sie mich schließen mit einem letzten Zitat aus Weizsäckers Rede zum 100. Geburtstag Bohrs:

"Es ist die Tragödie einer geistigen Freundschaft, wenn jeder das, was ihm selbstverständlich geworden ist, dem Verständnis des anderen nicht mehr vermitteln kann. Einstein insistierte, daß Realität unabhängig von unserer Wahrnehmung bestehen muß; darum konnte ihn Bohrs Phänomenbegriff nicht trösten. Für Bohr hingegen war es selbstverständlich, in der Wissenschaft nur von dem zu reden, was wir wissen können. Sein Phänomenbegriff hat die realen Bedingungen des Wissens in sich aufgenommen: leibhaft lebende, miteinander kommunizierende Menschen, die mit anschaulich verständlichen, selbstgebauten Apparaten umgehen."

Ich schließe mit zwei Fotos, die die beiden Freunde im Alter zeigen (Bild 15, 16). Sie sind mit fast dem gleichen Lebensalter gestorben, Einstein 1955, Bohr 1962.


Literatur:

W. Heisenberg: Der Teil und das Ganze. München 1969

P.A. Schilpp (Hg.): Albert Einstein, Philosoph und Naturwissenschaftler. Stuttgart 1955

P. Speziali (Hg.): Albert Einstein Michele Besso. Correspondance 19031955. Paris 1972

C.F.v.Weizsäcker: Zeit und Wissen. München 1992 („ZW“)

1Vortrag in der Reihe „Freundschaften“, Katholische Akademie Stuttgart-Hohenheim, 25.10.1997