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Eine Lanze für Kopenhagen
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Eine Lanze für Kopenhagen!
Michael Drieschner
Kopenhagen ist, jedenfalls in meiner Vorstellung, eine der friedlichsten Städte Europas, ohne
Bedarf für Kriegsgeräte wie Lanzen, - oder allenfalls zu dekorativen Zwecken. Wieso also
eine Lanze für diese Stadt, die so etwas gar nicht braucht?
Spaß beiseite: Kopenhagen ist dadurch ausgezeichnet, daß Niels Bohr fast sein ganzes Leben
dort verbracht hat. In Kopenhagen hat ein großer Teil der Gespräche über die neue Physik der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattgefunden, die etwa Werner Heisenberg in seinem Dia-
logbuch1 beschreibt. Klaus Meyer-Abich hat die in Kopenhagen entstandene Philosophie
Bohrs in einem großen Buch2 behandelt. Das Ergebnis dieser Diskussionen in Kopenhagen
und anderswo, aus dem Kreis der Schüler Bohrs hervorgegangen, nennt man - nur sehr vage
einen Komplex von Philosophie umschreibend - die „Kopenhagener Deutung der Quanten-
theorie“. Diese Kopenhagener Deutung war zur Zeit ihrer Entstehung revolutionär, wurde im
Laufe der Zeit, wie es mit Revolutionen zu gehen pflegt, „Orthodoxie“, weitgehend unver-
standen in Lehrbüchern und Vorlesungen als selbstverständlich tradiert. Und wie sich das für
eine Orthodoxie gehört, wurde sie in den letzten zehn bis zwanzig Jahren von jungen Revolu-
tionären angegriffen und bekämpft - meistens mit nicht viel besserem Verständnis als von den
Orthodoxen verteidigt.
Es lohnt sich, gegen dieses Unverständnis anzukämpfen und, meine ich, für die ursprüngliche
Revolution, ungeachtet der Orthodoxie und der erneuten Revolution, eine Lanze zu brechen:
Eine Lanze für Kopenhagen!
Deutung der Quantenmechanik
Wozu braucht eigentlich eine physikalische Theorie - die Quantenmechanik - eine Deutung?
Man sollte meinen, daß sie die Wirklichkeit so beschreibt, wie sie ist - vorsichtshalber viel-
leicht sagen: Sie beschreibt ein Modell der Wirklichkeit, das aber, wie es ist. Was man so be-
schreiben kann, ist das Bild der später so genannten „Klassischen Physik“.
Die neue Theorie Quantenmechanik entstand am Anfang des 20. Jahrhunderts aus Problemen
mit der klassischen Physik. Man hat diese Probleme intensiv genug studiert, um zu sehen, daß
1 Heisenberg (1969)
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sie im Rahmen der überkommenen Theorie nicht zu lösen waren. Max Jammer schildert das
unnachahmlich in seinen Büchern,3 Friedrich Hund4 in seiner strengen Kürze ebenso unüber-
trefflich.
Von Max Planck begonnen, fortgeführt von Niels Bohr, Arnold Sommerfeld und anderen,
wurden unorthodoxe Formulierungen als Abhilfe vorgeschlagen. Aber erst die Theorien von
Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger von 1925/26 erwiesen sich als brauchbare Lösun-
gen für die aufgelaufenen Probleme , obwohl - oder gerade weil - sie radikal vom bisher in
der Physik Üblichen abwichen. Wie sich sehr schnell herausstellte, liefen diese zwei mathe-
matisch ganz verschiedenen Formalismen in ihren physikalischen Konsequenzen auf dasselbe
hinaus: Die Quantenmechanik war geboren.
Von da an hatte man einen Formalismus und in Ansätzen auch Regeln, wie man diesen For-
malismus mit den Messungen verknüpfen sollte, aber man konnte sehr schnell sehen, daß die
neue Theorie sich nicht im Rahmen des Gewohnten hielt, daß ihr Verständnis nicht selbstver-
ständlich war: Das Bedürfnis nach „Deutung“ war geboren.
Den Anfang der bis heute nicht abgerissenen Deutungsdebatte machte die berühmte Arbeit
von Werner Heisenberg,5 in der er die Unbestimmtheitsrelation formulierte. Dieser Aufsatz ist
in intensiven Gesprächen mit Niels Bohr entstanden, und man kann ihn mit Recht die Grün-
dungsurkunde Kopenhagener Deutung nennen.
Betrachten wir diese Diskussion genauer:
Quantenmechanik
Was ist das besondere an der Quantenmechanik, daß gerade sie, im Gegensatz zu früheren
physikalischen Theorien, eine Deutung braucht?
Die „klassische“ Physik konnte von sich beanspruchen, daß sie die Welt so beschreibe, wie
sie ist: Den Variablen im mathematischen Formalismus - etwa „Ort“ oder „Länge“ oder
„Masse“ genannt - entsprechen Ergebnisse von Messungen, z. B. mit dem Meterstab oder,
wie etwa in der Astronomie, mit Fernrohren und Winkelmeßgeräten. Was man da mißt, ist aus
dem alltäglichen Umgang mit den Dingen der Umwelt bekannt. Nicht ganz direkt zugängliche
2 Meyer-Abich (1965)
3 Jammer (1966, 1974)
4 Hund (1967)
5 Heisenberg (1927)
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Größen wie Impuls, Geschwindigkeit oder Energie lassen sich aus "direkt", also mit Maßstab,
Winkelmesser, Waage o.ä. gefundenen Meßergebnissen errechnen. - Freilich, wenn man ge-
nauer hinschaut, wie das die moderne Wissenschaftstheorie tut, dann sieht man sehr wohl, wie
komplex und gar nicht selbstverständlich diese Zusammenhänge sind; aber es ist doch jeden-
falls möglich, die klassische Physik Beschreibung der an sich vorhandenen Welt zu interpre-
tieren. - Bei der Quantenmechanik ist das nicht möglich, und das ist der Grund, warum die
Quantenmechanik eine Deutung braucht.
Was mit dem Formalismus der Quantenmechanik errechnet wird, sind nicht Größen, die man
in der Wirklichkeit vorfindet, sondern Wahrscheinlichkeitsverteilungen für mögliche Meßer-
gebnisse. Das klingt zunächst relativ harmlos, aber es bedeutet einen fundamentalen Wandel
im Verständnis von Wirklichkeit gegenüber dem Weltbild der klassischen Physik. Denn die
quantenmechanische Wahrscheinlichkeit ist fundamental, sie läßt sich nicht auf den Mangel
an Wissen über „an sich“ feststehende Größen zurückführen.
Betrachten wir das genauer:
Wahrscheinlichkeit kommt auch in klassischen Theorien vor. Wenn man z.B. den Anfangszu-
stand eines mechanischen Systems nicht genau feststellen kann, dann setzt man für verschie-
dene mögliche Anfangszustände jeweils eine Wahrscheinlichkeit an. Jeden Anfangszustand
kann man gemäss der deterministischen klassischen Theorie fortentwickeln, und am Schluß
hat man die möglichen Endzustände mit denselben Wahrscheinlichkeiten wie die jeweiligen
Anfangszustände. Man kann sich dabei immer sagen, „an sich“ hätte das beschriebene physi-
kalische System einen Zustand; da wir diesen Zustand aber nicht kennen, können wir nur un-
ser geringeres Wissen in einer Wahrscheinlichkeitsverteilung zusammenfassen und so trotz-
dem zu einer Wahrscheinlichkeitsverteilung über die Endzustände kommen.6
Die quantenmechanische Wahrscheinlichkeit ist anders, sie läßt eine solche Interpretation
nicht zu. Betrachten wir etwa das Standardbeispiel, die Beugung von Teilchen am Doppel-
spalt.7
Wenn man viele Teilchen, z. B. Elektronen, durch einen geeignet dimensionierten Doppel-
spalt schickt und dahinter auf einem Schirm auffängt, zeigt der Schirm nach einiger Zeit ein
charakteristisches Streifenmuster, abwechselnd Streifen von sehr dichten Einschlägen von
6 Smoluchowski
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Elektronen und sehr wenigen. Dieses Streifenmuster kann man nicht erklären, wenn man sich
Elektronen wie kleine Gewehrkugeln vorstellt, die durch die beiden Spalte geschossen wer-
den. Das Streifenmuster sieht aber genauso aus wie das Beugungsbild, das eine Welle verur-
sacht, die durch einen Doppelspalt geht. Man kann gemäß der Quantenmechanik jedem Ele-
mentarteilchen eine Welle mit einer seinem Impuls entsprechende Wellenlänge zuordnen, und
so dieses Beugungsbild quantenmechanisch „erklären“: Nach der Quantenmechanik pflanzt
sich die Wahrscheinlichkeit, ein Teilchen zu finden, nach Art einer Welle fort.
Gemäß der „klassischen“ Auffassung von Wirklichkeit würde man das Ergebnis so interpre-
tieren, daß jedes Elektron an sich auf einer bestimmten Bahn durch den Doppelspalt auf den
Schirm fliegt, daß aber gemäß der Quantenmechanik die Wahrscheinlichkeiten - die z.B. auf
einer mangelnden Kenntnis des Anfangszustandes des Elektrons beruhen - sich so exotisch
verhalten, daß auf dem Schirm das bekannte Strichmuster entsteht. Gegen diese Auffassung
liegen aber von der Quantenmechanik her zwei Einwände nahe:
1. Gemäß der Quantenmechanik hat ein Teilchen keine Bahn. Das ergibt sich aus der „Unbe-
stimmtheitsrelation“, die Heisenberg schon in seinem Aufsatz von 1927 quantenmechanisch
abgeleitet hat.
2. Wenn man, gegen die Quantenmechanik, einmal annimmt, jedes Elektron flöge in Wirk-
lichkeit auf einer Bahn entweder durch den rechten oder durch den linken Spalt, kommt man
zu Widersprüchen mit den experimentellen Ergebnissen.
Betrachten wir die beiden Einwände genauer:
1. Unbestimmtheitsrelation
In der klassischen Physik ist der Zustand eines Systems dadurch beschrieben, daß man allen
Größen, die ihn definieren, bestimmte Werte zuordnet. So ist z. B. der Zustand eines Massen-
punkts, des einfachsten Systems der klassischen Mechanik, vollständig beschrieben durch die
Angabe von drei Koordinaten für den Ort und drei Komponenten des Impulses. Bei komple-
xeren Systemen gehört zur Kennzeichnung des augenblicklichen Zustands die Angabe be-
stimmter Werte für jeden Punkt des Raumes - bei einer inkompressiblen Flüssigkeit z. B.
Dichte und Impulsdichte an jedem Ort: Eine vielfache Unendlichkeit von reellen Zahlen.
7 Heisenberg (1930)
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In der Quantenmechanik dagegen wird ein Zustand dadurch gekennzeichnet, daß man für je-
den möglichen Meßwert die Wahrscheinlichkeit angibt, ihn bei einer entsprechenden Messung
zu finden. Dabei kann es zwar vorkommen, daß ein bestimmter Meßwert die Wahrscheinlich-
keit 1 erhält und entsprechend die alternativen Meßwerte derselben Größe die Wahrschein-
lichkeit 0; es ist aber nicht möglich, daß alle Eigenschaften, mit denen man das Objekt be-
schreiben kann, die Wahrscheinlichkeit 1 oder 0 haben, d. h. entweder vorliegen oder nicht
vorliegen - wie das in der klassischen Physik als selbstverständlich vorausgesetzt wird.
Werner Heisenberg hat diese Eigenschaft der Quantenmechanik am Beispiel von Ort und Im-
puls in seinem Aufsatz von 1927 formuliert: Wenn für ein Elektron der Ort festliegt, dann ist
sein Impuls gänzlich unbestimmt; wenn umgekehrt sein Impuls festliegt, dann ist sein Ort
gänzlich unbestimmt. Heisenberg leitet sogar eine spezifischere Bedingung für die Unbe-
stimmtheit der beiden Größen ab, nämlich die Ungleichung
q ⋅ ∆p
2
Das ist die mathematische Formulierung der Unbestimmtheitsrelation. Sie besagt, daß das
Produkt aus der Unschärfe des Orts, q , und der Unschärfe des Impulses, p , in allen quan-
tenmechanischen Zuständen eine Mindestgröße hat, nämlich (ungefähr)
, eine Konstante
2
mit dem Wert von ca. 10-34 [W·s2]
Man liest oft, daß die Unbestimmtheitsrelation besage, man könne Ort und Impuls nicht zu-
gleich mit beliebiger Genauigkeit messen. An diese irreführende Formulierung schließt sich
dann einer von zwei Fehlschlüssen an: nämlich entweder, daß daraus folge, daß das Elektron
dann auch nicht Ort und Impuls zugleich haben könne, denn was man nicht messen könne, das
gebe es nicht. Oder es wird umgekehrt geschlossen, daß das Elektron ja trotzdem Ort und Im-
puls haben könne, auch wenn man sie nicht messen kann. - Der erste Schluß ist als Schluß
unzulänglich; denn selbstverständlich arbeitet die Physik auch mit Größen, die man faktisch
nicht messen kann. Der zweite Schluß ist als Schluß zwar zulässig, kommt aber zu dem fal-
schen Ergebnis, da er die Unbestimmtheitsrelation als Voraussetzung in einer zu schwachen
Form benutzt.
Richtig lautet das Argument so:8
8 M. Drieschner (2001)
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Die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation formuliert eine Eigenschaft, die der Quanten-
mechanik als Theorie zukommt: Es gibt keinen quantenmechanischen Zustand, bei dem das
beschriebene System zugleich scharfen Ort und scharfen Impuls hat. Soweit die Quantenme-
chanik stimmt, ist damit die Sache erledigt. Erst wenn jemand einwenden würde (wie in den
Anfangszeiten der Quantenmechanik geschehen): „Es ist doch sowohl der Ort wie auch der
Impuls beliebig genau meßbar. Dann hat in Wirklichkeit das Elektron einen scharfen Ort und
einen scharfen Impuls, und in diesem Punkt ist die Quantenmechanik falsch.“ - Erst gegen
diesen Einwand muß man dann auch von den Möglichkeiten der Messung sprechen. Und da
hat nun eine lange Diskussion ergeben, daß es nicht möglich ist, Ort und Impuls an einem
Elektron oder an einem anderen quantenmechanischen System zugleich genau zu messen.
Heisenberg diskutiert das9 am Gedankenexperiment der Ortsmessung mit einem „Gamma-
strahl-Mikroskop“. Mit einem solchen Mikroskop kann man entweder genau feststellen, wo
das Elektron ist, und macht damit die Kenntnis seines Impulses unmöglich, oder man mißt
seinen Impuls, bekommt dann aber kein scharfes Bild mehr von seinem Ort. Diese Erörterung
hat den argumentativen Status einer Widerlegung möglicher Einwände gegen die Quantenme-
chanik. Die Unbestimmtheitsrelation für sich sagt zunächst nur, daß es keinen quantenmecha-
nischen Zustand gibt, in dem Ort und Impuls zugleich scharfe Werte haben; und erst in zwei-
ter Linie folgt daraus, daß man, wenn die Quantenmechanik stimmt, einen solchen Zustand
auch nicht messen kann, denn was es nicht gibt, das kann man auch nicht feststellen. Der
Schluß ist also genau umgekehrt wie oben angegeben.
Aus der Unbestimmtheitsrelation folgt nun auch sofort, daß ein Elektron gemäß der Quanten-
mechanik - genaugenommen - keine Bahn hat: Wenn ein Teilchen auf einer Bahn fliegt, dann
hat es zu jedem Augenblick einen bestimmten Ort - aus diesen Orten besteht ja die Bahn -,
aber gemäß der zeitlichen Abfolge dieser Orte auch in jedem Punkt einen bestimmten Impuls.
Wenn also das Elektron eine Bahn hätte, dann hätte es auch an jedem Bahnpunkt einen be-
stimmten Ort und einen bestimmten Impuls, im Widerspruch zur Unbestimmtheitsrelation;
also war die Hypothese, daß das Elektron eine Bahn habe, falsch.
2. Beugung am Doppelspalt
Kehren wir zu den Experimenten am Doppelspalt zurück! Man kann an ihnen unmittelbar
erkennen, daß die Annahme, jedes Elektron flöge entweder durch den linken oder durch den
9 Heisenberg (1930)
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rechten Spalt, mit den Messungen nicht verträglich ist. Stellen wir uns vor, man würde, um
das zu prüfen, zunächst einen Spalt - sagen wir den rechten - schließen. Dann fliegen alle
Elektronen durch den linken Spalt und erzeugen auf dem Schirm dahinter ein charakteristi-
sches Beugungsbild, das anders aussieht, als wenn beide Spalte geöffnet sind. Ähnlich geht es,
wenn wir dann den linken Spalt schließen, und alle Elektronen durch den rechten fliegen:
wenn die beiden Spalte ansonsten gleich sind, entsteht genauso ein Beugungsbild wie vorher,
nur gegen das erste etwas verschoben. Wenn wir nun annehmen, daß auch dann, wenn beide
Spalte geöffnet sind, jedes Elektron entweder durch den linken oder durch den rechten Spalt
fliegt, dann können wir aus den beiden vorangegangenen Experimenten das Ergebnis des drit-
ten erschließen: Das neue Beugungsbild wird dann einfach die Summe der beiden vorherge-
henden sein; der eine Teil wird erzeugt von de Elektronen, die durch den linken Spalt gehen,
der andere Teil von denen, die durch den rechten Spalt gehen.
Man könnte dagegen einwenden, daß die Elektronen in einem Elektronenstrahl sich gegensei-
tig beeinflussen, so daß diese Wechselwirkung das Beugungsbild verändern würde. Man kann,
um dieses Argument zu prüfen, den Elektronenstrahl immer weiter abschwächen, so daß
schließlich mit größter Wahrscheinlichkeit jeweils nur ein einziges Elektron durch den Dop-
pelspalt unterwegs ist. Dadurch ändert sich die Verteilung der Streifen in dem Beugungsbild
nicht, es dauert nur länger, bis ein Beugungsbild als dichte Verteilung sichtbar wird.
Faktisch zeigt sich nun aber, daß der oben angeführte Schluß falsch war: Wenn beide Spalte
geöffnet sind, entsteht ein völlig anderes Beugungsbild als es die Überlagerung der Beu-
gungsbilder der Einzelspalte wäre. Irgend etwas an der obigen Schlußkette war also nicht in
Ordnung, und es liegt nahe, die Annahme aufzugeben, daß jedes Elektron durch genau einen
der Spalte fliegt. Dieses Argument ist zwingend, wenn wir für die Theorie Lokalität voraus-
setzen: Man muß annehmen, daß auf ein Elektron, das durch den linken Spalt fliegt, die Tat-
sache, ob der rechte Spalt geschlossen oder geöffnet ist, keinen Einfluß hat. Eine solche An-
nahme liegt nahe, denn kaum etwas hat sich in der Physik so sehr bewährt wie die Lorentz-
Invarianz, also die Gültigkeit der speziellen Relativitätstheorie; und aus ihr folgt die „Lokali-
tät“ der Wechselwirkung. Gemäß der Relativitätstheorie müssen wir also voraussetzen, daß es
für ein „lokal“ durch den linken Spalt fliegendes Elektron gleichgültig ist, ob der rechte Spalt
geschlossen oder geöffnet ist.
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Dieses Argument läßt sich durch das Experiment am Doppelspalt nicht sehr gut belegen, da
die beiden Spalte ja aus der Notwendigkeit des Experiments heraus sehr nahe beieinander
liegen müssen. Die Diskussion ist aber an anderen Beispielen weitergeführt worden und hat
ergeben, daß tatsächlich Quantenmechanik und Lokalität zusammengenommen die Annahme
ausschließen, daß man quantenmechanische Systeme durch „verborgene Parameter“ wie etwa
Ort und Impuls zugleich beschreiben könnte. Das eingehend zu diskutieren würde aber hier zu
weit führen.10
Der Status von Kopenhagen
Es gibt unter Physikern und Philosophen „Realisten“, die auch für die Quantenmechanik eine
Interpretation nach dem Muster der klassischen Physik suchen. Um das durchhalten zu kön-
nen, hat man einerseits die Möglichkeit, das Ergebnis anzugreifen, daß im genannten Sinn
„realistische“ Theorien nicht-lokal sein müssen. Der einzige mir bekannte Vertreter dieser
Richtung ist Franco Selleri,11 der die Zuverlässigkeit der Experimente bezweifelt, welche an-
scheinend die Nicht-Lokalität beweisen. Selleri behauptet gar nicht, daß er eine überzeugende
Gegentheorie vorlege; aber er zeigt wirklich, daß die Konsequenz, die im allgemeinen aus den
einschlägigen Experimenten gezogen wird, nicht logisch zwingend ist. Das muß man ihm
zugestehen; so weit muß man sicher allen derartigen Einwänden folgen, denn es gibt wohl in
der Physik überhaupt keinen logisch zwingenden Schluß, man ist immer auf einigermaßen
plausible Argumente angewiesen.
Die Mehrheit der Realisten akzeptiert, anders als Selleri, die experimentellen Befunde und
gibt realistische Formen der Quantenmechanik an, die entsprechend der obigen Argumentati-
on dann nicht-lokal sind. Am bekanntesten und überzeugendsten sind dabei die Vorschläge
von David Bohm und seiner Schule12. Bohm schlägt keine neue Theorie vor, die sich von der
Quantenmechanik unterscheiden würde, sondern nur eine Umformulierung der Quantenme-
chanik. Und zwar schreibt er die quantenmechanische Theorie eines Ein-Teilchen-Systems so
um, daß sie formale Ähnlichkeit mit einem klassisch-mechanischen Problem bekommt. Die
„Bahn“ des klassischen Teilchens, die diesem Problem entspricht, postuliert er dann als die
Bahn des entsprechenden quantenmechanischen Teilchens. Diese Bahn ist als eine Bahn im
10 EPR (1935), Bell (1964)
11 Selleri (1990)
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üblichen Sinn nicht beobachtbar und unterliegt - wie es nicht anders zu erwarten ist - Fern-
wirkungen aus anderen Teilen des Raumes, ist also insofern nur schwer als Beschreibung von
Wirklichkeit zu interpretieren. Immerhin zeigen die Bohmschen Rechnungen, daß man auch
in der Quantenmechanik eine Sprechweise einführen kann, nach der Teilchen auf Bahnen lau-
fen - wenn auch auf sehr skurrilen Bahnen. - Das ist möglich für Ein-Teilchen-Systeme; für
quantenmechanische Mehrteilchensysteme ist eine Bohmsche Beschreibung aber bisher nicht
gelungen.
Bis hierher scheint sozusagen eine symmetrische Situation zu herrschen: Sowohl die Kopen-
hagener Interpretation wie auch die realistische führen eine neue Beschreibung von Wirklich-
keit ein, die von der klassischen abweicht, und in beiden Fällen muß man sich an neue Be-
schreibungselemente gewöhnen, die es vorher nicht gab.
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