Predigt über 1. Joh. 1,1-4

(Gehalten am 30. 12. 79 in Bielefeld-Matthäus)

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Was von Anfang an war was wir gehört haben was wir gesehen haben mit unseren Augen; was wir sahen und unsere Hände berührten in bezug auf das Wort des Lebens. Und Leben kam zum Vorschein und wir sahen es und bezeugen es und verkünden euch das ewige Leben welches beim Vater war und uns zum Vorschein kam. Was wir gesehen haben und gehört haben verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft habt mit uns und Gemeinschaft ist uns mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Und dies schreiben wir, damit unsere Freude erfüllt werde.
So schreibt ein Prediger der frühen Kirche. So beginnt er seinen Brief, der vermutlich an Gemeinden in Kleinasien geschrieben ist. Die christlichen Gemeinden werden wie eine kleine, radikale Minderheit politisch verfolgt zu jener Zeit. Man versucht mit allen Mitteln, sie ins Abseits zu drängen. Der Brief ist nicht an eine Volkskirche wie die unsrige addressiert, sondern kursiert in einer spirituellen Subkultur. ’Wenn die Leute damals schon das Wort Sekte gekannt hätten, hätten sie vor den Christen als einer gefährlichen Sekte gewarnt. - Aber auch im inneren dieser Sekten gab es Streit. Streit um die rechte Lehre, also Streit um Worte, genauer: um das Wort, nämlich das Wort des Lebens. Wortgefechte um das Wort des Lebens gingen quer durch die eigenen Reihen der Kämpfer Christi. Die einen sagen: Christus, der Gottessohn kann doch unmöglich so ein stinknormaler Mensch wie wir alle gewesen sein. Wie hätte er uns denn als gewöhnlich Sterblicher erlösen können?
Deshalb war sein Erdenleben, sein körperliches Dasein nur eine Larve, in der Gott zu uns kam wie der Bischof im Mercedes. Der Körper Jesu war nur der Mercedes des Gottessohnes Christus, in dem Christus durch die böse Welt gefahren ist. Die wahre Form des ewigen Lebens hat mit Leiblichkeit so wenig zu tun wie eine Kuh mit Klavierspielen. So die einen. Die anderen, und zu denen gehört auch der Schreiber des ersten Johannesbriefs, haben das energisch bestritten: Sie bekennen sich zum historischen Jesus. Zu Jesus, der ohne den Bischofsmercedes des Fleisches kam, weil das Fleisch nicht nur Karrosse war, sondern zu Christus, dem Gottessohn, so unablösbar dazugehört wie zur Kuh der Schwanz.
Der Prediger des Johannesbriefs betont in seinem Manifest die Fleischlichkeit Jesu Christi. Christus, das Wort des Lebens, kann man hören, sehen und anfassen. Christus ist sinnlich da oder gar nicht. Er ist kein höheres Wesen, keine reine Geistgestalt, die man nur verehren kann durch mystische Versenkung, durch schöne Worte, durch reine Geistigkeit, durch Schöngeisterei. Christen bekennen nicht Gott als Vergeistigung und Absage an alles irdische, sondern genau umgekehrt: Sie bekennen, daß Gott, daß das Wort des Lebens, daß der gute Geist der Liebe zu ganz handfestem, kräftigen Fleisch geworden ist. Wie handfest, das malt uns die Weihnachtsgeschichte aus: Gott ist als kleiner Junge, als Baby in Bethlehem in irgendeinem Saustall oder Schafstall geboren worden. Mitten hinein in die Welt der Armen. Und Gott ist dann in der Welt herumgewandert, in seiner kleinen, armen Welt von Galiläa bis Jerusalem. Und Gott hat es nicht bis zum Beamten gebracht, Gott ist kein Hofprediger für feinere Herrschaften geworden. Gott ist ein kleiner bescheidener Lebenskünstler gewesen. Und damit hat er gewonnen. Ich stelle mir vor, einige unter uns ärgern sich jetzt ein bißchen, weil ich Gott, den Allmächtigen, so gering mache und so einseitig in die Welt der Armen hineinstelle. Ich rede zu wenig von Gottes Macht und Herrlichkeit, die uns arme Sünder erlöst. Nur ein starker Gott kann unserer Schwachheit aufhelfen. - Dagegen sage ich: Wer von der wunderbaren Herrschermacht Gottes singt, muß auch sagen, wo sie sich zeigt, und sie zeigt sich in Jesus, in einem frierenden kleinen Häuflein Elend in einer Krippe im Stall. Da ist Gott Fleisch, nicht im Jubelchor der himmlischen Chöre. Wo kam die Herrlichkeit des ewigen Lebens zum Vorschein? Nicht nach dem Tod, nicht in der religiösen Ekstase frommer Gottesdienste, sondern in einem Futtertrog. Das zerstört erstmal die frommen Illusionen über einen himmlischen Supermann. Solche Sehnsüchte haben wir alle wohl irgendwie. Sonst gäbe es nicht die Superman-Comics, die Westernhelden James Dean, Charles Bronson und John Wayne, den 007-Helden James Bond und vielleicht auch nicht den Herrn Pfarrer als Solosänger auf der Kanzel. Die menschlichen Sehnsüchte richten sich auf Helden, auf starke Männer, auf Gottes Allmacht. Es tut uns gut, zu wissen, daß der Allmächtige unser Leben lenkt. Es macht uns ängstlich, gesagt zu bekommen, daß Gott eben auch nur ein Mensch gewesen ist, noch dazu einer, der kein Held war, kein politisch großer, kein Philosoph, sondern ein hilfloses Baby. Die mittelalterlichen Maler haben das nicht verkraften können; sie hatten dem Baby Jesus noch schnell eine Weltkugel in den Arm gemalt, mit der der Säugling lässig spielt. Das Wort ward Fleisch: Das heißt eben nicht, Jesus kam als Spitzensportler im Kugelstoßen mit Planeten zur Welt, sondern als erbärmlich schwaches ganz einfaches Kind. Im Fleisch des Jesusbabys wurde Gott geboren. Der Sohn Gottes ist nicht eine minderwertige Mischform aus Gott und Mensch, sondern ist so völlig Gott, daß es daneben nicht noch einen zweiten Gott, den Gottvater im Himmel gibt. Das ist die Logik des Johannesevangeliums, wo Jesus sagt, ich und der Vater sind eins. Das ist der Logos, auf deutsch: das Wort, das am Anfang bei Gott war und nicht nur bei Gott, sondern Gott selbst. Der Johannesbrief-Schreiber nennt dieses Wort das Wort des Lebens. Oder er wählt das Wort „ewiges Leben“. Gott ist ewiges Leben. An Jesus, dem Lebenskünstler, zeigt sich Gott als Logos des Lebens, als Wort, als Lehre vom richtigen Leben. Und davon predigt der Johannesbrief. Jesus Christus, das Wort des Lebens, der Logos des Lebens, der Lehrer des Lebens, der Künstler des Lebens, hat den Jüngern Lebensgeschichten erzählt: man konnte ihn hören. Er hat Kranken und Notleidenden geholfen: man konnte ihn sehen. Er hat die Kranken berührt, hat mit den Kindern geschmust, hat sich Kopf und Füße massieren und parfümieren lassen, hat den Jüngern die Füße gewaschen, ist gehenkt worden: man konnte ihn anfassen. Man konnte. Aber er ist weg. Geblieben sind seine Geschichten vom richtigen Leben, ist die Geschichte seines Lebens und einige Ratschläge für werdende Lebenskünstler. Geblieben sind nur Worte. Geblieben ist die Bibel als Hinterlassenschaft Christi, als Testament. Geblieben sind aber auch seine Hinterbliebenen, seine Schüler in der Kunst des Lebens. Und die haben sich weiter seine Geschichten erzählt, haben sich weiter beratschlagt in Lebensfragen - ganz einfach: die haben zusammen gelebt. Und die konnte man wiederum hören und sehen und auch anfassen, weil die nämlich auch mit angefasst haben, wo es nottat. Und so ist das Wort des Lebens unter Menschen geblieben und Fleisch geblieben. Und sie sagen es weiter und in jedem Hörer und Zuschauer, der anfängt, mit anzufassen, wird das Wort wiederum ein kleines Stück Fleisch mehr. Wer Schüler in dieser Lebenskunstschule werden will, sagt der Johannesbrief, ist verpflichtet, auch selbst so zu leben, wie Jesus gelebt hat    . Und die Erleuchtung, die den Schülern dabei kommt, ist das Licht der Welt, das unter keinen Scheffel gehört, sondern frei und warm ausstrahlen will. Und die Wärmestrahlung der begriffenen Lebenslehre Jesu ist die Liebe in aller Fleischlichkeit, die Jesu Schüler eigen ist. Und wer von solcher Wärmestrahlung erwärmt wird, wer auftaut aus den eisigen Verhärtungen des finsteren Alltags, wem ein Licht aufgeht von dem Leben, was durch Jesu Praxis zum Vorschein kam, der kann vor Freude strahlen, der kann wie Jesus lachen und feiern gemeinsam mit den Brüdern, die ihn lieben und die er liebt. Und überall, wo heute im Sinne Jesu gelacht und gefeiert wird, da scheint wie die Weihnachtsbaumkerzen etwas von Gottes Licht durch und umschließt die Festgemeinschaft und bestärkt sie in ihrer Erprobung und Übung des richtigen Lebens. Wenn man so will, sind christliche Festgemeinden heute aufgerufen, wieder auf diesen Kurs zu gehen: sie erfüllen die Fleischwerdung Gottes, indem sie zur Tiefe der menschlichen Existenz weiter vordringen. Sie könnten Forschungs- und Experimentiergemeinschaften werden auf der Suche nach gutem, liebevollen und erleuchteten Leben. Christliche Festgruppen sind Wandervereine in die Tiefe menschlicher Möglichkeiten. Als Methode haben sie Träume von einer Welt ohne Haß und Feste als Probezeiten für gemeinsames Leben, gemeinsame Liebe und gemeinsame Freude. So könnten wir Weihnachten gefeiert haben als Probezeit des ewigen Lebens. Und weil wir damit nicht so schnell zuende kommen werden, erzähle ich noch ein Märchen von den Brüdern Grimm, was uns gespannt machen soll auf das, was noch kommen kann.
Der goldene Schlüssel
Zur Winterszeit, als einmal ein tiefer Schnee lag, mußte ein armer Junge hinausgehen und Holz auf seinem Schlitten holen. Wie er es nun zusammengesucht und aufgeladen hatte, wollte er noch nicht nach Haus gehen, sondern erst Feuer anmachen und sich ein bißchen wärmen. Da scharrte er den Schnee weg, und auf dem Erdboden fand er einen kleinen goldenen Schlüssel. Nun glaubte er, wo der Schlüssel sei, müsse auch das Schloß dazu sein. Er grub in der Erde und fand ein eisernes Kästchen. Wenn der Schlüssel nur paßt! dachte er, er sind gewiß kostbare Sachen in dem Kästlein. Er suchte, aber es war kein Schlüsselloch da. Endlich entdeckte er eins, aber so klein, daß man es kaum sehen konnte. Er probierte, und der Schlüssel paßte. Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat. Dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen."
Ich wünsche uns allen, daß wir unter dem tiefen Schnee unserer Verdrängungen und Verhärtungen den goldenen Schlüssel zur Schatztruhe des richtigen Leben? der Liebe und des Glücks finden. Ich wünsche uns goldene Träume als Schlüssel, kluge Beratungen auf der Suche nach dem Schlüsselloch, und eine riesige Neugier auf das, was wir an Schätzen des ewigen Lebens in der Festgemeinschaft der Jesusschüler zum Vorschein bringen können. Amen.