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Pfarrer Dr. Dr. Michael Lütge

Predigt über Offenbarung 21,1-6

Bremen am 26. November 2023 zum Ewigkeitssonntag / Totensonntag

1 Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde. Der erste Himmel und die erste Erde waren verschwunden, und das Meer war nicht mehr da. 2 Ich sah, wie die Heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkam. Sie war festlich geschmückt wie eine Braut, die auf den Bräutigam wartet. 3 Vom Thron her hörte ich eine starke Stimme: »Jetzt wohnt Gott bei den Menschen! Er wird bei ihnen bleiben, und sie werden seine Völker sein. Gott selbst wird als ihr Gott bei ihnen sein. 4 Er wird alle ihre Tränen abwischen. Es wird keinen Tod mehr geben und keine Traurigkeit, keine Klage und keine Quälerei mehr. Was einmal war, ist für immer vorbei.« 5 Dann sagte der, der auf dem Thron saß: »Jetzt mache ich alles neu!« Zu mir sagte er: »Schreib diese Worte auf, denn sie sind wahr und zuverlässig.« 6 Und er fuhr fort: »Ja, sie sind in Erfüllung gegangen! Ich bin der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende. Wer durstig ist, dem gebe ich umsonst zu trinken. Ich gebe ihm Wasser aus der Quelle des Lebens. 

Liebe Lesergemeinde!
Zum diesjährigen Ewigkeitssonntag las ich eine Predigt eines Theologieprofessors, der wohl seine mühsam errungenen Kenntnisse über die Dogmatik präsentieren wollte und bei der Auslegung vom letzten Kapitel der Bibel vom dreieinigen Gott sprach. Welcher normale Kirchenbesucher weiß noch, wer damit gemeint sein soll? Der dreieinige Gott wischt also später mal die Tränen ab. Es klingt für mich so wie das Lied "Mein Hut, der hat drei Ecken". Zuerst hatte ich gelesen: "Der dreibeinige Gott". Der Seher Johannes, Autor der "Offenbarung", war noch nicht dieser dogmatischen Finessen mächtig. Für ihn war Gott noch ein einziger, der Tränen abwischen wird, wenn er zu den Menschen herunterkommt, um bei ihnen zu wohnen in dem zur Erde niedergefahrenen Jerusalem. Diese Vision ist eine Vision, kein Tatsachenbericht eines baldigen Geschehens, was eigentlich schon seit langem innerhalb der letzten 2000 Jahre hätte eintreffen müssen. Ich liebe diese Worte vom Abwischen der Tränen. Immer wenn ich sie gehört habe oder als Pfarrer gesprochen hatte, bekam ich Tränen in meine Augen und konnte nicht weiter sprechen. Es ist ein mächtiges Bild, ein überwältigender Trost, diese Vorstellung, daß Gott ein Tröster und nicht der Weltenherrscher ist, der so viel Grauenvolles über die Tiere und Menschen gebracht hat: von den Naturgewalten bis zu den großartigen Vernichtungsspektakeln der Menschen, die ihre besten Männer darauf ansetzen, immer perfidere Waffen zu erfinden, um noch effizienter töten zu können im Namen der Menschlichkeit oder des dreibeinigen Gottes.
Wir erleben in diesen Tagen nicht, weil unsere Medien gerade dies nicht filmen dürfen oder wollen, wie das Volk Gottes die Stadt Gaza so dem Erdboden gleichmacht zu einer Steinwüste, daß wieder einmal zwanzig Mal so viele Zivilisten der palästinensischen Ureinwohnerschaft liquidiert werden, wie Israelis ermordet wurden. Heute senkt nicht Gott sein himmlisches Jerusalem auf die Erde, sondern Israel seine Bombenteppiche herab auf Gaza. Und wir bekommen davon fast nichts mit, dafür besucht unser Präsident demolierte Kibuzzim und vergiest seine Tränen über die 1200 ermordeten Menschen dort, ohne den 12000 ermordeten Palästinensern auch nur eine Träne nachzuweinen. Und neben ihm am Brandenburger Tor steht Schwester Annette Kurschus fest an der Seite Israels. Man könnte gegenrechnen: Was sind schon 12000 Palästinenser, vom israelischen Verteidigungsminister als Tiere bezeichnet, gegen 6 Millionen Juden in deutschen Konzentrationslagern. Ja, und eine solche Rechnung des Grauens aus der Vogelperspektive oder der Position Gottes im Himmel betrachtet ist selbst schon wieder bei aller deutschen Schuld, die sich Staatsräson nennt, eine perverse und Menschen verachtende zynische Art, mit Kriegsverbrechen umzugehen, sie sich vom Leib zu halten, sich zu distanzieren, sich herauszuziehen aus diesem Schrecken, den unsere Medien uns freundlicherweise auch gar nicht erst vor Augen bringen. So wenig wie die Vorgeschichte der israelischen Eroberungspolitik und der Vertreibung von gut einer Million palästinensischer Bauern.
Was sagt wohl der dreieinige Gott dazu? Kommt er noch runter nach Jerusalem und wessen Tränen wischt er ab?
Sie werden mir hoffentlich vorwerfen, all dies gehöre nicht in eine Predigt. Ich möge lieber Worte des Heils aussprechen. Eine Predigt soll die Gemeinde aufbauen oder in der Nachkriegsterminologie kirchlicher Rede: auferbauen. Im Predigerseminar hatten wir 1979 ein Curriculum "Gemeindeaufbau". Inzwischen sind weniger als die Hälfte noch in der Kirche Mitglied, Tendenz fallend und zwar unaufhaltsam und getriggert von den immer massiver unter dem Teppich hervorgezogenen Mißbrauchsfällen. Sie sind deshalb so aufregend und ärgerlich, weil die Kirche insgesamt die Sexualität in ganz besonderer Weise versucht zu unterdrücken. Und nur weil Sex in der Kirche vorzugsweise unter den Teppich gekehrt wird und unter einem Generalverdacht steht und mit Gott gar nichts zu tun zu haben scheint trotz seines Schöpfungsauftrags (Seid fruchtbar und mehret euch), nur deshalb sind die zur Enthaltsamkeit im Zölibat verpflichteten Priester und die zur Ehe angehaltenen Pastöre so unter sexuellem Hochdruck, daß einige die Gelegenheiten nutzen, die sich beruflich anbieten und die ihnen anvertrauten Kinder zu ihrer Triebabfuhr benutzen, meist unter Zwang und Drohungen, oft mit brutaler Gewalt. Ich gestehe, daß ich mir das nicht vorstellen kann, wie Lust mit Gewalt zusammengehen kann, wie ein Mensch einen anderen gegen seinen Willen sexuell benutzen kann. Ich wäre impotent, wenn meine Freundin keine Lust auf mich hat. Und verstehe nicht, daß das nicht bei allen anderen Pastoren oder Priestern auch so ist. Wo sie doch alle Jesu Fürsorge und Liebe als Vorbild haben.
Gemeindeaufbau noch einmal: Wir hatten in meiner Pfarrerzeit so viele Gruppen, daß es oft schwer war einen freien Raum im Gemeindehaus zu finden. Wenn ich jetzt in meine Bremer Gemeinde komme, ist alles wüst und leer. Eine kleine Gruppe macht sakralen Tanz, viel mehr läuft nicht. In einer anderen Kirche ist ein Sozialkaufhaus mit besten Anziehsachen und Möbeln aus zweiter Hand für kleines Geld, dort brummt es, weil der Diakon erkannt hat, was die Menschen im Stadtteil brauchen: Klamotten und erschwingliche Mahlzeiten. Er hat damit die Eucharistie auf den Punkt gebracht, ganz ohne Geschwafel vom dreieinigen Gott. Dort tummeln sich Menschen aller Nationen und Konfessionen und die reichen Nachbargemeinden beneiden diese Lebendigkeit und überhäufen sie in den Kleidercontainern vor ihrer reichen Kirche mit Luxus-Konfektionsware, dreimal getragen und weg damit. Bei dieser reichen Gemeinde ist die größte Attraktion das Heim in Hohenfelde an der Ostsee, wo die Jugend ihre Urlaube verbringt in gediegener Atmosphäre mit einem bunten Abend nach dem anderen. Es gibt keine Friedensgruppen mehr und keine Dritte-Welt-Gruppe, keinen gemeinde-eigenen Eine-Welt-Laden. Die sind aus den Kirchen ausgezogen in Läden in alternativen Stadtvierteln. Teilweise gibt es noch Theatergruppen in der Gemeinde, selten mal eine Teestube, schon gar nicht Disko oder Rockkonzerte. Kirche als Wohlfühlort oder zweites Zuhause, das ist vorbei. Das neue Ethos nach den Mißbrauchsskandalen heißt: noli me tangere: bloß nicht irgendwen in den Arm nehmen, es könnte ein sexueller Übergriff sein. Ich habe mich mit einer Kollegin gestritten, ob es erlaubt war, auf dem Friedhof am Grabe die Witwe in den Arm zu nehmen, weil mir die salbungsvollen Worte ausgegangen waren angesichts ihres Schmerzes. Ich hätte sie vorher förmlich um ihr Einverständnis für diese übergriffige Handlung fragen müssen. Daß ein Pastor ein Gespür dafür hat, ob das in dieser Situation paßt, konnte sie sich nicht vorstellen. Die Versuche, gegen sexuelle Gewalt gegenzusteuern, führen zu einer neuen nachgerade technischen Kälte in den Beziehungen in der Kirchengemeinde, verstärkt durch die Corona-Abstandsregeln.
Ob die Kirche ein Ort sein kann, wo Gott Tränen abwischt? Ist das nicht schon übergriffig, jemandem seine Tränen abzuwischen? Ist nicht Ziel der Therapie, die ich gelernt habe, Klienten überhaupt erstmal zum Weinen zu bringen über all die Traumata und Noxen ihrer mißratenen Vergangenheit, ehe man neue Orientierungen sucht und ausprobiert? Jesus weint über Jerusalem. Dort wird er dann gekreuzigt. Weinen kann gefährlich werden. Kritik tut weh. Und wir vermeiden beides am besten und reden lieber vom dreieinigen Gott. Halleluja.