Dr. phil. Dr. theol. Michael Lütge, Pfarrer, Gestalttherapeut, Religionsphilosoph, Religionswissenschaftler
fußnotenloser Auszug aus:
"Wachstum der Gestalttherapie und Jesu Saat im Acker der Welt. Psychotherapie als Selbsthilfe"
Lang-Verlag Frankfurt, 1997 824 Seiten ISBN 3-631-32666-1

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    Seite 290-298

    1.2.2.4 Karen Horney: Interpersonalität

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    Karen Horney wird am 16. September 1885 in Blankenese bei Hamburg vier Jahre nach ihrem Bruder Berndt als Tochter des norwegisch-stämmigen fromm-barschen Kapitäns Berndt Wackels Danielsen und der holländisch-stämmigen stolz-schönen Architektentochter Clotilde van Ronzelen geboren.(1) Zum Vater, der nach der Mutter mit der Bibel wirft, hat sie die Ambivalenz von Angst vor seinen ablehnenden blauen Augen und Bewunderung seiner omnipotenten Vielgewandtheit als Kapitän. Die Mutter, Sonni, solidarisiert sich in der fehlenden Zuneigung von Vater und dem pubertierend Karens Zärtlichkeit verschmähenden Bruder Berndt um so mehr mit ihrer von den Männern ungeliebten Tochter. Karen entwickelt eine aufopferungsvolle Puppenpflege, Vorläufer späterer Patientenpflege, und wird ehrgeizig: "Wenn ich schon nicht schön sein konnte, so beschloß ich, wenigstens klug zu sein."(2) Die Leseratte verfällt Karl May und liebt es, Winnetou zu sein.

    In der Klosterschule in Hamburg hat sie eine Phase pietistischer Hingabe nicht nur an den idealisierten Bibellehrer(3). Mit 12 entschließt sie sich, Medizin zu studieren, wechselt von der geisteswissenschaftlich orientierten Klosterschule auf ein Realgymnasium.(4) Mit 15 wachsen ihre Zweifel an Auferstehung und Personsein Gottes und der Heuchelei gepredigter Liebe bei sadistischer Erziehungspraxis des Vaters.(5) Wie auch bei Perls entzündet sich der Wahrheitswille an väterlicher Heuchelei.

    Reeperbahnbesuch und Reflexionen über voreheliche Sexualpraxis markieren ihr moralkritisches Frühlingserwachen: "Leben ist Kampf, Streben, Entwicklung und Wachstum".(6) Dramenlektüre und Schauspielkurse wecken ihr Ideen einer Theaterkarriere, ähnlich wie bei Perls.(7) Sie hat erste Freunde, macht ihr Abitur und zieht 1906 mit Sonni und ihrem Freund Louis nach Freiburg, Medizin zu studieren.(8)

    Frauen war bis dato Universitätsbildung versagt geblieben, Karen war eine der ersten Medizinerinnen. Über ihren Kommilitonen Carl Müller-Braunschweig lernt sie den scharfdenkenden, ehrgeizigen Wirtschaftswissenschaftler Oskar Horney kennen.(9) Sie verlieben sich. Die Idealisierung von Mutter und Bruder schwindet. Karen, Sonni, Louis und Oskar ziehen nach Göttingen, wo Karen erste Patientenkontakte hat und ihre pflegerische Wärme entwickelt. 1909 heirate sie den inzwischen promovierten Oskar Horney; beide wechseln mit Sonni nach Berlin, die Künstler- und Intellektuellenmetropole. Sie studiert an der Charité, er wird Industriemanager. Auch ihr Bruder wohnt in Berlin und kommt oft vorbei; sie fühlt sich überlastet von Studium und Haushalt. Sonni stirbt nach Schlaganfall 1911, während Karen mit einer ersten Tochter schwanger zugleich mit Carl Müller-Braunschweig eine Psychoanalyse bei Karl Abraham beginnt; die Konfrontation mit Ambivalenz zum Vater, Abhängigkeit von Mutter, Zurückgesetztsein gegenüber dem Bruder und ihre Emanzipation aus diesen Konstellationen waren die Themen der ca. 500, insgesamt sehr labilisierenden Stunden.(10) Sie verlor Spontaneität zugunsten psychoanalytischer Stereotypien, wirkte indoktriniert: ein Korsett gegen Depressionen, die später genau wie ihre Ambivalenz gegen ältere Männer vom Stile Abrahams wieder akut wurden.(11) 1912 beginnt Karen Horney nach abgelegtem Medizinexamen am Urbankrankenhaus und bald in der Psychiatrie im Berolinum in Lankwitz unter James Fraenkel ihre ärztliche Laufbahn. Psychoanalyse hielt damals ihren umstrittenen Einzug in die Psychiatrie.(12) 1913 geht Horney zwecks Promotion über posttraumatische Psychosen nach Kopfverletzungen zum rennomierten neuropsychiatrischen, mit Schizophrenen wohlvertrauten Klinikchef Karl Bonhoeffer, dem Vater Dietrichs, an die Charite. Privat bekommen die Horneys neben der zweiten Tochter Marianne Kontakte zu Boheme und Bauhaus, zu Gropius, Klee, Kandinsky. Carl Müller-Braunschweig bringt Theologen mit zu den Abendgesellschaften der Horneys in Lankwitz. Man redet über Politik, Kunst, Religion, Philosophie, Psychoanalyse. Man tauscht auch sexuelle Partner: "Frauentausch war damals in Deutschland große Mode".(13) 1915 ziehen die Horneys nach Zehlendorf, Sophie-Charlottenstr. 15, wo Karen eine intensive Gartenpflege und Gemüsezucht betreibt, während ihre 1915 um eine Renate komplettierten 3 Töchter der Wandervogelbewegung frönen.(14)

    Horney wird in Abrahams expandierendem Hauskreis (wöchentliche "Freudsche Abende" der "Berliner Psychoanalytische Gesellschaft") Sekretär, während Karl Abraham, Ernst Simmel und Max Eitingon Kriegsdienst leisten. Hier versammelten sich auch die Sexuologen Iwan Bloch und Richard Krafft-Ebing. Horneys erster Vortrag(15) vor Blochs Ärztlicher Gesellschaft für Sexualwissenschaft benennt schon zentral ihre künftige Technik-Regel: Zuerst müssen die Widerstände und Blockaden in der Übertragung ermittelt und gedeutet werden, erst dann ergeben sich die Deutungen der Bedürfnisse fast von selbst. Sie nimmt damit einen charakteranalytischen Weg von den aktuellen Widerstandsdeutungen zur Hermeneutik der infantilen Szenen, vergleichbar mit Reichs Ansatz. Sie schließt damals: "Offensichtlich kann nicht einmal eine Analyse die Konstitution verändern. Sie kann eine Person befreien, deren Hände und Füße gebunden sind, so daß sie wieder frei ihre Kraft gebrauchen kann, aber sie kann ihr keine neuen Arme und Beine geben. Es hat sich jedoch gezeigt, daß viele Faktoren, von denen sie annahm, daß sie konstitutionell seien, nur Folgen von Wachstumsblockaden sind, die sich auflösen lassen."(16) Hier markiert sich zentral das Konzept des blockierten Wachstums, welches bei Perls zur Arbeit an den Blockaden im impass-Erlebnis weitergetrieben wird, auch dort, um Wachstum zu fördern. Die effiziente Behandlung der Kriegsneurosen ("Bombenschocks") als Dissoziation der Gewaltszene aus dem Bewußtsein bringt der Psychoanalyse endlich die öffentliche Anerkennung, die ihrem Sexualbegriff im victorianischen Zeitalter versagt blieb. Die heimgekehrten Analytiker, Abraham, Simmel, Eitingon, Felix Boehm und Hans Liebermann projektieren eine Klinik für Kriegsneurosen, in der auch die Ärmsten noch Aufnahme und Behandlung finden sollten.(17) Ab 1919 eröffnet Horney ihre psychoanalytische Privatpraxis in Wilmersdorf, behandelt aber auch daheim kostenlos Patienten; viele konnten nach dem Krieg keine Analyse finanzieren und arbeiteten dafür zB im Garten mit. Horney behandelte vorwiegend Frauen. Max Eitingon, bei den Horneys Hausfreund, "Rosenmax" geworden, übernimmt die Initiative für die Polyklinik, die in einer großen 6-Zimmer-Wohnung eingerichtet wird und in der er ab 1920 mit Simmel bis zu 14 Stunden täglich arbeitet. In 5 Behandlungsräumen werden kostenlos oder günstig Patienten auf die Couch gelegt, neben allen bisher genannten arbeiten auch Hans Sachs und Karen Horney mit; jeder muß mindestens einen Patienten übernehmen. Ähnlich wie in der Wiener Polyklinik werden auch hier die öffentlichen Vorlesungen und Ausbildungs-Seminare der Berliner Psychoanalytischen Gesellschaft abgehalten.(18) Franz Alexander wird von der Universitätsklinik gekündigt, als er zur Polyklinik geht; aus Budapest kommen Melanie Klein und Perls' späterer Lehrer Jeno Harnik. Horney bekommt einen Lehrauftrag: Psychoanalyse im medizinischen Alltag. Sie entwickelt 18monatige Ausbildungsprogramme, je spezifisch für Medizinstudenten, Allgemeinmediziner und Psychiater, später mit Sandor Radó (ab 1924) und Siegfried Bernfeld auch Curricula für Lehrer und andere soziale Berufe, wobei die Lehranalyse sich einbürgert als Charakteranalyse.

    Auf dem 6. Kongreß der IPV in Den Haag läutet ein Vortrag Abrahams über Manifestationen des weiblichen Kastrationskomplexes mit den Varianten Kindeswunsch als Penisersatz, Männerrolle, lesbische Penisverweigerung, Frigidität oder sadistische Rachespiele gegen Männer die Weiblichkeitsdebatte der IPV ein, die Horney als Gegenposition zu Freud ab 1921 profiliert und engagiert bestritt.(19) Georg Groddeck referiert über seine psychosomatische Therapie, wobei er sich im Anschluß an eine restriktive Debatte über Laienanalyse und Ausbildungsqualifikation provokativ als "wilden Analytiker" bezeichnet - zu einer Zeit, wo Lehranalysen selbst von Komitee-Mitglied Eitingon auf einigen Abendspaziergängen(20) erledigt wurden: ein Sieg der Restneurose über die professionelle Kompetenz, oder auch: katastrophale, inzüchtige Ausbildungsmängel bei denen, die später sich als wissende, entscheidungstreffende Subjekte der analytischen Ausbildungsstandards die absolut nicht mutuelle Qualifikation von Schülern anmaßten.

    Groddeck wird später Horneys Lehrer und Freund. Sein psychosomatisches Konzept, die holistische Idee, den Mikrokosmos des Selbst treibe nicht Ich-Bewußtsein, sondern das leibseelische Unbewußte, das Es als heimliches Subjekt an, und Krankheit sei eine seiner sinnhaften Expressionen, nimmt nicht nur Freud in seiner Zweiten Topik, sondern auch Horney in ihr Konzept auf: Der Fluß fließt selbst. Damit ist Lacans Sprachlichkeit des Unbewußten, Merleau-Pontys Leiblichkeit und Foucaults Einheit von Vernunft und Wahn bereits vorweggenommen.(21)

    Bei Hans Sachs, mit dem sie schon die Curricula erstellt hatte, geht Horney 1921 in eine zweite Lehranalyse, in der ihr Selbstbewußtsein als Frau bedeutende Stärkung erhält, was sich eben in ihrer profilierten Opposition zu Freud und Abraham in der Weiblichkeitsdebatte ausdrückt. Sie hält 1922 auf dem 7. Kongreß der IPV in Berlin in ihrem Vortrag "Zur Genese des weiblichen Kastrationskomplexes"(22), der auf reges Interesse stößt. Die Freundschaft zu Groddeck, der dort sein Es-Konzept ausgebaut vorstellt, was Freud dann unter der Devise der therapeutischen Vertreibung des Es durchs Ich übernimmt, vertieft sich; sein "Buch vom Es" wird sie 1923 in ihrer depressiven Trauer um den Tod ihres Bruders Berndt trösten. Er sieht das Konstrukt des weiblichen Penisneides als Reaktionsbildung der männlichen Angst vor Frauen: »Wenn das Es wollte, daß Frauen einen Penis haben, dann würden sie einen haben.«(23)

    1923 geht es der Polyklinik so schlecht, daß alle 8 dort arbeitenden Analytiker 4% ihrer Privatpraxis-Einnahmen in die Klinikkasse speisen.(24) Horney ist dabei durchaus bewußt, wie sehr die Berliner Ausbilder-Gruppe selbst neurotisch ist und wie sehr geheuchelt wird, wo ein Neurotiker dem anderen meint, seine Neurose austreiben zu können.(25) Als 1924 in Wien am Streit Rank-Ferenczi das Komitee zerbricht, standardisieren die Berliner fleißig die Instruktionelle Analyse mit Zulassungsbeschränkungen: Lehranalyse, regelmäßige Teilnahme an Institutstreffen, Aufsatz. Es wird, kaum war die Aufhebung der Zensur Thema, wieder streng zensiert: Die IPV ist mit dem Problem der Verdrängung und Zensur selbst nicht fertig geworden.(26) Horney hält 1925/26 vor Frauen in sozialen Berufen Kurse über Frigidität und andere sexuelle Störungen und über Gynäkologie ab.(27) Im Krieg mußten Frauen mangels frontkämpfender Männer harte Männerberufe übernehmen, was ihr Kompetenz-Selbst-Bewußtsein über das putzend-kochender Gebärmaschinen weit hinaustrieb und nach Vertreibung aus diesen Berufen durch die Heimkehrer als Protest die Frauenrechtsbewegung auslöste; Frauen drangen endlich auch in den Bildungssektor ein.(28) Horney schickt ihre jüngste Tochter Renate zu Melanie Klein in Therapie, weil sie zuviel Spaß am Spielen hatte und schulisch absank. Renate liegt mehr unter als auf der Coach, hält sich die Ohren zu, wenn Klein sexuelle Interpretationen liefert, schreibt schließlich all die sexuellen Wörter überall hin, in Sonderheit in obszöne Briefe an Nachbarn. Kein Wunder, wenn die Mama fast nie zuhause ist und wenn, nur Briefe schreibt und nicht gestört werden will. Diese entsetzlichen Kindertherapien waren, wie Horney später zugeben mußte, das Dümmste, was sie Renate und vor ihr schon der Marianne angetan hatte.(29) 1924 macht ihr Mann Oskar nach fast tödlicher Hirnhautentzündung mit massiver Persönlichkeitsveränderung Bankrott; das Haus und aller Besitz wurde verkauft.(30) 1925 - 1929 waren nach den Entbehrungen der Wirtschaftskrise die leichtlebigen Nach-mir-die-Sintflut-Lotterjahre in Berlin.(31) Der Flapper, die unabhängige Schöne mit unverschämter Schnauze und Köpfchen, kam in Mode, zeigte das erstarkende Selbstbewußtsein der Frauen.(32) Horney als friedliche SPD-Wählerin hat überhaupt kein Gespür für die Gefahr des heraufziehenden Faschismus. Diskussionen über Maxismus und Psychoanalyse im Kreis von Simmel, Bernfeld, Fromm und Reich liegen ihr fern.(33) Sie geht gern ins Romanische Café.(34)

    Horney zieht nach kurzem Wohnen am Steinplatz mit ihren 3 peripubertären Töchtern von ihrem Mann weg; Brigitte kommt mit 15 in Ilka Gruenings Schauspielschule und macht 1930 Karriere, Beziehungen durch Sachs machen's möglich, der mit der UFA einen Film über Psychoanalyse dreht.(35) Nachdem Renate mehrere Privatschulen Berlins unsicher gemacht hat, kommt sie nach Salem, das Internat der Upperclass-Kinder. Die 2 Sommerferienmonate verbrachten die vier Horney-Frauen ab 1928 in den Alpen; zwei Patienten kamen immer mit zum Lago Maggiore und brachten selbst in der Ferien Geld ein; Horney kauft in den Bergen ein heruntergekommenes Bauernhaus mit Seeblick.(36)

    Der faschistische Stoßtrupp-Terror im Wedding oder Neukölln geht unbemerkt an Horney vorbei: Zeichen für die politische Blindheit, zu der psychoanalytische "Erziehung zur Realität" als entpolitisierende Introspektion fast ausnahmslos führt.(37) Die Universität wird mit Nazikadern infiltriert, viele Professoren hoben die Hand zum Führergruß mit Inbrunst.(38) Am Psychoanalytischen Institut wurde alldas ignoriert. Später bezeichnet sich Horney als antifaschistisch, vermutlich, weil sie Hitlers Morden nicht so super fand und weil es in den USA besser ankam.(39)

    Zur Frage des weiblichen Masochismus betont Horney zwar, daß dieser aus kulturellen, nicht anatomisch-physiologischen Faktoren angeblicher konstitutioneller Schwachheit, Emotionalität und Irrationalität herrührt, auch, daß diese patriarchale Ideologie Frauen in untergeordnete Rollen pressen soll durch deren Idealisierung als naturgeschichtliche Invariante.(40) Sie sieht aber weder die ökonomische noch die politische Dimension und Funktion der "Kultur". Ihre Aufsätze sind aufs äußerste vermittelnd, legen sich nicht mit Freud an, weshalb dieser sie auch inhaltlich ignoriert und den Streit Helene Deutsch überläßt. Sie leidet unter ihrer Aggressionshemmung, die ihren Schriften den Biß nimmt, den sie an Groddeck bewundert: Wenn sie vom völlig außerhalb des Sexuellen generierten Masochismus und von Unterwürfigkeit schreibt, ist dies biografisch, ebenso wie der Vortrag über Kritische Eheprobleme kurz nach der Trennung von Oskar. Mit Supervision, Vortragsreisen flieht sie vor der Einsamkeit und dem Schmerz.(41) Sie spricht sich gegen die Laienanalyse aus, als Reik wegen Kurpfuscherei verklagt wird, um in der Öffentlichkeit den Ruf der Zunft zu retten - wobei Sachs und Klein als ihre eigenen Therapeuten dann eigentlich nicht mehr hätten tätig werden dürfen. Sie hält sich immer bedeckt unter einer Fassade der Wohlanständigkeit, auch äußerlich unauffällig - passend zu den Prüfungsinterviews, in denen sie über die Therapieaufnahme am Institut entschied.(42) 1928 macht sie an Perls eine kurze Analyse, der nach Meuterei bei Harnik 1930 zu ihr kommt und dem sie Reich empfiehlt. Perls lobt in der "Mülltonne" Horneys Empathie. 1930 wird Franz Alexander von den Amerikan Association for Mental Health nach Chicago berufen, um dort ein analytisches Institut aufzubauen; als Assistentin nimmt er Horney mit. Für sie beginnt damit ein neues Leben in den USA.

    Horney setzt sich in "New Ways in Psychoanalysis" mit Freud auseinander: Aufgrund therapeutischer Erfolglosigkeit in Bereichen wie Weiblichkeit(43), Todestrieb(44), Ich-Struktur, Sadismus/Analität, latenter Homosexualität als universale Grundvermutung und anderem erscheinen ihr Freuds diesbezügliche Annahmen unzutreffend. Sie erkennt als umwälzende Beiträge Freuds an: a) die Idee des Unbewußten und der Möglichkeit zur Verdrängung, die sich in der Behandlung durch den Widerstand bemerkbar macht und der daher optimaler Indikator des verdrängten Konflikts ist; b) die Determination psychischer Vorgänge, wie Träume, Phantasien, Fehlleistungen durch ihre Sinnhaftigkeit auf meist mehreren Ebenen zeigen; c) die Relevanz der »emotionellen Kräfte« für das bewußte Verhalten und die Struktur der Persönlichkeit, wobei sie Abwehrmechanismen wie Reaktionsbildung, Verdrängung, Projektion, Skotomisieren, Verschiebung, Retroflexion annimmt. Überall hier erkennt man Perls wieder.(45) Therapietechnisch adaptiert sie Übertragung, Widerstandsanalyse und freie Assoziation.(46)

    1) Grundlegend revisionsbedürftig sei die monokausale Traumatheorie mit Reich und Alexander zu einer ganzheitlichen Charakteranalyse.(47) Perls hat mit dem Hier-und-Jetzt-Prinzip zwar auch charaktereologisch angesetzt, kam aber in der Arbeit an Blockaden sofort auf strukturbildende, traumatische Einzelszenen und erwies ihre Narbenqualität als weiterhin leidwirkende Relevanz für den 'Charakter'.

    2) Die libidomonistische Trieblehre sei zu diversifizieren, neben Sexualität und Aggression (Selbstbehauptung) muß auch Hunger als Trieb geltend gemacht werden - hier finden wir den Perlsschen Einwand bereits vorweggenommen.(48) Nicht jedes Befriedigungserlebnis sei sexuell. Nicht jedes Tun sei von sublimierter Sexualität getrieben.(49) Der Charakter präge die Sexualität, nicht umgekehrt.(50) Gier, Besitzstreben und Angst seien nichtsexuelle Triebe.(51) Narzißmus sei nicht Libidoreservoir und Gegenpol zur Objektliebe; vielmehr sei diese seelische Inflation der Eigenliebe Zeichen eines Defektes in der Liebe zu anderen und sich selbst, Trost durch regressive Selbstidealisierung in Phantasiewelten, wenn man real keine Liebe und Wertschätzung erfährt.(52)

    3) Neurosen als Folge von »Störungen im Bereiche der Beziehungen zum Mitmenschen... bedeuten in erster Linie Versuche des Individuums, Wege durch eine Wildnis voll unbekannter Gefahren zu finden.«(53) Damit werden die Reaktionsbildungen des Charakters als Schutzfunktionen im Überlebenskampf scheinbar positiv bewertet und nicht schon vorab pathologisiert; aber dann schlagen die Ettikettierungen von gesunder versus kranker Persönlichkeit auf jeder Buchseite unentwegt mit biedersten Bewertungen zu - auch darin konvergiert Perls mit ihr. »Neurosen stellen so eine Art des Lebenskampfes unter schwierigen Bedingungen dar.«(54) Was hier soziologisch klingen soll, ist in Wahrheit völlig apolitisch. Der Ödipuskonflikt als Kernschaltstelle der Neurose wird als einer unter vielen konstitutionellen Faktoren relativiert, sicher zu Recht.(55) Es gibt neben dem Ödipus eine Vielzahl von Konflikten zwischen Trieben und Kultur, an denen ein Mann krank und irre werden kann.(56) Horney kritisiert Freuds biologistisches, Partikularitäten universalisierendes, nur scheinbar moralisch neutrales, dualistisches, mechanistisches und evolutionistisches Denken als undialektisch, ist selbst aber völlig undialektisch und moralkonform.(57) Das Ich im Kampf mit Es und Über-Ich, Freuds 2. Topologie, stellt für Horney nicht den Normalfall, sondern den pathologischen Sonderfall des triebhemmenden, neurotischen Ichs dar.(58) Das normale Ich kennzeichnet sie durch »Willenskraft, Urteil, Entschlossenheit«.(59)

    4) Damit wird Ziel der Therapie nicht mehr, dem Ich bei seiner Herrschaft übers Es zu helfen, sondern »seine Angst in solchem Maße zu verringern, daß er sich von seinen 'neurotischen Neigungen' frei machen kann.«(60) Therapie als Selbstbefreiung, Wiedergewinnung der eigenen Natürlichkeit, das Ziel, »den Menschen wieder zu sich selbst zurückzuführen«, entspricht dem Persönlichkeitswachstums-Prinzip von Perls.(61)

    Perls und Goodman kritisieren Horney und die Washington-Schule in ihrer Persönlichkeittheorie, die das Selbst aus der biologischen Natur in eine Interpersonalität überführen will, dabei aber die infantilen und organismischen Impulse als irrelevant oder potentiell neurotisch disqualifiziert: Horneys Sozialphilosophie mißlingt »als ausnehmend fade Ruhmeshymne auf die freien, aber leeren Persönlichkeiten.«(62) Der erfolgreich Therapierte ist der angepaßte Untertan: »Die 'Reife' wird gerade unter jenen, die behaupten, sich um die 'freie Persönlichkeit' Sorgen zu machen, auf das Interesse einer unnötig engen Anpassung an die dubiosen Werte einer Arbeitsgesellschaft zugeschnitten, deren Schulden und Steuern man zu zahlen gehalten ist.«(63) Die triftigste Kritik hat Horney trotz ihrer Berufung auf Horkheimer durch Adorno erfahren: sie treibt mit ihrer Soziologisierung und Konventionalisierung der Psychoanalyse zu charaktereologischen Stereotypen die bürgerliche Selbstentfremdung auf die Spitze.(64) (64) Adorno 1973,78: »Seitdem mit Hilfe des Films, der Seifenopern und der Horney die Tiefenpsychologie in die letzten Löcher dringt, wird den Menschen auch die letzte Möglichkeit der Erfahrung ihrer selbst von der organisierten Kultur abgeschnitten... Anstatt die Arbeit der Selbstbesinnung zu leisten, erwerben die Belehrten die Fähigkeit, alle Triebkonflikte unter Begriffe wie Minderwertigkeitskomplex, Mutterbindung, extrovert und introvert zu subsumieren, von denen sie im Grunde sich gar nicht erreichen lassen.« aaO 79: »Das Inkommensurable wird gerade als solches kommensurabel gemacht, und das Individuum ist kaum einer Regung mehr fähig, die es nicht als Beispiel dieser oder jener öffentlich anerkannten Konstellation benennen könnte... Überdies bewirkt die Konventionalisierung der Psychoanalyse deren eigene Kastration: die sexuellen Motive, teils verleugnet, teils approbiert, werden gänzlich harmlos, aber auch gänzlich nichtig. Mit der Angst, die sie bereiten, entschwindet auch die Lust, die sie bereiten könnten.«