Dr. phil. Dr. theol. Michael Lütge, Pfarrer, Gestalttherapeut, Religionsphilosoph, Religionswissenschaftler
fußnotenloser Auszug aus:
"Wachstum der Gestalttherapie und Jesu Saat im Acker der Welt. Psychotherapie als Selbsthilfe"
Lang-Verlag Frankfurt, 1997 824 Seiten ISBN 3-631-32666-1

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    Seite 598-640

    2.4 Die Sendung der Kirche als Trost der Trauernden

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    2.4.1. Fruchtbarkeit, Phallus und Begehren nach neuem Leben 598

    2.4.2. Leidende - auferstehende Götter in Fruchtbarkeitskulten 601

    2.4.3 Apokalyptische Leidensverarbeitung der Märtyrer 607

    2.4.4 Trauer- und Berufungsvisionen des entzogenen Herrn 610

    2.4.4.1 Christologie als sprachliche Erhöhung Jesu zum Christus 611

    2.4.4.2 Was geschah wirklich an Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten? 614

    2.4.4.3 Vision als auszeichnendes pneumatisches Charisma 615

    2.4.4.4 Generative Faktoren österlich-visionärer Revelationsarbeit 617

    2.4.4.4.1 Spätantike Wundergläubigkeit in den Evangelien 617

    2.4.4.4.2 Re-Inkarnation berühmter Toter in außergewöhnlichen Leuten 618

    2.4.4.4.3 Apokalyptische Naherwartung als Orientierungsraster des Es 619

    2.4.4.4.4 Jesus als Grund des Osterglaubens 621

    2.4.4.4.5 Narzißtische Selbstwertregulation der trauernden Jünger 621

    2.4.5 Trost durch orale Inkorporation des gekreuzigten Gottes 623

    2.4.6 Kirchenjahr als Rückfall in Mythen der Vegetationskulte 630

    2.4.7 Mystik und Meditation: Einheit von Ich und All Gottes 632

    2.5 Thesen zur Relevanz der Rede von Gott 639

    2.4 Die Sendung der Kirche als Trost der Trauernden

    Ein Mensch, der so wie Jesus lebt, der so zu seiner Art von Liebe zu den Armen steht, daß er nicht dem Prozeß flieht, der seine Vernichtung bedeutet, ein solcher Mensch kann nur Gott sein.(1) Das Staunen über die Grenzenlosigkeit der Liebe Jesu mußte in der Trauer über seine Hinrichtung die Metonymien der Apotheose ergreifen, die die Geschichte Jesu als die des je@o' 2n=r, des KURIOS, des Crist7', des y /' to« 2njr+pou, unter immer grandioseren Folien und Metaphern schildern.(2)

    In der Aktions- und Passionsgeschichte Jesu wird die Aktions- und Passionsgeschichte der Menschen erzählt, die sich einsetzen für Gerechtigkeit, für Tröstung der Weinenden, für einen neuen Himmel und eine neue Erde. Die Geschichte Jesu ist paradigmatisch für alle Menschen, die hungert und dürstet nach Gerechtigkeit und Lebendigkeit.(3) Die Geschichte Jesu steht stellvertretend für die vielen namenlosen Geschichten der engagierten Menschen, die vom politischen System vernichtet worden sind. Das Imago des gekreuzigten Jesus ist zum Symbol für das Geschick der Menschen geworden. Die Geschichte des gekreuzigten Gottes ist zum Gleichnis der Leidensgeschichte der Menschen geworden, die für Gerechtigkeit kämpfen. Das tertium comparationis, die Pointe der Entsprechung ist das gemeinsame, unverschuldete Leid. Zugleich entspricht der irdische Jesus in seiner Gesetzesübertretung im Sinne der Menschlichkeit dem unaussprechlichen Sehnen und Seufzen der Kreatur, der Konkupiszenz und dem Begehren nach Glück, Erfüllung, Freiheit.(4)

    Eben darum tröstet der Christusmythos: nur der leidende Gott kann helfen.(5) »Christus hat Gottes Rolle in der Welt übernommen, aber in dieser Übernahme wurde sie verändert zu einer Rolle des ohnmächtigen Gottes... Erst seit Christus ist Gott angewiesen auf uns. Denn Christus hat sich nicht mit dem gelassenen Zuschauer unserer Schmerzen identifiziert, sondern er hat lehrend, lebend und sterbend die Ohnmacht Gottes in der Welt als das Leiden der nichts ausrichtenden Liebe dargestellt... Daß Gott in der Welt beleidigt und gefoltert, verbrannt und vergast wurde und wird, das ist der Fels des christlichen Glaubens, dessen Hoffnung darauf geht, daß Gott zu seiner Identität komme. Dieser Schmerz ist unauslöschlich, und diese Hoffnung kann nicht vergessen werden.«(6) Der Trost besteht nicht im Verweis auf eine bessere Welt im anderen A]+n, sondern in der Solidarität Gottes mit den Opfern.(7) In einer Bruderliebe, die noch den annimmt, der nicht erotisch anzieht, ist das Mehr an Menschlichkeit möglich(8), was in unserer Gesellschaft als unprofitables Sentiment fortlaufend versiegt und doch Vorbedingung wäre für eine Gesellschaft, in dem man ohne Angst lieben kann.

    2.4.1 Fruchtbarkeit, Phallus und Begehren nach neuem Leben

    Der Ursignifikant ist der Phallus. Keiner hat ihn, keiner ist Phallus. Er ist mehr als bloß Penis, bloß Nippel, bloß Brust.(9) Er ist buchstäblich ein Zeiger des Begehrens, zeugt Leben, präsentiert pralle Fülle wie sein weibliches Pendant, die Brust, spendet Wasser des Lebens, ist das Glied der Schöpfung und Auferstehung mehrmals täglich, aber er geht auch ein in das Nichts, welches beim Weibe an nämlicher Stelle harrt. Er ist das Glied der überströmenden Liebe(10), die Gott ist, ob sie nun als kindliche, erotische, mütterliche, väterliche oder unter dem Titel 2g1ph als desexualisierter und oft mit selbstdestruktiven Anteilen geschwängerter kulturell-sublimierter Abkömmling der einen Liebe mit ihrer unermeßlichen Vielfalt ist. Das längliche Glied der Liebe geht ein ins babyhafte und (normalerweise) weibliche Begehren nach dem, was es nicht hat und ist.(11) Im Entäußerungsakt der Aussendung der Milch und des Samens erschöpft sich der Schöpferphallus. Er hat Teil an der Agonie einer Übertragung, in der ihm seine Potenz genommen wird, auf Zeit. Aber er wird seine Potenz zurückerlangen. Er ist das Zeichen der Hoffnung. Immer wieder steht er auf. Penisneid hin, Brustneid her, Säugung und Liebesakt leben vom Haben und Entzogenwerden des Phallus(12), von der tiefen Durchdrungenheit und der ziehenden Leere, vom Erfülltsein mit überströmender Liebe und dem Sog des Mangels, von der Vereinnahmung und der Verausgabung, der Verschmelzung und der Trennung, Einheit und Scheidung, Harmonie und Dissonanz, Eins-Sein und Null-Sein, Da-Sein und Fort-Sein, Sein und Nichtsein.(13) Der Sinn des kindlichen, spielerisch wiederholten Verschwindenlassens und Wiederkommenlassens »in denen die Subjektivität die Beherrschung ihrer Gottverlassenheit und die Geburt des Symbols hervorbringt«, ist Verlustbewältigung und Zerstörung des Objekts durch das Imaginieren seiner wahlweisen Entzogenheit. »Fort! Da! Schon in seiner Einsamkeit ist das Begehren des Menschenjungen das Begehren eines anderen geworden, eines alter ego, von dem es beherrscht wird und dessen Begierdeobjekt von jetzt an sein eigener Schmerz ist.«(14) Die Radikalität infantilen Erlebens prägt noch das paulinische Alles oder Nichts.(15)

    Dessen früheste Erfahrung ist die stillende Brust und die böse, sich verweigernde, abwesende Brust(16), die Zeit der nassen Wärme und Geborgenheit, Sättigung und narzißtischen Wohlbefindlichkeit (mit dem Bäuerchen als Vorläufer des bekräftigenden Amen in der Kirche), wo die Mutter ihr Angesicht auf das Kind hebt und ihm gnädig ist, Schirm des Höchsten und Adlers Fittiche ausbreitend. Dagegen die paranoide Position des alleingelassenen, um die Irreversibilität dieses Zustands bangenden, hungernden, erkaltenden, schreiend verzweifelten Säugers: Hier ist die Erfahrung des Mangels, der Leere, der Vernichtung, des Nichts. Der frühe Hunger könnte Todesangst sein, solange ihm die innere Kohärenz der kommenden mit der gehenden Brust, die Identität der guten mit der bösen Mutter noch nicht entdeckt ist.

    Dem Penis-Phallus sind die Nippel(17) der Brust vorgängig. Der archaische Ursignifikant, noch vor der phallischen Wahrnehmung des Penis als Verbindungsorgan, als organischer Copula, ist der Nippel, dessen saugender Besitz der Besitz der überströmenden Liebesmilch der Mutter ist. Die Nippel sind die Phalli der Frau: Das, was ein Mann weder haben noch sein kann und dem er sein Überleben verdankt. Ihre Größe und Erektionsstärke verweist auf die Potenz der Lymphbahnen, verheißt Milch mit Honig; Wärme, Leben, Zukunft. Die Nippel der Frau sind Hoffnungsträger Nummer Eins für die Urhöhle Mund und den archaischen Stoffwechsel des Stillens, die Konstitution der Oralität als dem Fundament der Wahrnehmung der Welt. Der Penis des Mannes ist Hoffnungsträger Nummer zwei, nicht zum Überleben des Subjekts machtvoll, sondern dem der Gattung. Die archaischen oralen Erfahrungen setzen in der tabula rasa der Wahrnehmungsstruktur und perzeptiven Kapazitäten jene Grundkategorien, unter denen alle weitere Wirklichkeit erfaßt und mit Sinn belegt wird.

    Die Ursignifikanten stillender großer Nippel versus Urhöhle Mund als frühestem Ich-Kern(18) bilden jenen binären Grund-Dualismus aller Informationsdaten der Mikroelektronik und jeder Denkbewegung, dem digitalen Antagonismus von Null und Eins, Tod und Leben, Off und On, Trennung und Verbindung, 0 und 1(19), Rundem und Länglichem, Loch und Stab, Fehlen und Überfluß, Saugen und Überströmen, Nehmen und Geben, Hinein und Heraus, welches den Drang des Buchstabens im Unbewußten(20) stillt, den Hungertrieb, den Eros des Lebenshungers. Die wechselhafte Erfahrung des Säuglings, mal verschmolzen, gehalten, in Wärme, sensomotorischem Austausch, Geborgenheit und Harmonie in der Gewahrung des Still-Orgasmus der gebenden Mutter, dann wieder getrennt, einsam, kühl, ohne Resonanz, hungrig, schmerzerfüllt, verzweifelt, angstvoll begehrend ohne Antwort - an diesen Urerfahrungen des vollkommenen und des zerstörten Narzißmus formen sich alle seelischen Regungen des heranreifenden Mensch-Kükens. Dies sind die Formen der Anschauung, die alle Logik fortan prägen werden: Trauer und Freude, Depression und Extase, Todeserfahrung und Lusterfahrung. Weil diese beiden Polaritäten unserer frühesten Tage das Alles und das Nichts konstituieren, welches dem Leben und dem Tod angekreidet ist, sind sie die Ursignifikanten, über die alle weitere Bewältigung der Realität abgewickelt wird, über die alle weitere Erfahrung hinweggleitet und unter dem Ziehen und Drängen jener beiden Grundgefühle ihre Verortungen im System der Wahrnehmung erhält, ihren emotionalen Stellenwert, ihren moralischen Wert und ihren Tauschwert im komplexen Verwertungsprozeß der sich vergesellschaftenden Kommunikationsgemeinschaft: Ihre Position im Diskurs der Interaktion und im Börsenkurs des Austausches von Lebensgütern.

    Die Null und die Eins und die unendliche Vielfalt ihres Konstelliertseins sind die Grundelemente des Elementaren, der Materie, der Realität. Der Phallus als ein dem Nichts erstehendes Sein wird so zum Inbegriff des Lebens, zum Zeichen der Auferstehung des Fleisches zur Einheit in der Liebe. Er verkörpert die Schöpfermacht Gottes als Urbuchstabe am menschlichen Leib. Er ist Symbol der Freude des Seins am Abgrund des Todes.

    2.4.2 Leidende - auferstehende Götter in Fruchtbarkeitskulten

    Jesus war nicht der erste Auferstandene. Die Idee der leibhaftigen Auferstehung hat religionsgeschichtliche Vorlagen. Auferstehung gab es im Iran.(21)

    Ein sumerischer Neujahrsmythos ist in das babylonische Akitu-Fest eingewandert, in dessen Verlauf der König als Inkarnation des Hirten Dumuzi (Tammuz) die Heilige Hochzeit mit einer Tempelsklavin als einer Inkarnation der Göttin Inanna zelebriert. Inanna war als Göttin der Venus und Liebe neben Nanna-Suen, dem Mond, und Utu, der Sonne, die bedeutendste Göttin des mittleren Ostens, später mit Astarte oder Ischtar identifiziert: Göttin der Liebe und des Krieges, des Todes zugleich. Der Mythos: Sie vermählt sich als Schutzgöttin von Erech mit dem Hirten Dumuzi, der so Herr der Stadt wird. So sehr sie ihn in ihrem heiligen Schoß begehrt und glücklich ist, ahnt sie, daß es nicht gut gehen wird. Sie startet einmal einen Kriegszug in die Unterwelt, ihre Schwester Ereschkigal in deren Palast zu besiegen und auch dort zu herrschen, wird aber auf dem Weg durch die sieben Tore ihrer Kleidung und ihres Schmuckes beraubt und kommt machtlos nackt vor der Schwester an. Die tötet sie mit dem 'Blick des Todes'. Enlil, nach drei Tagen Wartens konsultiert, schafft zwei Boten, die mit Brot des Lebens und Wasser des Lebens in der Unterwelt die an einem Nagel hängende Leiche reanimieren und wieder nach oben mitnehmen. Die Unterweltrichter verlangen einen Ersatzgeisel für sie, sonst muß sie zurückkommen. Sie sucht, beaufsichtigt von Unterweltdämonen, vergeblich nach Opfern, bringt es aber nicht übers Herz, bis sie ihren Gatten Dumuzi bei ihrer Heimkehr unbekümmert ob ihres Todes auf ihrem Thron schlemmen und feiern sieht. Erbost richtet sie den Todesblick auf ihn und hat endlich ihre Ersatzperson.(22) Auch die Verwandlung in eine Schlange (Phallus!) durch Schwager und Sonnengott Utu hilft Dumuzi nicht, zu entkommen. In seinem Hürdenlager erwischen ihn die Dämonen, foltern ihn und bringen ihn in die Unterwelt. Ausgerechnet Ereschkigal begnadigt ihn dann nach einem halben Jahr und läßt ihn durch seine Schwester austauschen, er darf wieder ans Tageslicht des Lebens: Auferstehung. Romanhaft, psychologisierend übermalt die Empörung Innanas ein archaisches Motiv: Auf alle Lust der Zeugung folgt der Tod.(23)

    In der akkadischen Version dieses Mythos steigt Ischtar in die Unterwelt, worauf die Fruchtbarkeit auf Erden rapide verschwindet, Folge der Unterbrechung des Samenflusses zwischen Tammuz und der Liebesgöttin, sodaß in Sorge um das Fortbestehen der Erdfauna die großen Götter eingreifen.(24) Der König mußte in einem Mysterium dann rituell den Abstieg des jungen Gottes in die Unterwelt spielen (kultische Demütigung wie bei Saturnalien & Narrenfest) und wurde allgemein betrauert im Wissen, daß er nach 6 Monaten wieder auferstehen werde. Auf diese Klage spielt Ez 7,14 an, wenn er Frauen kritisiert, die sogar an den Tempeltoren diese Klageriten abhalten: Im 6. Jh.v.Chr. war der Tammuz-Kult in Jerusalem und im ganzen mittleren Orient verbreitet.(25) Gottesknechtslieder und Ps 88f kolportieren den Tammuzmythos bis in die Evangelien.(26)

    Der Osiriskult breitete sich von Ägypten bis nach Griechenland aus; selbstverständlich blieb das Judentum davon nicht unberührt. Er prägte nicht die Struktur der Auferstehungsnarrationen über Jesus, aber einen allgemeinen Erwartungshorizont, der die Reinkarnation eines außerordentlichen Menschen für nicht unmöglich hielt. Der Mythos, faßt man seine Varianten einfach zusammen, ist dieser: Geth und Nuth zeugen Osiris, übertragen ihm die Königsherrschaft über ganz Ägypten; mit seiner Schwestergattin Isis zeugt er Seth, der ihm nach dem Leben trachtet, eine Truhe maßschneidert, sie dem schenkt, der genau hineinpaßt, kein Wunder, daß es nur Osiris ist, der beim Probeliegen dann von Seth und seinen putschistischen Mannen liquidiert wird; der Sarg wird vernagelt, mit heißem Blei übergossen und in den Nil geworfen, treibt in einen Arm des Delta und wird bei Byblos angeschwemmt, wo aus ihm ein Gebüsch heraus- und herumwächst, was Astarte zur Säule für ihr trautes Heim verarbeiten läßt. Isis ist lange untröstlich auf der Suche nach Osiris Leiche, tritt dann als Amme bei Astarte in Dienst und verschwindet mit dem Sarg in die Wildnis, wo sie Osiris Leiche nach langer Klage Sperma entlockt und Horos zeugt, der als neuer König schließlich seinen Bruder Seth, den Mörder seines Vaters enthauptet und praktisch neuer Osiris wird.(27) Einerseits wird durch die Liebe der Pharaonenschwester zum Brudergatten und später zum Sohn deren Identität hergestellt und damit die Kontinuität der dynastischen Hierarchie in einem Reinkarnationsverfahren gesichert. Zum anderen spiegelt der Tod des Osiris das herbstliche Sterben der Vegetation und die Entlockung des Samens aus der Leiche das Wiederaufleben der Natur, darum Getreidekörner als Grabbeilage.(28)

    Die Fruchtbarkeit des Baal, des kanaanäischen Stier-Mensch-Gottes wurde kultdramatisch als Sterben und Auferstehen gefeiert. »Die Hauptereignisse dieses Mythos sind der Tod und die spätere Auferweckung dieses Gottes, auf die seine Einnahme des Thronsessels folgt als der, der die Herrschaft über Götter und Menschen ausübt... So wird der Rhythmus des Lebens durchgespielt, wie er sich Leuten darstellt, deren Leben abhängig ist von der jährlichen Erneuerung der Natur durch den Regen des Herbstes und das darauf folgende Wiedererwachen allen Wachstums nach seinem Hinsterben in der unfruchtbaren Glut des Sommers.«(29) »Im Fest wird das Wirken des Todesgottes erlebt, aber es stellt nur den Hintergrund dar für die Bekräftigung des Lebens durch die Auferstehung und Thronbesteigung Baals.« Der Mythos sagt so, »daß das Leben aus dem Tode heraus geboren wird.«(30)

    Der Menschensohn zeigt richtend seine unüberbietbare universale Potenz. Zum judäischen Königsritual gehörte neben Salbung am Bach, Eselsritt, der Thronbesteigung auch der öffentliche Zeugungsakt mit den Harems-Damen des Hauses, weil die politische Macht sich gewöhnlich als über Leichen gehende sexuelle Dominanz zu manifestieren sucht.(31) In der philistäischen Bedrohung »ist der Gesalbte gnädige Gabe Jahwes, von Jahwe selber seinem bedrängten Volk zur Hilfe gesandt.«(32)

    Das der Nathanweissagung 2. Sam 7 und auch Ps 2 und 110 zugrundeliegende ägyptische Königsprotokoll - Salomo heiratet 1 Kön 3 eine Pharaonentochter - bezeichnet den Pharao als Gott und zugleich Gottessohn, Ebenbild Gottes. »An der Tempelwand in Luxor ist zu sehen, wie der Gott Amon-Re bei der Königinmutter eingeht, bei ihr den König zu zeugen«.(33) Immerhin ist auch Jesu Mutter himmlisch befruchtet worden, zu Verwunderung Josephs. Der neue Pharao wird mit seinem Namen proklamiert: Goldfalke, Mittler zwischen Himmel und Erde. Im Ritual hängt von seiner Potenz »Heil und Fruchtbarkeit des Landes« ab.(34) Im babylonischen Neujahrsfest(35) hat der von Gott gewählte König in der »heiligen Hochzeit der Götter, welche die Fruchtbarkeit des neuen Jahres sicherte«, rituelle Funktionen. Er hat die Hände Marduks zu ergreifen, die Wohlfahrt des Landes hängt von seiner Potenz ab. Die Salbung wurde in Israel schon den Richtern, den charismatischen Militärführern zuteil. Der Lj]; ist von Gott ermächtigt und tabu.(36) Er soll Jahwes Volk Israel weiden undrj=¶ sein, wozu, wie die Terrortaten Davids belegen, die bestialische Kriegsführung gehört, in der man für 100 Philistervorhäute eine Frau kauft. Später ist der Messias letzter davidischer(37) Befreierkönig(38), nach dem Königsprotokoll von Gott adoptiert. Nach dem kanaanäisch-ägyptischen Mythologoumenon und der hellenistischen Variante einer heraklesmäßigen Gotteszeugung Jesu als symbolistischer Narration königlicher Gottessohnschaft fußt die Tauferzählung über den Johannes-Jünger und Nazoräer Jesus(39) genau wie die Verklärungsperikope auf der Messiastradition der Adoption, seine Salbung in Bethanien und sein Einzug per Maultier in Jerusalem gehören zum judäischen Königsritual des Lj];.(40)CRISTOS ist wie seine Vorgänger in Jerusalem und wie Pharao und Sumererkönig Gottes Sohn und Repräsentant der eschatologischen Zukunft als Heilshüter und Fruchtbarkeitsidol.(41)

    Das messianische Freudenmahl, welches der Menschensohn bei seiner parusiemäßigen Inthronisation halten wird, entspricht dem Festschmaus des lD" bei seiner Auferstehung, wenn auch ohne Genitalvereinigung. Seine Macht über Leben und Tod ist durch und durch phallisch. Der Messias ist der Repäsentant der phallischen Schöpfermacht Gottes. Man könnte überbietend mit der dem kleinen Hans eigenen Übertragungslogik pointieren: Der König ist der machtvolle und penetrante »Wiwimacher» Gottes, mit dem Gott seine Lust auf sein Volk verdeutlicht, eine eifersüchtige Lust, deren Begehren theologisch als Erwählung thematisiert wird.(42)

    Dabei wurde das sexuelle Moment der libidinösen Hingabe im Rahmen der Desakralisierung der Sexualität im Jahwismus immer stärker von analsadistischen Bemächtigungstendenzen überlagert. Das Phallische hat sich während der Flucht vor dem Eingang in die große Mutter zur Verweigerung sexueller Selbstpreisgabe im asketischen Geizverhalten persistenter Unberührbarkeit modifiziert. Die phallische Präsentation des Königs schlägt um in die Vorenthaltung des Phallus. Die alte Kirche hat mit dem munus regale diese phallische Lebensmacht des Königs in der Ämterlehre Christi bestätigt und noch Barth redet von Christus als dem abgeklärten »königlichen Menschen«.(43)

    2.4.3 Apokalyptische Leidensverarbeitung der Märtyrer

    Über Dan 7,6ff und das Königsprotokoll ist das Fruchtbarkeitsritual der ^Ier/' g1mo' in die Christologie des Gesalbten Eselsreiters eingedrungen.(44) Dabei kommt dem Danielbuch eine besondere Schaltstellenbedeutung zu: Unter Antiochus IV. Epiphanes (175-164 v.Chr.) noch vor dessen Tod verfaßt, spielt es auf das ugaritische Epos Aqhat (ca. 1500 v.Chr.) an, wo ein König Danel Hüter der Rechte von Witwen und Waisen ist.(45) Nicht nur die Hörner Baals, des Stieres, auch die Hörner der besiegten Tiere sind Phalli der Macht, Symbole der verfeindeten Großmächte.(46) Die vier zervanistisch inspirierten Reiche von Dan 2 und 7 sind Babylon, Medien, Persien(47) und das hellenistische Alexanderreich; danach soll die Gottesherrschaft abgehen.(48) Die Frage nach dem Sinn des Leidens und dem Getreusein bis in den Tod(49) unter Antiochus IV. wird in der apokalyptischen Wende zur Frage nach der Dauer des Leidens: Wie lange noch?(50) Die Apokalyptik des Danielbuchs adaptiert also sowohl prophetische Traditionen des AT vom Tag Jahwes und seinem Gericht als auch kanaanäische Baalstraditionen mit ihrem phallischen Auferstehungsverständnis als schließlich auch zervanistisch-iranisches Gut.

    Die Lehre Ben-Sira's von der immanenten Vergeltung für die Opfer der makkabäischen Befreiungskriege wurde für die Märtyrer immer weniger tragfähige Basis für ihre Bereitschaft, sich lieber töten zu lassen, als Gottes Gebot zu brechen. Daher entsteht aus der schreienden Frage nach der Bundestreue Jahwes zu denen, die um seinetwillen sterben gehen, in der frühen chassidischen Apokalyptik als neue Lösung des Theodizeeproblems die Lehre, der Märtyrer fahre direkt nach seiner Hinrichtung auf zu Gott.(51) Die Herkunft des Auferstehungsmotivs dieser Märtyrertheologie liegt in der iranischen Auferstehungsmythik via Theopomp und den Vegetationskulten.(52) Henoch sieht auf seiner Himmels- und Unterweltsreise viel griechisches und babylonisches Zeug.(53) Hier findet erstmals der orphisch-pythagoreische Gedanke der Trennung der Seele vom Leib after finishing und eines unterschiedlichen Schicksals der verstorbenen Seelen Aufnahme in jüdisches Denken. Im Hinnomtal werden die auferstandenen Bösewichte unter Beisein der auferstandenen, in Jerusalem zum ewigen Leben habilitierten Gerechten dann zur Verdammnis gerichtet.(54) Die Märtyrertheologie der Makkabäer berief sich in ihrer Auferstehung des Märtyrers als Rehabilitation und Belohnung für sein Leiden auf Henochs Entrückung und die Auferstehung Elias.

    Die jüdische Apokalyptik adaptierte mit der Erhöhung des Menschensohns den Baals-Mythos ebenso wie iranische, babylonische, ägyptische und hellenistische Mythen. Neben Auferstehung zum endlich Gerechtigkeit schaffenden Weltgericht Jes 26, Rm 2,6ff; 2 Kor 5,10 und äth Hen 22 gab es die Idee von Auferstehung als Lohn der Gerechten BarApk (syr) 30 und 4 Esra 7.(55) Chassidische Weisheitslehrer haben babylonische und persisch-griechische Himmelsreise-Motive reichhaltig aufgenommen.(56) Menippos hat als Phönizier (so Strabo) im judäischen Gadara des ausgehenden 4. Jh. v.Chr. satirische Unterwelt- und Himmelsreisen verfaßt, Lukian von Samosata adaptiert ihn.(57) Damit war ein breiter Boden für den hellenistischen Glauben an Seelenwanderung und himmlische Seelenheimat mit einem göttlich-unsterblichen Charakter vorbereitet. Erst im 1. Jh. v. Chr. wird die Vorstellung eines Fleischleibes in der Auferstehung generiert, die dem stoischen Denken und der Mênôk-Welt des Seelenlebens im Iran sehr fremd ist.(58) Der geistliche, verwesungsfreie Auferstehungsleib von 1 Kor 15,44-54 ist tatsächlich mehr iranisch gedacht als die Präparation der vermuffelten Gebeine zu Frankensteins Monstern aus Ez 37, die maulig-verzweifelt aus ihren Grüften quillen. Auch die Kombination von Gericht und Auferstehung ist iranisch und nicht vegetationskultisch.(59)

    Wenn Jesus selbst Apokalyptiker war, über Jerusalem weinte, weil es seine Propheten tötet, wenn er wußte, daß sein Weg auch leicht am Kreuz enden konnte wie schon so viele Messiasse und Aufrührer, könnte Jesus selbst auch an einen Märtyrer-Schnellaufstieg zu Gott in den Himmel geglaubt haben. Eindeutig aber haben die Jünger seinen Tod märtyrertheologisch interpretiert: Getreusein bis in den Tod. Sie haben es propagiert und so neue Märtyrer gezeugt, die in der Vernichtung das schnelle Eingehen in den Himmel sahen. Diese Märtyrertheologie ist der Grundstock aller Theologie des Kreuzes geworden. Sie ist das für Jahrtausende grundlegende religiöse Paradigma des Umganges mit Leben und Tod geworden: Sich opfern für Gott, um in den Himmel zu kommen.

    Unter dem Bann des Kreuzes bleibt Selbsthingabe immer selbstzerstörerisch. Es ist Vernichtung der Schöpfung, keine Teilhabe an neuer Schöpfung wie in den Besamungsspielen der Vegetationskulte, sofern diese nicht mit wirklichen Menschenopfern zelebrierten. Diese Kreuzesnachfolge steuert mit dem Idol des erstickenden Jesus im Sinne sich selbst erfüllender Prophezeiungen als unbewußtem Programm des Über-Ichs in schicksalhafte, weil der Autonomie des Ichs entzogene Selbstvernichtung. Die Lebensart Jesu war dagegen säufer- und fressermäßige Lust am Leben und der Gemeinschaft mit marginalisierten Menschen. Jesus war glücklich und lebenslustig. Er hat geliebt und für diese Liebe den Namen Gottes beansprucht. Er hat den Namen Gottes nicht für Hinrichtungen beansprucht, wohl aber für Gerechtigkeit. Dieses Paradigma Jesu ist eben nicht märtyrertheologisch zentriert und verankert. Es ist seine Verkündigung, und diese Verkündigung ist untergegangen im Kerygma einer auf Tod und Auferstehung fokussierten Gemeinde, der seine Verkündigung so gleichgültig war, daß sie sie erst Jahrzehnte später aufzuzeichnen begann und in ihrem Credo nicht die Spur von der Lebensart ihres vermeintlichen Herrn zu artikulieren imstande war. Dabei ist die Kirche sehr schnell von der Verfolgten zur Verfolgenden geworden und hat das Drama Christi zumindest in Punkt eins, der grausamen Hinrichtung des Kandidaten, an unzähligen Menschen wiederholt, die Jesus in seiner Art nicht ganz unähnlich waren. In der offiziellen Kirche gibt es keine Märtyrer mehr; sie ist opportunistisch und auf Selbsterhaltung und hohe Finanzrücklagen bedacht. Zur Ironie des Schicksals der religiösen Ideen gehört, daß gerade in einer vollauf saturierten Mega-Sekte ein Paradigma persistiert, welches das genaue Gegenteil bildet zu dem, was diese Sekte an Tathandlungen zeigt. Vom Getreusein bis zum Tode um Gottes Willen blieb nur noch treue Finanzbuchhaltung. Jesus hat seinen Samen sicher nicht heilighochzeitmäßig zur gesamtwirtschaftlichen Ertragssteigerung gespendet. Wenn er liebte, liebte er ganz bestimmte Menschen. Möglich, daß diese Liebe in den Schülern und Freunden saatmäßig aufging und ihre Ostervisionen die Antwort ihres Unbewußten auf seine Liebe zu ihnen war.

    2.4.4 Trauer- und Berufungsvisionen des entzogenen Herrn

    In die Geschichte des historischen Jesus ist nach seiner Hinrichtung als Aufrührer zum Protest gegen dieses Unrecht die Vision der Auferstehung als Beginn der Kirche eingetragen worden. Die Ostervisionen als Berufungsvisionen der Apostel sehen in Jesus den messianischen Märtyrer, der drei Tage nach seinem Tod als Menschensohn erhöht wird.(60) Das heißt zum einen, »daß die Historie die Faktizität der Auferstehung nicht feststellen kann.«(61) Das heißt zum anderen, daß es sich bei der Auferstehung um einen Sonderfall prophetischer Revelationserfahrung als Wortergehen aus den halluzinatorischen Tiefen des Unbewußten, um eine visionäre Widerfahrnis mit unabsehbaren Folgen für den Visionär handelte.(62)

    2.4.4.1 Christologie als sprachliche Erhöhung Jesu zum Christus

    Weil aber Hingerichtete nicht mehr anders lebendig zu machen sind als durch das Gerücht, wurden Gerüchte gegen den Tod in Umlauf gesetzt. Das Gerücht hat Jesus nachträglich einen Namen eingetragen, der über allen Namen ist.(63) Das ist die einzige Möglichkeit geblieben, einen Menschen lebendig zu machen, den der diktatorische Staat ermorden ließ, die Hure Babylon mit Sitz in Rom und einem kollaborativen Synhedrium. Das Gerücht, auch Kerygma genannt, ist die Basis der Kirche geworden.(64) Daß über ihn geredet wird, er in aller Mund ist, macht und hält ihn lebendiger als je zuvor. Durch die Sprüche über ein neues Leben hat für Jesus ein neues Leben begonnen: als Gegenstand eines Bekennertums, Märtyrertums und einer beispiellosen Verehrerschaar, vor der der historische Jesus eher in die Berge geflohen ist. Seine Leidensgeschichte als Objekt religiöser Verehrung ist zur Dauer geworden.(65) Diese Gerüchte, erzählt mit den Stilmitteln von Dan 7,13 und Jes 53 (66) und vielen anderen Motiven der Tradition, werden zum Protest gegen den Tod - und in der Apokalypse zugleich auch zum Protest gegen eine Staatsmacht, die auf solche Weise solche Menschen zerstört. Dieser Protest artikuliert sich Phil 2,6ff im Kenosis-Mythos der Gnosis, um die Größe Jesu zum Ausdruck zu bringen.

    Die Metonymie der Geschichte des historischen Jesus zur Geschichte des Messias, schließlich des Menschensohnes, endlich zu der des gnostischen Erlösers lebt von Steigerungen der Grandiosität Jesu.(67) Es ist eine Apotheose in Stufen: »Der Kyrios der paulinischen Theologie, der Schöpfungsmittler der nachpaulinischen Zeit, der Schöpfer des Johannesevangeliums, aber selbst der Menschensohn-Weltenrichter ältester Apokalyptik trägt personale Züge, ist jedoch als Person gerade noch nicht adäquat erfaßt, wie denn auch die Trennung von Person und Werk in der Christologie das neutestamentlich Verbundene auseinanderreißt... Die unmittelbar nachösterliche Gemeinde, die im Neuen Testament spricht, hat die Christologie nur im Rahmen der Soteriologie entfaltet, auch wenn ihre doxologischen Aussagen später anders und weitergehend interpretiert werden.«(68) Die Bedingung der Auferstehung Jesu ist, daß es Menschen gibt, die ohne Befingern von Wunden an ihn glauben. In ihren Imaginationen lebt er wieder auf, wenn auch zunächst fast nur im Klischee der mythischen Deutungsfolien und einer Fülle von selbständigen Wundergeschichten, Gleichnissen, Apophtegmata, Streitgesprächen, die erst nachträglich novellistisch amalgamiert wurden.(69) Daß und welche Stellen des AT als Folien zur Deutung des Geschicks Jesu adaptiert wurden, hängt zutiefst mit dem zusammen, was Jesus getan und gelitten hat. Wenn er Lamm Gottes genannt wird auf der Folie des Sühnopfers, durch dessen Tod Gott wieder netter wird, wird mit schlechten Mitteln der at.-lichen Opferideologie und -praxis der Gedanke der Vergebung Gottes, die der lebendige Jesus für seine Tischgemeinschaft mit den Sündern in Anspruch nahm(70), auf seinen Tod bezogen, weil der Gedanke, daß der liebende Gott in seinen Kindern verwundbar und sterblich ist, für die Allmachtsphantasien der Glaubenden unerträglich anfechtend ist. Das 5f1pax steht dafür, daß nach Jesus kein Mensch mehr dem anderen die Liebe Gottes und damit seine Menschenwürde absprechen darf. In die Geschichte des historischen Jesus ist die Narration vom Messias, vom Menschensohn, vom gnostischen Erlöser eingeschrieben worden. Damit ist Jesus vom gekreuzigten Menschen zum erhöhten Gott verwandelt worden. Diese Verwandlung Jesu in den Christus ist eine im und mithilfe des Mythos. In diesem Mythos konstituiert sich der Glaube.(71)

    Im Erzählen der sagenhaften Mischung von Historie und mythischem Zucker, der von hellenistischen und kanaanäischen Vorlagen gespeisten Auferstehungsvisionen realisiert sich eine spezifische 'Leiblichkeit', in die hinein Jesus zu neuem Leben erweckt wurde: die sich als Leib Christi begreifende Gemeinschaft der Heiligen, die mehr ist als abstraktes »eschatologisches Ereignis», die neben Feiglingen und Folterern auch aus Menschen bestanden hat(72), die, motiviert durch die Geschichte des leibhaften Jesus, so skandalös gelebt haben, daß sie hingerichtet wurden.(73) Jesus ist nicht so ins Kerygma auferstanden, als hätte es vor seinem Tod keines gegeben: Seine Jünger haben seine Aktivitäten und Sprüche sinngemäß tradiert und fortgeschrieben, darin liegt Kontinuität in der Diskontinuität des Todes.(74) Dieser narrativen Tradition korrespondiert die lebenspraktische Kontinuität, Thema des lukanischen Werkes: Die Taten der Apostel entsprechen den Taten Jesu.(75) In ihrem Tun steht das Wort Jesu auf zu neuem Leben: indem sich die Praxisfiguren Jesu auf die Jünger und Apostel und den Rest der Welt übertragen und sie menschlicher machen.

    2.4.4.2 Was geschah wirklich an Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten?

    »Es muß also etwas eingetreten sein, was binnen kurzem nicht nur einen völligen Umschlag ihrer (der Jünger; M.L.) Stimmung hervorrief, sondern sie auch zu neuer Aktivität und zur Gründung der Gemeinde befähigte. Dieses 'Etwas' ist der historische Kern des Auferstehungsglaubens.«(76)

    Himmelfahrt, Damaskusvision des Paulus, Pfingsten und die Parusie zum endzeitlichen Weltgericht sind nur Varianten der Ostererscheinungen.(77) Sie divergieren ebenso wie die in sich keineswegs stimmige und in dieser sich gegenseitig logisch ausschließenden Unstimmigkeit kanonisch belassene Vielfalt der Auferstehungslegenden in den Evangelien.(78) In der mythischen Semantik der Spätantike ruhte darin und im 'Sitzen zur Rechten Gottes'(79) die Aussage: Gott setzt Jesus ins Recht, rehabilitiert ihn vor aller Welt.(80) Auch Phil 2,6-11 besingt die Thronvision, in der Christus - man denke an 1 Thess 1,9f; Rm 10,9; Hebr 1 und den Adoptianismus aus Ps 2,7; 110,1 - der fürsprechende Weltenrichter ist: »Nicht als Rückkehr Jesu nach seinem Kreuzestode in sein irdisches Leben, sondern als seine Erhebung in die himmlische Machtstellung des bevollmächtigten 'Sohnes' Gottes ist seine Auferweckung ursprünglich aufgefaßt worden!... Jesu Auferweckung und seine Himmelfahrt, das fiel nach der ältesten Christologie in eins zusammen. Für sie war Jesu Auferweckung als solche eine Erhebung in den Himmel zu Gottes rechter Hand.«(81) Vorlage dieser Entrückung gen Himmel war die des Elia 2 Kön 2,11.(82)

    2.4.4.3 Vision als auszeichnendes pneumatisches Charisma

    Die Osterberichte der Evangelien gehen von einer leibhaftigen Auferstehung Jesu aus, die das damaskische %7raka des Paulus von 1 Kor 9,1, in den Acta 9,3 parr. als Licht vom Himmel beschrieben und Gal 1,16 als Offenbarung des Sohnes Gottes gedeutet, und das 'fjh Khf¬, e{ta to@' d+deka von 1 Kor 15,5 durch das leere Grab untermauern wollen. Das früheste Auferstehungszeugnis spricht lediglich von Gesehenwerden, was angesichts der Tatsache, daß Jesus nicht den Rest seines Lebens leiblich bei seinen Jüngern &w' t?' syntele[a' to« a]*no' (Mt 28,20) geblieben ist, wohl unschwer als Vision begriffen werden kann.(83) Die pneumatische Leibform von 1 Kor 15,44 nimmt das iranische Mênôk und den Dualismus von Geistwelt und Körperwelt wieder auf.

    Die Erscheinungen Jesu haben eine Sonderstellung innerhalb der pneumatischen Erfahrungen, zu denen sie Paulus durch die Konnotation mit den Charismen von 1 Kor 12, der Liebe von 1 Kor 13 und dem glossolalischen Geistbesitz von Korr 14 zuordnet. Die Bandbreite visionärer Revelationen im urchristlichen Prophetismus reichte vom Traumgesicht über Wachvisionen im Ruhezustand bis zur ekstatischen Vision.(84) Darin haben sie sich die Fülle der theophanen Gestaltungen der alttestamentlichen Prophetie produktiv angeeignet.(85) Die Johannesapokalypse ist voll von Visionen, auch der des Menschensohnes 14,14. Die Vermutungen Mk 6,14-16 über Jesus als auferstandenen Täuferjohannes oder gar als Elia zeigen ebenso wie die makkabäische Märtyrertheologie, in welchem Umfang unter den vom politischen System Verfolgten die Vorstellung von Auferweckung des Märtyrers und Heimholung in den Himmel einen virulenten, ja schwelenden Erwartungshorizont bildeten(86), demgegenüber das Erleben von Visionen als halluzinatorische Traditionsverarbeitung in der gemeindlichen Wertezumessung dem Visionär den exklusiven Status einer besonderen Nähe zu Gott zuerkannte: er besaß Gottes Geist als Gabe, verfügbare Fähigkeit des visionären Sehens.(87) Wie bei der Glossolalie war beides vorhanden: Zugang zu ekstatischer Erfahrung und die anschließende Integration der hierophanen Exzentrizität in den Sprachzusammenhang der gemeindlichen Vorstellungskomplexe. Der Geistbesitz der religiösen Extase war unmittelbares Qualitätssiegel des prophetischen Mittlers, Ausweis seiner Authentizität.

    »Es scheint also nicht so gewesen zu sein, daß Christus immer wieder und von vielen Christen gesehen wurde, sondern nur von dem kleinen Kreis der apostolischen Zeugen, und daß auch diese Zeugen nicht ihr ganzes Leben hindurch immer wieder Christus gesehen haben. Paulus hat ihn nur einmal gesehen, vor Damaskus. Er hat später noch eine Fülle von Gesichten und Offenbarungen gehabt... Aber den erhöhten Herrn von Angesicht zu Angesicht sah er nur in der Stunde seiner Bekehrung. Sehnsüchtig wartet er auf die zweite, die eschatologische Offenbarung des Herrn, wo es wiederum zu einem Schauen von Angesicht zu Angesicht kommen wird (vgl. 1 Kor 13,12)... In der späteren Überlieferung verwischt sich diese klare, durch den Inhalt 'Christus' bedingte Unterscheidung der Auferstehungsvisionen von anderen visionären Erlebnissen, weil man nun die Ostererscheinungen als real leibhaftiges Gegenwärtigwerden des Auferstandenen inmitten der Jünger verstand.«(88)

    2.4.4.4 Generative Faktoren österlich-visionärer Revelationsarbeit

    Die Unterscheidung von subjektiver Vision und objektiver ist falsch, psychologisch unhaltbar, weil das angeblich 'Psychogene' der subjektiven Visionshypothese allemale durch Gesellschaft, hier präziser: durch Jesus, vermittelt ist.(89) Auch der Charakter der Vision als Widerfahrnis ist kein Zeichen von Objektivität; ebenso widerfährt der Trieb oder der Zwang des Symptoms dem Patienten, obgleich er der Logik und Sprache des Unbewußten entstammt. Beidemale wird das Erleben als ichfremdes, dystones, eigenmächtiges Handeln außerhalb der eigenen Subjektivität erfahren. Es ist aber intra nos.

    2.4.4.4.1 Spätantike Wundergläubigkeit in den Evangelien

    »Erst die Evangelien haben die Dämonisierung der Welt auf die Bahn gebracht. Auch der Hellenismus denkt zu dieser Zeit längst nicht mehr mythologisch.«(90) »Um wirklich des Bewußtseins leben zu können, in Sachen Wunder einzig dazustehen, mußte das Urchristentum neue Wundergeschichten erzählen, alte steigern, konkurrierende Erzählungen übertrumpfen.« (91) Das Eskalieren der Grandiosität der Wundergeschichten in den Evangelien verdankt sich also keinen jüdischen oder hellenistischen Vorlagen, sondern einem epochalen Geist der Spätantike, in der Wunderheiler und Gottesmänner wie Pilze aus dem Boden schießen. Zwar liegt die Auferstehungstradition im mythischen Material bereit; sie aber dermaßen insistent und kernig auf die postmortale Vision Jesu zu bemühen, ist auch für die Antike recht singulär. Die Freude am Irrationalen kommt also der Visionsbereitschaft der Jünger und Frauen zugut.(92)

    2.4.4.4.2 Re-Inkarnation berühmter Toter in außergewöhnlichen Leuten

    Der Geist und die Kraft eines berühmten Verstorbenen können in einem berühmten Gegenwärtigen wirken.(93) Das leibhaftige, inkarnierte Wiederkommen von Elia oder Zarathustra wurde im Metempsychosis-Denken der Antike seit den Zoroastriern und Pythagoreern behauptet.(94) Christus kann Re-Inkarnation des Urmenschen sein, neuer Adam, neuer Mose.(95) Die Vorstellung ist nicht, Gott verleihe einem besonderen Menschen seinen Geist oder den eines großen Propheten als Inspiration, sondern, »daß in einer Person eine andere wirken kann, die sie ausmacht und die ihr Wesen ist... Vielmehr wird eher ein geschichtsimmanentes Wandern der Elia- oder Täufer- und Jesus-Substanz angenommen. Ihre Kraft und ihr Geist treten einfach erneut auf, kommen wieder.«(96) Der hellenistisch-indische Glaube an Seelenwanderung als Wiederkehr der personalen Substanz eines Menschen in einem späteren - eine gleichzeitige Inkorporation wird nicht berichtet - Lebewesen ist der Vorstellungsrahmen, in dem der Auferstehungsglaube als Annahme einer Wiederverkörperung des Gestorbenen oder seiner personalen Attribute (Geist, Kraft) den wünschenswerten Nährboden finden konnte. Dabei wird das Selbst nicht individualistisch gedacht wie im neuzeitlichen Person- und Subjektbegriff.(97) Es hat durchlässige Grenzen. Gottes Kraft durchzieht das Ich präfigurativ.

    Auch Paulus behauptet, mit der Bekehrung von Damaskus sei die Kraft-Substanz Jesu Christi in seine Identität eingedrungen und lebe in ihm.(98) Dies markiert allerdings eher einen Bruch der Identität, eine Beschädigung: Weltverlust und geistige Enteignung.(99) Gerade Paulus benutzt die Vorstellung von einer anderen Person im eigenen Leib nur noch metaphorisch.(100) Zumindest ist der Christus in Paulus wenig überzeugend. Die Substanzmerkmale scheinen auf bloße Leidensgemeinschaft mit Anwartschaft auf Auferstehungsgemeinschaft zusammenzuschrumpfen. Vom Gestus der Bergpredigt Jesu bleibt beim Apostel nichts übrig und die Not der eigenen Unbeliebtheit und Gebrechlichkeit wird zur Tugend einer Solidarität der Leiden mit dem Gekreuzigten stipuliert.(101)

    2.4.4.4.3 Apokalyptische Naherwartung als Orientierungsraster des Es

    Individuelle und traditionelle Momente sind in der subjektiven Erfahrung immer schon verwoben, die Folie des apokalyptischen Auferstehungsglaubens als gesellschaftlich-religiöse Objektivität ist als Reservoir der Symbole, Imaginationen, Motivkomplexe und Konjunktionen von Vorstellungen immer schon der subjektiven Erfahrung so vorgeordnet, daß sie als Formen der Anschauung die visionäre Wahrnehmung inhaltlich und formal konditionieren und strukturieren.(102)

    Alles Psychogene ist vom Anspruch oder Stigma des generalisierten, verinnerlichten Anderen her profiliert bis ins Allerintimste. Das Psychogene verdankt sich immer einem extra nos, der vorgängigen Sprache (de Saussure; Lacan) und dem vorgängigen Übertragungszusammenhang von Praxisfiguren: der umfassenden Herstellung von Praxis im besonderen Produktionsbereich der Sozialisation (Lorenzer), zu der auch die religiöse gehört, wie der zwölfjährige Jesus im Tempel zeigt.

    Insofern ist der apokalyptische Erwartungshorizont für die Möglichkeit, visionäre Imaginationen als Erscheinung eines auferstandenen Toten zu bestimmen, konstitutiv. Ohne den Glauben, es sei prinzipiell möglich, daß Tote auferstehen können, hätte Jesus noch so leibhaftig den Jüngern begegnen können, er wäre nicht als Erhöhter, sondern bestenfalls als Gespenst ohne Namen identifizierbar gewesen. Die Sprache muß zumindest auf die Möglichkeit des Außergewöhnlichsten, des schier Unmöglichen vorbereitet haben, um es als ein solches erfassen zu können.(103) In eben diesem Sinne ist das prinzipielle Für-Möglich-Halten einer Totenauferweckung die Grundlage, um die visionäre Widerfahrnis als Sehen eines Hingerichteten bezeichnen zu können.

    Nicht nur die nachträgliche theologische Interpretation der Glossolalie und auch visionären Erfahrung als Grenzleistung der Offenbarung des Unbewußten ist zeitgeschichtlich bedingt; schon das Zustandekommen der visionären Bilder ist gespeist von einem extra nos gesellschaftlich vorgängiger Realitätskontakte. Die Annahme der Apokalyptik, die basile@a to« jeo« sei zu erkennen an pneumatischen Zeichen wie Glossolalie oder Visionserfahrungen und Heilungswundern, prädisponierte das Klima des religiösen Unbewußten hochgradig für enthusiastische 5kst1si'.

    Pneumatische Charismen offenbarten den Anbruch des verheißenen Eschaton. So war für pneumatische Erfahrungen aller Art eine positive Vorfreude vorhanden: Wer von dieser Art Widerfahrnissen angegangen wurde, stand im Windzug Gottes, war selbst beseelt vom hwh? L r, vom pne«ma jeo«. Es gab eine unterschwellige Sehnsucht nach Visionen, nach prophetischem Offenbarungsempfang, nach Zeichen der Wirklichkeit Gottes. Sonst hätte die Erstvision des Petrus keine Massenvision von über 500 Brüdern auf einmal ausgelöst.(104)

    So hatte das pne«ma als mächtiges Unbewußtes sogar die gesellschaftliche Legitimation, sich überfallartig (Jer 20) in Revelationsgeschehnissen auszuspuken. »Hat der neutestamentliche pne«ma-Begriff eine Wurzel in der religiösen Vorstellung der Inspirationsmantik(105), so ist diese Wurzel in Verbindung mit der frühchristlichen Apokalyptik in Verbindung mit dem AT zu sehen. Die Glossolalie in Korinth (1. Korinther 12-14) bedeutet ebenso wie die Predigt des Petrus in der Pfingstgeschichte eine Erfahrung des göttlichen Geistes... Diese Gegenwart des göttlichen Geistes wird als Interpretation der Erscheinungen angesichts der erfahrenen Wirklichkeit der leidenden Gemeinde bezeugt.«(106) Damit war Gotteserfahrung für die Urgemeinde immer eine leibliche, keine 'rein geistige'. Präziser: Geist selbst ist leibliche Erfahrung trotz aller Fleischfeindschaft.

    2.4.4.4.4 Jesus als Grund des Osterglaubens

    Ein zentraler vorgängiger Realitätskontakt war für die visionären Jünger die Begegnung mit dem lebendigen Jesus und die Zeit der gemeinsamen Wanderjahre. Wenn sie in ihrer Vision eben nicht traditionsgemäß Elia als die Identität der begegnenden Person ausgemacht hatten, sondern gerade Jesus, so war der historische Jesus in allen seinen Facetten das »Material«, was die visionäre Revelations-Arbeit in der von der Traumarbeit her bekannten Weise verfremdete, entstellte, verdichtete und verschob. Die Vision Jesu adaptierte die Zeit, in der er noch lebte, als sie den Verkündiger der Vergebung zum Verkündigten machte; sie verleugnet aber nicht die Kreuzigung, weil sie ihn als Gekreuzigten wiedererkannte. So sind die Zeit des Lebens und die Zeit des Todes zusammengeflossen zu einem neuen Bild: der Tod wird nicht verdrängt, sondern per Vision aufgenommen und bestritten durch die Bilder der Erhöhung des Verfluchten zur richtenden Rechten Gottes. »Der Herr des Glaubens ist ein von der Welt verfolgter Herr. Man erkennt ihn daran, daß er mit seinem Wort eins war und gegen allen Widerspruch eins blieb... Der Weg der basile@a ist der Weg jener Gerechtigkeit, die vor den Toren Jerusalems enden und zum Kreuz führen mußte... Denn die basile@a tut das Ihre mit Notwendigkeit selbst... Die basile@a ist entweder mitten unter euch oder sie ist gar nicht da«.(107) Der Glaube an Jesus hat sich mit dem Glauben Jesu identifiziert mittels der Revelations-Arbeit der Metonymie des Verkündigers zum Verkündigten. Was vormals Jesus tat, das tun, aus der Bevollmächtigung eben der österlichen Revelationserfahrungen, nun die Jünger, zu Aposteln geworden, in seinem Namen. Sie sind an seine Stelle getreten, verkündigen seine Verkündigung von dem Gott der Güte und treiben Dämonen des Hasses aus. In den Ostervisionen ist für die Urgemeinde das neue Sein angebrochen, von dem mit der Lektüre des AT Jesus sprach und seine unmittelbare Nähe zum Grund einer neuen Liebesethik nahm. Die Preisgabe des Besitzes (Apg 4,32ff) in eschatologischer Freude (Apg 2,46f) über die von Gott geschenkte Zeit und Gabe des Lebens wird wie ein Hochzeitsmahl (Mt 8,11) gefeiert.(108) Die Gemeinde ist der neue Leib Christi.

    2.4.4.4.5 Narzißtische Selbstwertregulation der trauernden Jünger

    Für das Zustandekommen der Ostererscheinungen gibt es neben den traditionsgeschichtlichen Faktoren der apokalyptischen Endzeiterwartung mit der Hoffnung einer Auferstehung der Toten zum Gericht oder einer Auferstehung der Gerechten aus dem Tod nach dem Gericht auch noch sehr subjektive Faktoren des narzißtischen Libidoregulationsprozesses.

    Die Gemeinde ist der neue Leib Christi: Sie hat sich über die Osterereignisse mit dem gekreuzigten und so unwiderruflich entzogenen Hoffnungsträger identifiziert. Hätten sich die Jünger nicht schon vor der Hinrichtung Jesu mit dem Meister identifiziert, wäre ihnen über den Tod hinaus keine Identifizierung möglich gewesen: Was man nicht verinnerlicht hat, mit dem kann man sich logischerweise nicht identifizieren. Die vorösterliche Nachfolge ist Basis der österlichen Projektion des Verinnerlichten und der nachösterlichen Nachfolge.

    Der psychoanalytische Grund der Ostererscheinungen als halluzinatorischer Regression des Wahrnehmungsbewußtseins von der Realitätsoberfläche und Realitätsprüfung zur Erinnerungsspur des entzogenen Befriedigungserlebnisses der Gegenwart Jesu liegt in der Trauer: Diese Entzogenheit will man, will das Unbewußte nicht wahrhaben und ertragen müssen.(109) Das Lustprinzip leitet deshalb die Wahrnehmung zu den engrammierten Szenen eines befriedigenden status integritatis zurück, in denen die Welt noch in Ordnung war: da, wo alles anfing, in der Situation der Berufung zur Nachfolge, die als vergangenes Erlebnis mit Jesus immerhin so eindrucksvoll und hoffnungsträchtig war, daß die Jünger in der Tat sich entschieden haben, dafür alles aufs Spiel zu setzen. Die Faszination, die von der Vollmacht Jesu in der Berufung in die Nachfolge ausging, strahlt in den vom Lustprinzip der Trauer geleiteten Wahrnehmungsregressionen auf früheres Lusterleben, in den Ostervisionen erneut auf. Lust meint hier: Befreiung aus Familienverstrickungen.(110)

    Die Schuld des Petrus, Jesus verleugnet zu haben, prädisponierte ihn geradezu für Heimsuchungen aller Art. Er hatte etwas wiedergutzumachen. Die Ambivalenz von Liebe zum Meister und neidischem, vatermörderischem Haß auf den Führer der Bewegung führte mehr noch als eine von Haß ungetrübte einfache Liebe zu einer außergewöhnlichen Arbeit des Unbewußten im Regreß zur Halluzination des entzogenen Objektes. Die Identifikation mit dem Aggressor war ein ungleich stärker wirkender Faktor des Unbewußten, sowohl als Triebfeder der Inkorporation des Meisters als auch der Projektion der introjizierten Engramme des Meisters in revelatorischer Halluzination. Die Identifikation mit dem geliebt-gehaßten Meister geht eben bezeichnenderweise präzise auf die Selbsternennung zu seinem Nachfolger durch entsprechende Berufungslogien, die das Unbewußte freisetzt. Joh 21,17 wird Petrus traurig, gefragt nach Liebe zu Jesus.

    Auch für Paulus war nicht die Liebe zum Herrn, sondern Haß und Schuld die Basis eines inneren Rumors, der den psychotischen Ausbruch der Reue in die Vision außerordentlicher Bevorzugung durch den Verfolgten motivierte. Die psychotische Schuldverarbeitung der Auferstehungsvisionen versucht, die Nähe zu dem Hingerichteten wieder aufzurichten. Die zerstörte innerliche Liebe erwacht zu neuem Leben. »Ist die Ersterscheinung als Widerfahrnis zu verstehen, so kann diese natürlich im Jüngerkreis andere hervorgerufen haben, die von dieser Ersterscheinung her zu verstehen wären.«(111)

    Die Berufungsvisionen der Jünger waren strukturiert als eine Trauerarbeit: nach der vorösterlichen Verinnerlichung der äußeren Imago Jesu zu einer libidinös besetzten, verehrten Repräsentanz eines guten inneren Objekts(112) wurde der in Wort und Tat innerlich präsente Jesus, gerade weil er als Hingerichteter kein äußerlich beziehungsfähiger mehr war, in Gestalt der halluzinatorischen Regression an das Wahrnehmungsende des psychischen Apparats(113) aus dem Status des guten inneren Objekts versuchsweise in den Status einer äußerlichen, realen Wahrnehmung zurückprojiziert. Damit fand der Wunsch Gestalt, der zu Unrecht Hingerichtete möge leben und seine Jünger nicht verlassen(114): Ich lebe und ihr sollt auch leben.(Joh 14,19) Genau dies sagt der halluzinierte Christus der Auferstehungsvisionen im Missionsbefehl: Ich bleibe bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt (Mt 28,20).(115)

    2.4.5 Trost durch Inkorporation des gekreuzigten Gottes

    Nach dem Schock der Hinrichtung fliehen die Jünger nach Galiläa. Dies kann man als hilflose Regressionsphase deuten.(116) Sie hatten Angst um ihr Leben und Jesus verloren.

    Einen rituellen Versuch, die Trauer zu kontrollieren, stellt das Abendmahl dar, was wie Beerdigungen die drei Momente von Realisierung des Todes, Erinnerung an das Leben des Toten und im Leichenschmaus den ersten Schritt zu einem neuen sozialen Leben in der Tischgemeinschaft der Hinterbliebenen beinhaltet: Leben und Tod Jesu werden erinnert und realisiert, während das Essen des Toten, vergleichbar mit Totemmahlzeit als neues Passahmahl zugleich das - für Freud melancholische - Moment der Inkorporation des geliebten Meisters(117) und das manische Moment der Euphorie eschatologischer Freudenmahlzeiten im Stile und so in der Erinnerung und Mimesis Jesu enthält, die sowohl an die babymäßige Einsaugung des mütterlichen Nippels als auch an den Exzeß der kannibalistischen Totemtierzerfleischung (Robertson Smith) denken läßt.

    Das Heiligkeitsgesetz Lev 17-26 und das redaktionell davorgesetzte Ritual des Versöhnungstages sind innerviert durch die Trennung von Fleisch und Blut durchs Schächten. Das Blut als Seele des Opfertieres wird von Jahwe für sich eingefordert; der Lebenssaft soll ringsum an und auf den Altar gesprengt werden.(118) Alternativ wird das Blut auf den Boden gegossen, am Altar, oder auf der Jagd auch direkt auf den Boden, wobei es schändlich ist, das Blut nicht mit Erde zu bedecken, vergleichbar mit Verfaulen der Kriegsleichen auf offenem Feld.(119) Das Trinken des Blutes, auf dem Todesstrafe stand, war die Aufnahme des Lebens, der Seele des verstorbenen Tieres. Fremdlinge scheinen mit Bluttrunk geopfert zu haben, was ihnen in Israel verboten wurde.(120) Gefangene, besonders fürstliche, wurden ebenfalls in rauschhafter Siegesfeier so geopfert, daß ihr Blut in die Erde eindrang.(121)

    Wenn nun der Hausvater Jesus in Gethsemane die Tischrede, die Passah-Haggâdhâ in selbstrückbezüglicher Modifikation hält und benedizierend statt der Erinnerung an den Exodus die Symbolik der Speisen auf sich und sein eigenes zerbrechendes Fleisch und Blut(122) deutet, redet er von sich als Opfer. Falls er dies ipsissime gesagt hat, hat er sich im märtyrermäßigen Wissen um die drohende Verhaftung als der verstanden, der die politische Verantwortung für die Unruhen übernimmt, die seine Bewegung in Jerusalem ausgelöst hat, und der zwecks Verhinderung der Verhaftung und Peinigung der gesamten Jüngerschar als Führer der Bewegung die Unterweltdämonen(123) Roms von einer weiteren Verfolgung seiner Schutzbefohlenen abhalten kann, indem das Haupt exemplarisch für die Glieder bestraft wird. Eine solche Motivation und damit sogar eine sinngemäße Applikation von Jes 53,12 ist nicht unwahrscheinlich für einen - freilich im Dunkeln liegenden - historischen Kern der Einsetzung des Abendmahls.(124) Erst später kann das stellvertretende Sich-Opfern ausgeweitet worden sein auf die Völkerwelt.(125)

    Eine traditionsgeschichtliche Linie führt vom Tammuz-Kult zum Ritus des großen Versöhnungstages (Jom Kippur) mit dem Wegtreiben des Sündenbockes in die Wüste. Von dort aus sind die Gottesknechtslieder Dtjes's inspiriert und damit Jesus und die frühchristliche Sühnopfertheologie.(126) In allen diesen Stationen findet ein doppelter Ersatz statt: der König für die Vielen, ein Stier für den König.(127) Das Bekennen der Sünden über dem Sündenbock ist das Übertragen der Sünden auf sein Haupt. Von daher ist das der kirchlichen Eucharistie vorangestellte Sündenbekenntnis zu begreifen als eine geschickte Form, sich der faktischen Vergehen auf lockere Weise zu entledigen. Das Sündenbock-Vertreiben wird rituell gerahmt von je zwei Stieropfern zu Beginn und Widderopfern zum Schluß: der erste für den Hohenpriester, der zweite fürs Volk. Das Aaron zugeschriebene Amt des Hohepriesters als Mittlers der Sühnung ist im Exil vom Priestertum des babylonischen Königs abgeguckt worden: ihm haften alle Würden und Privilegien des sakralen Königtums an.(128) Die Opferungen haben Hinrichtungscharakter nach gerichtlicher Verurteilung; Sühne und Entsühnung werden per Todesurteil vollstreckt. Der Hohepriester ist Richter - wie die über Jesus. Wenn Jesus schließlich in diese Funktion eingeschrieben wird im Gleiten der urchristlichen Signifikanten übers verlorene Objekt, lebt die Tammuz-Opfersubstitution 'Priesterkönig fürs Volk dahingegeben' wieder auf: der Richter selbst wird zum Gehenkten und sühnt für Volkes Sünde. So lebt in der Hohepriester-Christologie des Hebräerbriefs Tammuz als sakraler Jahreskönig fort.

    Enlils Suchtrupp in die Unterwelt Ereschkigals im Tammuzmythos nimmt das Brot des Lebens und das Wasser des Lebens mit ins Reich des Todes.(129) Genau diesen Terminus nimmt Joh 6 wieder auf, bezogen auf Jesus, den Niederfahrer zur Hölle/Erde. Die gnostische Interpretation des Geschicks Jesu adaptierte also die Mythen des Ostens, Tammuz und die iranischen Erlösermythen, um die Sinnlosigkeit des Todes Jesu mit Sinn zu belegen. Die Liquidierung revolutionärer Führer oder auch gemäßigter Oppositioneller ist natürlich aus dem Blickwinkel der Machthaber immer eine sinnvolle Grunderfordernis für die Stabilisierung dessen, was sie Demokratie, Gemeinwohl oder pax romana nennen. Der Sitz im Leben von offiziellen Tötungszeremonien ist damals das Opfer gewesen und die Assoziation von Töten und Verspeisen lag nahe. Das Opfer wird legitimiert durch seine dreifache Funktion: Es vertritt den Sünder vor Gott. Es gibt dem Sünder Nahrung und verschafft ihm lukullische Wollust. Es ist der Höhepunkt eines Festes, in dem seine Tötung und sein gemeinsamer Verzehr Geselligkeit stiften, einen minimalen sozialen Zusammenhalt durch das Essen, Trinken, Genießen. Es stiftet Verbindung, sodaß mit genug Alkohol von einem Neuen Bund schnell die Rede ist.

    Das Essen des selben Fleisches macht die Gäste und Mahlgenossen einander ähnlicher: Sie partizipieren am selben Leben, welches sie gemeinsam ausgelöscht haben. Sie sind verschworen durch die gemeinsame Schuld an der Auslöschung eines Lebewesens, sie sind Mordkomplizen, auch wenn sie dies noch so gut moralisch zurechtzubiegen verstehen. Diese Mordkomplizenschaft der freudschen Brüderhorde beim Urvatermord und allen weiteren Morden ist eine besonders innige Verbindung. Es ist ein rauschhaftes Gefühl, ein lebendes Wesen, ob Mensch oder Tier, so zu mißhandeln, daß es stirbt. Es ist berauschend, zu töten. Man ist Herr über Leben und Tod, schwelgt in der Macht Gottes. Viele neuzeitliche Berufskiller haben dieses Gefühl bei ihrer Dressur im Geheimdienst verloren; der eiserne Gustav Sorge von Dachau(130) und viele Chargen des Faschismus verdeutlichen aber diesen Spaß am Quälen und Töten. Dabei kann man alles Leid, was man selbst erlitten hat, dem Opfer zufügen und an seiner Qual die Bestätigung dafür erfahren, daß es wirklich schlimm ist, gequält zu werden. Das Opfer schreit den verdrängten Schmerz des Mörders heraus, seine verdrängte Angst und Verzweiflung. Das will der Mörder immer wieder hören, er hört nicht auf, zu morden.(131)

    Das Opfern des Leibes Christi wird jeden Sonntag wiederholt. Immer wieder finden sich die Mordgenossen zusammen, um seinen Leib zu verzehren und die Leere in sich zu füllen mit seiner Lebendigkeit. Immer wieder kommen sie, um den zu inkorporieren und Teil von ihm zu werden, den sie bewundern, weil er nicht gemordet hat. Sie möchten sein wie er, sein wie Gott. Die lukullische Verinnerlichung Jesu übers Abendmahl, flankiert von Erinnerung der Narrationen und Praxisfiguren Jesu, führt zur Partizipation am Schmerz des Opfers und zur Methexis an der Lebendigkeit und Machtfülle dieser zur Gottheit idealisierten Person. Sein Leib geht in die über, die ihn verzehren. Die Gemeinde wird Leib Christi. Diese Metonymie - die res significans wechselt die res significata - von Jesus auf die Gemeinde, diese Diffusion seines Leibes in ihren social body, ist die lokutionäre Entsprechung einer illokutionären Assimilation, die sich im Verschlingen des Brotes und Weines vollzieht: die Inkorporation des Opfers, des Hohepriesters, der sich selbst zum Opfer gibt. Das Verzehren Christi läßt den Namen auf die Essenden übergehen; sie haben als Christen ihren Herrn gefressen, ins eigene Ich eingelagert: nicht mehr ich, sondern Christus in mir. Die Abgrenzung vom verschlungenen Opfer ist nicht mehr möglich. Die Identitäten haben sich auf konfluente Weise verschränkt. Gerade aus der melancholischen Einlagerung des Herrn ins Ich ziehen die darin verbundenen Christen hinfort ihre Gratifikation: Es ist eine ungeheuerliche narzißtische Steigerung des eigenen Wertes, wenn die eigene Person - bei aller Unvollkommenheit - Wohnung des auferstandenen und erhöhten Herrn ist. Damit ist zugleich eine Ubiquität des real entzogenen Herrn sichergestellt: wo immer Eucharistie gefeiert wird, wo immer zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, ist er dabei.

    Die christliche Haßliebe zum Herrn ist verschlingend. Er ist Opfer für die Vielen, damit sie von Leben durchdrungen werden, damit ihre Verlassenheit beantwortet wird mit seiner Verlassenheit am Kreuz. Die Jünger traf die Schuld, nichts getan zu haben oder auch nur tun zu können zur Verhinderung der Hinrichtung Jesu. Die siegreiche Kirche ging gerne und üppig über Leichen. Die moderate Kirche heute betet für die Hungernden. Aktiver Einsatz für Entwicklungshilfe, gegen Folterungen, Abschiebungen usw. ist Politik, also keine Angelegenheit der Religionsgemeinschaft. Diese Schuld ist objektiv da; viele fühlen sie noch. Aber viele haben sie verdrängt, reagieren auf die Stimme des ins Herz geschriebenen Gesetzes mit Wut gegen jeden, der diese Stimme von außen wiederholt. Die Schuldgefühle dieser Christen haben guten Grund in ihrer Haßliebe.

    Schließlich findet die Substitution des entzogenen Liebesobjekts Jesus durch den Parakleten in den johannäischen Abschiedsreden statt.(132) In der Eucharistie ist nicht nur die Kontinuität der Tischgemeinschaften Jesu mit »Sündern«(133) und outlaws in agierendem Wiederholen und innehaltendem Erinnern(134) als Mimesis der Lebensart Jesu zu entdecken: Die Emmausjünger erkennen Jesus visionär an der Geste des Brotbrechens, des solidarischen Teilens, von dem seinerzeit so viele auf so wunderbare Weise satt wurden.(135) Lukanische Petrusberufung Lk 5,1-11 und Seewunder Mk 6,45ff als vorösterliche und Joh 21 als nachösterliche Variante der Petrusvision 1 Kor 15,5 verbinden das wunderbare Mahl mit der Berufung in die Nachfolge. Das Mahl ist von der Rekognitionserfahrung zum Identitätssymbol der verbindenden Gegenwart des Auferstandenen geworden.(136)

    Die sakramentale Vergegenwärtigung des leiblich Entzogenen manifestiert Jesu Erhöhung zum Christus, Sohn Gottes über allen anderen Kindern Gottes, zum Erstling, zum Führer des Volkes Gottes, zum neuen König wider alle Herren der Welt.(137) Das messianische Freudenmahl, was der Menschensohn bei seiner parusiemäßigen Inthronisation - »bis daß ichs neu trinken werde...« - halten wird, entspricht dem Festschmaus des lD" bei seiner Auferstehung und ist vom Baalismus via Dan 7 inspiriert, allerdings ohne die fruchtbarkeitsfördernde Genitalvereinigung und Samenspende: die Braut Christi ist trocken und prüde, also bleibt es beim Mund. Die eucharistische Präsentation des Menschensohns hat das sexuelle Moment der Hingabe des Leibes und Blutes auf semikannibalistische Metaphorik symbolistisch reduziert.(138) Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche. Das Kreuz Christi war nicht einmalig, es animierte zum Töten und Sterben der Vielen, für die er angeblich gestorben ist. Der weiße Saft des neuen Lebens ist substituiert durch den roten Saft des Menschenopfers. Im Mittelpunkt des Kirchraumes steht die brutalste Hinrichtungsmaschine. Kreuzigung war die schmachvollste aller Tötungsarten, bestimmt für Gotteslästerer und politische Aufrührer und über den Tod hinaus Ausdruck der Verdammung (Gal 3,13).(139) Nachgerade human dagegen die orgastische Schlachtung des Jahreskönigs in matriarchalen Kulten wie Dionysos, Osiris, Attis, Adonis, Mithras und Demeter.(140) Gerade der härteste Konkurrent des Christentums, der Mithraskult, hatte als Gotteshaus das Taurobolium, ein Schlachthaus mit Zuschauerrängen. Der Altar christlicher Kirchen hat zwar diese Funktion des Ausblutens geschächteter Tiere als Opferbühne gegen die permanente symbolische Wiederholung des Menschenopfers Christi mit anschließendem Verzehr eingetauscht: es wird zwar nur noch Wein vergossen. Die Rede vom Blut allerdings ist geblieben und die priesterliche Geste des Brotbrechens ist gerade nicht solidarisches Teilen, sondern erklärtermaßen die Opferung, das Symbol der Hinrichtung Jesu. Der Priester spielt den Henker. Das Symbol ist brutal und wird mit heiligem Ernst durchgeführt. Dies ist heute ritueller Grundstock einer faktischen kirchlichen Erziehung zu Folterern im Raum einer mittlerweile nominal, kaum einmal faktisch, von Menschenrechten gezierte Staatlichkeit.(141) Hier wird die Zerstückelung des Urmenschen wiederholt. Der Mythos der Zerstückelung des Urmenschen hat sein Pendent in der Initiationszerstückelung des Schamanen, die als symbolisches Sterben und Wiedergeborenwerden erlebt und gefeiert wird, oft unter folterartigen Grausamkeiten.(142) Vom Brot des Lebens bekommen in den Kommunionsfeiern der Kirchen die täglichen 80.000 Hungertoten nichts ab. Eine wirklich katholischen Eucharistie als erdkreisumfassenden Teilung des Brotes ist nicht intendiert. Faktisch hat der Semikannibalismus der katholischen Eucharistie lediglich eine gewisse Robustheit der Mafiosi und Todesschwadrone Lateinamerikas im Totfoltern bewirkt.

    2.4.6 Kirchenjahr als Rückfall in Mythen der Vegetationskulte

    Das Kirchenjahr traktiert im Stile der Mysterienkulte die bedeutenden Ereignisse des klimatisch bedingten Zyklus der landwirtschaftlichen Produktion und Reproduktion. Die ökonomische Basis der menschlichen Gattung, die weihnachtliche Stall-Geburt von Vieh und jungen Menschen als Garanten der Altersversorgung, die österliche Zeit der Aussaat mit Karfreitags-Tränen und das Erntedankfest als Ernte mit Freuden, die individuellen Passagerituale wie Taufe, Pubertätsweihe Konfirmation, Trauung und Bestattung - all diese Kultformen verleihen wie seinerzeit die Vegetationskulte den Grenzsituationen des Stoffwechsels der menschlichen Gattung mit der Natur ein festliches Gepräge. Das Christentum hat sich eingeschrieben in die Vegetationskulte und lebt in deren jahreszeitlichem Zyklusgefälle.

    Sehr gegen das paulinische 5f1pax(143) der Heilstat Christi fährt die mythische Struktur des Kirchenjahres als die volkskirchlich in vorderster Front der Verkündigung wahrgenommene ewige Wiederkehr des Kultdramas - man denke nur an die curricularen Bastelarbeiten der kirchlichen Kindergärten und ihre außerordentlich prägende kerygmatische Funktion - ein Mysterienpensum auf, in welchem der Name Jesu nahezu das einzige ist, was von seiner messianischen Lebensform übrig geblieben ist. Es gibt zwar kein Fest der Bergpredigt oder des Ährenraufens am Sabbat. Stattdessen ist ein Teil der kirchlichen Feste der Vagina gewidmet - namentlich Empfängnis und Geburt Mariens. Diese wird aber in unduldsamer Sexualfeindschaft samentlich nur für die geburtsnotwendige Befruchtung betrieben. Damit ist der katholischen Kirche die formelle Integration der Fruchtbarkeitskulte unter Eskamotierung ihres heilighochzeitsmäßig sexualbejahenden Inhalts geglückt. Das hidden curriculum dieser ewigen Wiederkehr desexualisierter Befruchtungsfeste ist eine unter dem Deckmantel der Begattung exerzierte Verbösung der jeder Fruchtbarkeitsreligion zugrundeliegenden Freude am Sexuellen in allen seinen Erscheinungsformen. Der Verteufelungsmechanismus ist dabei die Thematisierung unter Aussparung des Lüsternen und der Lust, also das Verschweigen im Zuge des Zur-Sprache-Bringens. Damit wird auf liturgischer Ebene die Exkommunikation nichtlizensierter Bedürfnisdispositionen, also die Verdrängung des Sexuellen betrieben, die nicht möglich wäre, würde sich die Kirche zur Sexualität einfach nur gar nicht äußern. Schweigen läßt Freiheit, aktives Verschweigen im Benennen des Feldes dagegen führt zu der Metonymie, die Lust nicht weißes Feld bleiben läßt, sondern mit dem Dégoût des Unmoralischen, Nuttigen versieht, so wie die Sexualität Jesu, in apokryphen Evangelien noch sehr plastisch beschrieben, völlig eskamotiert wird und die Worte eines Wanderradikalen zu einer Ehefibel reformuliert werden auf deutschen Kanzeln.

    Der historische Jesus ist im kultdramatischen Reigen des christlichen Kirchenjahres nur ein Störfaktor, der mit einem gewissen exegetischen Aufwand weggepredigt wird, um die Momente des Vegetationskultes deutlicher hervortreten zu lassen, die, wie in alter Zeit, offensichtlich die größere soteriologische Macht auf das Unbewußte der Menschen auszuüben scheinen: »Wie die Vegetation in der Natur mit dem Frühling wächst und aufblüht, im Herbst aber wieder abstirbt, so durchläuft auch die Gottheit den Wechsel von Werden und Vergehen. Sie muß das Leiden erdulden, aber sie durchschreitet es, um sich zu neuem Leben zu erheben. Indem die Mysten im kultischen Drama am Geschick der Gottheit teilnehmen, werden sie in dieses einbezogen und mit göttlicher Kraft erfüllt.«(144)

    Die volkskirchlich im Kirchenjahr und der theologischen, insbesondere der katholischen Dogmatik entfaltete christliche Frömmigkeit ist nicht innerviert von Jesus selbst, sondern vielmehr von einem Konglomerat spätantiker Mythologeme.(145) Auch die juristisch-institutionelle Verfassung der Kirchen fußt nicht auf der Bergpredigt und authentischen Jesuslogien, nicht einmal auf den Jesus zugeschriebenen Gemeindebildungen, die dennoch mehr oder minder seinen Geist tragen. Aus der Not, nicht hinter die Osterbrille zur ipsissima vox Jesu vordringen zu können, machen selbst die Theologien des Neuen Testaments die Tugend, die Verkündigung Jesu nur als ein knappes und diffuses Prolegomenon abzuhandeln, bevor sie sich der wesentlich breiter entfalteten paulinischen und johanneischen Theologie widmen.

    Als biblische Grundlage der reformatorischen Rechtfertigungslehre genießt die Theologie des Apostel Paulus ungleich mehr Autorität als die Jesus-Logien. Von der faktischen Geltung her scheint Paulus der eigentliche Lehrer des christlichen Glaubens zu sein und der historische Jesus nur eine schemenhafte Vorläuferfigur, ähnlich dem Täufer gegenüber der Jesus-Sekte. Für eine aus der reformatorischen Theologie herkommende Bibelauslegung wird die Botschaft des historischen Jesus immer das unbequeme und ungeliebte Moment eines Gesetzes bleiben, an dem wir je nur unsere Sündlichkeit messen können. Man wird aber kaum ernstlich Jesus nachfolgend im weinsaufend-fressenden Haufen der essenisch-nazoräischen Wanderradikalen eine tatsächliche Perspektive des Lebens in der total verwalteten spätkapitalistischen Welt suchen. Für das etablierte und finanziell wohlorganisierte Christentum behält die Botschaft der Evangelien dennoch einen gewissen sozialromantischen, pfadfindermäßigen Reiz, vergleichbar dem Camping oder der Nudistenbewegung angesichts hochtechnisierter oder puritanistischer Alltagsabläufe.

    In der nachösterlichen und altkirchlichen Christologie handelt eine entstehende Massenorganisation noch einmal den Synkretismus spätantiker Wundergläubigkeit und Erlösungssehnsüchte ab auf Kosten eines einfachen Mannes, der sein Leben und seinen Namen für das Wohl und Heil seiner Freunde gegeben hat. Hatte er noch mit Huren, Zöllnern und Sündern gefeiert, waren Gottes Gastmahle noch den Krüppeln und Berbern vorbehalten, weil die feinere Gesellschaft sie verschmähte, so hat die verfaßte Kirche die Erinnerungsfeste der Kommunion als heilige Speisungen nach Art der Geheimbünde den steuerzahlenden Erwachsenen, kultisch Eingeweihten und Mysten vorbehalten und behält sich das Recht vor, mißliebige oder fremdkonfessionelle Personen mit dem Ausschluß vom Abendmahl zu exkommunizieren. Berber und Krüppel wären in einem Sonntagsgottesdienst einer bundesdeutschen Kirchengemeinde gewissermaßen eine skandalöse Attraktion. Mit dem Wandel der sozialen Zusammensetzung der Verehrerschar eines Gottes wandeln sich in der Tat auch die dogmatischen Prämissen.

    Aus der besonderen Geschichte eines besonderen Mannes wird im Kirchenjahr der Mythos einer ewig wiederkehrenden Omnipräsenz eines Idols. Jesus wird seiner sämtlichen persönlichen Attribute beraubt. Der Preis für die Erhöhung zur Gottheit ist der radikale Verlust seiner gelebten Menschlichkeit. Insofern traktiert das Kirchenjahr die permanente Passion Jesu. Sie hat einen Kämpfer der Liebe zu einem Spielzeug nach Art der Schutzengel zur persönlichen Suggestion des Behütetseins in einer Welt gemacht, deren Alltag zu weiten Teilen der Fabrikation von Katastrophen und Unheil dient. Er wird verschwiegen. In seiner Benennung und Anrufung als Christus werden die Narrationen und die Praxis dieses Mannes hinweggefiltert. Er wird zum Biedermann, zum lieben Herrn Jesus für die Sekundarstufe I. Sein Wunsch nach Feuer ist erstickt.

    2.4.7 Mystik und Meditation: Einheit von Ich und All Gottes

    Die meditativen Stränge haben sich in fast allen Religionsgemeinschaften und Kulturkreisen etablieren können. Sie rekurrieren für Buddhismus wie christliche Mystik auf indoiranische Traditionen der schamanischen Himmelsreise, so hoffe ich, gezeigt zu haben.(146) Doch gehört Neuplatonismus und Mystik als Kultur des Geschehenlassens und der Wendung nach Innen im europäischen Raum zu einer verdrängten Minorität angesichts eines breiten Stromes panischer Kultur des Mobilmachens.(147) Ökologische und militärische gegenseitige Vernichtungsoperationen im planetaren Maßstab haben die Kategorie Möglichkeit auf die Kategorie Katastrophe schrumpfen lassen, worin eine Neuauflage des apokalyptischen Endzeitdenkens zur makaberen Realitätsprüfung avanciert ist.(148) Universalisiertes Utilitätsdenken im Verwertungsprozeß des Kapitals nimmt alles unterm Blick zweckrationaler Steigerung der Profitrate als Ware in den Blick. Dieser Expropriationsperspektive in einer Kultur des Machens entgleitet der Blick für die Subjektivität der (sozial)technologisch verwalteten und beherrschten Objekte, ihrer Angst in den Schlachthäusern der universal gewordenen gesellschaftlichen Naturbeherrschung. Dem Blick der Mobilmachung entging die fundamentale Störung des ökologischen Gleichgewichts bei der Plünderung des Planeten. Die dadurch angerichtete Hölle auf Erden beginnt sich allmählich abzuzeichnen. Angesichts wachsender Not, deren Prognose düsterer ist als die momentan erlebbare Vor-Gestalt ihrer Vollendung, wächst in der intellektuellen Szene zwar nicht eben das Rettende auch, wohl aber der Blick auf Alternativen zur panischen Selbstvernichtung der Menschheit.

    In dieser Suche nach rettenden Alternativen werden die altasiatischen Kulturkonserven mit gesteigertem Appetit angebrochen. Eine postmoderne Renaissance formiert sich nach Schopenhauers und Goethes Interesse am Buddhismus und fernöstlichen Divan zur zweiten Asiomanie. Hier wird »Sein als Sein-zur-Ruhe-in-der-Bewegung« erfaßbar.(149) »Wer heute nach einer Sprache der Demobilisierung sucht, der findet diese am ehesten im altöstlichen Raum, wo für die Kinetik des Lebenswillens andere Dramaturgien ausgebildet wurden als in der westlichen Mobilisierungszivilisation.(150)

    Zum anderen entspringt die mystische Tradition und ihre kosmogenen Geburtsmythen der primärnarzißtischen Urerfahrung des kleinen Menschenbaby in seiner Verschmolzenheit mit der Mutter. »Die leibliche Erfahrung der Allverbundenheit setzt in uns eine Sehnsucht nach einem Verbundensein..., die - vielleicht - eine bedeutsame Wurzel religiösen Strebens ist, auf jeden Fall aber den Menschen dazu antreibt, auch in seinem späteren Leben Konfluenzerfahrungen zu suchen: im positiven Sinne z.B. im Spiel, im Liebeserleben, im gemeinsamen Orgasmus, im Tanz, in der Musik, im Betrachten einer Landschaft, etwa des Meeres, mit dem man in einem 'ozeanischen Gefühl' (Freud) verschmelzen kann, und in besonderer Weise in meditativen Erfahrungen; in negativer Hinsicht in der Spielleidenschaft, im Rauscherlebnis durch Alkohol und Drogen, in destruktiven Extasen, z.B. bei Pogromen, in malignen Regressionen, psychotischen Zuständen, aber auch in 'notorischen' Übertragungen und kollusionären Partnerbeziehungen.«(151) Urverbundenheit erleben und in ihr handeln ist A9` - wer einen Menschen erkennt, beginnt ihn zu lieben. Der Therapeut ist von diesem Geschehen nicht verschont. Erkenntnis als Rücknahme der Projektion macht den Anderen liebenswert, läßt ihn in seinem eigenen Licht erscheinen und das Häßliche, was aus der Feindseligkeit meines Blickes und meiner bösen Vorerfahrungen stammt, zergehen in seiner Harmlosigkeit, in seinen Gefühlen, seiner Wärme und seiner Angst.

    Der Rückzug der politischen Opposition von der Straßendemonstration mit dem Niedergang der kommunistischen Systeme und ihrer Dechiffrierung als Zwangskulturen indiziert ein Sinken messianischer Hoffnungsgehalte, hat die geschichtstheologische Perspektive des Umbaus der Welt zur Heimat zum nahezu ungefährlichen ideologischen Sondergut einiger weniger Intellektueller werden lassen. Die Heimat wird nicht mehr in der gerechten und befriedeten Gesellschaft gesucht, weil die Dynamik des Kapitalismus als zu übermächtig erscheint. Sie wird nun im inneren Raum gesucht, in einer Harmonie des Selbst mit seiner unmittelbaren Lebenswelt. Politische Konflikte werden vermieden, um dieses vom eigenen Subjekt autonom aktivierbare Gefühl einer inneren Heimat nicht zu irritieren. Der Zugewinn innerer Beheimatung in einer immer öfter feindlichen Welt wird erkauft durch Abblendung des Politischen und der Strukturen äußerer Gewalt, die riesige Gruppen von Menschen systematisch heimatlos machen.

    Bei Meister Eckhart war ein Zugleich von Mystagogie und sozialem Engagement bestimmend.(152) »Wäre der Mensch so in Verzückung, wie's Sankt Paulus war, und wüßte einen kranken Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfte, ich erachtete es für weit besser, du ließest aus Liebe ab von der Verzückung und dientest dem Bedürftigen in größerer Liebe.«(153) Heute ist jedem Mystagogen das eigene Süpplein am Nächsten, innere Einsamkeit durch esoterische Gruppen und Neo-Eremitagen errungen. Die Szene, in der Jesus verkehrte, der y½3â~mD, das gemeine Volk, bleibt in seinen poblaciónes.

    Ist es in unserem Dilemma von esoterischer Innenwende - auch und gerade in der Therapieszene - praktikabel und institutionalisierbar, contemplatio, cogitatio und vita activa zu verbinden zu einem konsistenten Lebenszusammenhang, in dem das messianische Moment der Hoffnung auf eine versöhnte Welt die Herzen bewegt? Angesichts der Katastrophe des Kapitalismus? Rein empirisch entspringen aus der kirchlichen Arbeit, wie naiv und ernst zugleich auch immer, mehr Impulse zu Rettungsversuchen als aus den völlig abgeklärten Meditationszirkeln der postmessianischen, postchristlichen Alternativ-Neo-Apokalyptiker. Katastrophen machen auch nicht klüger, sondern 'abgezockter'.(154) Die Regierungsmafia geht eo ipso über Leichen, zu denen nur die eigenen nicht gehören dürfen, bei den Massen verblassen die Bilder der Katastrophe durch die Bilder neuer Katastrophen.(155) Wie will man auch ohne Hoffnung den schier aussichtslosen Kampf gegen die tickende Weltzeituhr durchstehen? Daher sei der Versuch einer kognitiven Verbindung von Kampf und Kontemplation unternommen:

    Die Bibel redet von Gerechtigkeit und m l[. Soziales Wohlergehen korrespondiert mit dem Grad der wirtschaftlichen und emotionalen Vernetzung der Menschen untereinander. Mein Leib ist immer sozialer Leib. Das All ist belebt mit den Seelen der Anderen. Die Feldtheorie sieht mich im Kreis meiner Lieben und meiner Feinde. Die Gestalttheorie sieht mich im sozialen Kontext, der meine Sinnlichkeit konstituiert und erhält. Partnerschaft mit der Natur korrespondiert mit menschlicher Partnerschaft und Empathie, mit Solidarität als dem Wirken des heiligen Geistes in uns allen.

    Gott ist und wirkt alles in allem(156), wohnt seinen Geschöpfen als charismatische Kraft ein wie der Vater der Tochter.(157) Das Wohlgefallen, wenn das Kind ihm ähnlich wird in den Begabungen, selbst in der Schwierigkeit, vielleicht sogar in der Häßlichkeit, spiegelt etwas von dieser Einwohnung und Konfluenz wieder. Daß Gott schön werde(158), setzt den Gedanken an die Häßlichkeit Gottes voraus: Der am Kreuz hängt, ist gehaßt, verachtet, verworfen, lächerlich. Gerade der wird zum Eckstein, erlöst von der Verhaftung an die Liebe zum Schönen, transzendiert den Blick von den Pickeln auf die innere Not der Täter und Opfer und die tiefe Gemeinsamkeit ihrer Not mit der eigenen Unvollkommenheit, dem eigenen erstickten Schrei nach Erhörung, Verständnis, Liebe. Die Solidarität der Mängelwesen, der kommenden und vergehenden Gräser und Fleischleiber, fußt auf dem Wissen, daß keinem der Schmerz erspart bleibt und keiner vollkommen ist. 'Jeder stinkt, wenn er scheißt.'(159) Das mag ein wenig von dem Neid relativieren, den ungleiche Chancenverteilung der Gesellschaft und strukturelle Gewalt und strukturelle Armut zu Recht in den Deklassierung und Ausgebeuteten erzeugt haben.

    Mystik ist das Wissen und die Erfahrung vom Heiligen Geist als der Kraft einer universalen Solidarität, die nicht meine eigene ist, weil sie mir nicht entsprungen ist, die aber in mir Resonanz erfährt und mit meinem eigenen Fleisch mitschwingt, in mir sich reinkarniert. Solidarität der Lebenden mit den Toten kann über den Tod hinaus die Liebe bewahren in einer generationsübergreifenden Treue der Tradition(160), Beerbung der Väter und ihres Gottes der Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden, aber auch als Schuldübernahme und Tragen an den Altlasten, vielleicht sogar der Erbsünde als Hineingeborenwerden ins Man, in strukturelle Gewalt und manifeste Kriege, reale Schuldzusammenhänge von Ausbeutung der armen Länder einfach nur durch das Leben, was wir führen und nicht einmal hinreichend genießen bei all diesem Luxus.

    Gibt es Solidarität der Reichen mit den Armen? Âtmân nicht nur als meditativ zelebrierte mystagogische innerseelisch erlebte Einheit von Ich und All, sondern als Solidarität der Mächtigen mit den Schwachen, Rm 12? Gegenseitiges Helfen und Lernen, Mutualität, Solidargemeinschaft, Gabriel Marcels Schicksalsgemeinschaft erfordert dann auch: den social body, den gesellschaftlichen Gesamtarbeiter, nicht nur passiv absahnen, sondern als Glied am Leib Christi Frucht bringen, sich engagieren, bergpredigtmäßig mit den anderen leben. Kommunität sprengt die Einsamkeit des Einzelnen auf zu der mystischen Gemeinschaft: Partizipation am Weltprozeß Gottes, am historischen Fortschritt und Fortgang der Heilsgeschichte in dem Teilsein und Anteilnehmen am weltinnenpolitischen Geschehen der Völkergemeinschaft aus der Kraft der kollektiv-narzißtischen Rückbindung an die eigene Lebensgemeinschaft, die sich idealisiert und begreift als Salz der Erde und Leibgemeinschaft im großen Weltleib.

    Die therapeutischen Intentionen der Kirche wäre somit: Agape als Solidarität aus dem inneren Reichtum des von Gott Beschenkten, als Empathie und Sympathie in therapeutischer Mission, Offenheit zum Nicht-Identischen, Akzeptanz des Verschrobenen. Dies sind eben nicht Merkmale tatsächlicher Kirchengeschichte, sondern biblische Intention einer Kirche in der Kraft des Heiligen Geistes. Das sind auch nicht die Merkmale reaktionärer spiritueller Bewegungen und Jugendsekten, gewiß auch nicht die der islamischen Fundamentalisten, die deklassierte Jugendliche zu Terrorkommandos abrichten.(161)

    Bislang scheinen es zwei Traditionen zu sein, die nicht miteinander vermittelbar sind: die messianisch-politische Tradition mit ihrer Perspektive eines unabgeschlossenen Weltprozesses, in dem die besten Momente des Vergangenen zum Besten des Künftigen als der Offenbarung der Herrlichkeit der Menschen als Kindern Gottes tendieren - und die gnostisch-mystagogische Tradition des ewigen Nun im treibenden Jetzt mit dem Blick nach innen und oben in die wahre Heimat. Im Bild des himmlischen Jerusalem, was sich auf die Erde senkt, wo Gottes Hütte bei den Menschen ist und er die Tränen abwischen wird, ist die Entweltlichung und die Konzentration auf Leben nach dem Tod aufgehoben, weil die Erde selbst Heimat geworden ist. Die Antwort auf die Sehnsucht, die sich hinter der Seelenwanderungslehre verbirgt, ist eine Welt, in der das Leben schön wird. Viele brauchen Brot und eine gute Bleibe. Und viele brauchen einen Menschen, mit dem zusammen sie ihre verstummten Schreie nach Liebe laut werden lassen können. Brot allein macht noch nicht satt, man braucht auch den, mit dem man es ißt. Die Klöster waren einmal der Versuch, gemeinsam zu leben auf eine neue Welt voller Gott hin.(162) Sie wollen es immer noch sein. Daneben gibt es andere spirituelle Projekte gemeinsamen Lebens, Kibbuzim, Landkommunen, Therapeutische Zentren wie Esalen, A rams wie Poona, Übersiedlung ganzer Stadtteile mit Anhängern einer Sekte(163), Tai Chi Chuan und Zen-Kurse in Volkshochschulen, Ananda Marga-Gruppen und Sufi-Zentren in Großstädten.(164) Das Kriterium wäre auch hier: Bleibt es in der Selbstfindung stecken oder gelingt es, aus der schöpferischen Fülle der erfahrenen Liebe und Einheit in Gott in der Welt sozialistisch zu wirken, will heißen: auf gerechte Güterteilung und waffenlose Konfliktlösungen hin zu beten, arbeiten und kämpfen. Bleibt es bei einer Art von Selbsthilfe als kollektiver Weltflucht, oder gelingt der gemeinsame Rückweg in die Welt?

    Die Techniken der Meditation sind beliebig. Der westliche Weg christlicher Mystiker und der östliche des Buddhismus haben ihre gemeinsame indoeuropäische Wurzel in den schamanischen Extasen und ihren Abkömmlingen. Von daher ist die drogengestützte Unio-Erfahrung der psychedelischen Therapie auch keine Neuerung, sondern lediglich Neuauflage alter Initiations- und Extasetechniken mit ritueller Vernichtung des Selbst und seiner Wiedergeburt.(165) Wie bei der Therapie gilt hier: Jeder Schematismus dient nur so lange als äußere Stütze, wie das innere Durchdringen des phänomenalen Feldes noch aussteht. Die Etüden werden mit zunehmender Internalisation des Verfahrens variabler, lebendiger, offener für die Vielfalt des Lebensprozesses selbst. Ob die archaische Einheit mit und in der Mutter Urform der archaischen Einheit in und mit Gott als dem Grund allen Seins ist oder nur eine der Gestaltwerdungen dieser göttlichen Einheit des Universums, ist unerheblich gegenüber der Tatsache, daß in der Mutter die Urerfahrung von Einheit gemacht wurde und mystische Agogik in aller Lichtigkeit des klaren Geistes immer wird rekurrieren können auf diese somatische Grunderfahrung. Weil die Urerlebnisse dieser Einheit vor aller Diversifikation der Bilder und Begriffe liegen, ist die Entbilderung des Bewußtseins der Weg zurück zu dieser Erfahrung. Im Rückbezug auf Urerfahrungen wird immer geerbt, findet Regression als Progression statt, sofern sie die Gegenwart mit der Regressionserfahrung zu vernetzen versteht. Als Antipode von Angstreaktionen sind meditative Erlebnisse Weitungsprozesse.(166) Der Vorgang der Auslöschung des neurotisch verstrickten Ego in der Meditation hat große Affinität zur Höllenfahrt des Schamanen, zum Perlsschen Impass und der Laingschen Reise in den Tod und zurück ins Leben. Das mythische Drama Christi, die Sendung, sein Tod als Niederfahrt zur Hölle und die Auferstehung am dritten Tage, hat diese Grunderfahrung spiritueller Erneuerung eingefangen in markante, prägnante Symbole.

    2.5 Thesen zur Relevanz der Rede von Gott

    1) Gott ist im Unbewußten des Menschen treibende Kraft. Wie Platons Seele bewegt er den Leib. Er ist die ursprüngliche Intentionalität des Menschen, die sich im Gang durch die naturgeschichtliche Evolution aus der Fülle des Möglichen prägnant präzisiert hat zu dem Satz: Gott ist Liebe.

    2) Gott ist nicht bewußt. Das Bewußtsein ist von der vitalen Kraft des Leibes, die Gott ist, durch gesellschaftliche Einflüsse entfremdet. Diese Entfremdung ist Sünde als eine Verschlossenheit gegenüber der eigenen ursprünglichen Kraft und Intentionalität. Die Gnosis fand für diese Situation das kosmologische Bild der Fremdheit auf der Welt.

    3) Die Sehnsucht der Menschen ist das Sein in der Liebe. Als Reich der Freiheit wird es vom Reich der Notwendigkeit gestützt und bedarf einer ausreichenden gesellschaftlichen Produktivität und eines gerechten Güterverteilungssystems.

    4) Das Sein in der Liebe ist in Gleichnissen Jesu mit dem Bild und den Narrationen vom Reich Gottes illustriert. Es ist durch Verrechtlichung der Produktionsverhältnisse und Verwissenschaftlichung der Produktivkräfte allein noch nicht gewährleistet. Es bedarf eines emotionalen Surplus an Humanität, gegenseitiger Fürsorge und Verantwortung und einer egalitären Bereitschaft zum wechselseitigen Helfen und Lernen.

    5) Der Zugang zu Gott wird in der religiösen Tradition durch Gebet und Meditation als Rückverbindung mit dem verlorenen Unbewußten angestrebt. Diese Öffnungen des Unbewußten entsprechen völlig den psychotherapeutischen Techniken der Wiederaneignung des Verdrängten. Es passiert mit dem Willen des Bewußtseins. Das Unbewußte kann sich dagegen sperren und verschließen. Diese Erfahrung ist Gottesverlassenheit.

    6) Wie Psychosen der Durchbruch der unbewußten Prozesse in das gesamte Verhalten des Menschen sind, so sind Offenbarungsvisionen ebenfalls Durchbrüche des Seins Gottes in das Bewußtsein des Menschen; beides ist phänomenal identisch. Es passiert ohne oder gegen den Willen des Bewußtseins.

    7) Gott ist gekreuzigt. Die Lebensart Jesu als eine, die in intensivem Kontakt von Bewußtem und Unbewußtem sich in Wort und Tat, Rede und Verhalten als Sein in der Liebe gezeigt hat, ist von der damaligen Oligarchie aufgrund ihrer Bedrohlichkeit für die Aufrechterhaltung der antiken Sklavenhaltergesellschaft rigoros abgelehnt worden. Sein Tod sollte Nachahmer abschrecken.

    8) Gott ist ohnmächtig und schwach. Darum ist seine Kraft in den Schwachen mächtig. Es gibt in unseren Gesellschaften keine Lobby für das Sein in der Liebe, weil das Erwirtschaften von eigenen Reichtümern und die Akkumulation von Kapital und Macht bei den Herrschereliten eine radikal gegenläufige Ethik und Moral entwickelt hat und im Volk propagiert. Die Schicksalsgemeinschaft der Stämme, Völker und Weltgesellschaft wird durch die Ideologie der eigenen Karriere als höchstem Gut verblendet. Erst ökologische Katastrophen offenbaren diesen Irrtum, führen aber kaum zur Veränderung dieser von oben durch Medien und von unten durch die Moral am Arbeitsplatz gestützte Phantasmagorie solipsistischen Erfolges.

    9) Seitdem redet die christliche Theologie von der Verborgenheit Gottes und hofft auf seinen Durchbruch aus dem Reich der Ideen und Wünsche in die Bewußtseinswelt, in die Handlungsrealität. Sie versuchte damit, sich mit dem Tatbestand von Unmenschlichkeiten aller Art im Lauf der Geschichte nicht zufrieden zu geben. Sie war aber immer befangen in der Extrapolation Gottes in einen transkosmischen Himmel und hat die Kraft des Gebets und der Meditation und die Möglichkeiten des dadurch gelenkten Handelns nicht genutzt. Wir sind die Hände, die Gott hat, die Welt zur Heimat zu machen.

    10) Das Sein Gottes als Entwicklung einer von gegenseitiger Liebe getragenen und damit chancengleichen, sozialökonomisch gesicherten und freiheitlichen Gesellschaft ist nur möglich, indem sich Menschen verbinden und verbünden. Die Kraft der Solidarität allein vermag die Mauern der Verblendung und strukturellen Gewalt zu sprengen. In dieser Solidarität besteht ein doppelter Kontakt: der zum eigenen Unbewußten, befördert durch Gebet, Meditation und Psychotherapie, und der zu den Gruppen des eigenen Lebenszusammenhanges, in denen Lebensformen des Seins in der Liebe exploriert, experimentiert und kultiviert werden. Das ist die Wahrheit des chassidischen Satzes, daß Gott mir im Anderen begegnet. Das Sein in der Liebe verlangt nach Gemeinschaft.

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