(Rudolf
Behrens)
„(D)ie von Ihnen geschaffene Kunstrichtung war es, die die stupide Psychologie des Naturalismus hinter sich warf, das faul und zäh gewordene Massiv des bürgerlichen Romans durchstieß und mit der funkelnden und rapiden Strophik Ihrer Hymnen auf das Grundgesetz der Kunst zurückging: Schöpfung und Stil“ – mit diesen Worten begrüßt am 29. März 1934 Gottfried Benn auf dem Berliner Bankett der Union nationaler Schriftsteller seinen Kollegen Filippo Tommaso Marinetti, den Gründer und Promotor des italienischen Futurismus, und er fährt fort: „Sie forderten die Liebe zur Gefahr, die Gewöhnung an Energie und Verwegenheit, den Mut, die Unerschrockenheit, die Rebellion, den Angriffspunkt, den Laufschritt, den Todessprung, und dies nannten Sie ‚die schönen Ideen für die man stirbt‘. Sie hatten, Herr Marinetti, das ungeheure Glück, das vielleicht seit den hellenischen Architekten keinem Künstler mehr zuteil ward, (nämlich) zu erleben, wie die Gesetze ihres inneren Gesichts in ihrem Volk das Ideal der Geschichte wurden. [...] Wir hier, die wir ihre Gedanken aufnahmen [...], hatten nicht das Glück, den Schritt von der Kunst in den Rausch der Geschichte zu tun. Erdrückt von der Übermacht großer Epiker einer älteren Generation, durch Krieg und Frieden zu Verlusten in unseren Reihen gebracht, viel tiefer zerrissen von Form- und Unformproblemen, als es die romanischen Völker kennen, erreichte meine Generation in keinem den Glanz, der über Ihrem Namen liegt.“
Benns
Rede von 1934 ist ein unterwürfiger Versuch, die in Italien längst
verblichene Strahlkraft des Futurimus, der 1909 mit seinem ersten Manifest
in die europäische Öffentlichkeit getreten war, für die
Indienstnahme der Kunst durch den nationalsozialistischen Staat zu benutzen.
Was in Italien so glänzend gelungen schien, die vorbereitende und
dann begleitende Rolle einer avantgardistischen, umstürzlerischen
Kunst für einen faschistischen Staat, dieses Erbe – so sinngemäß
Benn – sei nun unter nationalsozialistischen Vorzeichen von den deutschen
Literaten anzutreten.
Man
mag Benns Sicht des Futurismus für funktional inszeniert, gar für
historisch verfälschend halten, weil er eine gänzlich nahtlosen
Übergang von Futurismus zu Faschismus unterstellt, was bei näherem
Hinsehen nicht unproblematisch ist. Unstrittig ist aber, daß Benn
mit sicherem Blick für den Kern der italienischen Avantgarde-Bewegung
deren historische Sprengkraft auf einen brisanten Nenner bringt: Diese
Kunst – das hatte Benn sehr richtig erkannt - machte vor den sozialen Institutionen
außerhalb der Kunst nicht Halt, sondern begriff sich als totalisierende
Durchstilisierung aller Lebensbereiche – und dies mit aktionistischen,
aggressiven und destruierenden Selbstinszenierungen, die vor allem an zwei
immer wiederkehrenden Paradigmen gebunden waren, an den abstrakten Modus
der Schnelligkeit (‚velocità‘) und an an allem, was im engeren oder
weiteren Sinne eine Maschine darstellte, das Auto, das Elektrizitätswerk,
vor allem aber das Flugzeug und besonders das Kampfflugzeug. DerFokus
zumindest des ursprünglichen Futurismus war in der Tat – wie es Benns
Anspielung auf Begriffe wie Laufschritt und Todessprung andeutete - der
Krieg, sei es im metaphorischen Sinne, daß allen bourgeoisen Überkommenheiten
– d.h. dem sogenannten Passatismus – der Kampf angesagt wurde, sei es im
litteralen Sinne, daß der reale Krieg der einzige Ort zu sein schien,
an dem sich die beschworenen Tugenden, Handlungen und Wahrnehmungen in
einer Art ekstatisch explodierendem Lebenskunstwerk bündeln ließen.
Benns anbiedernder Versuch, dem italienischen Futurismus im Zeichen des
deutschen Nationalsozialismus eine glorreiche Vorläuferschaft zuzuschreiben,
hat insofern auch eine Pointe, als er mit der Umarmung der futuristischen
Kriegsästhetisierung den latenten Endzweck des Naziregimes zu erkennen
gab, im totalen Krieg nämlich die letzte aller exterminatorischen
Säuberungen im Dienste einer rassischen Selbstveredelung durchzuführen.
Freilich täuschte Benn sich gewaltig, wenn er gegen Ende seiner Rede
die für ihn entscheidenden Leitbegriffe ‚Form‘ und ‚Zucht‘ als gemeinsame
Plattform von nationalsozialistischem und faschistischem Staat sowie der
futuristischen Bewegung ausgab. So sehr er nämlich im Recht war, wenn
er die ubiquitäre Aggressivität des Futurismus betonte, so sehr
müssen wir es als einen sehr deutschen Mißgriff verstehen, wenn
er dem Futurismus unterstellt, über einen ästhetischen Stilwillen
‚Zucht‘ in den Staat bringen zu wollen. Marinetti ist es zwar in den 20er
und 30er Jahren gelungen, sich und den von Freunden mitorganisierten Futurismus
dem faschistischen Regime Mussolinis als Staatsideologie anzudienen. Indes
hat ihn der Duce, aus nicht unbegründetem Mißtrauen gegen die
aktionistischen und deshalb letztlich nicht kontrollierbaren Grundorientierungen,
mit einer gewissen Zurückhaltung behandelt. Jedenfalls ist das Verhältnis
zwischen der 1922 durch den Marsch auf Rom an die Macht gelangten Partei
der Fasci und der älteren, seit 1909 sich formierenden ästhetisch-revolutionären
Bewegung des Futurismus nicht spannungsfrei gewesen.
Wenn
man die Dinge sehr grob zeichnet, kann man sagen, daß die Gründungsphase
des Futurismus, zwischen 1909 und dem Moment des Kriegseintritts Italiens
1915, eine Phase des kongenialen Miteinanders gewesen ist. Es war ein Phase
in der Marinetti und Mussolini mit gemeinsamen oder wenigstens sich stark
berührenden Strategien operierten. Der expansionistisch motivierte
Libyenkrieg von 1911, in dem sich sich die ersten nationalistischen Affekte
entzündeten und in den sich der Futurismus geradezu propagandistisch
hineinstürzte, markiert in gewisser Weise den mythischen Ursprungspunkt
einer dem Faschismus und dem Futurismus gemeinsamen Genealogie. Bekräftigt
wurde diese Genialogie durch den pathetisch gefeierten Eintritt Italiens
1915 in den Ersten Weltkrieg, in dem es aus italienischer Sicht nicht zuletzt
um die Abrechnung mit dem umklammernden Erzfeind Österreich ging.
Bei diesen Konsolidierungs- und Verschmelzungstendenzen zwischen Futurismus
und beginnenden nationalistisch-faschistischen Formierungen spielte ein
weiteres markantes Moment eine Rolle, der irredentistische Impuls
nämlich zur Befreiung der sogenannten ‚noch nicht erlösten Gebiete‘,
ein Impuls, der 1919 in der waghalsigen, flugtechnisch unterstützten
Besetzung des nach dem Weltkrieg nicht freigegebenen, also österreichischen
Fiume seinen Höhepunkt fand – ein spektakuläres Ereignis aber
auch, bei dem der spätere Duce Mussolini, der dekadentistische Schriftsteller
D’Annunzio und der Futurismus-Repräsentant Marinetti sich die Rollen
des Szenarios teilten. Marinetti spielte dabei allerdings eine eher unglückliche
Rolle; er wurde von dem legendären Commandante D’Annunz aus der Stadt
gewiesen.
Die
nachfolgenden Jahre, in denen der Faschismus nach dem Auftrag zur Kabinettsbildung
1922 an die Macht gelangt, sind nun eher von leichten Spannungen und Differenzen
zur futuristischen Bewegung gekennzeichnet. In den 20er Jahren drängt
der Futurismus seinen Zielen gemäß in die Strukturierung der
Lebenspraxis vor. Die Bewegung will im strengen Sinne politisch handeln
und macht so der faschistischen Partei regelrecht Konkurrenz, nicht zuletzt
indem sie anarchistische und kommunistische Varianten der Einbindung der
Volksmassen ausprobiert. Später dann, ab etwa 1924, übt sich
Marinetti in bewußt kalkulierter Selbstdisziplin und überläßt
dem Faschismus das politische Feld, aber nur, um sich und den Futurismus
als Vorboten der nunmehr siegreichen faschistischen Politik darzustellen.
Was
nun Gottfried Benn 1934 am italienischen Futurismus faszinierte und was
ihn offenbar auch zu dem Mißverständnis einer Identitätsvermutung
zu Faschismus und Futurismus verleitete, nämlich die Genese einer
antibürgerlichen Ästhetik aus der Semantik des Krieges heraus,
das will ich in der heutigen Vorlesung zum Ausgangspunkt meiner Darstellung
machen. In einem ersten Schritt will ich deshalb die programmatischen Anfänge
des Futurismus vor allem mit Blick auf die aggressiven und destruierenden
Argumentationsmuster vorstellen, mit denen sich diese Gründungsurkunden
Gehör verschafften. Dabei wird es vor allem darum gehen, die Destruktionspotentiale
des Futurismus historisch zu kontextualisieren und damit auch zu relativieren.
In einem zweiten Schritt sollen dann die ästhetischen Konsequenzen
– und zwar hinsichtlich der Gegenstände der Darstellung und hinsichtlich
ihrer textuellen Verarbeitung - aufgezeigt werden, sofern sie über
die originäre Verklammerung mit der Kriegsthematik hinausgehen. Dabei
werden vor allem drei thematische Paradigmen im Vordergrund stehen: Das
Prinzip der Schnelligkeit, der Gegenstand der Maschine und der Modus der
Sexualität. Meiner Kompetenz gemäß werde ich mich im wesentlichen
auf den literaischen Futurismus, vor allem der Anfangszeit, konzentrieren
– und dabei Marinetti zum Schwerpunkt machen. Auf die bildende Kunst, die
sich wie – in geringerem Ausmaß - die Musik futuristischen Prinzipien
angeschlossen hat, komme ich dabei nur punktuell zu sprechen. Sollte es
Ihnen zu langweilig werden, dann können Sie natürlich gerne schon
mit der Lektüre des Hand-Outs beginnen. Ich empfehle als Entrée
einen Blick auf die Abb. 1. Dort sehen sie Marinetti in der Mitte, umringt
von seinen Freunden (von links nach rechts) Luigi Russolo, Carlo Dalmazzo
Carrà, Umberto Boccioni und Gino Severini.
1.
Provokant
und gezielt in der medialen Strategie sind schon die ersten Äußerungen
des Futurismus. Man sieht das an dem sogenannten „Premier manifeste“, das
am 20. Februar 1909 in Paris auf der ersten Seite des konservativen Figaro
erschien. Marinetti, ein im ägyptischen Alexandrien aufgewachsener
Sohn eines italienischen Juristen, hatte 1893 kurz vor seinem Abitur die
Schule wechseln müssen. Er war deswegen nach Paris gezogen und hatte
dann nach einem Jurastudium in Padua und ersten Bohème-Jahren in
Mailand wiederum Paris zu seinem Lebenszentrum gemacht, wo er im Umkreis
der Symbolisten und in engem Kontakt zu Alfred Jarry und Guillaume Appolinaire
das literarische Milieu aufmischte. Das Manifest vom 20. Februar 1909 enthält
außer einer epischen Einleitung nur 11 Punkte, in denen neben banalen
Provokationen, wie der Behauptung, ein Rennauto sei schöner als die
Nike von Samothrake, auch der berüchtigt gewordene Punkt 9 enthalten
ist. Dort heißt es mit schöner Unumwundenheit: „Noi vogliamo
glorificare la guerra – sola igiene del mondo; wir wollen den Krieg verherrlichen
- diese einzige Hygiene der Welt - , den Militarismus, den Patriotismus,
die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die
man stirbt, und die Verachtung des Weibes, il disprezzo della donna“.
Auf
Anhieb möchte man noch vermuten, solche Behauptungen seien nur rhetorisch
zu verstehen, als eine ultimative Überbietung des seit Baudelaire
gängig gewordenen „épater le borgeois“. Die nachfolgenden Sätze
10 und 11 steigern sich nun tatsächlich in einen Rundumschlag hinein,
von dem es schwer fällt, ihn nicht als eine theatralische Geste
zu verstehen. Hören wir für einen Moment Marinetti noch einmal
zu:
„10.
Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören
und gegen den Moralismus, den Feminismus und gegen jede Art von Feigheit
kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht.
11.
Wir werden die großen Menschenmengen besingen, die die Arbeit, das
Vergnügen oder der Aufruhr erregt; besingen werden wir die vielfarbige,
vielstimmige Flut der Revolutionen in den modernen Hauptstädten; besingen
werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften,
die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen
Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren; die Fabriken; die Brücken,
die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne
wie Messer aufblitzen; die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont
wittern; die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie
riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen, und den gleitenden
Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Wind knattert und
Beifall zu klatschen scheint wie eine begeisterte Menge.“
Man
sieht, auf den 10. Satz, der noch einmal in Kurzform die Erzfeinde des
Futurismus in einer kuriosen Runde versammelt, das Antiquarisch-Alte, das
Moralische, das Feminine und das Feige, folgt der grandiose Ausblick auf
dasjenige, was der Zustimmung und der Aufmerksamkeit der futuristischen
Bewegung sicher sein kann, alle umwälzenden Revolutionen nämlich,
sofern sie sich über Menschenmassen organisieren, die Großstädte
mit ihrem Arsenal an Maschinerie und technischer Infrastruktur, schließlich
die Mobilitätsapparate, nach Schnelligkeitsgrad bewertet: Dampfer,
Lokomotive und Flugzeug. Dieses Finale legt geradezu die Vermutung nahe,
es handele sich hier um eine schlicht im Enthusiasmus überdrehte Begeisterung
für alles technisch Neue, Große und Mechanische – kurz: Man
mag den Eindruck haben, der Futurismus habe seine Wurzeln im sehr allgemeinen
Haß auf alles mehr oder weniger Humanistische oder auch nur Anthropozentrische
und in der in die Gegenrichtung weisenden Begeisterung für alles,
was über technische Großtaten ein zukünftiges Maschinenzeitalter
andeutet.
An dieser kulturkritischen Lesart des Futurismus ist sicher etwas dran, Marinettis sich wiederholende Haßtiraden auf Akademien, Universitäten und vor allem auf die notorisch ‚passatistischen‘, bebrillten und weißhaarigen Professoren, die den Hang zur Vergangenheit inkarnierten, spricht sogar dafür, daß es dem Futurismus zunächst nur darum ging, die akademisch gesteuerte Kultur mit allen Mitteln der sprachlichen Denunziation wegzufegen, um endlich der Entfesselung der wahren Produktivkräfte auch im rückständigen Italien Raum zu geben.
Dabei
ist auch zu berücksichtigen – das hat die Motivforschung immer wieder
nachgewiesen -, daß die provokante Poetologie eines neuen, energischen
und vor Maschinenkraft strotzenden Lebens sich an Vorgaben anlehnen konnte,
die in gewisser Weise Gemeingut der Kulturkritik der Jahrhundertwende darstellen.
So
hat der frühe Futurismus in Italien durchaus Anteil an einer diffusen
Nietzsche-Rezeption, die sich vor allem für die kultursprengende Kraft
des dionysischen Moments interessiert. Schon insofern ist Gottfried Benns
Unterstellung einer zucht- und stilbildenden Kraft des Futurismus zumindest
für dessen Anfänge kaum zu halten. Wenn Marinetti nun in die
Klamottenkiste der postnietzeansichen, dionysisch ausgerichteten Kraftmeierei
greift, dann verbindet er dies mit zwei weiteren gängigen Topoi der
italienischen Literatur der Jahrhundertwende. Zum einen mit der Opposition
von „vita“ und „forma“, wie sie sich z.B. bei Pirandello dahingehend ausprägte,
daß er das komische Sich-Entwinden des unbändigen und vielgestaltigen
Lebens aus den Zwängen eines kulturellen Formwillens zu seinem Grundthema
machte. Und zum anderen mit dem Konzept des „barbaro“, also des Barbarischen,
wie es Gabriele D’Annunzio zunächst auf folkloristische Manier in
Erzählungen auf die Bergbevölkerung der Abruzzen projiziert hatte
und dann – 1900 – in seinem Roman „Piacere“ an das Konzept eines exstatisch
die Menschenmassen hyphothisierenden ‚superuomo’ band.
Wenn Marinetti also 1909 in seinem ersten Manifest programmatisch die Opposition von der Zerstörung alles Passatistischen und akademisch Geformten einerseits und der ekstatischen Glorifizierung einer barabarisch um sich greifenden Energie der Masse andererseits aufstellt, dann bewegt er sich in längst vorgezeichneten Bahnen. Allerdings verschiebt er – grob gesprochen – den Pol des Energetisch-Barbarischen, den er mit vielen nietzeanisch beeinflußten Kulturstürmern der Jahrhundertwende teilt, in die Sphäre des Technisch-Maschinenhaften. Diese in der Tat nun spezifische Differenz wird uns später noch genauer interessieren.
Die
Radikalität und Aggressivität der futuristischen Programmatik
ist im übrigen auch unter dem Gesichtspunkt des Sich-Durchsetzenmüssens
am literarischen Markt zu verstehen. Gerade weil Marinetti sich
in einem kulturkritischen Feld bewegt, dessen Reizthemen schon durch große
Namen besetzt sind, muß er in einem Verdrängungswettbewerb durch
Differenzbildung um jeden Preis Profil gewinnen. Deshalb sind seine Abgrenzungen
gelegentlich nicht primär in der Sache selbst begründet, sondern
eher noch in der strategischen Notwendigkeit, potentielle ideologische
Weggefährten regelrecht niederzumachen. Nur so ist das Acharnement
zu verstehen, mit dem Marinetti auch auf solche Literaten gnadenlos eindrischt,
die ihm eigentlich über gemeinsame ideengeschichtliche Wurzeln nahe
sein könnten. Man mag noch einsehen, daß dabei der gesamte französische
Symbolismus als ästhetizistische Salonkultur schlecht wegkommt, obwohl
der Futurismus den symbolistischen Teil seiner Wurzeln kaum verleugnen
kann. Hingewiesen sei nur beispielhaft auf die Poèmes barbares
von Leconte de Lisle, 1862 erschienen, denen Marinetti visionäre animalische
Embleme wie den Panther und den Jaguar entnommen hat, um sie dann auf die
Maschinenfauna von Auto und Jagdbomber zu übertragen. Oder auf Emile
Verhaerens Gedichtsammlung Les Villes tentaculaires von 1895, in
der die Visionen entfesselter Großstadtsynergien, wie sie später
der Futurismus zu entdecken vorgibt, längst präfiguriert sind.
Erstaunlicher ist schon, daß Marinetti zu seinem Lieblingsgegnern
ausgerechnet D’Annunzio macht, der sich selbst wiederum an der école
des symbolistes geschult hatte, nun aber - über einen diffusen Wagnerismus
und die Glorifizierung eines nietzeanischen Dionysmus vermittelt – Phantasien
einer zukünftigen Herrschaftsrasse entwirft. Unter Rivalitätsgesichtspunkten
gesehen leuchtet diese leidenschaftliche Feindschaft schon wieder ein,
wenn man sieht, wie beide in den 20er Jahren um die flankierende Stellung
bei Mussolini buhlen. Marinetti trifft D’Annunzio in seinen Attacken übrigens
zielsicher dort, wo er für seine eigene Anhängerschaft den meisten
Applaus zu erwarten hat und wo D’Annunzio trotz gemeinsamer kulturtheoretischer
Annahmen sich als hoffnungslos passatistisch erweist, in der Rolle der
Sexualität oder besser: in der Bedeutung des erotischen Begehrens
nämlich für die Hoffnungsträger des neuen, energetischen
und barbarischen Menschentums. Marinetti straft D’Annunzio gerade wegen
seiner ‚weichlich‘ genannten Inszenierungen der Wollust mit Verachtung.
Dekadent ausgefaltete Sinnlichkeit, auch wenn sie wie beim späteren
D’Annunzio ins Heroisch-Erhabene gewendet ist, bildet je geradezu den absoluten
Gegenpol zu der asketischen Virilität, wie sie Marinetti dem futuristischen
Mann zuschreibt. Sex spielt sich – salopp gesagt – unter dem Vorzeichen
des Futurismus in und eigentlich: mit der Maschine ab. Wenn es im futuristischen
Text ein Begehren gibt – das will ich gleich noch zeigen – dann eines nach
Schnelligkeit und nach schönem Metall.
Ich
will noch ein letztes Argument für eine die Provokation relativierende
Kontextualisierung vorbringen. Man darf nicht vergessen, daß Marinettis
programmatische Visionen gigantischer Machinalotrie ein zivilisatorisches
Gefälle ausnutzen, in dem Italien im Gegensatz zum industriell viel
weiter entwickelten Frankreich als ländlich geprägtes, wegen
der späten Nationenbildung kulturell noch zersplittertes Land dasteht,
das in allen technologischen Bereichen rückständig im Sinne Marinettis
ist. Marinetti nutzt dieses Gefälle zur tonangebenden Industrie- und
Kulurnation bewußt aus: einmal, indem er zwischen 1909 und 1914 viele
seiner Texte zunächst in Paris, und dann zeitversetzt in italienischer
Sprache in Mailand erscheinen läßt. Schon von daher haftet Marinettis
frühen Texten immer schon etwas Maßregelndes und Hinunterschauendes
an, ein Effekt, der sich – aus heutiger Sicht gesehen – ganz eigenartig
spiegelbildlich im Verhältnis zu den antiakademischen Ausfällen
ausmacht, die ja der grundlosen Arroganz der professoralen Diskurse gewidmet
sind. Überdies treibt Marinetti dieses zivilisatorische Gefälle
noch weiter, indem er in missionarischen Auftritten in diversen italienischen
Städten agitatorische Erweckungsarbeit leistet, und zwar je nach dem
urbanistisch-modernistischen Entwicklungsstand im Provokationsgrad gestuft.(Vgl.
Bild Nr. 11, Plakatankündigung einer „Grande serata futurista“ in
Rom 1m 9. März 1913)
Überhaupt
läßt sich in Marinettis Texten eine regelrechte Städte-Evaluierung
feststellen. Dabei überrascht es nicht, daß in diesem Ranking
Milano capitale del futurismo‘ als industriell avancierteste Großstadt
den Spitzenreiter bildet, während das Schlußlicht erwartungsgemäß
dem morbiden Venedig zufällt. In einem legendären „Discorso futurista
ai Veneziani“, den Marinetti zusammen mit seinen Freunden Boccioni, Carrà
und Russolo unterzeichnet, entladen sich Haßtiraden, die einem Bernhardschen
Österreich-Bild gleichkommen. Den Bewohnern Venedigs, der „stinkenden
Wunde des Passatismo“, wie es einmal heißt, wird eine vernichtende
Rechnung aufgemacht, der nur durch die Transformation des Canal Grande
in einen modernen Industriehafen zu enkommen sei. Interessant, wenn auch
angesichts der literturgeschichtlichen Topik des Venedigbildes wenig erstaunlich,
ist auch, daß es gerade die erotischen Konnotationen der Lagunenstadt
sind, an denen sich der Zorn in besonderem Maße entzündet: „Siamo
stanchi di avventure erotiche, di lussuria e di nostalgia! (Wir sind es
müde, von erotischen, wollüstigen und nostalgischen Abenteuern
zu hören) Perché dunque vuoi continuare ad offrirci delle donne
velate ad ogno svolto dei tuoi canali? (Warum fährst Du fort, uns
immerzu verschleierte Frauen an jeder Kanalecke vor Augen zu führen)
Basta! Basta! Finisci di mormorare osceni inviti a tutti i passanti della
terra (Es reicht, hör auf damit, obszöne Einladungen allen Passanten
ins Ohr zu flüstern!) Venezia,
vecchia mezzana curva sotto un pesante scialle di mosaici! (Venedig,
Du alte, unter einem Maosaikteppich gekrümmte Kupplerin!)“
Solcherart
apodiktische Erniedrigungen passatistischer Städte und Regionen fußen
nun noch auf einem sprachlichen Aspekt, den ich als letzten meiner Kontextualisierungsbemühungen
anführen möchte. Man darf nicht vergessen, daß die italienische
Nationalliteratur seit ihren Anfängen vor einem kapitalen Sprachproblem
gestanden hat. In welcher Sprache soll eine national zentrierende Literatur
in einem Land geschrieben werden, indem sich soziale Identitäten in
erster Linie über dialektale Sprachzugehörigkeiten konstituieren?
Zwar ist es de facto das Toskanische, das seit dem 16. Jahrhundert den
Sieg in der Rivalität der Dialekte um eine Nationalsprache endgültig
davongetragen hat. Aber die Folge ist auch eine recht hoch geschraubte,
elaborierte Kunstsprache, die sogenannte „lingua aulica“, die ‚Hofsprache‘,
in der sich national ausgerichtete Literatur artikuliert – im Gegensatz
zu den parallel weitergeführten dialektalen Literaturtraditionen.
Diese rhetorisch gesättigte Sprache ist aber unter dem Vorzeichen
der Moderne aus einsichtigen Gründen nicht mehr tragfähig. Avancierte
Autoren der Jahrhundertwende wie z.B. Italo Svevo und Luigi Pirandello
dekomponieren deshalb sehr bewußt auf unterschiedliche Weise die
tradierte „lingua aulica“, um wenigstens in einer gebrochenen und uneleganten
Syntax den vielfältigen modernitätsspezifischen Erfahrungen des
Disparaten, Halt- und Orientierungslosen Gestalt geben zu können.
De facto steht natürlich Marinetti, ohne dies je ausgesprochen zu
haben, vor demselben Problem. Mit welchen sprachlichen Mitteln, auf welchem
stilistischen Niveau oder gar in welcher regionalen Färbung soll die
Programmatik des futuristischen italienischen Menschen ausgesprochen werden?
Die poetische Praxis selbst – das werden wir gleich sehen – antwortet auf
diese Frage mit einer zerfetzten, ins Graphisch-Visuelle hinein verschobenen
Syntax. Die programmatischen Texte aber, also die Manifeste, die sich noch
im Vorfeld des Literarischen befinden, sind dagegen ganz offensichtlich
in einem traditionellen, wenn auch arg gesteigerten Pathos geschrieben.
Das mag uns heute outriert vorkommen; es ist aber de facto der wenig weitsichtige
Versuch Marinettis, der Tradition des „stile aulico“ wenigstens durch eine
Art Überdrehung des Rhetorischen zu entkommen. Manches von dem, was
uns aus heutiger Sicht als äußerst gewagt und schockierend in
den Formulierungen vorkommt, ist also dem simplen Umstand geschuldet, daß
Marinetti eine moderne und zukunftsträchtige italienische Nationalsprache
zunächst einmal nur durch eine Art vergewaltigter Literatursprache
der Tradition herzustellen vermochte.
Auch
wenn man die bisher angeführten Kontextualisierungen im Auge behält,
so verfügt der beginnende Futurismus doch noch über ein gerüttelt
Maß an Aggressivität, die über die literarische Rhetorik
hinausschießt und deshalb kaum plausibel mit Relativierungsversuchen
einer historischer Ehrenrettung neutralisiert werden kann. Besonders auffällig
wird dies in den berühmt gewordenen Parole in libertà,
1915 kurz nach dem Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg erschienen.
Hier geht es, wie der Titel schon ankündigt, um ‚befreite Worte‘,
oder besser: um in die Freiheit entlassene Worte. So
heißt es in der Vorrede im Staccato-Ton: „Bisogno furioso di liberare
le parole, traendole fuori della prigione del periodo latino“. Aus
dem Gefängnis des lateinischen Satzbaus sollen also die Worte in eine
Freiheit geführt werden. Die Syntax soll dazu zunächst einmal
aus einem subjektzentrierten Status herausgeführt werden. Das sogenannte
„technische Manifest“ von 1912 hatte ganz zu Beginn auch einen Grund genannt:
„Im Flugzeug, auf dem Benzintank, den Kopf erhitzt vom Bauch des Motors,
spürte ich die Lächerlichkeit einer aus den Zeiten Homers ererbten
Syntax.“ Der Kampfflieger ist gleichsam der Ursprungsort, von dem aus syntaktische
Strukturen ebenso obsolet werden wie das Festhalten an perspektivischen
Fixpunkten im Raum. Das hat zunächst einmal nichts mit der extremen
Schnelligkeit zu tun, die man zurecht als den eigentlichen Grund für
die futuristische Flugbegeisterung annehmen möchte. Entscheidender
für die Auflösung einer analytischen Syntax aus dem Geist der
Pilotenkanzel ist der Umstand, daß die Flugbewegung primär nicht
als Linie in einem stabilen Koordinatensystem, sondern als eine ekstatische
Turbulenz wahrgenommen wird, in der es weder eine klare Beobachter- und
Steuerungsposition noch eine perspektivisch verortbare Umgebung gibt. Die
Grenzen zwischen Subjekt und Umgebung werden durch Beschleunigungen, Turbulenzen
und Entperspektivierungen ebenso eingerissen wie der Konnex zwischen einem
steuernden Ich und einer dem Ich gehorchenden Fluglinie. Man kann das gut
an Beispielen der futuristischen Malerei aufzeigen, die sich oft und gerne
dem Flugmotiv zugewandt hat. Besonders aussagekräftig ist hier vielleicht
das Bild „Vortice della vita“ (Wirbel des Lebens) von Giacomo Balla, 1929
gemalt (Abb. 6).
Ganz
offensichtlich ist der semantische Gegenstand des Bildes, die Bewegung
des Wirbels, von dem behauptet wird, er sei dem Leben eigen, einer Flugbewegung
nachempfunden. Der Bildaufbau modelliert einen Strudel in einer abstrakt
bleibenden Materie, bei dem die eigentliche Dreh- und Schaubbewegung durch
flugähnliche Spitzen angedeutet wird. So wird eine visuelle Dynamik
erzeugt, in der es außer dem internen Fluchtpunkt, d.h. dem Zielpunkt
der Wirbelbewegung, keine Parameter für ein stabiles Koordiantensystem,
vor allem aber keine Wahrnehmungsperspektive mehr gibt. Ganz analog will
Marinetti mit der Syntax seiner Texte verfahren. So heißt es in dem
Essay „Distruzione della sintassi“ von 1913: „Immer auf der Suche danach,
die größtmögliche Menge von Vibrazionen und die tiefstgreifende
Synthese des Lebens zu produzieren, reißen wir alle stilistischen
Bindemittel und alle glänzenden Spangen, mit denen die traditionellen
Dichter die Bilder in ihren Satzbau einbauen, heraus.“ Der eigentliche
Zielpunkt dieser Entsytagmatisierung ist dabei die Zerschlagung einer subjektgebundenen
Perspektive: „Distruggere nella letteratura l’io“ (Das Ich in der Literatur
zerstören) heißt es einmal martialisch. An die Stelle einer
subjektgebunden Textorganistation soll die Dynamik der Materie selbst treten.
Überhaupt wird der Text nicht mehr als ein anthropozentrisch ausgerichtetes,
linear lesbares Zeichengebilde aufgefaßt, sondern als eine Art Abenteuerspielplatz,
in dem sich der Dekodierungsprozeß wie eine mit Synkopen, scharfen
Wendungen, Brems- und Beschleunigungsmanöver skandierte Bahnfahrt
darstellt. Besondere Konsequenzen hat dieser Textbegriff für die Bewertung
der Wortkategorie des Adjektivs. Traditionellerweise, d.h. in einer dem
Lateinischen entlehnten Syntax, stellt das Adjektiv als Epitheton für
eine qualitative Zuordnung dar, mit der Sprechende ein Nomen mit einer
Eigenschaft spezifiziert. Dagegen soll der futuristische Text, so Marinetti,
die Adjektive von der Zuordnung zum Substantiv lösen und sie wie Eisenbahnsignale,
Straßenampeln, Warnzeichen, Leuchttürme usw. benutzen, die die
Dynamik der Lektüre so steuern, wie es die im Text organisierte Materie
erfordert. Entsprechend sind natürlich auch finite Verbformen mega-out.
Sie tragen ja – bildlich gesprochen – eine bestimmte Bewegungsart in eine
temporale und soziale Matrix ein, was der futuristischen Vorstellung eines
dem Leben analogen turbulenten Eigenlebens des Textes kaum entspricht.
Interessanterweise begnügt sich Marinetti bei der Apotheose der infiniten
Verbform keineswegs mit dem Hinweis, daß der Infinitiv die Bewegung
„an sich“ als reine und ungebundene Form von Dynamik anzeigen kann. In
seiner technozentrischen Metaphorik weist er die infiniten Verbformen vielmehr
als die Räder aus, die – wie in der Funktions der Wagonräder
der Eisenbahn – pure und beliebig maximierbare Schnelligkeit ermöglichen.
Zwei
Prinzipien forcieren dabei noch die dynamistische Vorstellung, die Marinetti
vom futuristischen Text entwickelt, der onomatopoetische Einsatz von Wörtern
und die typografische Gestaltung. Onomatopoetische Prinzipien dienen seit
alters her dazu, eine besondere präsenzsimulierende Leistung des sprachlichen
Zeichens zu suggerieren. Indem man die kulturell kodierte Willkürlichkeit
des sprachlichen Zeichens in bezug auf seine Bedeutung überlagert
mit einer phonetischen Motivation, wirkt das Gemeinte so, als wäre
es unmittelbar präsent. Bei Marinetti geht diese Funktion aber noch
viel weiter. Er stellt onomatopoetische Wirkungen mindestens gleichberechtigt
neben die kulturell kodierten semantischen Bedeutungen. Darin zeigt sich
ein aufschlußreiches Mißtrauen gegen die Schrift. Denn es ist
ja gerade die – lautlose - Schrift, die seit ihrer kodifizierenden Funktionalisierung
im jüdisch-christlichen Kulturraum für sich in Anspruch nimmt,
Wahrheiten im Kontinuum eines Tradionsgefüges auf Dauer zu stellen
und den Kontingenzen der mündlichen Äußerungen zu entziehen.
Das Schriftzeichen reichert sich in diesem Sinne auch durch historisch
sich wandelnde semantische Einlagerungen an. Entsprechend ist das schriftzentrierte
Wort in sich ein Mikrokosmos mit jeweils eigener historischer Tiefendimension,
das die traditionellen Poeten gezielt ausnutzen. Erwartbarerweise erhält
Mallarmé an diesem Punkt der futuristischen Argumentation eine besonders
harte Tracht Prügel. Seine Suche nach einem komplexen „mot rare“,
das wie eine Preziose eine Vielzahl intertextueller Verküpfungen in
den eigenen Text einspeist, hält Marinetti für eine Ästhetik
der Dekoration und der Girlanden. Marinetti will dagegen die Schrift nur
noch als szenographische Partitur für einen prinzipiell sinnlich hörbaren
Text verstanden wissen. Das futuristisch gute Wort ist, wenn ich das einmal
parodistisch ausdrücken darf, immer an einen hörbaren Knalleffekt
gebunden. Das hat weitreichende mediale Konsequenzen. Denn trotz der offensichtlichen
Anlehnung des idealen futuristischen Textes an die graphisch-visuelle Dimension
des Bildes handelt es doch eigentlich um eine primär mündlich
wirkende Kunst. Nicht zufällig hat der Futurismus denn auch die Institution
des Reziationsabends gepflegt, bei dem fremde und eigene Texte regelrecht
theatralisch inszeniert und mit piktoralen und musikalischen Begleitungen
gemixt wurden. Daß diese Rezitationsabende oft genug in Krawallen
endeten, gehörte verständlicherweise mit zur Strategie eines
Überschießenlassens der Kunst in die Sphäre des sozialen
Lebens.
Auch
das zweite von mir genannte Prinzip, die typographische Revolution, zielt
paradoxerweise zumindest partiell auf eine Oralisierung des Textes. Bei
der Benutzung verschiedener Drucktypen und dem Aufbrechen des linearen,
leseorientierten Zeichenaufbaus geht es weniger um eine Visualisierung
einer Buchstabenkunst, die vielleicht mit Hintersinnigkeiten, Ironien und
semantischen Subtilitäten die traditionelle Textsemantik unterminieren
oder erweitern könnte. Vielmehr geht es Marinetti darum, die Textoberfläche
als eine Art Partitur zu gestalten, in der kein konsekutives, lesendes
Verstehen mehr möglich ist, wohl aber ein gleichsam nachsprechende
Rekonstruieren des Geschehens, das sich im Text Ausdruck verschafft. So
behauptet Marinetti, daß er – wozu es freilich nie gelangt hat –
bis zu 20 verschiedene typographische Schriften und mindestens vier Farben
verwenden wolle, um unterschiedliche Schnelligkeits- und Intensitätsgrade
der bezeichnete Sache anzuzeigen.
Es
versteht sich von selbst, daß diese Programmatik nur unvollständig
in der poetischen Praxis umgesetzt wird. Um aber wenigstens an einem Beispiel
eine Vorstellung von der Praxis der ‚entfesselten Worte‘ geben, wollen
wir uns die Abb. 5 kurz vornehmen und ansatzweise analysieren. Es handelt
sich, wie auf Anhieb deutlich wird, um eine Kampfszene zu Beginn des Eintritts
Italiens in der Ersten Weltkrieg. Ort der Handlung ist die Gegend um Riva
di Trento, westlich des Etschtals in Richtung Gardasee. Begrenzt wird der
Ort durch die beiden Bergmassive Monte Creino und Monte Biaene, die den
Schauplatz eines im Hintergrund bleibenden Artillerie-Gefechts zwischen
Österreichern und Italienern bilden. Protagonsten der Handlung sind
– abgesehen von den Kanonenexplosionen – ein italienischer Spähtrupp,
darunter – so kann man aus einer Namensnennung schließen – Marinetti
und der Freund und futuristische Maler Boccioni. Die Dialoge, die um einen
Nahkamf zwischen Österreichischen Schützengräben kreisen,
sind eingebettet in verschieden dimensionierte Schußgeräusche,
von denen schon das ins Auge fallende RAMEEEEE-RIROOOOO-klop eine
strukturbildende Funktion hat. Daß es sich um die Detonation von
Granaten handelt, ist eigentlich nur über den durch das lautmalerische
Knallen hindurchschauenden semantischen Restbestend erschließbar:
‚La rame‘ ist das Kupfer, aus dem bekanntlich die meisten der Granaten
des Ersten Weltkriegs gefertigt waren. Von einem gewissen Reiz ist vielleicht
noch die gegenläufige Bewegung, die sich zwischen der ersten Zeile,
einer Serie lautlos gegen Ende hin eskalierender X-Laute, und der fünften
Zeile, dem lautmalerisch nachgeahmten Artilleriegeschoß, bildet.
Während diese akustische Linie in dem vergleichweise dezenten dumpfen
Einschlag des Geschosses mündet (das trockene: KLOP), zeigt die zeitgleiche
Explosion der stillen, nicht aussprechbaren X-Linie das Telos des Todes
an. Akustischer Höhepunkt der Textseite ist aber, wenn man so will,
der in der Seitenmitte graphisch parallelisierte Austausch unterschiedlicher
Gefechtssalven, wobei die eingestreuten, geradezu syntaktisch untergeordneten
nicht-onomatopoetischen Zeichen, also die konventionell benutzten Wörter,
als blitzartig vorbeihuschende Gedankensplitter der Soldaten verstanden
werden können. Sie sind – den Umständen entsprechend – weitgehend
entsyntagmalisiert.
Ich
will es bei meinen Verstehensversuchen bei diesen dürftigen Hinweisen
belassen. Es dürfte trotzdem klar geworden sein, daß es in der
Tat vor allem das Kriegsgeschehen ist, was sich in geradezu kongenialer
Weise für eine futuristische Vertextung im Sinne Marinettis eignet.
Andere Beispiele aus „Parole in libertà“ hätten weitere, aber
nicht prinzipiell andersartige Schlacht- und Kampfszenarien vor Augen,
oder besser: vor Ohren geführt. So nimmt es denn auch nicht wunder,
daß einem nahen Mitstreiter Marinettis, dem Maler, Graphiker und
Autor Carlo Dalmazzo Carrà, der Krieg und der Futurismus so eng
ineinander verflochten schien, daß er 1914, zu Zwecke propangandistischer
Mobilmachung, eine graphisch gestaltete „Futuristische Synthese des Krieges“
veröffentlichte (Abb. 3) In diesem Schema wird der Futurismus zur
ideologischen Speerspitze erklärt, mit der die fortschrittlichen Staaten
(und darunter bald auch Italien) der germanischen Welt ihre passatistischen
Unwerte austreiben werden. Das Projektil des Futurismus (und natürlich
der Grande Guerra) beeinhaltet alle Tugenden, die der Futurismus je für
sich reklamiert hat, während Österreich und Deutschland in geradezu
niedlicher Manier für alle unfuturistischen Untugenden herhalten müssen.
(Hörbeispiel:
Marinetti liest selbst in einer Séance einen Text aus dem Kriegspoem
Zang Tumb Tuuum aus dem Jahr 1914; der Text hat seinen Hintergrund
in dem türkisch-bulgarischen Feldzug, den Marinetti 1912 als Berichterstatter
miterlebt hat. Im Mittelpunkt dieses Textes steht die Schlacht um Adrianapoli)
(Hinweis
evtl. auch auf Abb. 2 [Gino Severini: Versuch einer Darstellung des Krieges,
1915], in der eigentümlicherweise der Krieg noch in einer heroischen
Verkleidung dargestellt wird [Schnelligkeit])
2.
(Geschwindigkeit, Maschine, Sexualität)
„Bisogna
perseguitare, frustare, torturare tutti coloro che peccano contro la velocità“
(Man sollte diejenigen, die gegen das Gebot der Schnelligkeit sündigen,
verfolgen, auspeitschen und quälen) – so heißt es 1916 in dem
Manifest „La nuova religione-morale dela velocità“. Schnelligkeit
und mehr noch: die beliebig steigerbare Beschleunigung von Bewegung bildet
die innere Achse des futuristischen Wertsystems. Auch dies ist ein Merkmal,
das zumindest sehr affin zur modernen Kriegsführung ist; denn in der
neuzeitlichen Materialschlacht, in der der soldatische Kampf nichts, das
Aufeinanderprallen großer Quantitäten von Waffensystemen dagegen
alles zählt, gibt es nur einen Faktor, mit dem man die Trägheit
des zerstörenden Materials noch überlisten kann, und das ist
die Zeit. Schnelle und schnellste Geschoßtechniken, größtmögliche
Mobilität der Fahrzeuge, aber auch rapide Datenübertragung per
Telegraph und Telephon sichern den Sieg, wenn er über die pure materiale
Superiorität nicht zu haben ist. Marinetti, der übrigens auch
vom telegraphischen Schnellstil militärischer Botschaften fasziniert
ist, überträgt diese kriegsbedingte Entdeckung des Faktors Beschleunigung
freilich auch auf andere, um nicht zu sagen auf alle Lebensbereiche. So
heißt es 1912 im „Manifesto tecnico della letteratura futurista“:
„Die Welt schrumpft durch die Geschwindigkeit zusammen. Neues Weltgefühl.
Will sagen: die Menschen haben nacheinander das Gefühl für das
Haus, das Gefühl für das Stadtviertel, das Gefühl für
die Stadt, das Gefühl für die geographische Zone, das Gefühl
für den Kontinent erworben. Heute besitzen sie das Gefühl für
die Welt. Es hat wenig Sinn zu wissen, was ihre Vorfahren taten, aber sie
müssen wissen, was ihre Zeitgenossen in allen Teilen der Erde tun
[...]. Das menschliche Gefühl nimmt gigantische Ausmaße an,
es besteht die dringende Notwendigkeit, jeden Augenblick unsere Beziehungen
zur ganzen Menschheit zu bestimmen.“
Mit
einem Seitenhieb auf alles historische Wissen, das als entbehrlich ausgewiesen
wird, stellt Marinetti eine bestürzend weitsichtig klingende Forderung
auf: Jeder soll durch die modernen Bewegungs- und Informationssysteme dazu
gebracht werden können, daß man in Annäherung der Echtzeit
fast zeitgleich über das Tun weit entfernter Menschen informiert ist,
sei es durch Selbstbewegung des eigenen Körpers dorthin, wo man nicht
ist, sei es durch Übertragung von Daten von daher, wo man gerade nicht
sein kann. Zeit wird hier nicht mehr als evolutionäre oder historisch
verbindende Dimension, sondern als zu eliminierender Störfaktor eines
Vernetzungsbegehrens verstanden. Zeit ist das, was es - der Tendenz nach
– einzuschmelzen gilt. Die futuristischste Zeit ist deshalb, wenn man so
will, die Nicht-Zeit, die Gleich-Zeitigkeit alles Gegenwärtigen, oder
mit einer anderen, dem Futurismus lieb gewordenen Formel ausgedrückt:
die Simultaneität. In einem anderen Text heißt es dazu: „Die
hohe Geschwindigkeit eines Automobils oder eines Flugzeugs erlaubt, verschiedene
weit voneinander entfernte Punkte auf der Erde rasch zu erfassen und zu
vergleichen, mit anderen Worten: mechanisch die Arbeit der Analogie zu
verrichten. Wer viel reist, erwirbt auf mechanische Weise Geist, nähert
durch systematische Betrachtung und Vergleich die entfernten Dinge einander
an und entdeckt ihre geheime Affinität. Eine große Geschwindigkeit
ist eine artifizielle Reproduktion der analogischen Inuition des Künstlers.
Drahtlose Allgegenwart der Einbildungskraft = Geschwindigkeit. Schöpferisches
Genie = Geschwindigkeit.“ Interessanterweise benutzt Marinetti hier ein
barockes, concettistisches Modell des Künstlers, demgemäß
die genialische Fähigkeit des Poeten darin besteht, über blitzartige
Analogiebezüge zwischen den Dingen und zwischen den Worten eine regelrechte
Weltstruktur entstehen zu lassen. So wie nun in der Vision des schöpferischen
Poeten durch dessen blitzartige Koordinierungen des scheinbar Heterogenen
eine Gleichzeitigkeit der Dinge in der statischen Analogie entsteht, so
ziehen die modernen Kommunikationsmedien verschiedenste Räume in eine
zeitlose Allgegenwart hinein.
Solange
nun Simultaneität von Ereignissen oder Handlungsorten nicht herzustellen
ist, solange also die Transformation der historisch denkenden Welt in einen
Apparat des zeitgleichen Wissens und Bewußtseins der Menschen nicht
gelingt, solange muß die zweitbeste Zeitqualität als
die Meßlatte bilden: und das ist die Schnelligkeit, konkreter: die
Beschleunigungsfähigkeit von Zeit- und Ortrelationen. Dazu allerdings
braucht man wiederum Maschinen, also Telegraphen, Rennautos, Schnellzuglokomotiven;
Flugzeuge. Die kindliche anmutende Begeisterung des Futurismus für
diese Mobilitätsbeschleuniger muß ich hier vielleicht nicht
an Beispielen zu belegen. Sie ergibt sich direkt und ungebrochen aus der
uneigeschränkten Lust an der katapultierenden Bewegung des Körpers
im Raum. Nur ein Besipiel unter vielen möglichen: „Welche Lust, allein
im dunklen Fond eines Wagens zu sein, der durch die hüpfenden Eislichter
einer nächtlichen Großstadt saust: ganz spezielle Lust, sich
als schnellen Körper zu empfinden. Ich pflege oft zwischen zwei Eilzügen
am Bahnhof zu essen; mein Blut springt von der Uhr an der Wand zum dampfenden
Teller; die Spirale aus Angst und Erinnerung dreht sich ins Herz. Es muß
sofort mit Geschwindigkeit gestärkt werden.“
Aufschlußreicher
als die zahlreichen lustvollen Hymnen auf Bahngleis, Gaspedal, 12-Zylinder
und Steuerknüppel ist vielleicht der Umstand, daß die Elogen,
mit denen der Maschinenpark des neuen Jahrhunderts begrüßt werden,
gelegentlich einen scheinbaren Nebenaspekt der Schnelligkeit wieder in
den Vordergrund rücken. Es ist das Kollabieren der Beschleunigung
im Crash, die latente destruktive Energie, die in dem Augenblick die Oberhand
gewinnt, wo die Geschwindigkeit sich als Faktor der Zeit durch die Kollision
mit anderen Zeitvektoren im Raum überhaupt wieder spürbar macht.
Es gibt eine geradezu enthusiastische Beschreibung eines Autounfalls, den
Marinetti literarisch zumindest plausibel literarisch imaginiert; aber
es gibt auch viele andere Texte, in denen der Glanz der schnellen Maschine
gerade in der Katàstrophe seiner Zerstörung literarisch eingefangen
wird.
Nur
aus Gründen der schnelleren Darstellbarkeit dieses Phänomens
möchte ich die Lust an der Destruktion der schönen Maschine an
einem Beispiel der darstellenden Kunst erläutern, in dem es nun nicht
um Schnelligkeit, sondern um Effizienz und mechanische Elegenanz geht.
Es ist das Ölgemälde Macchinismo babelico von Fortunato
Depero aus dem Jahr 1930 (Abb. 9). Wie in vielen anderen motivgleichen
Bildern steht hier das Unheimliche, aber auch die Faszination einer unüberschaubaren
Maschinenwelt im Vordergrund. Parallele, gewinkelte, gebogene und gerundete
Formen mechanischer Einzelteile bilden hier ein Stilleben, dessen Hintergründigkeit
sich erst durch den handgeschriebenen Untertitel (rechts unten) erschließt:
Dort steht, was der überlieferte Bildtitel vom babylonischen Maschinismus
euphemistisch verschweigt, der erklärende Zusatz nämlich: „Grattacieli,
tubi, gallerie terremotate“ – also: Wolkenkratzer, Röhren und Bogengänge,
durch ein Erdbeben zum Einsturz gebracht. Schaut man näher hin, so
sieht man tatsächlich ineinandergeschobene, funktional inkompatible
Formen; aber sie bilden im Bildaufbau keineswegs ein Chaos. Vielmehr fügen
sie sich paradoxerweise zu einem symmetrischen Gebilde mit einer zentralen
Achse, einem mittig sichtbaren Schwerpunkt und sternförmig sich nach
außen abbauenden Formen zusammen. Wenn man so will, handelt es sich
um ein modernes Idyll, dem auf eigentümlich barocke Weise ein Telos
der genuinen Zerstörtheit eingeschrieben ist: die Schönheit der
im Zusammenbruch sich ästhetisch noch fügenden Technik.
Die
Faszination, die für den Futurismus von der Maschine ausgeht, wäre
allerdings nur halb so aufschlußreich für die menschheitsgeschichtliche
Selbsteinschätzung, wenn mit dieser Orientierung nicht auch die Vorstellung
einer Art anthropologischer Mutation verbunden wäre, die weitreichende
Konsequenzen hat. Der Futurismus inszeniert nämlich die Maschine nicht
allein als ein Objekt erotischer Begierde des Mannes, was unter der Rubrik
einer kollektiven virilen Fetischisierung leicht abzuhaken wäre: Er
treibt vielmehr dieses männliche Begehren des Stahls auch in eine
Neukonfigurierung der Geschlechtlichkeit hinein, die – ähnlich wie
bei der Zerstörung der Zeit durch Beschleunigung – die geschlechtliche
Differenz in einer Kontiguität von männlichem Körper und
stählerner Maschine aufheben will. In dem Text „Der multiplizierte
Mensch und das Reich der Maschine“ ist zunächst einmal treuherzig
von der Verschiebung der Erotik in die Mann-Maschine-Relation die Rede:
„ Habt ihr nie einen Lokomotivführer beobachtet, wie er liebevoll
den großen und mächtigen Körper seiner Lokomotive wäscht?
Es sind die präzisen und wissenden Zärtlichkeiten eines Liebhabers,
der die angebete Frau liebkost.“ Man mag solche und ähnliche Formulierungen
noch unter dem Signum einer Provokation der topisch-erotischen Salonliteratur
verstehen. Aber Sätze wie die folgenden verstehen sich durchaus als
weltgeschichtlich-antizipatorische und haben keinerlei rhetorischen Charakter:
„Man begegnet heute Menschen, die in schöner, stahlfarbener Stimmung
beinahe ohne Liebe durchs Leben schreiten. Sorgen wir dafür, daß
die Zahl dieser exemplarischen Menschen stetig zunehme. Anstatt abends
eine süße Geliebte aufzusuchen, lieben es die energischen Wesen,
morgens mit liebender Sorgfalt dem perfekten Betriebsbeginn in ihrer Werkstatt
beizuwohnen“.
Man
wäre vielleicht auf Anhieb geneigt, solche und ähnliche Sätze
als selbstparodistisch oder als ironische Bloßlegungen bürgerlicher
Tugenden der Sublimierung von Lust in Arbeit aufzufassen. Nichts aber wäre
verkehrter; schon das völlige Fehlen einer protestantischen Arbeitsethik
in Italien würde derartige Ironien schwer verständlich machen.
Tatsächlich ist das futuristische Oeuvre durchzogen von einer ganzen
Serie durchaus ernstgemeinter Polemiken gegen alles überkommen Erotische,
sofern es nicht – wie gesagt – in ein viriles Begehren der schnellen Maschine
umgeformt wird. In der Tat geht die aggressive Desexualisierung des futuristischen
Menschen vor allem auf Kosten der Frau, oder besser: auf Kosten des Bildes
der Frau, die nicht nur in einer auf die Spitze getriebenen maskulinen
Sicht der Geschlechtlichkeit von der Maschine ersetzt wird. Sie wird –
entsprechend dieser Logik – als Inkarnation des Geschlechtlichen überhaupt
dem passatistischen Kultursystem zugeschlagen. Man mag in dieser aggressiven
Abwehr der Sexualiät und der Frau als (so gesehener Inkarnation des
Geschlechtlichen) eine narzißtische Projektion des maskulinen Wunschkörpers
auf dessen mechanisches Analogon sehen. Der futuristische Mann denkt sich
gleichsam als eine Proto-Maschine, die sich in der wirklichen mechanischen
Maschine noch einmal spiegelt. So ist es auch kein Zufall daß der
Zeugungsaspekt der Sexualität dem futuristischen Denken eine horrende
Vorstellung ist. In dem Roman Mafarka-futurista von 1910, in dem
Marinetti die schwülstige Geschichte eines mythologisch konstruierten
afrikanischen Kämpfers entfaltet, taucht denn auch mehrmals die Vision
einer zeugungslosen Geburt, die Vorstellung der männlich-maschinellen
Selbstreproduktion auf. Die entsprechenden Stellen, in denen verschiedene
Mythen der menschlichen Selbstschöpfung mit Frankenstein- und Prometheusmotiven
kombiniert und mit nietzeanisch-dionysischen Gewürzen angereeichert
werden, möchte ich Ihnen – und mir – gerne ersparen.
Schließen
möchte ich meine – vielleicht etwas launisch gehaltene – Einführung
in den Futurismus mit einem Aspekt, der Ihnen vielleicht tröstlich
erscheint: Es gab auch eine weibliche Stimme im Futurismus; aber es wird
Sie nicht erstaunen, wenn sie heute wahrscheinlich nicht mehr überzeugen
kann: Valentine de Saint-Point hat 1914 im
Futuristischen Manifest der
Frau Marinettis programmatische Verachtung der Frau für einen
femininen Futurismus gerettet, indem sie eine neue, weiterführende
Opposition einführt: Nicht Frauen und Männer gäbe es in
der sozialen Wirklichkeit, sondern „Weibheit“ und „Mannheit“, und zwar
in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen. Die moderne Vorstellung
der sozialen Konstruktion des Geschlechts als einer konventionellen, aber
eben auch steuerbaren Identititätsfindung jenseits der Biologie ist
hier durchaus im Ansatz vorhanden. Gleichwohl wird es Sie nicht verwundern,
wenn die Wunschvorstellungen von der futuristischen Frau letztlich komplementäre
Spiegelbilder des futuristischen Mannes sind, in denen nun männliche
Markierungen die Oberhand gewonnen haben: wild, grausam, kämpferisch
soll sie sein, sich auf die gebärende und aufopfernde Kraft besinnen.
Sie sehen: Auch hier – bei diesem Text – hält sich die Freude des
Lesers in Grenzen.