Die lateinamerikanische
Avantgarde
(Ringvorlesung
RUB 12.1.2000)
Prolog
Dieser
Koffer ist ein Kunstwerk der historischen Avantgarde. Der Koffer stammt
aus dem Jahre 1920 und besteht aus dem damals innovativen synthetischen
Stoff der Vulkanfiber. Ganz Europa und Amerika war im Vulkanfieber seit
Beginn des Jahrhunderts[1].
Sie erinnern sich: es war der Tanz der Belle Époque auf dem Vulkan.
Die Vulkanfiber - gemäß Meyers Konversationslexikon
-
diente vornehmlich der Herstellung von Koffern und Dichtungen bzw. Dichtungsringen.
In einem der wichtigsten literarischen Manifeste der lateinamerikanischen
Avantgarde, dem Manifiesto Martín Fierro des Argentiniers
Oliverio Girondo von 1924 wird der - aus Vulkanfiber hergestellte - Koffer
Innovation
als ein futuristisches Kunstwerk, eine „obra de arte“
gepriesen, vor allem bei Ozeanreisen auf Ozeanriesen, die „geschmackvoller
als Renaissance-Paläste“ sind. In Ermangelung eines solchen Ozeandampfers,
den der Vater des Vortragenden leider nicht besaß, stelle ich Ihnen
den historischen Koffer außerhalb seines situativen Kontextes vor.
Über den ästhetischen Wert des einst innovativen Koffers läßt sich sicherlich streiten, besteht doch der ästhetische Wert des futuristischen Kunstwerks gerade in seinem transitorischen Charakter, der dem transhistorischen Gegenstand notwendigerweise abhanden kommt. Er setzt die Patina des Passatistischen an, die dem Futuristen zuwider ist. Es sei denn, man modernisiert den alten Koffer mittels des ästhetischen Aktualismus, der ja auch ein futuristisches Prinzip war. Dieses ersetzt das Neue durch das Aktuelle, und das Aktuelle kann auch das Älteste sein.
Zur
Illustrierung der Vorlesung nun eine Mise en abîme, das Schachtelspiel
derCajas chinas bzw. derPoupées
russes: In dem alten Koffer befindet sich ein neuerer Koffer; auf ihn
ist eine moderne Dichtung aufgedruckt, eine Art Weltformel 2000. In ihm
befinden sich alte Dichtungen der historischen Avantgarde in Originalausgaben:
einige Bände der Literaturzeitschrift La Pluma aus Montevideo
von 1927 sowie das Gründungsmanifest der bedeutendsten surrealistischen
Gruppe Lateinamerikas, der chilenischen Mandrágora, von 1938.
Außerdem ein neuerer Dichtungsring
von 1996; in ihm ist enthalten
das lyrische Testament des letzten bis vor kurzem noch mit der Dichtung
ringenden lateinamerikanischen Surrealisten, des Mitbegründers der
Mandrágora, Enrique Gómez-Correa, der auch
an der Ausstellung im Museum Bochum von 1993 über Lateinamerika
und der Surrealismus beteiligt war. Bei der Ausgabe des Dichtungsrings
handelt es sich um eine spanisch-deutsche Originalausgabe, mit einem
Porträt des Dichters von René Magritte und bis dahin unveröffentlichten
surrealistischen Zeichnungen. Die Edition wurde von einer Bonn-Bochumer
Studenten- und Dozentengruppe besorgt[2].
Und schließlich enthält der Koffer noch das Skript der gegenwärtigen
Vorlesung, das seinerseits alles Gesagte noch einmal enthält[3].
Vgl. Epilog!
Zur
Ansicht und zur besseren Einsicht!
-
15 Jahre vor dem Ausbruch des Futurismus in Europa und Südamerika
gab es bereits eine Kritik desselben, und zwar in dem Gedicht Futura
(ca.1895) des modernistischen ‘Nationaldichters’ Kolumbiens, José
Asunción Silva (vgl. Diss. Rodrigo Zuleta RUB 1999); ein anarchistisches
Attentat auf die Zeit und Raum auffressende Sancho-Panza-Mentalität
der Verkehrs- und Kommunikations-gesellschaft, inszeniert auf dem Frankfurter
Römerplatz, wo im 25.Jahrhundert ein Eisenbahnknotenpunkt zwischen
Liverpool und Peking eingerichtet werden soll, sozusagen vor den Augen
Goethes, der freilich das „veloziferische“ Zeitalter vorhergesagt hatte
(„Alles ist veloziferisch“), nicht ohne die ‘luziferischen’ Seiten desselben
im Zauberlehrling
zu beschwören.
-
Zwei Wochen nach Ausbruch des Futurismus, Anfang März 1909,
gab es in Südamerika eine der treffendsten Satiren des Futurismus
überhaupt, die spitz kommentierte Übersetzung der elf
Thesen des Gründungsmanifestes Marinettis durch den lateinamerikanischen
Modernisten Ruben Darío in der argentinischen Zeitung La
Nación.
-
Während die futuristische Avantgarde Europas in Lateinamerika
sehr früh schon demontiert wurde, hat die dadaistische
und die surrealistische Avantgarde dort ihren eigentlichen Ursprung,
und zwar schon vor der Eroberung Amerikas durch die Europäer:
dies ist die Grundthese des Menschenfressermanifestes (1928),
der kulturellen Anthropophagie der brasilianischen Modernisten, insbesondere
Oswald de Andrades.
-
Auch ohne diese leicht anachronistische Volte kann man sagen, daß
drei der großen ‘Vorreiter’ der Avantgarde des 20.Jahrhunderts
aus Lateinamerika stammen: die in Montevideo geborenen und in Frankreich
und Deutschland wirkenden Dichter Lautréamont, der in den
Chants de Maldoror sich selbst so nennende „le montévidéen“
(Wegbereiter des Surrealismus, um 1870) und Jules Laforgue (frz.
Stilrevolutionär mit südamerikanischem Sub-Diskurs, um 1885)
sowie der Brasilianer Sousândrade, einer der ersten panamerikanischen
und polyglotten Dichter, dessen lyrisches Epos O guesa errante (Indianische
Odyssee, ca.1870-1890) ein wichtiger Prätext nicht nur der Cantos
von Ezra Pound ist. Insgesamt also schlechte Nachrichten für die
europäische und die nordamerikanische Avantgarde: „Mauvaises nouvelles
de l’avant-garde“ (vgl. Bild in Pariser Expo-Katalog 1889, hier: Rückencover;
vgl. auch den tödlichen Sturz des italienischen Futuristen Boccioni
vom Pferd während eines Übungsrittes im 1.Weltkrieg, 1916).
-
Direktes Mitwirken lateinamerikanischer Literaten und Künstler
an der Herausbildung der europäischen Avantgarde: der Chilene Vicente
Huidobro seit 1916 in Paris; zusammen mit Pierre Reverdy, 1917 begründet
er die Zeitschrift Nord-Sud
und seit 1914 entwickelt er in Chile
und Buenos Aires den poetischen Kreationismus; der Argentinier Borges,
seit 1914 in Europa und 1918 Mitbegründer des spanischen Ultraísmo,
den er 1922 nach Argentinien exportiert; der Brasilianer Ronald Carvalho,
der zusammen mit Mário de Sá-Carneiro und Fernando Pessoa
die portugiesische Zeitschrift Orfeu 1915 gründete,
bevor er eine der herausragenden Figuren der Semana de Arte Moderna
in S.Paulo 1922 wurde; die brasilianische ‘Menschenfresserin’ Tarsila
do Amaral, die der kulturellen Anthropophagie mit einem so betitelten
Bildnis den Namen gab, illustrierte einen der lyrischen Klassiker
der französischen Avantgarde, Blaise Cendrars’ Feuilles de route
/ Reiseblätter (1924) (Text / Bild no. 3).
-
Das wohl bedeutsamste Paradox, das die südamerikanische Avantgarde
wesentlich von der europäischen unterscheidet, ist der Simultaneismus
von aktueller Gegenwart und archaischer Vergangenheit, die
authentische Synthese von Modernismus und Primitivismus,
wobei letzterer nicht im europäisch exotischen, sondern im endogenen,
indigenen Sinne zu verstehen ist. Die genuinste Gestalt hat diese gewonnen
in der Pau-Brasil- und der Antropofagia-Bewegung des brasilianischen
Modernismus; letzterer setzte zudem das Zeichen für die volle
Autonomie der lateinamerikanischen Literatur und Kultur in der Semana
de Arte Moderna, der Woche der Modernen Kunst von 1922; in Fortführung
des ‘oxymoralischen’ Mottos einer brasilianischen Akademie des 18.Jahrhunderts
„Sol oriens in occiduo“ (die leider zu oft vergessene Academia
Brasílica dos Esquecidos / Brasilianische Akademie der Vergessenen,
Rio de Janeiro 1724) wurde lateinamerikanische Literatur erstmals zu einem
selbstverwalteten Exportartikel: „a Poesia Pau-Brasil, de exportação“
/ „die zum Export bestimmte Brasilholz-Dichtung“ (Oswald de Andrade, Manifesto
da poesia Pau-Brasil, 1924), in Anlehnung an bzw. Ablehnung von der
ersten historischen Kolonialware Brasiliens, die dem Land den Namen gegeben
hat: Pau-Brasil = Brasilholz (besonders als roter Farbstoff genutzt, nicht
zuletzt für die rote Tinte, mit der das kolonialistische Europa der
übrigen Welt Kulturnoten verteilte).
Das,
was die europäische und die lateinamerikanische Avantgarde am meisten
vereint, ist das Moment der Simultaneität und das ästhetische
Prinzip des Simultaneismus. Der simultaneistisch-modernistische
Avantgarde ist die erste fast gleichzeitig und nahezu weltweit - vor allem
aber in Europa und Amerika - entstehende und stattfindende literarische
Bewegung; erste Verwirklichung der von Goethe postulierten Weltliteratur,
der miteinander unmittelbar dialogierenden Literaturen der Welt; Herausbildung
eines globalen pluralen Kultursubjektes, moderner Kosmopolitismus:
„Nuovo senso del mondo“ (Marinetti), „conscience internationale“ (Yvan
Goll); „nueva sensibilidad“ (Girondo); der Ort des globalen Bewußtseins
ist die
Weltstadt im doppelten Sinne: die Welt als Stadt, die Stadt
als Welt, ermöglicht durch die Ausweitung und Beschleunigung der Verkehrs-
und Nachrichtenmittel, die eine Art VeloCittà oder
VeloCidade, die dromologische Kosmopolis der Moderne schaffen;
lange vor dem Ausdruck „global village“ bestand das Bewußtsein der
modernen[4]
„Kosmopolis“, manifestiert u.a. als häufiger Zeitschriftentitel (Cosmopolis,
in der Mallarmé seinen Coup de dés 1897 lancierte;
die spanische Cosmópolis
1919-20), als Roman (Cosmopolis,
Paul Bourget 1892), als Konzept (z.B. der frz. Romancier Stendhal:
„Vengo adesso da Cosmopoli“, zitiert im Vorwort zu dem Roman sowie im Kapitel
„Elogio del Cosmopolitismo“ in Guillermo de Torres’ Literaturas europeas
de vanguardia, der ersten umfassenden Geschichte der Avantgarden, aus
ihrer Mitte heraus geschrieben und 1925 veröffentlicht).
Zivilisatorische
Modernität Lateinamerikas ist Voraussetzung für die Rezeption
und Koproduktion der futuristisch-modernistischen Avantgarde Europas: technologischer
und urbanistischer Fortschritt, schon seit der 2.Hälfte des 19.Jahrhunderts,
mit nur kurzen Zeitverschiebungen gegenüber Europa, aber wesentlich
von europäischem Kapital und Engineering gesteuert; offizielle Fortschrittsideologie
des französischenPositivismus
mit dem sogar als staatliche Devise benutzten Wahlspruch „ordem e progresso“
(Brasilien), „orden y progreso“ (Mexiko u.a.), übernommen von Auguste
Comtes Begriffspaar „ordre et progrès“/„Ordnung und Fortschritt“;
Lateinamerika ist seit ca.1865 mit Europa vernetzt durch Telegraphie
und Transatlantik-Kabel (letztere wahrscheinlich aus chilenischem
Kupfer gefertigt); durch regelmäßige Schifffahrtslinien
mit Ozeandampfern seit Mitte des 19.Jh.; Personen- und Warenverkehrsnetz
der Messageries, des Paket-Verkehrs / des Package-Boat / des Paquebot;
durch die TSF / Télégraphie sans fil / drahtlose Telegraphie
seit 1910; interkontinentaler Simultaneismus auch des gastronomischen
Geschmacks, ermöglicht durch Erfindung der Kühltechnik,
aufgrund der Initiative eines brasilianischen Faktotums, des Barons von
Mauá, durch den Franzosen Tellier und den Engländer Morgan
(um 1870): die in riesigen Kühlhäusern gelagerten Fleischberge
der La-Plata-Region sowie die Früchtepyramiden der amerikanischen
Tropen in Kühlschiffen nach Nordamerika und Europa zum fast zeitlosen
Simultankonsum transportiert; außerdem gigantische Konservenindustrie
mit andinischem Zinn, Liebig’s Chemie (kubistische Funktion der Brühwürfel
/ „Maggi cubes“ in frz. Avantgarde, z.B. bei Cendrars) und Liebig’s Fleischfabriken
am Rio de La Plata, Corned Beef als Grundnahrungsmittel der europäischen
Kolonial- und Weltkriegstruppen; inneramerikanische Infrastruktur:
erste Eisenbahnlinie in Kuba (1836), ein Jahr nach Deutschland;
Andenbahnen mit z.T. 4500 Meter Höhenunterschied (u.a. vom Pazifik
zum Titicaca-See, 1874); ausgedehntes Eisenbahnnetz in Mexiko; erster Hochofen
in Monterey (Mexiko) im Jahre 1903, als Hauptanfeuerer der dortigen Eisenbahnindustrie;
Strom / elektrische Straßenbeleuchtung im Zentrum von Montevideo
seit 1887 (die erste überhaupt, die der Wall Street in New York, seit
1880); Straßenbahn in S.Paulo 1900; U-Bahn / Subte
in Buenos Aires kurz nach 1900 (in Paris 1900, in London seit ca. 1865);
Autoverkehr breitet sich aus seit Jahrhundertbeginn, bereift mit
Kautschuk vom Amazonas (Dunlop, Michelin); mehrere Tausend Autos in S.Paulo,
Rio de Janeiro oder Buenos Aires um 1925; der brasilianische Flugpionier
Santos-Dumont, mit Zeppelin 1903 um Eiffelturm, etwas später mit
Doppeldecker; das erste Kino in S.Paulo 1907; Kaufhäuser (Au
Louvre, Au Printemps), Internationale Hotels und Cafés,
Prachtstraßen (Campos Elíseos), in Nachahmung von Paris
eine regelrechte Belle Époque in S.Paulo, auf der
wirtschaftlichen Basis vor allem der Kaffee- und Kautschukproduktion (die
Hälfte der Weltproduktion); kleine Wolkenkratzer (vorgeschriebene
Mindestbauhöhe von 3 Stockwerken), Wachsen der Häuser und der
Städte, in die Breite, in die Höhe, in die Tiefe; urbanistische
Dynamik im mehrfachen Sinne: Bahnen (anglo-bras. ‘bondes’), Autos und
Menschenmassen in den Straßen, Aufzüge in den Häusern,
Mobilisierung der Immobilien durch Abriß und Aufbau der Häuser;
intensivierte Licht-Dunkel-Dynamik, intermittierende Lichter der Leuchtreklamen,
später der Verkehrsampeln; Hupkonzerte und Fabriklärm; schnellerer
Pulsschlag und beschleunigte Bewußtseinsströme, stream of collective
consciousness, eine unanimistische „alma coletiva“ / „kollektive Seele“
(Hup-Manifest Klaxon 1922); vertikale wie horizontale gesellschaftliche
Dynamik: beschleunigter sozialer Aufstieg und Abstieg (Fahrstuhlsyndrom),
massive Einwanderungswellen aus Europa und Asien; die Weltstädte Buenos
Aires, Rio de Janeiro, S.Paulo, und Mexiko wachsen um 1910 auf 500.000
bzw. 1.5 Millionen Einwohner.
Auf
dieser zivilisatorischen Grundlage erfolgt die Rezeption des europäischen
Futurismus (unterstützt durch die weltweite Werbestrategie Marinettis),
der modernistisch-simultaneistischen Avantgarde, des Esprit Nouveau.
-
März 1909 Übersetzung und Kommentar von Marinettis
Gründungsmanifest des Futurismus (Februar 1909 in Le Figaro)
durch den Begründer des hispanoamerikanischen Modernismo Ruben
Darío in der Zeitung La Nación in Buenos Aires (s.o.);
1909 im Boletín de Instrucción Pública in Mexiko
durch Amado Nervos Beitrag Una nueva escuela / Eine neue Schule;
1909 eine brasilianische Übersetzung in Salvador da Bahia; später
Marinettis Vortragsreise nach Rio de Janeiro, S.Paulo und Buenos Aires
1925 (vgl. Illustration Ricardo Güiraldes’); außerdem weite
Verbreitung von Apollinaires modernistischem Essay L’esprit nouveau
et les poètes / Der Neue Geist und die Dichter (1917), der Begriff
des Esprit Nouveau wird vielfach ins Spanische und Portugiesische
übertragen und als Ober- und Leitbegriff weiterverwendet, z.B.
als Espíritu Nuevo in der chilenischen Rosa náutica,
auch als Espírito Moderno, z.B. in dem gleichnamigen
Essay des brasilianischen Modernisten Graça Aranha von 1925, der
1922 die Einführungsrede zur Semana de Arte Moderna in S.Paulo
gehalten hatte; neben Marinetti, vielleicht vor ihm, ist Apollinaire die
wichigste europäische Bezugsfigur des lateinamerikanischen Modernismus,
wohl weil er auf weniger Seiten vielseitiger ist; Apollinaire und der Modernismus
werden in Lateinamerika in den 20er Jahren zusammen mit dem inzwischen
entstandenen Dadaismus und dann auch Surrealismus rezipiert.
-
Seit 1912 Reisen der lateinamerikanischen Modernisten nach Europa,
verbunden mit Transfer / Translatio der europäischen
Avantgarden bzw. / Rückführung / Re-Import derselben:
der Brasilianer Oswald de Andrade (1912), der Argentinier Oliverio
Girondo
(1912), der Chilene Vicente Huidobro (1916) und die
Peruaner Mariátegui und César Vallejo (ca.1920)
nach Paris; Huidobro außerdem 1917 wegen des Weltkriegs nach Spanien;
der Argentinier Jorge Luis Borges und seine Schwester, die Graphikerin
Norah Borges, die später (1928) den spanischen Kosmopoliten
und Ultraisten Guillermo de Torre heiratet, nach Genf, Deutschland, Italien,
Frankreich und nach Spanien (1914-1922); die brasilianischen Malerinnen
Anita Malfatti und Tarsila do Amaral nach Deutschland bzw.
nach Paris (s.o.).
-
Interkultureller Reiseverkehr in umgekehrter Richtung: vor allem
der frz. Modernist Cendrars; durch seine Südamerikareisen in
den 20er Jahren ist er der wichtigste europäische Vermittler der brasilianischen
Kultur in Europa; 1925 Marinettis ‘kulturimperialistische’ Vortragsreise
nach Rio de Janeiro, S.Paulo und Buenos Aires; García Lorca
in Kuba und Buenos Aires (um 1930); dann die Surrealisten Péret,
Breton, Masson und Artaudin Brasilien
bzw. Mexiko und in der Karibik (Martinique, Haiti) (vgl. Ausstellung im
Museum Bochum 1993 Lateinamerika und der Surrealismus).
-
Der Ausdruck und Begriff der Avantgarde als span. Vanguardia
und port. Vanguarda in Lateinamerika seit Anfang der 20er Jahre
geläufig (analog der verstärkten Verwendung in Europa nach dem
1.Weltkrieg, wohl bedingt durch die vermehrte Parallelführung mit
der militärischen und der politischen Avantgarde im Zusammenhang des
Kriegs und der faschistischen und sozialistischen Revolutionen), und zwar
als „común denominador“ / „gemeinsamer Nenner“ des Futurismus,
Expressionismus, Dadaismus usw. bei dem peruanischen Intellektuellen (und
Begründer der Kommunistischen Partei Perus) Juan Carlos Mariátegui
(1921); als ein solcher Oberbegriff ist der Terminus in den Titel einer
der ersten Geschichten der Avantgarden eingegangen, in Guillermo de Torres
Las literaturas europeas de vanguardia (1925); ein brasilianischer
Beleg in Pau-Brasil (1925): „Rochedos de São Paulo (...)
Vanguarda calcinada do Brasil“ (Text no.2).
Ein
relativ realistischer futuristischer Beispieltext, der die protofuturistische
Stadt S.Paulo poetisch aufbereitet: Luís Aranhas Poema giratório
/ Drehgedicht (1922; Text no.2).
Cover
und Titel
der führenden Zeitschrift des brasilianischen Modernismus Klaxon
(1922
ff.) als kalligrammatischer Ausdruck der städtischen Kakophonie
(Text no.2); Tarsila do Amarals kubofuturistisch-tropikalistisches Gemälde
Estrada de Ferro Central do Brasil / Zentrale Eisenbahn Brasiliens
(1924) (Bild no.1).
Spezifik
der lateinamerikanischen modernistischen Avantgarden
-
Zumeist grundsätzliche Absetzung vom Futurismus Marinettis,
wegen seiner starren Fixierung auf die Zukunft, seines Panitalianismus,
seines Militarismus, seines Technozentrismus. Dies insbesondere auf dem
Hintergrund der sich gerade herausbildenden lateinamerikanischen Identität
im Rahmen der 1.Phase des Modernismo
und Mundonovismo;
deren epochemachende Essaysschrieben
der kubanische Journalist, Politiker und Dichter José Martí
(Nuestra América / Unser Amerika, 1891) sowie
der uruguayische Universitätsprofessor José Enrique Rodó
(Ariel, 1900); der eine setzt ein mischkulturelles autochthones
Lateinamerika gegen ein neokolonialistisches Nordamerika („la otra América“
/ „das andere Amerika“) und Europa; der andere setzt dem zerzivilisierten,
materialistischen und imperialistischen Nordamerika („Calibán“)
ein kultiviertes, spirituelles, europäisch inspiriertes, aber autonomes
Lateinamerika mit nur wenigen indigenen Zügen („Ariel“) entgegen;
bei beiden wird die kulturelle Selbstaneignung der Neuen Welt, ein neuer
Mundonovismo, die kulturelle Autonomie Lateinamerikas
angestrebt.
Hier
zunächst im Überblick das Spektrum der Besonderheiten
der lateinamerikanischen Avantgarden, die sich auf der Grundlage der vorausgegangenen
Autonomie-Tendenzen ergeben:
-
ein tropikalistischer Modernismus mit der verschieden gearteten
Synthese von Modernismus und Primitivismus, Indigenismus, Afroamerikanismus,
von tropischer Natur und Surrealismus im brasilianischen Modernismo
einschließlich des Pau-Brasil,
Klaxon, des urbanen
Desvairismo / d.h. des irren Irrationalismus, des indianisch-patriotischen
Verdeamarelismo / Grüngelbismus der totemistischen Anta-Gruppe
(Tapir als pflanzenfressendes Totemtier Brasiliens), und der Antropofagia
(ca.1922-1930); mit kosmopolitischen und / oder nationalistischen Varianten;
-
ein nativistischer Modernismus, mit gleichzeitig kosmopolitischen
und nationalkulturellen ‘gauchistischen’ Komponenten, vor allem im argentinischen
Martinfierrismo Oliverio Girondos und Borges’ (um 1925) und in Uruguay;
-
ein lateinamerikanistischer und kosmopolitischerModernismus,
teilweise mit indigenen und afroamerikanischen Komponenten, besonders in
der uruguayischen Zeitschrift La Pluma / Die Feder (1927-31);
außerdem im chilenischen Kreationismus Huidobros mit seinen
kosmopoetischen und magisch-imaginativen Ansätzen (1914-1931) sowie
im Espíritu Nuevo der chilenischen Zeitschrift Rosa Náutica
(um 1922);
-
ein indigenistisch-sozialistischer Modernismus, vor allem in Peru
(Mariátegui und C.Vallejo), sowie in der mexikanischen Kulturrevolution
des Actualismo / Estridentismo / der Schrillkultur
(Maples Arce, 1921 ff.) und des Muralismo / historisch-politisch-mythische
Mauer- und Wandmalerei (1921 ff.); außerdem sehr ausgeprägt
in der brasilianischen Anthropophagie Oswald de Andrades (1928-33);
-
ein transkultureller Afroamerikanismus bei dem Kubaner und späteren
Nationaldichter Nicolás Guillén (Gedichtsammlung Sóngoro
Cosongo, 1931); sowie im Diepalismus bzw. der poesía
negra der Puertorikaner Diego Padró und Luis Palés Matos
(1921ff.); als Afrobrasilianismus sehr stark in der Antropophagie-Bewegung
vertreten;
-
ein panamerikanischer Modernismus mit tropikalistischem Einschlag
im Euphorismus des hispano-anglo-amerikanischen Puerto Rico, vor
allem des Luis Palés Matos (1923);
-
ein verinnerlichter psychopoetischer Modernismus mit kosmopolitischen
und nationalkulturellen Komponenten, vor allem im argentinischen Ultraismus
und Nativismus Borges’ und Girondos (1922 ff.);
-
ein ‘entropischer’ Tropikalismus, der den okzidentalen Modernismus
und den euphorischen Tropikalismus dekonstruiert, bei dem peruanischen
Dichter César Vallejo (Gedichtbände Los heraldos negros
1919, und Trilce, 1922);
-
ein amerikanisierter Surrealismus in der Poesía
negra / der (im metaphorischen Sinne) Schwarzen Poesie der
chilenischen Gruppe und Zeitschrift Mandrágora (1938-1943-1993),
besonders ihrer herausragenden Vertreter Braulio Arenas und Enrique Gómez-Correa;
mit einer stark metaphysischen Komponente nihilistischer Ausrichtung,
aber auch einem antifaschistischen Engagement der Gruppe.
Der brasilianische
Modernismo
Auf
dem Hintergrund der brasilianischen Belle Époque der ‘Milchkaffee-Republik’
(‘República-Café-com-leite’), unter der kapitalistischen
Oligarchie der Paulistaner Kaffeebarone und angesichts beginnender militärischer
und kommunistischer Unruhen und Umsturzversuche, ist die Semana de Arte
Moderna / die Woche der Modernen Kunst, die 1922 in S.Paulo zur Einhundertjahrfeier
der Unabhängigkeit Brasiliens stattfand, sicherlich das bedeutendste
avantgardistische Ereignis Lateinamerikas, vergleichbar der frz. Bataille
d’Hernani der Romantik, den großen futuristischen Happennigs (Serate
/ Soirées / Veladas / Noitadas), den Dada-Spektakeln, der Armory-Show
in New York; eine Art aktionistischer Multi-Art, ein Spektakel gegen
die offizielle akademische Kunst der frz. inspirierten Parnasse- und L’Art-pour-l’Art-Dichtung,
von dem Akademie-Mitglied Graça Aranha mit einer Eröffnungsrede
über Moderne Kunst unterstützt; weitere Reden von dem späteren
‘Grüngelbisten’ Menotti del Picchia und dem ‘Orphisten’ Ronald de
Carvalho, letzterer über brasilianische Malerei und Bildhauerei; Rezitation
von Prosa-Texten durch Oswald de Andrade, von Gedichten durch Mário
de Andrade, Manuel Bandeira und Plínio Salgado; Ronald de Carvalho
trägt das von Bandeira gegen die herrschende parnassische Poesie und
ihre Schwanengesänge geschriebene
Frosch-Gedicht Os sapos
vor; Agenor Barbosa deklamiert ein Gedicht über die moderne Luftfahrt
Os pássaros de aço / Die Stahlvögel;
Skulpturen- und Gemäldeausstellung, u.a. der Bildhauer Victor
Brecheret (der später das Nationaldenkmal der Bandeirantes /
der brasilianischen Inland-Konquistadoren in S.Paulo schuf, 1936-53), sowie
die Malerin Anita Malfatti, die den Kubismus aus Frankreich und den Expressionismus
aus Deutschland importierte (im Umfeld der Semana
die Malerin Tarsila
do Amaral, die – neben Cendrars‘ Feuilles de route - den Gedichtband
Pau-Brasil ihres Mannes Oswald de Andrade illustrierte; etwas später
der Maler Portinari, der für die moderne Mythologie Brasiliens eine
ähnliche Rolle spielte wie die Muralisten in Mexiko; er malte u.a.
den Zug der kommunistischen Heeressäule des Carlos Prestes quer durch
Brasilien in den 20er Jahren); moderne Musik: Entdeckung des künftigen
brasilianischen Nationalmusikers Villa-Lobos, der u.a. afrikanische Tänze
für das Festival komponierte und - ein Skandal! - in Sandalen auftrat;
Tumulte der Passatisten gegen die ‘Futuristen’, die sich gegen dieses
Etikett jedoch verwahrten und sich zunehmend ‘brasilianisierten’, ‘indianisierten’,
‘afrikanisierten’ und ‘totemisierten’; Froschgequake, Hühnergegacker,
Pferdegewieher und Hundegebell vs. Pfiffe und Pfui-Rufe.
-tropikalistischer
Modernismus / Simultaneismus:
Thematisierung der technischen und urbanen Errungenschaften der brasilianischen
Zivilisation; Darstellung mithilfe der ‚befreiten Wörter‘ (‚parole
libere‘) des Futurismus, relativ mimetisch in Luís Aranhas Geschwindigkeitsgedicht
Poema giratório (no.2), mehr amimetisch in Oswald de Andrades
Rochedos de São Paulo (Pau-Brasil / Lóide
brasileiro, 1925) (no.4), mit Sprungmetaphern und prismatischen Brechungen
(vgl. Borges); größere simultaneistische Amplitüde zwischen
Tropen und Großstadt, mehr Leerstellen, die es zu überbrücken
gilt (Everest-Wolkenkratzer in S.Paulo vs. Atlantis, historische vs. zeitgenössische
Entdeckung Brasiliens usw.); größere Dichte; tropikalistisches
Marconigramm vom Telegraphenmast zur Palme gesandt bzw. gespannt, drahtlos
bzw. per Draht-Assoziation (vgl. Postes da Light in
Pau-Brasil
sowie das Eisenbahnbild Estrada de Ferro Central do Brasil der
Tarsila do Amaral (no.1); bei Mário de Andrade erhält die Simultaneität
eine musikalische Konnotation: durch fragmentarische, elliptische
Syntax entsteht Überlagerung und prinzipielle Gleichzeitigkeit der
Satz- und Aussageglieder, eine poetische Polyphonie; moderne dissonantische
Harmonie vs. traditionelle melodische Linearität (Prefácio
interessantíssimo des Gedichtsbandes Paulicéia desvairada
/ Verrückte S.Paulodyssee (1922);
-
der Desvairismo / Irrer Irrationalismus Mário de Andrades
(1922): ‚entrückte‘, ‚verrückte‘ Dichtung aus dem Unterbewußten,
irrationale Komponente; parallel der Malweise Tarsila do Amarals; ‚konspirative‘
Inspiration des „subconsciente“; surrealisierendes Konzept noch
vor dem 1.surrealistischen Manifest Bretons; angelehnt an Rimbauds „dérèglement
de tous les sens“ („Deregulierung aller Sinne“), aber mit
intellektueller
Steuerung des intuitiv begonnenen Schaffensprozesses; auch „o nosso
primitivismo“ /„unser Primitivismus“ vom Autor genannt; jedoch extrem
transitorisch konzipiert; im doppelten Sinne dynamisches Verständnis
von Kunst; wie bei Marinetti baldige Überholung des Ismus durch den
nächsten; Kurzlebigkeit / Aktualismus;
-
der primitivistische Modernismus der kulturellen Anthropophagie
Oswald de Andrades, vorgeformt im Manifesto Pau-Brasil
(1924)
und in der Falação / Redegedicht aus dem Gedichtband
Pau-Brasil
(1925) (no.4), ist stärker sozialkritisch und kulturrevolutionär
ausgerichtet, dargelegt vor allem im Manifesto antropófago
(1928) (no.3) und in der Revista de Antropofagía und
ihren einzelnen „Zahnungen“ / „Dentições“ genannten Ausgaben
(1928-29). Tarsila do Amarals Bild Abaporú / Menschenfresser
von 1928 war Ausgangspunkt der Bewegung und ihrer Begrifflichkeit (eine
anthrophage Vorphase in dem Bild A Negra (1923), das Cendrars brasilianische
Reiselyrik Feuilles de route als Leitbild diente, hier: no.3); später
Demontage des Modernismus als großbürgerliche Kunst im
Vorwort zu dem Anti-Roman Serafim Ponte Grande (1933), der
eine radikale Sozialkritik Brasiliens auf der Basis der Anthropophagie
darstellt;
-
Prinzipien und Thesen der Anthropophagie: anti-okzidental, anti-kolonialistisch,
anti-christlich, anti-humanistisch, anti-kapitalistisch, sogar anti-aufklärerisch;
letzteres insofern als z.B. der ‘Gute Wilde’ Rousseaus nur als der moralische
Lendenschurz der nackten Gewalt Europas fungierte; dagegen wird die barbarische
Provokation
des ‘Bösen Wilden’, des Menschenfressers, gesetzt: „Tupy
or not Tupy that is the question“; karibisch-kannibalische Revolution
– Kaliban statt Ariel; Karnevalismus: brasilianischer Volkskarneval
vs. Richard Wagner; Totemismus: desideriales Totem statt moralisches
Tabu (vgl. den Anta / pflanzenfressender Tapir, Totemtier der nationalkulturellen
Gruppe der Grüngelbisten; den Jabuti / die gerissene, „rachsüchtige“
Schildkröte, das Totemtier des gleichnamigen brasilianischen Indianerstamms;
vgl. auch den Tiermenschen im Conquista-Gemälde Riveras, Bild no.5);
freudianische (Oswald de Andrade firmierte mit dem Pseudonym „Freuderico“)
bzw. eigentlich anti-freudianische Triebbefreiung und Enthemmung
nach Art von Wilhelm Reichs sozialpsychologischer Revolte, im Vorgriff
auf Guattaris / Deleuzes Anti-Œdipe;
barbarischer, primitiver
Vitalismus vs. europäische Kopflastigkeit, Komplexe und Frustration;
im Unterschied zu der Nostalgie der Europäer (z.B. in Yvan Golls ‘Zenitistischem
Manifest’ und allgemein im Exotismus um die Jahrhundertwende) gehört
der Primitivismus in Amerika zum lebensweltlichen Alltag; auch der
Surrealismus und der Kommunismus sind ursprünglich brasilianisches
Kulturgut, gehören zum ‘Matrimoniat’ des Matriarchats von Pindorama;
Selbstentdeckung, Rückgewinnung des euphorischen Eldorado
(vs. US-amerikanisches ‚Eldolarado‘ oder okzidentales ‘Pildorado’);
sprachliche Tupinisierung / Indianisierung: Pindorama, Piratininga, unübersetzte
Tupi-Einsprengsel; anthropophages Amalgam von primitivistischer
Urkultur und moderner Zivilisation, die ‚gefressen‘ und ‚verdaut‘
wird, um sie neu zu gestalten: Synthese von schöpferischer Faulheit
und industriellem Fleiß, von natürlichem Erfindungsgeist (‘bricolage’)
und rationalem Ingenium des Ingenieurs; von Natur und Großstadt,
Urwald und Schule;
karibisch-akribisch; Beginn der Exportphase
brasilianischer Pau-Brasil- und anthropophager Kultur; poetische
Prosa des Manifests analog der Prosapoesie des ‘Redegedichts’ Falação
(Pau-Brasil); ästhetische Konsequenz: realphantastischer
Diskurs - Mário de Andrades ‘anthropophager’ Roman Macunaíma
vom
Autor als „real e fantástico“ bezeichnet, hinführend zum späteren
„real maravilloso“ oder „realismo mágico“.
Mário
de Andrade: Macunaíma
(1928)
Macunaíma (Textauszug
no.4a) ist der brasilianische Identitätsroman der Moderne,
wie sein Protagonist „sem nenhum caráter“ / „ohne jeden Charakter“,
d.h. ohne eine bestimmte Ethnik und kulturelle Ethik, von pluraler, diffuser
Unbestimmtheit; Satire des portugiesischen Purismus, synkretistisches amerikanisches
Sprach- und Kulturkonzept: skurriles Zusammentreffen / ‘desencontro’
des primitiven und des futuristischen Brasiliens, des Urwaldmenschen
und des Bewohners des Großstadtdschungels von São Paulo;
realphantastischer Simultaneismus von archaischer Vergangenheit
und Moderne.
Macunaíma,
ein listiger, lustiger, hinterlistiger und vordergründiger Antiheld,
wird im Amazonas-Urwald in einem schwarzen Indio-Stamm geboren, wäscht
sich weiß in einer Wunderquelle, heiratet Ci, die Königin der
Amazonen bzw. Icamiabas, die als Sternbild zum Firmament aufsteigt, nachdem
sie ihrem Gatten, dem neuen Kaiser der Amazonen, einen Zauberstein, den
Muiraquitã, übergeben hat. Macunaíma verliert den Stein,
kommt nach São Paulo, wo der menschenfressende Riese Venceslau Pietro
Pietra, der sich des Steins bemächtigt hat, mittels seiner Zauberkraft
steinreich geworden ist und ein kapitalistisches Imperium leitet, ganz
ähnlich so manchen italienischen Neureichen. Der ‘gutböse Wilde’
Macunaíma sieht São Paulo mittels futuristischer ‘Imaquinação’
als eine einzige Maschine, wo alles und jedes Maschine ist, die Wolkenkratzer,
die Autos, die Aufzüge, die Zeitungen, die Revolverbäume und
natürlich auch die Menschen. Sogar Macunaíma wird zur Maschine:
diese ist anagrammatisch in seinem Namen verborgen: „Macunaíma
= uma Máquina“! Allerdings ist Macunaíma eher eine
‘máquina desejante’ / eine ‘Wunschmaschine’ nach Art von Deleuze/Guattaris
Anti-Ödipus, wenn auch vom Erzähler kritisch betrachtet.
Auch die Natur wird in Maschine verwandelt bzw. die Maschine geht auf
natürliche Prototypen zurück und mutiert vom Tier zur Maschine,
nach Art einer Ovidschen Metamorphose oder eines totemistischen Zaubers:
die Autos sind Tiger -‘put a tiger in your tank’; die Flugzeuge sind Vögel
(der Vogel Tuiuiú, Namengeber des dt. Turismus-Unternehmens TUI...);
die Medizin basiert vor allem auf dem Heilmittel Guaraná, das aus
der Pflanze gewonnen wird, in die der Sohn Macunaímas und Ci’s bei
seinem Tod verwandelt wurde. Auch die europäisierten Sternbilder Brasiliens
werden animistisch zurückverwandelt in indigene Wesen: so wird das
Kreuz des Südens, der Cruzeiro (seit 1996 Emblem des Mercosur), umgetauft
zu Pauí Pódole, ein Vogel, der Brasilien wegen der dort überhandnehmenden
Ameisen verlassen hat und sich in ein Sternbild verwandelt - „Poca saúde
e muita saúva, os males do Brasil são“ / „Wenig Gesundheit
und viele Ameisen sind die Übel Brasiliens“ ist das Leitmotiv der
Erzählung (São Paulo ist noch heute auf 16 Millionen Ameisenhaufen
gebaut, einer pro Kopf der Bevölkerung).
Nach
vielen Episoden und Peripetien besiegt Macunaíma den Riesen Venceslau
Pietro Pietra, zunächst mithilfe der Macumba, dann durch Ertränken
in einer Makkaroni-Soße. Er gewinnt den Zauberstein zurück,
verwandelt die Stadt São Paulo in ein riesiges steinernes Faultier
und zieht sich in seine Heimat in den Wäldern des Amazonas zurück,
trotz der anfänglichen Versuche und Versuchungen, Kaiser der städtischen
Maschinenwelt zu werden. Er verliert den Stein erneut wegen seiner unstillbaren
Liebesgelüste, die ihn in eine Falle gelockt haben, sein ganzer Stamm
stirbt aus, die Ameisen fressen die Hütten des Dorfes auf. Macunaíma
lebt einsam und allein als matter Hänger in der Hängematte -
„Ai, que preguiça!“, lediglich ein Papagei leistet ihm Gesellschaft.
Schließlich steigt auch er zum Firmament auf, und zwar als neues
Sternbild, das den Großen Bären, die „Ursa Maior“, ersetzt:
der Held Macunaíma mit ohne rechtes Bein, das er zusammen mit dem
Muiraquitã bei seinem verhängnisvollen Liebesabenteuer verloren
hat. Der Papagei erzählt einem zufällig im Urwald vorbeikommenden
Fremden die Geschichte des Helden Macunaíma. Der Fremde ist der
Erzähler Mário de Andrade, der seinerseits den Roman im Papageienort
Araraquara in einer Hängematte schreiben wird (Bild no.4b). Nachdem
der Papagei die Geschichte erzählt hat, fliegt er fort nach Portugal,
wo er den Portugiesen höchstwahrscheinlich von der neu errungenen
Autonomie der brasilianischen Sprache und Literatur berichtet.
Leitprinzipien
von Macunaíma:
brasilianisches (und lateinamerikanisches) Identitätsproblem, frei
flottierendes Mischmenschentum und Mischkultur einschließlich
radikaler Sprachmischung vom brasilianischen gesprochenen Portugiesisch
über das ihm inhärente Afro- und Indiobrasilianisch und das Italienische,
Lateinische, Französische, Spanische, Deutsche und Englische bis hin
zu den Natursprachen und Tiersprachen, der vom Autor so genannten Zoophonie;
eine Urwald- und Großstadtdschungelsprache; ein ‘rhizomatischer’
Sprachensimultaneismus, synchron und diachron; mythische Zivilisationsmaschine
vs. primitive Wunschmaschine; wuchernde Bildersprache, ‘Tropen’rhetorik;
realphantastisches Erzählen, einschließlich Metamorphosen
und Totemismus (vgl. realphantastischer Totemismus des Jaguarmenschen in
der Erzählung Iauaretê von Guimarães Rosa oder
den erwähnten Tiermenschen in Diego Riveras Urwald- und Conquista-Gemälde
no.5); narrative Mise en abîme: Papageienerzähler,
zoophone Konnotation; weltliterarische Mise en abîme: realphantastische
Weitererzählung der phantastischen orientalischen Papageienerzählungen
aus 1001 Nacht und Tuti Nameh.
Der mexikanische
Estridentismus / Aktualismus
Hintergrund
der mexikanischen Revolution von 1910-1929: Seit 1920 unter der
Präsidentschaft des Revolutionsgenerals Obregón (1920-24) findet
eine revolutionäre Kulturpolitik statt, geführt durch
den Schriftsteller und Staatssekretär für Erziehung José
Vasconcelos; u.a. Konstruktion eines kollektiven Mythos des kulturrevolutionären
Mexiko, das gegen den alten und neuen Kolonialismus der weißen
Zivilisation die neue kosmische Mischkultur und Mischrasse - „la raza
cósmica“ (Titel eines identitären Essays von Vasconcelos,
1925) - hervorbringt; historische, politische und ästhetische Breitenbildung
u.a. mittels Breitwandfresken in Schulen, Universitäten, Ministerien,
Palästen und Kirchen, moralistischer Muralismus des Diego Rivera,
Orozco und Siqueiros (Bilder no.5,6,9,10); 1925-27 fortgeführt u.a.
in der Provinz Veracruz durch den Revolutionsgeneral Heriberto Jara, der
zusammen mit den avantgardistischen Literaten Maples Arce als Staatssekretär
und List Arzubide als dessen Sekretär die schrille Kulturstadt Estridentópolis
(= Xalapa) entwarf und eine fortschrittliche Bildungspolitik betrieb, mit
Modernisierung der Lehrpläne, volkskulturellen Einrichtungen wie die
Biblioteca popular (in der u.a. der berühmte Revolutionsroman
Los de abajo / Die da unten von Manuel Azuela 1927 in einer Volksausgabe
als Buch erschien; 1915 als Feuilletonroman erstmals erschienen); berühmter
künstlerischer Treffpunkt war das Café de Nadie /
Das Niemandscafé, in dem seit 1924 Ausstellungen und multimediale
Veranstaltungen nach Art der Semana de Arte Moderna von S.Paulo
stattfanden; dort regierte ‘la gran risa estri-dentista’, das ‚umwerfende‘
Lachen der subversiven Estri-Dentisten, die den Aktionären und Reaktionären
die Zähne zeigten.
-
die estridentistischen Manifeste Actual 1-4 (1921-1926);
das erste Manifest als Plakat an die Mauern von Puebla angeschlagen (wie
das Prisma von Borges in Bs.Aires 1921, das als demokratische Revista
mural erschien); unterzeichnet von einem fiktiven Directorio
de Vanguardia, das fast die gesamte künstlerische Internationale
umfaßt, von Manuel Maples Arce und Diego Rivera über Huidobro,
Apollinaire, Marinetti bis hin zu Lunacharsky und Kurt Schwitters - eine
unanimistische Geste, die „la unidad psicológica del siglo“,
die „psychologische Einheit des Jahrhunderts“ beschwört; weder Futurismus
noch Passatismus, sondern Aktualismus, der auch die Vergangenheit
wie die Zukunft erfassen kann, wenn sie denn aktuell ist; der Bildbegriff
des ‚steilen Punktes‘ wird lanciert: an jedem Punkt auf der Achse der
Zeit im Zenit sein; ,aktuell‘ vs. ‚neu‘: neu kann auch das Älteste
sein (vgl. Apollinaires Gedicht Zone, wo der konservative Papst
Pius X „der modernste Europäer“ ist); im 3.Actual Bezugnahme
auf die Sozialistische Internationale, im 4.Actual ausdrücklicher
Anschluß an die mexikanische Revolution und an den unter dem Einfluß
der universitären Reforma de Córdoba (1918) stehenden
Nationalen Studentenkongreß; kulturrevolutionäres Selbstverständnis:
„movimiento estético revolucionario de México“; in der historischen
Gesamtdarstellung der „estridentistischen Bewegung“, El movimiento estridentista
(1927), widmet der Autor List Arzubide diesen „relato único
del movimiento revolucionario-literario-social“ (Kolofon) dem aztekischen
Kriegsgott: „A Huitzilpochtli, manager del movimiento estridentista.
Homenaje de admiración azteca“, eine bedeutsame Aktualisierung
der aztekischen Vergangenheit im Sinne eines indigenistisch-sozialistischen
Engagements.
Beispieltext:
Urbe. Super-poema bolchevique en 5 cantos (1924) (no.7/8) von John
Dos Passos 1929 ins Englische übersetzt);Großstadtgroßgedicht
in 5 Gesängen und in 1 Buch; Thematik der industriellen, urbanen,
sozialen und literarischen Revolution;
-
kubofuturistische, simultaneistische Technik (statt Propaganda-Dichtung);
typographisch versetzte Strophenblöcke und Verslinien, analog den
synchronen Akkorden in einem Pentagramm / Notensystem (Str.13) (vgl. Tzara/Huelsenbeck/Janko,
Poème simultan), dissonantische Akkorde; diskontinuierlicher
Diskurs; Pseudoplötzlichkeit / Scheinzeitlichkeit bzw. -nachzeitigkeit
des „Subitamente“ (Str.11); freie Bilder, Bildsprünge und -brüche;
freie Wörter (ohne syntaktischen Nexus), Simultankontraste:
Nebeneinander und Ineinander semantischer Oppositionen: politische Oppositionen:
z.B. US-Kapitalismusvs. mexikanische
Bourgeoisie vs. sozialistische Revolution (Str.11), Revolution vs. Reaktion
(Str.15); politische vs. technische Revolution (Str.15/16), gemeinsamer
Nenner der Dynamik; Tumult der Truppen vs. Tumult der Technik (Str.10);
vertikale vs. horizontale Dynamik (Str.10); Stadtszenen vs. Landschaft
(Str.10); geographische und nationale Transgression, Internationalität;
metoynmisch-metaphorische Verschmelzung von Stadt / Hafen und Schiff (Str.11);
Exaltation vs. Depression (Str.15); verbivokovisuelle / estridentistische
Synthese von Lärm / Musik, schriller Vision und Wort (Str.12,13,16)
vs. sublime Synästhesien des Symbolismus;
-
pseudopikturale ideologische Perspektivierung (Str.3): Raum der
verschiedenen Ideologien: die moderne Stadt URBE liegt jenseits
des unpolitischen Kosmopolitismus von Walt Whitman, diesseits der kultur/revolutionären
Utopie des Autors;Dominanz der poetischen
Revolution (Str.17)
Bilder:
Diego Rivera: no.9,10.
Kreationismus
-
von dem Chilenen Vicente Huidobro seit 1914, ab 1916 in Zusammenarbeit
mit Reverdy geschaffen, Analogien zu Baudelaire, Rimbaud und Apollinaire;
demiurgische magisch-imaginative Kreativität, mit amerindischen
und kosmischen Komponenten; wie ein Aymara-Dichter dem Dichter Huidobro
sagte: der Dichter redet nicht über Regen, sondern er läßt
es regnen (La creación pura, 1921), so läßt Huidobro
in seinem Gedicht Arte poética (1916) die Rose erblühen,
oder er spricht in seinem Gedicht Altazor
(1931) wie ein
Rosenstrauch, er erfindet die Rosensprache (Text no.11)
-
eine fast experimentelle Demonstration des schöpferischen
Sprachprozesses in Altazor; Dekonstruktion und Rekonstruktion
der normalen Wörter und Sätze; Rose als ein zentrales Symbol
Huidobros: Schöpfung der Wortrose; Modernisierung u.a. mittels
der technischen Windrose der zeitgenössischen Nautik und Aeronautik
sowie der drahtlosen Telegraphie (Tour Eiffel); vgl. auch den Namen
der chilenischen Dichtergruppe Rosa náutica (1922), der Huidobro
eng verbunden war; anagrammatische Kodierung der Rose im Titel des Großgedichts
Altazor / Rosa alta (nach südamerikanischer Aussprache
des z als s) / Hohe Rose, (erste Assoziation des Titels ist ‘hoher
Falke’; allgemeiner Arielismus des Dichters, auch im Untertitel des Zyklus
ausgedrückt: El viaje en paracaídas / Die Fallschirmreise);
-
Zerlegung und neue Zusamensetzung sowie Erweiterung des Ausgangswortes
„rosal“ / „Rosenstock“; Permutation, Iteration und paronomastische
Expansion oder Substitution als operationelle Regeln der ling.Transformation
/ Kreation; theoretisches Oszillieren des Dichters zwischen orphischer
Urwortsuche und experimentellem Konstruktivismus;
-
neben dem Prinzip kosmopolitischer Polyglossie, das Huidobro postulierte
und praktizierte (er dichtete span. und frz., allerdings nicht mischsprachig),
diente die Neologie der Erfindung einer kosmopoetischen Sprache,in
Altazor mit amerindisch-spanischen Interferenzen, z.B. „ululuayu
ulayu ululayo ululamento (dt.’Heulen’)“ (vgl. das amerindische „Uruguay“,
das dem Flußgeräusch bzw. dem Vogelgesang des indianischen Namens
Uruguays entspricht, in Pablo Nerudas Canto general thematisiert);
aber auch lat.-griech.-span. Neologismen, z.B. die über den 7.Gesang
verstreute nautische Wortreihe „aeronauta ... isonauta ... eternauta ...
infinauta“; am Schluß des Gedichts geschieht eine Auflösung
der Laute im Meer: befreite Laute / onomatopoetische
Lautsprache
/ Jitanjáforas / Echolalie : „Lalalí / Io ia
/ i i i o / Ai a i ai a i i i i i o ia“, Radikalisierung des in den Rosenversen
begonnenen Prinzips der Sprachzersetzung: „rorosalía“ wird zu „Lalalí“,
zur Echolalie; die Neologie bedingt zusätzliche Neologie in der Übersetzung,
erzeugt eine weitere, mehr oder weniger analoge Neusprache (no.11);
-spezisch
nautische
Symbolik der Avantgarde bei Huidobro und allgemein in der Romania,
besonders Lateinamerika, in Anknüpfung an die Entdeckerzeit als nunmehr
autonomer Mundonovismo gedacht: der spanische und argentinische
Ultraísmo (das ‚Plus Ultra‘ war das Motto des Kolumbus,
im spanischen Staatswappen noch heute erhalten, zusammen mit den Säulen
des Herkules, jenseits derer Kolumbus seine Entdeckungsfahrten unternahm),Borges’
Zeitschrift Proa / Bug, die chilenische Rosa náutica
/ Windrose, die kubanische Avantgarde-Zeitschrift Avance
(Hg. Alejo Carpentier u.a., um 1925).
-
in Ermangelung einer noch gegenwärtigen indianischen oder afroamerikanischen
Vergangenheit (fast völlige Vernichtung der argentinischen und uruguayischen
Indios im 19.Jh.) ein auf die symbolisch verstandene Gaucho-Kultur
begrenzter Nativismus (O.Girondo, Manifiesto Martín Fierro,
1924; Pedro Figari, El gaucho, 1919); nationalkultureller Kosmopolitismus
und zivilisatorischer Modernismus; Text O.Girondo, Apunte callejero
(no.11);
Prosagedichtsammlung
Veinte poemas para ser leídos en el tranvía / Zwanzig
Gedichte in der Straßenbahn zu lesen (1922)
-
modernistischer Transfer der Dichtung in Transportmittel der Straßenbahn;
Entsublimierung gemäß dem Motto der Sammlung „Es gibt
kein lächerlicheres Vorurteil als das Vorurteil des ERHABENEN“;
-
Transgression der Dichtung in Prosa, Alltagssprache; im Unterschied
zu Baudelaires Poèmes en prose / Le Spleen de Paris liegt
- neben der fortgeschrittenen Modernisierung der Verkehrsmittel - eine
radikale Rezeptionsperspektive vor (Straßenbahnlektüre)
-
Compenetrazione / simultane Innen-Außen-Wahrnehmung;
Psychologisierung;
Vermehrung der Dinge in der Außenwelt erzeugt Spaltung des Ich in
der Innenwelt; obsessionelle Sprungmetaphorik: ‚Fensterkreuzigung‘, in
Vorwegnahme des surrealistischen Bildes Bretons im Manifeste du surréalisme
(1924), wo ein Mann von einem sog. ‚Guillotine‘-Fenster (vertikales
Schiebefenster) ‚hingerichtet‘ wird;
-
spleenhaftes Splitting der Persönlichkeit, hier durch Schattensymbol
ausgedrückt, in der späteren Sammlung Espantapájaros
/ Vogelscheuchen(1932) durch
„cocktail de personalidades“ (dort no.8), eine dauernd sich erneuerende,
wuchernde Manifestierung von Persönlichkeiten, selbst die unscheinbarsten
kommen sich vor wie Ozeanriesen „se dan unos aires de trasatlántico“;
Entscheidungsunfähigkeit.
‚Entropischer‘
Tropikalismus und Anti-‚Oxidentalismus‘
Der
Peruaner César Vallejo gilt als der dichteste und verschlossenste
spanischsprachige Dichter, vor allem mit seinen Gedichtsammlungen Los
heraldos negros /
Die schwarzen Herolde (1919) und Trilce
(1922)[5];
hier die Gedichte Huaco (Heraldos negros) und Trilce
XXXII exemplarisch behandelt im Hinblick auf avantgardistische
Radikalpoetik (no.12).
-
Sinnentleerung und Entfremdung; totale Dysphorie im
Vergleich mit dem tendenziell euphorischen Tropikalismus und Modernismus;
-
absolute Hermetik der Texte von Trilce bedingt hermeneutische
Öffnung in die verschiedensten Sinnrichtungen, bei gleichbleibender
Ambivalenz;
-
Titel Trilce: ein obskurer Neologismus; annähernde
Bedeutungen: a) Tri-Logismus, Dreier-Symbolik als familiäre Trinität
des Dichters (2+1 = 3 bzw. 1+1=3, d.h. Vater+Mutter=Kind; These+Antithese=Synthese;
999; 333; auch 12.1.2000 ist ein Trilce-Datum) b) triste / traurig
+ dulce / sanft, süß: neuer Petrarkismus, absurde
‘Oxymoral’, bewirkt zunächst durch das kontaminierte ‘Unwort’
Trilce (s.u.);
-
Thematik von Trilce XXXII völlig ambivalent:
anekdotische Geschichte, sommerliche Hitzeskizze, Liebeshitze, Technik,
Zivilisationskritik, existenzielle Befindlichkeit u.a.
-
inkohärenter, diskontinuierlicher Diskurs; neben der semantischen
und sequentiellen Inkohärenz versetzen selbst die Satzzeichen den
Leser (offene Klammer); extreme Amimetik, Abstraktion von Wirklichkeit
vs. Konkretion der Sprache, Autonomie der Sprachenergetik, die aber
ebenso wie die der Wirklichkeit vom Kollaps bedroht ist (Feder bricht);
-
paradoxale Struktur, zum Paroxysmus gesteigert; konstantes
Pattern binärer Oppositionen: extreme Hitze vs. extreme Kälte,
Sonne vs. Eis, Steigerung von 999 auf 1000 Kalorien, dann auf absurde 33
Trillonen 333 Kalorien; groteskes Bersten, Verpuffen der Energie im Exzeß;
Entropie der rhetorischen Trope des Oxymorons sowie der tropikalistischen
Euphorie; das Prinzip des „justo medio“, des ‘juste milieu’ in der
Dreierkonstellation „Quién Quién Quién“ (Str.2) versagt;
ebenso ergibt die Dialektik von These (calor / Hitze) und Antithese
(hielo / Eis) keine Synthese, sondern eine Prothese: der Dichter
geht am Stock, der Sinn ist ein Torso; vgl. auch die Unvollständigkeit
der Dreiersymbolik des vorliegenden Gedichts Trilce XXXII, wo die
XXXIII gemäß dem im Text thematisierten Dreier-Prinzip nicht
vollständig realisiert wird;
-
latenter Indigenismus (vs. mehr manifester Indigenismus in Huaco
und den übrigen
Nostalgias imperiales aus Heraldos negros,
deren Hermetik relativ reduzierbar ist); Vallejo war Halbindio, sozial
marginalisiert; ursprünglicher Titel der Sammlung war Cráneos
de bronce /
Bronzeschädel (vgl. den indigenistischen Roman
des Bolivianers Alcides Arguedas, Raza de bronce, 1919), Pseudonym
César Perú (indigenes Wort); Einsamkeit und Entfremdung des
Indios und des Mischlings, besonders krass in Huaco, Fremdheit
im eigenen Land und im eigenen Ich;
-
Anti-Gringo, Okkupation des natürlichen Himmels durch okzidentale,
fremde Zivilisation, statt durch den Inka-Gott Inti;
anti-‚oxidentale‘
Tendenz, (vgl. Queneauth, Okzident Kukident); ansatzweise Vorwegnahme
des sozialkritischen Indigenismus Mariáteguis und seiner
Zeitschrift Amauta (=Inka-Weiser) (seit 1926) sowie des eigenen
ideologischen Radikalismus seit Ende der 20er Jahre; aber Postulat der
Trennung von autonomer Poesie, die nur indirekt und implizit sozialkritisch
sein kann, und explizitem sozialistischem Engagement in der Politik;
-
tropikalistischer calor vs. technische Kalorien,
ritualisierter Kosmos / inkaische Sonnevs.
hypertrophe Zerzivilisierung (vgl. Huaco);
-
dadaistische Destruktion und Chaotisierung, aber mit größerer
Formstrenge und stärkerer poetischer Stringenz;
-
hermetische Heterogenität als sprachlicher Freiheitsraum:
ein spärliches Reservat, das der Dichter mit korrosiver
Ironie verteidigt; vgl. das Schlüsselwort „roer“ = „nagen“, das
Abnagen bis auf den Knochen, das an den Abaporú der Anthropophagie
erinnert.
Die surrealistischeMandrágora-Gruppe
Amerika
ist das Ursprungsland des Surrealismus, hatte die brasilianische
Anthropophagie behauptet, und die nach Lateinamerika reisenden und von
der dortigen Kultur gebannten französischen Surrealisten schienen
dies nachträglich zu bestätigen. In der Tat enthält der
autochthone Primitivismus vor allem des brasilianischen Modernismo einen
surrealistischen Ansatz, in dem sich die Dichtung aus dem individuellen
Unterbewußten (das „subconsciente“ Mário de Andrades)
mit der Verarbeitung des kollektiven Unterbewußten einer ganzen
Kultur und deren magisch dominierten amerindischen und afroamerikanischen
Dimensionen befaßt. Wegen der vom Gegensatz Futurismus vs.
Primitvismus bestimmten Problemlage des Modernismo konnte sich das surrealistischePotential
in dieser Phase nicht voll entfalten. Eine konsequente Entwicklung eines
lateinamerikanischen Surrealismus gab es - neben Ansätzen bei Huidobro
und in der frühen Lyrik des Chilenen Pablo Neruda wie des Mexikaners
Octavio Paz – erst seit 1936 in der chilenischen Mandrágora-Gruppe
und ihrer gleichnamigen Zeitschrift (letztere seit 1938); Braulio Arenas
und Enrique Gómez-Correa waren die bedeutendsten Mitglieder der
Gruppe; ihre Manifeste Mandrágora, Poesía Negra und
Intervención de la poesía sind in der ersten Ausgabe
der Mandrágora von 1938 enthalten, zu der auch Huidobro einen
Beitrag lieferte. Übernahme des Namens und der damit verbundenen Legende
aus der deutschen Romantik, genauer von Achim von Arnim, der auch eine
Bezugsfigur des frz. Surrealismus war; symbolische Kreuzung der europäischen
(und orientalischen) Mandragora / Alraune mit der amerikanischen Tabakpflanze
bei Gómez-Correa; vgl. auch die Kneipe Mandragora
am Bermuda-Dreieck
in Bochum;
Mit
der folgenden Mise an abîme der Caja chica von Gómez-Correa
schließt sich der Kreis dieser Ringvorlesung, der mit der Mise en
abîme des Prologs begann.
Kurzbibliographie
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Aracy (Hg.): Arte y Arquitectura del modernismo brasileño (1917-1930.
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„Los avatares de la vanguardia.“ In: Revista Iberoamericana 118-119
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ROCHEDOS
SÃO PAULO
Everest
da Atlântida
Vanguarda
calcinada do Brasil
Ponto
geocêntrico eriçado
Contra
as escarpas das ondas
Do
Amazonas
Poleiro
de Gago Coutinho
(Oswald
de Andrade, Pau-Brasil/Lóide Brasileiro)
FELSGEBIRGE
SÃO PAULO
Atlantischer
Everest
Verbrannte
Avantgarde Brasiliens
Geozentrischer
Punkt gesträubt
Gegen
die wogende Böschung
Des
Amazonas
Pol
und Olymp des Gago Coutinho
(Brasilholz/Brasilianischer
Lloyd)
ATELIER
(...)
A
verdura no azul klaxon
Cortada
Sobre
a poeira vermelha
Arranha-céus
Fordes
Viadutos
Um
cheiro de café
No
silêncio emoldurado
(O.de
Andrade, Pau-Brasil / Postes da Light)
ATELIER
(...)
Das
Grün im Blau der Hupe
Einschnitt
Im
roten Staub
Wolkenkratzer
Fords
Viadukte
Ein
Duft von Kaffee
Gerahmt
in Schweigen.
(Brasilholz
/ Telegraphenmasten)
FALAÇÃO
/ (MANIFESTO DA POESIA PAU-BRASIL)
O
Cabralismo. A civilização dos donatários. A Querência
e a Exportação.
O
Carnaval. O Sertão e a Favela. Pau-Brasil. Bárbaro é
nosso.
A
formação étnica rica. A riqueza vegetal. O minério.
A cozinha. O vatapá, o ouro e a dança.
A
língua sem arcaísmos. Sem erudição. Natural
e neológica. A contribuição milionária de todos
os erros.
(E
a Poesia Pau-Brasil, de exportação.)
(Obuses
de elevadores, cubos de arranha-céu e a sábia preguiça
solar... A saudade dos pajés e os campos de aviação
militar. Pau-Brasil).
Bárbaros,
pitorescos e crédulos. (Leitores de jornais). Pau-Brasil. A floresta
e a escola. A cozinha, o minério e a dança. A vegetação.
Pau-Brasil.
REDEGEDICHT
/ (BRASILHOLZMANIFEST)
Der
Cabralismus der Entdecker. Die Zivilisation der kolonialen Feudalherren.
Die Sehnsucht nach der Heimat und der Export.
Der
Karneval. Der dürre Sertão und die elende Favela. Brasilholz.
Uns gehört die Barbarei.
Reich
an Rassen. Reich an Pflanzen. Bodenschätze. Die Küche. Kokusfisch
Vatapá, das Gold und der Tanz.
Die
Sprache ohne lusitanische Archaismen. Ohne Gelehrsamkeit. Natürlich
und neologistisch. Der millionenfache Beitrag aller Fehler. (Wie wir reden.
Wie wir sind.)
(Und
die Brasilholzpoesie. Für den Export.)
(Aufzüge
schießen in die Höhe, kubistische Wolkenkratzer und die Weisheit
solarer Faulheit. Die Gesundheit der Medizinmänner und die Militärflughäfen.
Pau-Brasil.)
Barbaren,
malerisch und leichtgläubig. (Zeitungsleser). Brasilholz. Der Urwald
und die Schule. Die Küche. Die Bodenschätze und der Tanz. Die
Vegetation. Brasilholz.
(Oswald de
Andrade)
MANIFESTO ANTROPÓFAGO (Oswald
de Andrade)
Só a antropofagia nos une. Socialmente. Economica-
mente. Filosoficamente.
Nur die Anthropophagie eint uns. Sozial. Wirtschaft-
lich. Philosophisch.
Tupy, or not tupy that is the question.
Tinhamos a justiça codificação da vingança. A ciência
codificação da Magia. Antropofagia. A transformação
permanente do Tabu em totem.
Wir hatten die Justiz als kodifizierte Rache. Die Wissen-
schaft als kodifizierte Magie. Anthropophagie. Die ständige
Verwandlung des Tabus ins Totem.
O instinto Caraíba. Der Karibische Instinkt.
Já tinhamos o comunismo. Já tinhamos a língua surrealista.
A idade de ouro.
Catiti Catiti
Imara Notiá
Notiá Imara
Ipejú.
Wir hatten bereits den Kommunismus. Wir hatten bereits die
surrealistische Sprache. Das Goldene Zeitalter.
Catiti Catiti
Imara Notiá
Notiá Imara
Ipejú.
Más não foram cruzados que vieram. Foram fugitivos
de uma civilização que estamos comendo, porque somos
fortes e vingativos como o Jabuti.
Aber es waren keine Kreuzfahrer, die da kamen. Es waren
Flüchtlinge einer Zivilisation, die wir jetzt auffressen, weil
wir stark sind und rachsüchtig wie ein Jabuti-Indianer.
Se Deus é a consciência do Universo Incriado, Guaraci é a
mãe dos viventes. Jaci é a mãe dos vegetais.
Wenn Gott das Bewußtsein des Ungeschaffenen Universums
ist, so ist Guarací die Mutter der Lebenden. Jací ist die
Mutter der Pflanzenwelt.
Antes do portugueses descobrirem o Brasil, o Brasil tinha
descoberto a felicidade.
Bevor die Portugiesen Brasilien entdeckten, hatte Brasilien
bereits das Glück entdeckt.
Contra a realidade social, vestida e opressora, cadastrada
por Freud - a realidade sem complexos, sem loucura, sem
prostituição e sem penitênciárias do matriarcado de Pindorama.
Gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit, angekleidet und unter-
drückend, von Freud klassifiziert und kastriert - die Wirklichkeit
ohne Komplexe, ohne Wahnsinn, ohne Prostitutierung und ohne
Strafanstalten, die Wirklichkeit des Matriarchats von Pindorama.
Zu São Paulo,
Im Jahre 374 nach der Verspeisung des Bischofs Sardinha.
GROßSTADT
Den Arbeitern
Mexikos
I
Hier
ist mein Gedicht
brutal
kollektiv
an
die neue Stadt.
Oh
Stadt ganz eingespannt
in
Kabel und Kräfte
lauttönend
von
Motoren und Flugzeuglärm
Explosion
simultan
der
neuen Theorien
ein
wenig jenseits
Auf
der räumlichen Ebene
von
Whitman und Turner
und
ein wenig diesseits
von
Maples Arce.
Die
Lungen Rußlands
blasen
uns zu
den
Wind der sozialen Revolution.
die
sentimentalen Literaten
werden
nichts verstehen
von
dieser neuen Schönheit
des
Jahrhundertschweißes,
und
die reifen
Monde
die
da fielen
sind
die Fäulnis die
aus
der intellektuellen Kloake
zu
uns dringt.
Hier
ist mein Gedicht:
Oh
starke Stadt
vielarmig
ganz
Eisen und Stahl.
Die
Molen. Die Docks.
Die
Kräne.
Und
das Liebesfieber
der
Fabriken.
Großstadt:
Straßenbahnen
geben Geleitschutz
durchfahren
die umstürzlerischen Straßen.
Die
Schaufenster greifen die Bürgersteige an
und
die Sonne plündert die Alleen.
Am
Rande der Tage
gesäumt
von tariflich gestaffelten Telegraphenstangen
defilieren
Augenblickslandschaften
rauf
und runter im Rohrsystem.
Plötzlich,
oh
die grüne Stichflamme
ihrer
Augen.
Ungeachtet
der sorglosen Rollos der Stunde
ziehen
die roten Bataillone vorbei.
Der
kannibalische Kitsch der Yankee-Musik
nistet
sich ein in den Masten.
Oh
internationale Stadt,
bis
zu welch entlegenem Meridian
trieb
es dich Ozeanriesen?
Ich
spüre wie alles sich entfernt.
Die
abgenutzten Dämmerungen
treiben
dahin in einem Panorama aus Stein.
Gespensterzüge
brausen
dorthin
in
die Ferne, keuchend vor Zivilisation.
Außer
Rand und Band
plantscht
die Menge in der Musik der Straßen.
Und
jetzt werden die räuberischen Bürger anfangen zu zittern
wegen
der Einnahmen
die
sie dem Volk abnahmen,
jemand
hält unter dem Gewand seiner Träume
die
geistliche Musik des Sprengstoffs versteckt.
Hier
ist mein Gedicht:
Hurrarufe
wie Wimpel im Wind,
in
Flammen aufgehendes Haar
und
im Auge der morgige Tag hinter Gittern.
Oh
Stadt
ganz
Musik
und
nur Rhythmen mechanisch.
Wer
weiß, ob morgen
nur
das Licht meines Gedichts
die
in die Knie gezwungenen Horizonte erhellt.
(...)
(Maples Arce,
URBE)
STRAßENNOTIZ
Auf
der Terrasse eines Cafés sitzt eine Familie in Grau. Vorbeiziehende
Brüste schielen zu den Tischen, um ein Lächeln zu erhaschen.
Der Lärm der Automobile verfärbt die Blätter der Bäume.
In einem fünften Stockwerk kreuzigt sich jemand beim weiten Öffnen
eines Fensters.
Ich
überlege, wo ich all die Zeitungskioske, die Straßenlaternen,
die Passanten, die in meine Pupillen eintreten, aufbewahren soll. So viele
Dinge drängen sich in mir, daß ich Angst habe zu platzen...
Ich müßte Ballast auf dem Trottoir ablassen.
An
der nächsten Straßenecke löst sich mein Schatten von mir
und wirft sich plötzlich unter die Räder einer Straßenbahn.
ALTAZOR
V
(...)
Ahora
soy rosal y hablo con lenguaje de rosal
Y
digo
Sal
rosa rorosalía
Sal
rosa al día
Salía
al sol rosa sario
Fueguisa
mía sonrodería rososoro oro
(...)
Jetzt
bin ich Rosenstock und rede wie ein Rosenstock
und
ich sage
Salz
Rose roRosalia
Salz
Rose am Tag
Ging
auf mit der Sonne eine Rose ein Kranz
Mein
Feuergleichnis rosenradfarben rososoro oro
(mehr
oder weniger wörtliche Übersetzung)
jetzt
bin ich rosenstock und rede wie ein rosenstock
und
ich sage
stockrose
rororohrstock
rosa
rosen im schilfrohrmeer
stockrosentrunken
rohrstöcke
winken
aurororosa
prosa de mar
(sehr
freie Übersetzung)
HUACO
(Grabbeilage)
Ich
bin der blinde Vogelkönig
der
durch die Brille einer Wunde blickt,
gefesselt
bin ich an die Erdkugel,
wie
an ein skurriles Huaco, das sich dreht.
Ich
bin das Lama, berührt nur von
der
feindseligen Torheit,
die
Signalhornschnecken schert,
Signalhornschnecken
glänzend vor Ekel
gebräunt
vom Klang eines alten Yaraví.
Ich
bin die Kondor-Taube, die ihre Federn
dem
lateinischen Schützen überließ;
an
der Oberfläche der Menschheit
schwebe
ich dahin in den Anden
wie
ein lichter Lazarus, ewiglich.
Ich
bin die inkaische Anmut, sich verzehrend
in
Goldenen Feldern und Tempeln, getauft
mit
Phosphat, mit Irrtum, mit Schierling.
Bisweilen
bockt in meinem Gestein
der
tote Nerv eines längst ausgestorbenen Puma.
Die
Sonne gärt;
Der
Schatten des Herzens geht auf!
(César
Vallejo, Schwarze Herolde / Imperiale Sehnsüchte)
TRILCE
XXXII
999
Hitzekalorien
Rumsss...
krrr... rach... zack
der
Marktschrei in Serpentinen
den
Giraffenhals hoch auf’s Trommelfell
Der
eine, wie vereist. Nein, nicht.
Der
andere weder noch sondern auch.
Und
noch einer just in der Mitte.
1000
Hitzekalorien.
Saublau
der Gringo-Himmel
grinst
er und grölt er vor Schnaps. Puterrot
steigt
die Sonne herab, auch dem Eiskältesten
auf’s
Dach.
Mach’s
dem Buhmann nach. Nnnnaaaaagennnn ...
bis
auf den Knochen
das
Auto, mobil vor Durst,
zärtlich
eilt es zum Strand.
Luft,
Luft! Eis!
Wenn
wenigstens die Hitze (..........Besser
ich
sage gar nichts mehr.
Sogar
die Feder,
mit
der ich schreibe, biegt sich und bricht.
Dreiunddreißig
Trillonen dreihundertdrei
unddreißig
Hitzekalorien.
(César
Vallejo)