K. Alfons Knauth

 


Die lateinamerikanische Avantgarde

(Ringvorlesung RUB 12.1.2000)

Prolog


 


Dieser Koffer ist ein Kunstwerk der historischen Avantgarde. Der Koffer stammt aus dem Jahre 1920 und besteht aus dem damals innovativen synthetischen Stoff der Vulkanfiber. Ganz Europa und Amerika war im Vulkanfieber seit Beginn des Jahrhunderts[1]. Sie erinnern sich: es war der Tanz der Belle Époque auf dem Vulkan. Die Vulkanfiber - gemäß Meyers Konversationslexikon - diente vornehmlich der Herstellung von Koffern und Dichtungen bzw. Dichtungsringen. In einem der wichtigsten literarischen Manifeste der lateinamerikanischen Avantgarde, dem Manifiesto Martín Fierro des Argentiniers Oliverio Girondo von 1924 wird der - aus Vulkanfiber hergestellte - Koffer Innovation als ein futuristisches Kunstwerk, eine „obra de arte“ gepriesen, vor allem bei Ozeanreisen auf Ozeanriesen, die „geschmackvoller als Renaissance-Paläste“ sind. In Ermangelung eines solchen Ozeandampfers, den der Vater des Vortragenden leider nicht besaß, stelle ich Ihnen den historischen Koffer außerhalb seines situativen Kontextes vor.

Über den ästhetischen Wert des einst innovativen Koffers läßt sich sicherlich streiten, besteht doch der ästhetische Wert des futuristischen Kunstwerks gerade in seinem transitorischen Charakter, der dem transhistorischen Gegenstand notwendigerweise abhanden kommt. Er setzt die Patina des Passatistischen an, die dem Futuristen zuwider ist. Es sei denn, man modernisiert den alten Koffer mittels des ästhetischen Aktualismus, der ja auch ein futuristisches Prinzip war. Dieses ersetzt das Neue durch das Aktuelle, und das Aktuelle kann auch das Älteste sein.

Zur Illustrierung der Vorlesung nun eine Mise en abîme, das Schachtelspiel derCajas chinas bzw. derPoupées russes: In dem alten Koffer befindet sich ein neuerer Koffer; auf ihn ist eine moderne Dichtung aufgedruckt, eine Art Weltformel 2000. In ihm befinden sich alte Dichtungen der historischen Avantgarde in Originalausgaben: einige Bände der Literaturzeitschrift La Pluma aus Montevideo von 1927 sowie das Gründungsmanifest der bedeutendsten surrealistischen Gruppe Lateinamerikas, der chilenischen Mandrágora, von 1938. Außerdem ein neuerer Dichtungsring von 1996; in ihm ist enthalten das lyrische Testament des letzten bis vor kurzem noch mit der Dichtung ringenden lateinamerikanischen Surrealisten, des Mitbegründers der Mandrágora, Enrique Gómez-Correa, der auch an der Ausstellung im Museum Bochum von 1993 über Lateinamerika und der Surrealismus beteiligt war. Bei der Ausgabe des Dichtungsrings handelt es sich um eine spanisch-deutsche Originalausgabe, mit einem Porträt des Dichters von René Magritte und bis dahin unveröffentlichten surrealistischen Zeichnungen. Die Edition wurde von einer Bonn-Bochumer Studenten- und Dozentengruppe besorgt[2]. Und schließlich enthält der Koffer noch das Skript der gegenwärtigen Vorlesung, das seinerseits alles Gesagte noch einmal enthält[3]. Vgl. Epilog! 

Zur Ansicht und zur besseren Einsicht!
 



 

Avantgardistische Flashs und Paradoxe Lateinamerikas

- 15 Jahre vor dem Ausbruch des Futurismus in Europa und Südamerika gab es bereits eine Kritik desselben, und zwar in dem Gedicht Futura (ca.1895) des modernistischen ‘Nationaldichters’ Kolumbiens, José Asunción Silva (vgl. Diss. Rodrigo Zuleta RUB 1999); ein anarchistisches Attentat auf die Zeit und Raum auffressende Sancho-Panza-Mentalität der Verkehrs- und Kommunikations-gesellschaft, inszeniert auf dem Frankfurter Römerplatz, wo im 25.Jahrhundert ein Eisenbahnknotenpunkt zwischen Liverpool und Peking eingerichtet werden soll, sozusagen vor den Augen Goethes, der freilich das „veloziferische“ Zeitalter vorhergesagt hatte („Alles ist veloziferisch“), nicht ohne die ‘luziferischen’ Seiten desselben im Zauberlehrling zu beschwören. 

- Zwei Wochen nach Ausbruch des Futurismus, Anfang März 1909, gab es in Südamerika eine der treffendsten Satiren des Futurismus überhaupt, die spitz kommentierte Übersetzung der elf Thesen des Gründungsmanifestes Marinettis durch den lateinamerikanischen Modernisten Ruben Darío in der argentinischen Zeitung La Nación. 

- Während die futuristische Avantgarde Europas in Lateinamerika sehr früh schon demontiert wurde, hat die dadaistische und die surrealistische Avantgarde dort ihren eigentlichen Ursprung, und zwar schon vor der Eroberung Amerikas durch die Europäer: dies ist die Grundthese des Menschenfressermanifestes (1928), der kulturellen Anthropophagie der brasilianischen Modernisten, insbesondere Oswald de Andrades

- Auch ohne diese leicht anachronistische Volte kann man sagen, daß drei der großen ‘Vorreiter’ der Avantgarde des 20.Jahrhunderts aus Lateinamerika stammen: die in Montevideo geborenen und in Frankreich und Deutschland wirkenden Dichter Lautréamont, der in den Chants de Maldoror sich selbst so nennende „le montévidéen“ (Wegbereiter des Surrealismus, um 1870) und Jules Laforgue (frz. Stilrevolutionär mit südamerikanischem Sub-Diskurs, um 1885) sowie der Brasilianer Sousândrade, einer der ersten panamerikanischen und polyglotten Dichter, dessen lyrisches Epos O guesa errante (Indianische Odyssee, ca.1870-1890) ein wichtiger Prätext nicht nur der Cantos von Ezra Pound ist. Insgesamt also schlechte Nachrichten für die europäische und die nordamerikanische Avantgarde: „Mauvaises nouvelles de l’avant-garde“ (vgl. Bild in Pariser Expo-Katalog 1889, hier: Rückencover; vgl. auch den tödlichen Sturz des italienischen Futuristen Boccioni vom Pferd während eines Übungsrittes im 1.Weltkrieg, 1916). 

- Direktes Mitwirken lateinamerikanischer Literaten und Künstler an der Herausbildung der europäischen Avantgarde: der Chilene Vicente Huidobro seit 1916 in Paris; zusammen mit Pierre Reverdy, 1917 begründet er die Zeitschrift Nord-Sud und seit 1914 entwickelt er in Chile und Buenos Aires den poetischen Kreationismus; der Argentinier Borges, seit 1914 in Europa und 1918 Mitbegründer des spanischen Ultraísmo, den er 1922 nach Argentinien exportiert; der Brasilianer Ronald Carvalho, der zusammen mit Mário de Sá-Carneiro und Fernando Pessoa die portugiesische Zeitschrift Orfeu 1915 gründete, bevor er eine der herausragenden Figuren der Semana de Arte Moderna in S.Paulo 1922 wurde; die brasilianische ‘Menschenfresserin’ Tarsila do Amaral, die der kulturellen Anthropophagie mit einem so betitelten Bildnis den Namen gab, illustrierte einen der lyrischen Klassiker der französischen Avantgarde, Blaise Cendrars’ Feuilles de route / Reiseblätter (1924) (Text / Bild no. 3). 

- Das wohl bedeutsamste Paradox, das die südamerikanische Avantgarde wesentlich von der europäischen unterscheidet, ist der Simultaneismus von aktueller Gegenwart und archaischer Vergangenheit, die authentische Synthese von Modernismus und Primitivismus, wobei letzterer nicht im europäisch exotischen, sondern im endogenen, indigenen Sinne zu verstehen ist. Die genuinste Gestalt hat diese gewonnen in der Pau-Brasil- und der Antropofagia-Bewegung des brasilianischen Modernismus; letzterer setzte zudem das Zeichen für die volle Autonomie der lateinamerikanischen Literatur und Kultur in der Semana de Arte Moderna, der Woche der Modernen Kunst von 1922; in Fortführung des ‘oxymoralischen’ Mottos einer brasilianischen Akademie des 18.Jahrhunderts „Sol oriens in occiduo“ (die leider zu oft vergessene Academia Brasílica dos Esquecidos / Brasilianische Akademie der Vergessenen, Rio de Janeiro 1724) wurde lateinamerikanische Literatur erstmals zu einem selbstverwalteten Exportartikel: „a Poesia Pau-Brasil, de exportação“ / „die zum Export bestimmte Brasilholz-Dichtung“ (Oswald de Andrade, Manifesto da poesia Pau-Brasil, 1924), in Anlehnung an bzw. Ablehnung von der ersten historischen Kolonialware Brasiliens, die dem Land den Namen gegeben hat: Pau-Brasil = Brasilholz (besonders als roter Farbstoff genutzt, nicht zuletzt für die rote Tinte, mit der das kolonialistische Europa der übrigen Welt Kulturnoten verteilte).

Simultaneismus und Simultaneität der Avantgarden

Das, was die europäische und die lateinamerikanische Avantgarde am meisten vereint, ist das Moment der Simultaneität und das ästhetische Prinzip des Simultaneismus. Der simultaneistisch-modernistische Avantgarde ist die erste fast gleichzeitig und nahezu weltweit - vor allem aber in Europa und Amerika - entstehende und stattfindende literarische Bewegung; erste Verwirklichung der von Goethe postulierten Weltliteratur, der miteinander unmittelbar dialogierenden Literaturen der Welt; Herausbildung eines globalen pluralen Kultursubjektes, moderner Kosmopolitismus: „Nuovo senso del mondo“ (Marinetti), „conscience internationale“ (Yvan Goll); „nueva sensibilidad“ (Girondo); der Ort des globalen Bewußtseins ist die Weltstadt im doppelten Sinne: die Welt als Stadt, die Stadt als Welt, ermöglicht durch die Ausweitung und Beschleunigung der Verkehrs- und Nachrichtenmittel, die eine Art VeloCittà oder VeloCidade, die dromologische Kosmopolis der Moderne schaffen; lange vor dem Ausdruck „global village“ bestand das Bewußtsein der modernen[4] „Kosmopolis“, manifestiert u.a. als häufiger Zeitschriftentitel (Cosmopolis, in der Mallarmé seinen Coup de dés 1897 lancierte; die spanische Cosmópolis 1919-20), als Roman (Cosmopolis, Paul Bourget 1892), als Konzept (z.B. der frz. Romancier Stendhal: „Vengo adesso da Cosmopoli“, zitiert im Vorwort zu dem Roman sowie im Kapitel „Elogio del Cosmopolitismo“ in Guillermo de Torres’ Literaturas europeas de vanguardia, der ersten umfassenden Geschichte der Avantgarden, aus ihrer Mitte heraus geschrieben und 1925 veröffentlicht).

Zivilisatorische Modernität Lateinamerikas

Zivilisatorische Modernität Lateinamerikas ist Voraussetzung für die Rezeption und Koproduktion der futuristisch-modernistischen Avantgarde Europas: technologischer und urbanistischer Fortschritt, schon seit der 2.Hälfte des 19.Jahrhunderts, mit nur kurzen Zeitverschiebungen gegenüber Europa, aber wesentlich von europäischem Kapital und Engineering gesteuert; offizielle Fortschrittsideologie des französischenPositivismus mit dem sogar als staatliche Devise benutzten Wahlspruch „ordem e progresso“ (Brasilien), „orden y progreso“ (Mexiko u.a.), übernommen von Auguste Comtes Begriffspaar „ordre et progrès“/„Ordnung und Fortschritt“; Lateinamerika ist seit ca.1865 mit Europa vernetzt durch Telegraphie und Transatlantik-Kabel (letztere wahrscheinlich aus chilenischem Kupfer gefertigt); durch regelmäßige Schifffahrtslinien mit Ozeandampfern seit Mitte des 19.Jh.; Personen- und Warenverkehrsnetz der Messageries, des Paket-Verkehrs / des Package-Boat / des Paquebot; durch die TSF / Télégraphie sans fil / drahtlose Telegraphie seit 1910; interkontinentaler Simultaneismus auch des gastronomischen Geschmacks, ermöglicht durch Erfindung der Kühltechnik, aufgrund der Initiative eines brasilianischen Faktotums, des Barons von Mauá, durch den Franzosen Tellier und den Engländer Morgan (um 1870): die in riesigen Kühlhäusern gelagerten Fleischberge der La-Plata-Region sowie die Früchtepyramiden der amerikanischen Tropen in Kühlschiffen nach Nordamerika und Europa zum fast zeitlosen Simultankonsum transportiert; außerdem gigantische Konservenindustrie mit andinischem Zinn, Liebig’s Chemie (kubistische Funktion der Brühwürfel / „Maggi cubes“ in frz. Avantgarde, z.B. bei Cendrars) und Liebig’s Fleischfabriken am Rio de La Plata, Corned Beef als Grundnahrungsmittel der europäischen Kolonial- und Weltkriegstruppen; inneramerikanische Infrastruktur: erste Eisenbahnlinie in Kuba (1836), ein Jahr nach Deutschland; Andenbahnen mit z.T. 4500 Meter Höhenunterschied (u.a. vom Pazifik zum Titicaca-See, 1874); ausgedehntes Eisenbahnnetz in Mexiko; erster Hochofen in Monterey (Mexiko) im Jahre 1903, als Hauptanfeuerer der dortigen Eisenbahnindustrie; Strom / elektrische Straßenbeleuchtung im Zentrum von Montevideo seit 1887 (die erste überhaupt, die der Wall Street in New York, seit 1880); Straßenbahn in S.Paulo 1900; U-Bahn / Subte in Buenos Aires kurz nach 1900 (in Paris 1900, in London seit ca. 1865); Autoverkehr breitet sich aus seit Jahrhundertbeginn, bereift mit Kautschuk vom Amazonas (Dunlop, Michelin); mehrere Tausend Autos in S.Paulo, Rio de Janeiro oder Buenos Aires um 1925; der brasilianische Flugpionier Santos-Dumont, mit Zeppelin 1903 um Eiffelturm, etwas später mit Doppeldecker; das erste Kino in S.Paulo 1907; Kaufhäuser (Au Louvre, Au Printemps), Internationale Hotels und Cafés, Prachtstraßen (Campos Elíseos), in Nachahmung von Paris eine regelrechte Belle Époque in S.Paulo, auf der wirtschaftlichen Basis vor allem der Kaffee- und Kautschukproduktion (die Hälfte der Weltproduktion); kleine Wolkenkratzer (vorgeschriebene Mindestbauhöhe von 3 Stockwerken), Wachsen der Häuser und der Städte, in die Breite, in die Höhe, in die Tiefe; urbanistische Dynamik im mehrfachen Sinne: Bahnen (anglo-bras. ‘bondes’), Autos und Menschenmassen in den Straßen, Aufzüge in den Häusern, Mobilisierung der Immobilien durch Abriß und Aufbau der Häuser; intensivierte Licht-Dunkel-Dynamik, intermittierende Lichter der Leuchtreklamen, später der Verkehrsampeln; Hupkonzerte und Fabriklärm; schnellerer Pulsschlag und beschleunigte Bewußtseinsströme, stream of collective consciousness, eine unanimistische „alma coletiva“ / „kollektive Seele“ (Hup-Manifest Klaxon 1922); vertikale wie horizontale gesellschaftliche Dynamik: beschleunigter sozialer Aufstieg und Abstieg (Fahrstuhlsyndrom), massive Einwanderungswellen aus Europa und Asien; die Weltstädte Buenos Aires, Rio de Janeiro, S.Paulo, und Mexiko wachsen um 1910 auf 500.000 bzw. 1.5 Millionen Einwohner.

Auf dieser zivilisatorischen Grundlage erfolgt die Rezeption des europäischen Futurismus (unterstützt durch die weltweite Werbestrategie Marinettis), der modernistisch-simultaneistischen Avantgarde, des Esprit Nouveau.

Rezeption / Intercambio

- März 1909 Übersetzung und Kommentar von Marinettis Gründungsmanifest des Futurismus (Februar 1909 in Le Figaro) durch den Begründer des hispanoamerikanischen Modernismo Ruben Darío in der Zeitung La Nación in Buenos Aires (s.o.); 1909 im Boletín de Instrucción Pública in Mexiko durch Amado Nervos Beitrag Una nueva escuela / Eine neue Schule; 1909 eine brasilianische Übersetzung in Salvador da Bahia; später Marinettis Vortragsreise nach Rio de Janeiro, S.Paulo und Buenos Aires 1925 (vgl. Illustration Ricardo Güiraldes’); außerdem weite Verbreitung von Apollinaires modernistischem Essay L’esprit nouveau et les poètes / Der Neue Geist und die Dichter (1917), der Begriff des Esprit Nouveau wird vielfach ins Spanische und Portugiesische übertragen und als Ober- und Leitbegriff weiterverwendet, z.B. als Espíritu Nuevo in der chilenischen Rosa náutica, auch als Espírito Moderno, z.B. in dem gleichnamigen Essay des brasilianischen Modernisten Graça Aranha von 1925, der 1922 die Einführungsrede zur Semana de Arte Moderna in S.Paulo gehalten hatte; neben Marinetti, vielleicht vor ihm, ist Apollinaire die wichigste europäische Bezugsfigur des lateinamerikanischen Modernismus, wohl weil er auf weniger Seiten vielseitiger ist; Apollinaire und der Modernismus werden in Lateinamerika in den 20er Jahren zusammen mit dem inzwischen entstandenen Dadaismus und dann auch Surrealismus rezipiert.

- Seit 1912 Reisen der lateinamerikanischen Modernisten nach Europa, verbunden mit Transfer / Translatio der europäischen Avantgarden bzw. / Rückführung / Re-Import derselben: der Brasilianer Oswald de Andrade (1912), der Argentinier Oliverio Girondo (1912), der Chilene Vicente Huidobro (1916) und die Peruaner Mariátegui und César Vallejo (ca.1920) nach Paris; Huidobro außerdem 1917 wegen des Weltkriegs nach Spanien; der Argentinier Jorge Luis Borges und seine Schwester, die Graphikerin Norah Borges, die später (1928) den spanischen Kosmopoliten und Ultraisten Guillermo de Torre heiratet, nach Genf, Deutschland, Italien, Frankreich und nach Spanien (1914-1922); die brasilianischen Malerinnen Anita Malfatti und Tarsila do Amaral nach Deutschland bzw. nach Paris (s.o.).

- Interkultureller Reiseverkehr in umgekehrter Richtung: vor allem der frz. Modernist Cendrars; durch seine Südamerikareisen in den 20er Jahren ist er der wichtigste europäische Vermittler der brasilianischen Kultur in Europa; 1925 Marinettis ‘kulturimperialistische’ Vortragsreise nach Rio de Janeiro, S.Paulo und Buenos Aires; García Lorca in Kuba und Buenos Aires (um 1930); dann die Surrealisten Péret, Breton, Masson und Artaudin Brasilien bzw. Mexiko und in der Karibik (Martinique, Haiti) (vgl. Ausstellung im Museum Bochum 1993 Lateinamerika und der Surrealismus).

- Der Ausdruck und Begriff der Avantgarde als span. Vanguardia und port. Vanguarda in Lateinamerika seit Anfang der 20er Jahre geläufig (analog der verstärkten Verwendung in Europa nach dem 1.Weltkrieg, wohl bedingt durch die vermehrte Parallelführung mit der militärischen und der politischen Avantgarde im Zusammenhang des Kriegs und der faschistischen und sozialistischen Revolutionen), und zwar als „común denominador“ / „gemeinsamer Nenner“ des Futurismus, Expressionismus, Dadaismus usw. bei dem peruanischen Intellektuellen (und Begründer der Kommunistischen Partei Perus) Juan Carlos Mariátegui (1921); als ein solcher Oberbegriff ist der Terminus in den Titel einer der ersten Geschichten der Avantgarden eingegangen, in Guillermo de Torres Las literaturas europeas de vanguardia (1925); ein brasilianischer Beleg in Pau-Brasil (1925): „Rochedos de São Paulo (...) Vanguarda calcinada do Brasil“ (Text no.2). 

Ein relativ realistischer futuristischer Beispieltext, der die protofuturistische Stadt S.Paulo poetisch aufbereitet: Luís Aranhas Poema giratório / Drehgedicht (1922; Text no.2). 

Cover und Titel der führenden Zeitschrift des brasilianischen Modernismus Klaxon (1922 ff.) als kalligrammatischer Ausdruck der städtischen Kakophonie (Text no.2); Tarsila do Amarals kubofuturistisch-tropikalistisches Gemälde Estrada de Ferro Central do Brasil / Zentrale Eisenbahn Brasiliens (1924) (Bild no.1).


 


Spezifik der lateinamerikanischen modernistischen Avantgarden


 


- Zumeist grundsätzliche Absetzung vom Futurismus Marinettis, wegen seiner starren Fixierung auf die Zukunft, seines Panitalianismus, seines Militarismus, seines Technozentrismus. Dies insbesondere auf dem Hintergrund der sich gerade herausbildenden lateinamerikanischen Identität im Rahmen der 1.Phase des Modernismo und Mundonovismo; deren epochemachende Essaysschrieben der kubanische Journalist, Politiker und Dichter José Martí (Nuestra América / Unser Amerika, 1891) sowie der uruguayische Universitätsprofessor José Enrique Rodó (Ariel, 1900); der eine setzt ein mischkulturelles autochthones Lateinamerika gegen ein neokolonialistisches Nordamerika („la otra América“ / „das andere Amerika“) und Europa; der andere setzt dem zerzivilisierten, materialistischen und imperialistischen Nordamerika („Calibán“) ein kultiviertes, spirituelles, europäisch inspiriertes, aber autonomes Lateinamerika mit nur wenigen indigenen Zügen („Ariel“) entgegen; bei beiden wird die kulturelle Selbstaneignung der Neuen Welt, ein neuer Mundonovismo, die kulturelle Autonomie Lateinamerikas angestrebt. 

Hier zunächst im Überblick das Spektrum der Besonderheiten der lateinamerikanischen Avantgarden, die sich auf der Grundlage der vorausgegangenen Autonomie-Tendenzen ergeben:

- ein tropikalistischer Modernismus mit der verschieden gearteten Synthese von Modernismus und Primitivismus, Indigenismus, Afroamerikanismus, von tropischer Natur und Surrealismus im brasilianischen Modernismo einschließlich des Pau-Brasil, Klaxon, des urbanen Desvairismo / d.h. des irren Irrationalismus, des indianisch-patriotischen Verdeamarelismo / Grüngelbismus der totemistischen Anta-Gruppe (Tapir als pflanzenfressendes Totemtier Brasiliens), und der Antropofagia (ca.1922-1930); mit kosmopolitischen und / oder nationalistischen Varianten;

- ein nativistischer Modernismus, mit gleichzeitig kosmopolitischen und nationalkulturellen ‘gauchistischen’ Komponenten, vor allem im argentinischen Martinfierrismo Oliverio Girondos und Borges’ (um 1925) und in Uruguay;

- ein lateinamerikanistischer und kosmopolitischerModernismus, teilweise mit indigenen und afroamerikanischen Komponenten, besonders in der uruguayischen Zeitschrift La Pluma / Die Feder (1927-31); außerdem im chilenischen Kreationismus Huidobros mit seinen kosmopoetischen und magisch-imaginativen Ansätzen (1914-1931) sowie im Espíritu Nuevo der chilenischen Zeitschrift Rosa Náutica (um 1922);

- ein indigenistisch-sozialistischer Modernismus, vor allem in Peru (Mariátegui und C.Vallejo), sowie in der mexikanischen Kulturrevolution des Actualismo / Estridentismo / der Schrillkultur (Maples Arce, 1921 ff.) und des Muralismo / historisch-politisch-mythische Mauer- und Wandmalerei (1921 ff.); außerdem sehr ausgeprägt in der brasilianischen Anthropophagie Oswald de Andrades (1928-33);

- ein transkultureller Afroamerikanismus bei dem Kubaner und späteren Nationaldichter Nicolás Guillén (Gedichtsammlung Sóngoro Cosongo, 1931); sowie im Diepalismus bzw. der poesía negra der Puertorikaner Diego Padró und Luis Palés Matos (1921ff.); als Afrobrasilianismus sehr stark in der Antropophagie-Bewegung vertreten;

- ein panamerikanischer Modernismus mit tropikalistischem Einschlag im Euphorismus des hispano-anglo-amerikanischen Puerto Rico, vor allem des Luis Palés Matos (1923); 

- ein verinnerlichter psychopoetischer Modernismus mit kosmopolitischen und nationalkulturellen Komponenten, vor allem im argentinischen Ultraismus und Nativismus Borges’ und Girondos (1922 ff.); 

- ein ‘entropischer’ Tropikalismus, der den okzidentalen Modernismus und den euphorischen Tropikalismus dekonstruiert, bei dem peruanischen Dichter César Vallejo (Gedichtbände Los heraldos negros 1919, und Trilce, 1922);

- ein amerikanisierter Surrealismus in der Poesía negra / der (im metaphorischen Sinne) Schwarzen Poesie der chilenischen Gruppe und Zeitschrift Mandrágora (1938-1943-1993), besonders ihrer herausragenden Vertreter Braulio Arenas und Enrique Gómez-Correa; mit einer stark metaphysischen Komponente nihilistischer Ausrichtung, aber auch einem antifaschistischen Engagement der Gruppe. 


 


Der brasilianische Modernismo


 


Auf dem Hintergrund der brasilianischen Belle Époque der ‘Milchkaffee-Republik’ (‘República-Café-com-leite’), unter der kapitalistischen Oligarchie der Paulistaner Kaffeebarone und angesichts beginnender militärischer und kommunistischer Unruhen und Umsturzversuche, ist die Semana de Arte Moderna / die Woche der Modernen Kunst, die 1922 in S.Paulo zur Einhundertjahrfeier der Unabhängigkeit Brasiliens stattfand, sicherlich das bedeutendste avantgardistische Ereignis Lateinamerikas, vergleichbar der frz. Bataille d’Hernani der Romantik, den großen futuristischen Happennigs (Serate / Soirées / Veladas / Noitadas), den Dada-Spektakeln, der Armory-Show in New York; eine Art aktionistischer Multi-Art, ein Spektakel gegen die offizielle akademische Kunst der frz. inspirierten Parnasse- und L’Art-pour-l’Art-Dichtung, von dem Akademie-Mitglied Graça Aranha mit einer Eröffnungsrede über Moderne Kunst unterstützt; weitere Reden von dem späteren ‘Grüngelbisten’ Menotti del Picchia und dem ‘Orphisten’ Ronald de Carvalho, letzterer über brasilianische Malerei und Bildhauerei; Rezitation von Prosa-Texten durch Oswald de Andrade, von Gedichten durch Mário de Andrade, Manuel Bandeira und Plínio Salgado; Ronald de Carvalho trägt das von Bandeira gegen die herrschende parnassische Poesie und ihre Schwanengesänge geschriebene Frosch-Gedicht Os sapos vor; Agenor Barbosa deklamiert ein Gedicht über die moderne Luftfahrt Os pássaros de aço / Die Stahlvögel; Skulpturen- und Gemäldeausstellung, u.a. der Bildhauer Victor Brecheret (der später das Nationaldenkmal der Bandeirantes / der brasilianischen Inland-Konquistadoren in S.Paulo schuf, 1936-53), sowie die Malerin Anita Malfatti, die den Kubismus aus Frankreich und den Expressionismus aus Deutschland importierte (im Umfeld der Semana die Malerin Tarsila do Amaral, die – neben Cendrars‘ Feuilles de route - den Gedichtband Pau-Brasil ihres Mannes Oswald de Andrade illustrierte; etwas später der Maler Portinari, der für die moderne Mythologie Brasiliens eine ähnliche Rolle spielte wie die Muralisten in Mexiko; er malte u.a. den Zug der kommunistischen Heeressäule des Carlos Prestes quer durch Brasilien in den 20er Jahren); moderne Musik: Entdeckung des künftigen brasilianischen Nationalmusikers Villa-Lobos, der u.a. afrikanische Tänze für das Festival komponierte und - ein Skandal! - in Sandalen auftrat; Tumulte der Passatisten gegen die ‘Futuristen’, die sich gegen dieses Etikett jedoch verwahrten und sich zunehmend ‘brasilianisierten’, ‘indianisierten’, ‘afrikanisierten’ und ‘totemisierten’; Froschgequake, Hühnergegacker, Pferdegewieher und Hundegebell vs. Pfiffe und Pfui-Rufe.

-tropikalistischer Modernismus / Simultaneismus: Thematisierung der technischen und urbanen Errungenschaften der brasilianischen Zivilisation; Darstellung mithilfe der ‚befreiten Wörter‘ (‚parole libere‘) des Futurismus, relativ mimetisch in Luís Aranhas Geschwindigkeitsgedicht Poema giratório (no.2), mehr amimetisch in Oswald de Andrades Rochedos de São Paulo (Pau-Brasil / Lóide brasileiro, 1925) (no.4), mit Sprungmetaphern und prismatischen Brechungen (vgl. Borges); größere simultaneistische Amplitüde zwischen Tropen und Großstadt, mehr Leerstellen, die es zu überbrücken gilt (Everest-Wolkenkratzer in S.Paulo vs. Atlantis, historische vs. zeitgenössische Entdeckung Brasiliens usw.); größere Dichte; tropikalistisches Marconigramm vom Telegraphenmast zur Palme gesandt bzw. gespannt, drahtlos bzw. per Draht-Assoziation (vgl. Postes da Light in Pau-Brasil sowie das Eisenbahnbild Estrada de Ferro Central do Brasil der Tarsila do Amaral (no.1); bei Mário de Andrade erhält die Simultaneität eine musikalische Konnotation: durch fragmentarische, elliptische Syntax entsteht Überlagerung und prinzipielle Gleichzeitigkeit der Satz- und Aussageglieder, eine poetische Polyphonie; moderne dissonantische Harmonie vs. traditionelle melodische Linearität (Prefácio interessantíssimo des Gedichtsbandes Paulicéia desvairada / Verrückte S.Paulodyssee (1922); 

- der Desvairismo / Irrer Irrationalismus Mário de Andrades (1922): ‚entrückte‘, ‚verrückte‘ Dichtung aus dem Unterbewußten, irrationale Komponente; parallel der Malweise Tarsila do Amarals; ‚konspirative‘ Inspiration des „subconsciente“; surrealisierendes Konzept noch vor dem 1.surrealistischen Manifest Bretons; angelehnt an Rimbauds „dérèglement de tous les sens“ („Deregulierung aller Sinne“), aber mit intellektueller Steuerung des intuitiv begonnenen Schaffensprozesses; auch „o nosso primitivismo“ /„unser Primitivismus“ vom Autor genannt; jedoch extrem transitorisch konzipiert; im doppelten Sinne dynamisches Verständnis von Kunst; wie bei Marinetti baldige Überholung des Ismus durch den nächsten; Kurzlebigkeit / Aktualismus;

- der primitivistische Modernismus der kulturellen Anthropophagie Oswald de Andrades, vorgeformt im Manifesto Pau-Brasil (1924) und in der Falação / Redegedicht aus dem Gedichtband Pau-Brasil (1925) (no.4), ist stärker sozialkritisch und kulturrevolutionär ausgerichtet, dargelegt vor allem im Manifesto antropófago (1928) (no.3) und in der Revista de Antropofagía und ihren einzelnen „Zahnungen“ / „Dentições“ genannten Ausgaben (1928-29). Tarsila do Amarals Bild Abaporú Menschenfresser von 1928 war Ausgangspunkt der Bewegung und ihrer Begrifflichkeit (eine anthrophage Vorphase in dem Bild A Negra (1923), das Cendrars brasilianische Reiselyrik Feuilles de route als Leitbild diente, hier: no.3); später Demontage des Modernismus als großbürgerliche Kunst im Vorwort zu dem Anti-Roman Serafim Ponte Grande (1933), der eine radikale Sozialkritik Brasiliens auf der Basis der Anthropophagie darstellt; 

- Prinzipien und Thesen der Anthropophagie: anti-okzidental, anti-kolonialistisch, anti-christlich, anti-humanistisch, anti-kapitalistisch, sogar anti-aufklärerisch; letzteres insofern als z.B. der ‘Gute Wilde’ Rousseaus nur als der moralische Lendenschurz der nackten Gewalt Europas fungierte; dagegen wird die barbarische Provokation des ‘Bösen Wilden’, des Menschenfressers, gesetzt: „Tupy or not Tupy that is the question“; karibisch-kannibalische Revolution – Kaliban statt Ariel; Karnevalismus: brasilianischer Volkskarneval vs. Richard Wagner; Totemismus: desideriales Totem statt moralisches Tabu (vgl. den Anta / pflanzenfressender Tapir, Totemtier der nationalkulturellen Gruppe der Grüngelbisten; den Jabuti / die gerissene, „rachsüchtige“ Schildkröte, das Totemtier des gleichnamigen brasilianischen Indianerstamms; vgl. auch den Tiermenschen im Conquista-Gemälde Riveras, Bild no.5); freudianische (Oswald de Andrade firmierte mit dem Pseudonym „Freuderico“) bzw. eigentlich anti-freudianische Triebbefreiung und Enthemmung nach Art von Wilhelm Reichs sozialpsychologischer Revolte, im Vorgriff auf Guattaris / Deleuzes Anti-Œdipe; barbarischer, primitiver Vitalismus vs. europäische Kopflastigkeit, Komplexe und Frustration; im Unterschied zu der Nostalgie der Europäer (z.B. in Yvan Golls ‘Zenitistischem Manifest’ und allgemein im Exotismus um die Jahrhundertwende) gehört der Primitivismus in Amerika zum lebensweltlichen Alltag; auch der Surrealismus und der Kommunismus sind ursprünglich brasilianisches Kulturgut, gehören zum ‘Matrimoniat’ des Matriarchats von Pindorama; Selbstentdeckung, Rückgewinnung des euphorischen Eldorado (vs. US-amerikanisches ‚Eldolarado‘ oder okzidentales ‘Pildorado’); sprachliche Tupinisierung / Indianisierung: Pindorama, Piratininga, unübersetzte Tupi-Einsprengsel; anthropophages Amalgam von primitivistischer Urkultur und moderner Zivilisation, die ‚gefressen‘ und ‚verdaut‘ wird, um sie neu zu gestalten: Synthese von schöpferischer Faulheit und industriellem Fleiß, von natürlichem Erfindungsgeist (‘bricolage’) und rationalem Ingenium des Ingenieurs; von Natur und Großstadt, Urwald und Schule; karibisch-akribisch; Beginn der Exportphase brasilianischer Pau-Brasil- und anthropophager Kultur; poetische Prosa des Manifests analog der Prosapoesie des ‘Redegedichts’ Falação (Pau-Brasil); ästhetische Konsequenz: realphantastischer Diskurs - Mário de Andrades ‘anthropophager’ Roman Macunaíma vom Autor als „real e fantástico“ bezeichnet, hinführend zum späteren „real maravilloso“ oder „realismo mágico“. 


 


Mário de Andrade: Macunaíma (1928) 


 


Macunaíma (Textauszug no.4a) ist der brasilianische Identitätsroman der Moderne, wie sein Protagonist „sem nenhum caráter“ / „ohne jeden Charakter“, d.h. ohne eine bestimmte Ethnik und kulturelle Ethik, von pluraler, diffuser Unbestimmtheit; Satire des portugiesischen Purismus, synkretistisches amerikanisches Sprach- und Kulturkonzept: skurriles Zusammentreffen / ‘desencontro’ des primitiven und des futuristischen Brasiliens, des Urwaldmenschen und des Bewohners des Großstadtdschungels von São Paulo; realphantastischer Simultaneismus von archaischer Vergangenheit und Moderne.

Macunaíma, ein listiger, lustiger, hinterlistiger und vordergründiger Antiheld, wird im Amazonas-Urwald in einem schwarzen Indio-Stamm geboren, wäscht sich weiß in einer Wunderquelle, heiratet Ci, die Königin der Amazonen bzw. Icamiabas, die als Sternbild zum Firmament aufsteigt, nachdem sie ihrem Gatten, dem neuen Kaiser der Amazonen, einen Zauberstein, den Muiraquitã, übergeben hat. Macunaíma verliert den Stein, kommt nach São Paulo, wo der menschenfressende Riese Venceslau Pietro Pietra, der sich des Steins bemächtigt hat, mittels seiner Zauberkraft steinreich geworden ist und ein kapitalistisches Imperium leitet, ganz ähnlich so manchen italienischen Neureichen. Der ‘gutböse Wilde’ Macunaíma sieht São Paulo mittels futuristischer ‘Imaquinação’ als eine einzige Maschine, wo alles und jedes Maschine ist, die Wolkenkratzer, die Autos, die Aufzüge, die Zeitungen, die Revolverbäume und natürlich auch die Menschen. Sogar Macunaíma wird zur Maschine: diese ist anagrammatisch in seinem Namen verborgen: „Macunaíma = uma Máquina“! Allerdings ist Macunaíma eher eine ‘máquina desejante’ / eine ‘Wunschmaschine’ nach Art von Deleuze/Guattaris Anti-Ödipus, wenn auch vom Erzähler kritisch betrachtet. Auch die Natur wird in Maschine verwandelt bzw. die Maschine geht auf natürliche Prototypen zurück und mutiert vom Tier zur Maschine, nach Art einer Ovidschen Metamorphose oder eines totemistischen Zaubers: die Autos sind Tiger -‘put a tiger in your tank’; die Flugzeuge sind Vögel (der Vogel Tuiuiú, Namengeber des dt. Turismus-Unternehmens TUI...); die Medizin basiert vor allem auf dem Heilmittel Guaraná, das aus der Pflanze gewonnen wird, in die der Sohn Macunaímas und Ci’s bei seinem Tod verwandelt wurde. Auch die europäisierten Sternbilder Brasiliens werden animistisch zurückverwandelt in indigene Wesen: so wird das Kreuz des Südens, der Cruzeiro (seit 1996 Emblem des Mercosur), umgetauft zu Pauí Pódole, ein Vogel, der Brasilien wegen der dort überhandnehmenden Ameisen verlassen hat und sich in ein Sternbild verwandelt - „Poca saúde e muita saúva, os males do Brasil são“ / „Wenig Gesundheit und viele Ameisen sind die Übel Brasiliens“ ist das Leitmotiv der Erzählung (São Paulo ist noch heute auf 16 Millionen Ameisenhaufen gebaut, einer pro Kopf der Bevölkerung).

Nach vielen Episoden und Peripetien besiegt Macunaíma den Riesen Venceslau Pietro Pietra, zunächst mithilfe der Macumba, dann durch Ertränken in einer Makkaroni-Soße. Er gewinnt den Zauberstein zurück, verwandelt die Stadt São Paulo in ein riesiges steinernes Faultier und zieht sich in seine Heimat in den Wäldern des Amazonas zurück, trotz der anfänglichen Versuche und Versuchungen, Kaiser der städtischen Maschinenwelt zu werden. Er verliert den Stein erneut wegen seiner unstillbaren Liebesgelüste, die ihn in eine Falle gelockt haben, sein ganzer Stamm stirbt aus, die Ameisen fressen die Hütten des Dorfes auf. Macunaíma lebt einsam und allein als matter Hänger in der Hängematte - „Ai, que preguiça!“, lediglich ein Papagei leistet ihm Gesellschaft. Schließlich steigt auch er zum Firmament auf, und zwar als neues Sternbild, das den Großen Bären, die „Ursa Maior“, ersetzt: der Held Macunaíma mit ohne rechtes Bein, das er zusammen mit dem Muiraquitã bei seinem verhängnisvollen Liebesabenteuer verloren hat. Der Papagei erzählt einem zufällig im Urwald vorbeikommenden Fremden die Geschichte des Helden Macunaíma. Der Fremde ist der Erzähler Mário de Andrade, der seinerseits den Roman im Papageienort Araraquara in einer Hängematte schreiben wird (Bild no.4b). Nachdem der Papagei die Geschichte erzählt hat, fliegt er fort nach Portugal, wo er den Portugiesen höchstwahrscheinlich von der neu errungenen Autonomie der brasilianischen Sprache und Literatur berichtet.

Leitprinzipien von Macunaíma: brasilianisches (und lateinamerikanisches) Identitätsproblem, frei flottierendes Mischmenschentum und Mischkultur einschließlich radikaler Sprachmischung vom brasilianischen gesprochenen Portugiesisch über das ihm inhärente Afro- und Indiobrasilianisch und das Italienische, Lateinische, Französische, Spanische, Deutsche und Englische bis hin zu den Natursprachen und Tiersprachen, der vom Autor so genannten Zoophonie; eine Urwald- und Großstadtdschungelsprache; ein ‘rhizomatischer’ Sprachensimultaneismus, synchron und diachron; mythische Zivilisationsmaschine vs. primitive Wunschmaschine; wuchernde Bildersprache, ‘Tropen’rhetorik; realphantastisches Erzählen, einschließlich Metamorphosen und Totemismus (vgl. realphantastischer Totemismus des Jaguarmenschen in der Erzählung Iauaretê von Guimarães Rosa oder den erwähnten Tiermenschen in Diego Riveras Urwald- und Conquista-Gemälde no.5); narrative Mise en abîme: Papageienerzähler, zoophone Konnotation; weltliterarische Mise en abîme: realphantastische Weitererzählung der phantastischen orientalischen Papageienerzählungen aus 1001 Nacht und Tuti Nameh.
 


Der mexikanische Estridentismus / Aktualismus


 


Hintergrund der mexikanischen Revolution von 1910-1929: Seit 1920 unter der Präsidentschaft des Revolutionsgenerals Obregón (1920-24) findet eine revolutionäre Kulturpolitik statt, geführt durch den Schriftsteller und Staatssekretär für Erziehung José Vasconcelos; u.a. Konstruktion eines kollektiven Mythos des kulturrevolutionären Mexiko, das gegen den alten und neuen Kolonialismus der weißen Zivilisation die neue kosmische Mischkultur und Mischrasse - „la raza cósmica“ (Titel eines identitären Essays von Vasconcelos, 1925) - hervorbringt; historische, politische und ästhetische Breitenbildung u.a. mittels Breitwandfresken in Schulen, Universitäten, Ministerien, Palästen und Kirchen, moralistischer Muralismus des Diego Rivera, Orozco und Siqueiros (Bilder no.5,6,9,10); 1925-27 fortgeführt u.a. in der Provinz Veracruz durch den Revolutionsgeneral Heriberto Jara, der zusammen mit den avantgardistischen Literaten Maples Arce als Staatssekretär und List Arzubide als dessen Sekretär die schrille Kulturstadt Estridentópolis (= Xalapa) entwarf und eine fortschrittliche Bildungspolitik betrieb, mit Modernisierung der Lehrpläne, volkskulturellen Einrichtungen wie die Biblioteca popular (in der u.a. der berühmte Revolutionsroman Los de abajo / Die da unten von Manuel Azuela 1927 in einer Volksausgabe als Buch erschien; 1915 als Feuilletonroman erstmals erschienen); berühmter künstlerischer Treffpunkt war das Café de Nadie / Das Niemandscafé, in dem seit 1924 Ausstellungen und multimediale Veranstaltungen nach Art der Semana de Arte Moderna von S.Paulo stattfanden; dort regierte ‘la gran risa estri-dentista’, das ‚umwerfende‘ Lachen der subversiven Estri-Dentisten, die den Aktionären und Reaktionären die Zähne zeigten.

- die estridentistischen Manifeste Actual 1-4 (1921-1926); das erste Manifest als Plakat an die Mauern von Puebla angeschlagen (wie das Prisma von Borges in Bs.Aires 1921, das als demokratische Revista mural erschien); unterzeichnet von einem fiktiven Directorio de Vanguardia, das fast die gesamte künstlerische Internationale umfaßt, von Manuel Maples Arce und Diego Rivera über Huidobro, Apollinaire, Marinetti bis hin zu Lunacharsky und Kurt Schwitters - eine unanimistische Geste, die „la unidad psicológica del siglo“, die „psychologische Einheit des Jahrhunderts“ beschwört; weder Futurismus noch Passatismus, sondern Aktualismus, der auch die Vergangenheit wie die Zukunft erfassen kann, wenn sie denn aktuell ist; der Bildbegriff des ‚steilen Punktes‘ wird lanciert: an jedem Punkt auf der Achse der Zeit im Zenit sein; ,aktuell‘ vs. ‚neu‘: neu kann auch das Älteste sein (vgl. Apollinaires Gedicht Zone, wo der konservative Papst Pius X „der modernste Europäer“ ist); im 3.Actual Bezugnahme auf die Sozialistische Internationale, im 4.Actual ausdrücklicher Anschluß an die mexikanische Revolution und an den unter dem Einfluß der universitären Reforma de Córdoba (1918) stehenden Nationalen Studentenkongreß; kulturrevolutionäres Selbstverständnis: „movimiento estético revolucionario de México“; in der historischen Gesamtdarstellung der „estridentistischen Bewegung“, El movimiento estridentista (1927), widmet der Autor List Arzubide diesen „relato único del movimiento revolucionario-literario-social“ (Kolofon) dem aztekischen Kriegsgott: „A Huitzilpochtli, manager del movimiento estridentista. Homenaje de admiración azteca“, eine bedeutsame Aktualisierung der aztekischen Vergangenheit im Sinne eines indigenistisch-sozialistischen Engagements.

Beispieltext: Urbe. Super-poema bolchevique en 5 cantos (1924) (no.7/8) von John Dos Passos 1929 ins Englische übersetzt);Großstadtgroßgedicht in 5 Gesängen und in 1 Buch; Thematik der industriellen, urbanen, sozialen und literarischen Revolution;

- kubofuturistische, simultaneistische Technik (statt Propaganda-Dichtung); typographisch versetzte Strophenblöcke und Verslinien, analog den synchronen Akkorden in einem Pentagramm / Notensystem (Str.13) (vgl. Tzara/Huelsenbeck/Janko, Poème simultan), dissonantische Akkorde; diskontinuierlicher Diskurs; Pseudoplötzlichkeit / Scheinzeitlichkeit bzw. -nachzeitigkeit des „Subitamente“ (Str.11); freie Bilder, Bildsprünge und -brüche; freie Wörter (ohne syntaktischen Nexus), Simultankontraste: Nebeneinander und Ineinander semantischer Oppositionen: politische Oppositionen: z.B. US-Kapitalismusvs. mexikanische Bourgeoisie vs. sozialistische Revolution (Str.11), Revolution vs. Reaktion (Str.15); politische vs. technische Revolution (Str.15/16), gemeinsamer Nenner der Dynamik; Tumult der Truppen vs. Tumult der Technik (Str.10); vertikale vs. horizontale Dynamik (Str.10); Stadtszenen vs. Landschaft (Str.10); geographische und nationale Transgression, Internationalität; metoynmisch-metaphorische Verschmelzung von Stadt / Hafen und Schiff (Str.11); Exaltation vs. Depression (Str.15); verbivokovisuelle / estridentistische Synthese von Lärm / Musik, schriller Vision und Wort (Str.12,13,16) vs. sublime Synästhesien des Symbolismus;

- pseudopikturale ideologische Perspektivierung (Str.3): Raum der verschiedenen Ideologien: die moderne Stadt URBE liegt jenseits des unpolitischen Kosmopolitismus von Walt Whitman, diesseits der kultur/revolutionären Utopie des Autors;Dominanz der poetischen Revolution (Str.17)

Bilder: Diego Rivera: no.9,10.

Kreationismus


 


- von dem Chilenen Vicente Huidobro seit 1914, ab 1916 in Zusammenarbeit mit Reverdy geschaffen, Analogien zu Baudelaire, Rimbaud und Apollinaire; demiurgische magisch-imaginative Kreativität, mit amerindischen und kosmischen Komponenten; wie ein Aymara-Dichter dem Dichter Huidobro sagte: der Dichter redet nicht über Regen, sondern er läßt es regnen (La creación pura, 1921), so läßt Huidobro in seinem Gedicht Arte poética (1916) die Rose erblühen, oder er spricht in seinem Gedicht Altazor (1931) wie ein Rosenstrauch, er erfindet die Rosensprache (Text no.11)

- eine fast experimentelle Demonstration des schöpferischen Sprachprozesses in Altazor; Dekonstruktion und Rekonstruktion der normalen Wörter und Sätze; Rose als ein zentrales Symbol Huidobros: Schöpfung der Wortrose; Modernisierung u.a. mittels der technischen Windrose der zeitgenössischen Nautik und Aeronautik sowie der drahtlosen Telegraphie (Tour Eiffel); vgl. auch den Namen der chilenischen Dichtergruppe Rosa náutica (1922), der Huidobro eng verbunden war; anagrammatische Kodierung der Rose im Titel des Großgedichts Altazor / Rosa alta (nach südamerikanischer Aussprache des z als s) / Hohe Rose, (erste Assoziation des Titels ist ‘hoher Falke’; allgemeiner Arielismus des Dichters, auch im Untertitel des Zyklus ausgedrückt: El viaje en paracaídas / Die Fallschirmreise);

- Zerlegung und neue Zusamensetzung sowie Erweiterung des Ausgangswortes „rosal“ / „Rosenstock“; Permutation, Iteration und paronomastische Expansion oder Substitution als operationelle Regeln der ling.Transformation / Kreation; theoretisches Oszillieren des Dichters zwischen orphischer Urwortsuche und experimentellem Konstruktivismus;

- neben dem Prinzip kosmopolitischer Polyglossie, das Huidobro postulierte und praktizierte (er dichtete span. und frz., allerdings nicht mischsprachig), diente die Neologie der Erfindung einer kosmopoetischen Sprache,in Altazor mit amerindisch-spanischen Interferenzen, z.B. „ululuayu ulayu ululayo ululamento (dt.’Heulen’)“ (vgl. das amerindische „Uruguay“, das dem Flußgeräusch bzw. dem Vogelgesang des indianischen Namens Uruguays entspricht, in Pablo Nerudas Canto general thematisiert); aber auch lat.-griech.-span. Neologismen, z.B. die über den 7.Gesang verstreute nautische Wortreihe „aeronauta ... isonauta ... eternauta ... infinauta“; am Schluß des Gedichts geschieht eine Auflösung der Laute im Meer: befreite Laute / onomatopoetische Lautsprache / Jitanjáforas / Echolalie : „Lalalí / Io ia / i i i o / Ai a i ai a i i i i i o ia“, Radikalisierung des in den Rosenversen begonnenen Prinzips der Sprachzersetzung: „rorosalía“ wird zu „Lalalí“, zur Echolalie; die Neologie bedingt zusätzliche Neologie in der Übersetzung, erzeugt eine weitere, mehr oder weniger analoge Neusprache (no.11);

-spezisch nautische Symbolik der Avantgarde bei Huidobro und allgemein in der Romania, besonders Lateinamerika, in Anknüpfung an die Entdeckerzeit als nunmehr autonomer Mundonovismo gedacht: der spanische und argentinische Ultraísmo (das ‚Plus Ultra‘ war das Motto des Kolumbus, im spanischen Staatswappen noch heute erhalten, zusammen mit den Säulen des Herkules, jenseits derer Kolumbus seine Entdeckungsfahrten unternahm),Borges’ Zeitschrift Proa / Bug, die chilenische Rosa náutica / Windrose, die kubanische Avantgarde-Zeitschrift Avance (Hg. Alejo Carpentier u.a., um 1925).

Nativismus in Buenos Aires und Montevideo

- in Ermangelung einer noch gegenwärtigen indianischen oder afroamerikanischen Vergangenheit (fast völlige Vernichtung der argentinischen und uruguayischen Indios im 19.Jh.) ein auf die symbolisch verstandene Gaucho-Kultur begrenzter Nativismus (O.Girondo, Manifiesto Martín Fierro, 1924; Pedro Figari, El gaucho, 1919); nationalkultureller Kosmopolitismus und zivilisatorischer Modernismus; Text O.Girondo, Apunte callejero (no.11); 

Prosagedichtsammlung Veinte poemas para ser leídos en el tranvía / Zwanzig Gedichte in der Straßenbahn zu lesen (1922)

- modernistischer Transfer der Dichtung in Transportmittel der Straßenbahn; Entsublimierung gemäß dem Motto der Sammlung „Es gibt kein lächerlicheres Vorurteil als das Vorurteil des ERHABENEN“;

- Transgression der Dichtung in Prosa, Alltagssprache; im Unterschied zu Baudelaires Poèmes en prose / Le Spleen de Paris liegt - neben der fortgeschrittenen Modernisierung der Verkehrsmittel - eine radikale Rezeptionsperspektive vor (Straßenbahnlektüre)

- Compenetrazione / simultane Innen-Außen-Wahrnehmung; Psychologisierung; Vermehrung der Dinge in der Außenwelt erzeugt Spaltung des Ich in der Innenwelt; obsessionelle Sprungmetaphorik: ‚Fensterkreuzigung‘, in Vorwegnahme des surrealistischen Bildes Bretons im Manifeste du surréalisme (1924), wo ein Mann von einem sog. ‚Guillotine‘-Fenster (vertikales Schiebefenster) ‚hingerichtet‘ wird;

- spleenhaftes Splitting der Persönlichkeit, hier durch Schattensymbol ausgedrückt, in der späteren Sammlung Espantapájaros / Vogelscheuchen(1932) durch „cocktail de personalidades“ (dort no.8), eine dauernd sich erneuerende, wuchernde Manifestierung von Persönlichkeiten, selbst die unscheinbarsten kommen sich vor wie Ozeanriesen „se dan unos aires de trasatlántico“; Entscheidungsunfähigkeit.


 


‚Entropischer‘ Tropikalismus und Anti-‚Oxidentalismus‘


 


Der Peruaner César Vallejo gilt als der dichteste und verschlossenste spanischsprachige Dichter, vor allem mit seinen Gedichtsammlungen Los heraldos negros / Die schwarzen Herolde (1919) und Trilce (1922)[5]; hier die Gedichte Huaco (Heraldos negros) und Trilce XXXII exemplarisch behandelt im Hinblick auf avantgardistische Radikalpoetik (no.12).

- Sinnentleerung und Entfremdung; totale Dysphorie im Vergleich mit dem tendenziell euphorischen Tropikalismus und Modernismus;

- absolute Hermetik der Texte von Trilce bedingt hermeneutische Öffnung in die verschiedensten Sinnrichtungen, bei gleichbleibender Ambivalenz;

- Titel Trilce: ein obskurer Neologismus; annähernde Bedeutungen: a) Tri-Logismus, Dreier-Symbolik als familiäre Trinität des Dichters (2+1 = 3 bzw. 1+1=3, d.h. Vater+Mutter=Kind; These+Antithese=Synthese; 999; 333; auch 12.1.2000 ist ein Trilce-Datum) b) triste / traurig + dulce / sanft, süß: neuer Petrarkismus, absurde ‘Oxymoral’, bewirkt zunächst durch das kontaminierte ‘Unwort’ Trilce (s.u.);

- Thematik von Trilce XXXII völlig ambivalent: anekdotische Geschichte, sommerliche Hitzeskizze, Liebeshitze, Technik, Zivilisationskritik, existenzielle Befindlichkeit u.a.

- inkohärenter, diskontinuierlicher Diskurs; neben der semantischen und sequentiellen Inkohärenz versetzen selbst die Satzzeichen den Leser (offene Klammer); extreme Amimetik, Abstraktion von Wirklichkeit vs. Konkretion der Sprache, Autonomie der Sprachenergetik, die aber ebenso wie die der Wirklichkeit vom Kollaps bedroht ist (Feder bricht);

- paradoxale Struktur, zum Paroxysmus gesteigert; konstantes Pattern binärer Oppositionen: extreme Hitze vs. extreme Kälte, Sonne vs. Eis, Steigerung von 999 auf 1000 Kalorien, dann auf absurde 33 Trillonen 333 Kalorien; groteskes Bersten, Verpuffen der Energie im Exzeß; Entropie der rhetorischen Trope des Oxymorons sowie der tropikalistischen Euphorie; das Prinzip des „justo medio“, des ‘juste milieu’ in der Dreierkonstellation „Quién Quién Quién“ (Str.2) versagt; ebenso ergibt die Dialektik von These (calor / Hitze) und Antithese (hielo / Eis) keine Synthese, sondern eine Prothese: der Dichter geht am Stock, der Sinn ist ein Torso; vgl. auch die Unvollständigkeit der Dreiersymbolik des vorliegenden Gedichts Trilce XXXII, wo die XXXIII gemäß dem im Text thematisierten Dreier-Prinzip nicht vollständig realisiert wird;

- latenter Indigenismus (vs. mehr manifester Indigenismus in Huaco und den übrigen Nostalgias imperiales aus Heraldos negros, deren Hermetik relativ reduzierbar ist); Vallejo war Halbindio, sozial marginalisiert; ursprünglicher Titel der Sammlung war Cráneos de bronce / Bronzeschädel (vgl. den indigenistischen Roman des Bolivianers Alcides Arguedas, Raza de bronce, 1919), Pseudonym César Perú (indigenes Wort); Einsamkeit und Entfremdung des Indios und des Mischlings, besonders krass in Huaco, Fremdheit im eigenen Land und im eigenen Ich;

- Anti-Gringo, Okkupation des natürlichen Himmels durch okzidentale, fremde Zivilisation, statt durch den Inka-Gott Inti; anti-‚oxidentale‘ Tendenz, (vgl. Queneauth, Okzident Kukident); ansatzweise Vorwegnahme des sozialkritischen Indigenismus Mariáteguis und seiner Zeitschrift Amauta (=Inka-Weiser) (seit 1926) sowie des eigenen ideologischen Radikalismus seit Ende der 20er Jahre; aber Postulat der Trennung von autonomer Poesie, die nur indirekt und implizit sozialkritisch sein kann, und explizitem sozialistischem Engagement in der Politik;

- tropikalistischer calor vs. technische Kalorien, ritualisierter Kosmos / inkaische Sonnevs. hypertrophe Zerzivilisierung (vgl. Huaco);

- dadaistische Destruktion und Chaotisierung, aber mit größerer Formstrenge und stärkerer poetischer Stringenz; 

- hermetische Heterogenität als sprachlicher Freiheitsraum: ein spärliches Reservat, das der Dichter mit korrosiver Ironie verteidigt; vgl. das Schlüsselwort „roer“ = „nagen“, das Abnagen bis auf den Knochen, das an den Abaporú der Anthropophagie erinnert.


 


Die surrealistischeMandrágora-Gruppe


 


Amerika ist das Ursprungsland des Surrealismus, hatte die brasilianische Anthropophagie behauptet, und die nach Lateinamerika reisenden und von der dortigen Kultur gebannten französischen Surrealisten schienen dies nachträglich zu bestätigen. In der Tat enthält der autochthone Primitivismus vor allem des brasilianischen Modernismo einen surrealistischen Ansatz, in dem sich die Dichtung aus dem individuellen Unterbewußten (das „subconsciente“ Mário de Andrades) mit der Verarbeitung des kollektiven Unterbewußten einer ganzen Kultur und deren magisch dominierten amerindischen und afroamerikanischen Dimensionen befaßt. Wegen der vom Gegensatz Futurismus vs. Primitvismus bestimmten Problemlage des Modernismo konnte sich das surrealistischePotential in dieser Phase nicht voll entfalten. Eine konsequente Entwicklung eines lateinamerikanischen Surrealismus gab es - neben Ansätzen bei Huidobro und in der frühen Lyrik des Chilenen Pablo Neruda wie des Mexikaners Octavio Paz – erst seit 1936 in der chilenischen Mandrágora-Gruppe und ihrer gleichnamigen Zeitschrift (letztere seit 1938); Braulio Arenas und Enrique Gómez-Correa waren die bedeutendsten Mitglieder der Gruppe; ihre Manifeste Mandrágora, Poesía Negra und Intervención de la poesía sind in der ersten Ausgabe der Mandrágora von 1938 enthalten, zu der auch Huidobro einen Beitrag lieferte. Übernahme des Namens und der damit verbundenen Legende aus der deutschen Romantik, genauer von Achim von Arnim, der auch eine Bezugsfigur des frz. Surrealismus war; symbolische Kreuzung der europäischen (und orientalischen) Mandragora / Alraune mit der amerikanischen Tabakpflanze bei Gómez-Correa; vgl. auch die Kneipe Mandragora am Bermuda-Dreieck in Bochum;

 

- Die menschenähnliche Zauberpflanze Mandragora vertritt mit ihrer Fruchtbarkeitssymbolik den natürlichen künstlichen Menschen gegenüber dem künstlichen Maschinenmenschen des Futurismus, hier: den mittels der dichterischen Kraft stets neu sich schaffenden Menschen;

 

- der Surrealismus sieht ab von der technischen Außenwelt und wendet sich hin zu der existenziellen Innenwelt des Menschen: dichterische Suche nach der unsichtbaren wunderbaren Wirklichkeit jenseits der sichtbaren Wirklichkeit (Surrealität), nach dem Wesen des Ich in den Tiefen des Es; dies nur in psychischen Grenzsituationen möglich: Wahnsinn, absolute Leidenschaft, terrorartiger Existenzschock, bedingungslose Auslieferung an die panischen Automatismen der Psyche, an Traum und Zufall sowie Transgression aller Normen im Sinne des ‚Bösen‘, des ‚Mal‘ der Chants de Maldoror Lautréamonts, auf die man sich ausdrücklich beruft: Radikalität des Diktats der ‚Schwarzen Dichtung‘, der Poesía negra[6] (Braulio Arenas); seelischer Heroismus des Surrealismus vs. militärischer oder zivilisatorischer Heroismus des Futurismus / Modernismus; psycho-poetische Leben-Tod-Dialektik des Surrealismus vs. letaler Vitalismus des militaristischen Futurismus; im Unterschied zu fast allen Spielarten des Modernismus weist der Surrealismus eine sakrale, metaphysische Dimension auf, die aber welt- und dichtungsimmanent bleibt; es findet eine mystische Mise en abîme statt, eine Dynamik der Verschachtelung, des stetigen Sturzes von einem Traum in den anderen, in einen inneren Abgrund, auf dessen letztem Grund sich das Geheimnis der Lebenswurzel Alraune zusammen mit dem Ring der Mandragora in einer kleinen Schachtel befindet; dies ist ein mythopoetisches Leitbild bei Braulio Arenas (Poesía negra, 1938) wie bei Gómez-Correa (La caja chica, 1989), das zwar nicht zum Besten dieser Dichter zählt, aber wegen seiner programmatischen Symbolik hier zitiert wird (S.22);

- Amerikanisierung des Surrealismus und seiner Paradoxe durch den kopräsenten Hinter- und Untergrund der amerindischen Mythologie, die araukanische Magie, zudem der extremen Gegensätzlichkeiten und Gewalt der amerikanischen Natur, z.B. der gigantischen Eisvulkane der Anden, die eine Vulkanisierung des Geistes verursachen; ein „escalofrío“, ein „heißkalter Schauder“ durchläuft das Rückgrat der Anden und ruft ein ständiges Er/d/beben des menschlichen Ich und des Textkörpers hervor (Gómez-Correa); der amerindische wie der surrealistische Dichter sind imaginative Magier, die die unterirdische Wirklichkeit heraufzubeschwören suchen (vgl. auch den inkaischen Weisen Amauta und den von Huidobro erwähnten Aymara-Dichter);

- Trotz des unabweisbaren ‚Diktates‘ des Unterbewußten und der ‚Diktatur‘ der Poesie besteht ein starkes politisches Engagement der chilenischen Surrealisten, und zwar auf der dem Surrealismus und dem Republikanismus gemeinsamen Basis des Freiheitskampfes; im Kontext des Spanischen Bürgerkriegs engagierten sie sich dezidiert für die demokratisch gewählten und von den Faschisten bekämpften sozialistischen Republikaner; ein antifaschistischer Appell, verbunden mit einer Attacke gegen Kapitalismus und Religion, bildet das Finale des 1.Heftes der Mandrágora (1938), betitelt mit dem berühmten Slogan „NO PASARÁN / Sie werden nicht durchkommen“; der mytho-poetische Indigenismus der chilenischen Surrealisten findet allerdings keine politische Umsetzung, wie dies etwa bei den peruanischen Avantgardisten Mariátegui und Vallejo der Fall war.

 

Text: Braulio Arenas: Enrique Gómez-Correa donde las estrellas / Enrique Gómez-Correa dort wo die Sterne (1936) (no.15,16). Dieses ‚wunderbare‘ Gedicht sei lediglich mit einem – man staune – barocken Vers Pierre Corneilles kommentiert:„Cette obscure clarté qui tombe des étoiles“ (Corneille, Le Cid IV,3) /„Dieses schwarze Licht, das von den Sternen fällt“.

Epilog

Mit der folgenden Mise an abîme der Caja chica von Gómez-Correa schließt sich der Kreis dieser Ringvorlesung, der mit der Mise en abîme des Prologs begann.



Kurzbibliographie


 


Amaral, Aracy (Hg.): Arte y Arquitectura del modernismo brasileño (1917-1930. Caracas: Biblioteca Ayacucho. 

Campos, Augusto & Haroldo de: Re/visão de Sousândrade. S.Paulo: Invenção 1964.

Fabris, Annateresa: O futurismo paulista. Hipóteses para o estudo da chegada da vanguarda ao Brasil. S.Paulo: Perspectiva / Edusp 1994.

Forster, Merlin H.: „Latin American Vanguardismo: Chronology and Terminology.“ In: Dies. (Hg.): Tradition and Renewal. Essays on 20th Century Latin American Literature and Culture. Urbana/Chicago/London: University of Illinois Press 1975, S.12-50.

Knauth, K. Alfons: „Macunaíma in Macondo. Eine Studie zum latein-amerikanischen ‚Totalroman‘.“ In: Gather, A. / Werner, H. (Hg.): Semiotische Prozesse und natürliche Sprache. Festschrift für Udo L. Figge. Stuttgart: Steiner 1997, S.322-336.

Krysinski, Wladimir: „Enrique Gómez-Correa oder Der heroische Surrealismus“, in: Dichtungsring 26 (1996), S.201-208.

Lateinamerika und der SurrealismusAusstellungskatalog Museum Bochum 1993.

Martins, Wilson: O modernismo (1916-1945). S.Paulo: Cultrix 1965. (A literatura brasileira vol.VI).

Rössner, Michael (Hg.): Lateinamerikanische Literaturgeschichte. Stuttgart: Metzler 1995.

Saraiva, Arnaldo: O modernismo brasileiro e o modernismo português. Porto 1986.

Schneider, Luis Mario: El estridentismo o Una literatura de la estrategia. México: Instituto Nacional de Bellas Artes (o.J.) (ca. 1970).

Schwartz, Jorge: Vanguardia y cosmopolitismo en la Década del Veinte. Oliverio Girondo y Oswald de Andrade. Rosario (Argentina): Beatriz Viterbo 1993.

Torre, Guillermo de: Historia de las literaturas de vanguardia. 3 Bde. Madrid: Guadarrama 1971.

Wentzlaff-Eggebert, Harald (Hg.): Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext. Akten des Internationalen Berliner Kolloquiums 1989. Frankfurt/M.: Vervuert 1991.

White, Erdmute Wenzel: Les années vingt au Brésil: Le modernisme et l’avant-garde internationale. Paris: Editions Hispaniques 1972.

Yurkievich, Saúl: Fundadores de la nueva poesía latinoamericana. Barcelona: Ariel 1984.

Ders.: „Los avatares de la vanguardia.“ In: Revista Iberoamericana 118-119 (1982), S.351-366.

ROCHEDOS SÃO PAULO

Everest da Atlântida

Vanguarda calcinada do Brasil

Ponto geocêntrico eriçado

Contra as escarpas das ondas

Do Amazonas

Poleiro de Gago Coutinho

(Oswald de Andrade, Pau-Brasil/Lóide Brasileiro)

FELSGEBIRGE SÃO PAULO

Atlantischer Everest

Verbrannte Avantgarde Brasiliens 

Geozentrischer Punkt gesträubt

Gegen die wogende Böschung

Des Amazonas

Pol und Olymp des Gago Coutinho

(Brasilholz/Brasilianischer Lloyd)

ATELIER

(...)

A verdura no azul klaxon

Cortada

Sobre a poeira vermelha

Arranha-céus

Fordes

Viadutos

Um cheiro de café

No silêncio emoldurado

(O.de Andrade, Pau-Brasil / Postes da Light)

ATELIER

(...)

Das Grün im Blau der Hupe

Einschnitt

Im roten Staub

Wolkenkratzer

Fords

Viadukte

Ein Duft von Kaffee

Gerahmt in Schweigen.

(Brasilholz / Telegraphenmasten)

FALAÇÃO / (MANIFESTO DA POESIA PAU-BRASIL)


 


O Cabralismo. A civilização dos donatários. A Querência e a Exportação.

O Carnaval. O Sertão e a Favela. Pau-Brasil. Bárbaro é nosso.

A formação étnica rica. A riqueza vegetal. O minério. A cozinha. O vatapá, o ouro e a dança.

A língua sem arcaísmos. Sem erudição. Natural e neológica. A contribuição milionária de todos os erros.

(E a Poesia Pau-Brasil, de exportação.)

(Obuses de elevadores, cubos de arranha-céu e a sábia preguiça solar... A saudade dos pajés e os campos de aviação militar. Pau-Brasil).

Bárbaros, pitorescos e crédulos. (Leitores de jornais). Pau-Brasil. A floresta e a escola. A cozinha, o minério e a dança. A vegetação. Pau-Brasil. 
 


REDEGEDICHT / (BRASILHOLZMANIFEST)


 


Der Cabralismus der Entdecker. Die Zivilisation der kolonialen Feudalherren. Die Sehnsucht nach der Heimat und der Export.

Der Karneval. Der dürre Sertão und die elende Favela. Brasilholz. Uns gehört die Barbarei.

Reich an Rassen. Reich an Pflanzen. Bodenschätze. Die Küche. Kokusfisch Vatapá, das Gold und der Tanz.

Die Sprache ohne lusitanische Archaismen. Ohne Gelehrsamkeit. Natürlich und neologistisch. Der millionenfache Beitrag aller Fehler. (Wie wir reden. Wie wir sind.)

(Und die Brasilholzpoesie. Für den Export.)

(Aufzüge schießen in die Höhe, kubistische Wolkenkratzer und die Weisheit solarer Faulheit. Die Gesundheit der Medizinmänner und die Militärflughäfen. Pau-Brasil.)

Barbaren, malerisch und leichtgläubig. (Zeitungsleser). Brasilholz. Der Urwald und die Schule. Die Küche. Die Bodenschätze und der Tanz. Die Vegetation. Brasilholz. 


 


(Oswald de Andrade)
MANIFESTO ANTROPÓFAGO (Oswald de Andrade)


 


Só a antropofagia nos une. Socialmente. Economica-

mente. Filosoficamente.

Nur die Anthropophagie eint uns. Sozial. Wirtschaft-

lich. Philosophisch.

Tupy, or not tupy that is the question.

Tinhamos a justiça codificação da vingança. A ciência

codificação da Magia. Antropofagia. A transformação

permanente do Tabu em totem.

Wir hatten die Justiz als kodifizierte Rache. Die Wissen-

schaft als kodifizierte Magie. Anthropophagie. Die ständige

Verwandlung des Tabus ins Totem.

O instinto Caraíba. Der Karibische Instinkt.

Já tinhamos o comunismo. Já tinhamos a língua surrealista.

A idade de ouro.

Catiti Catiti

Imara Notiá

Notiá Imara

Ipejú.

Wir hatten bereits den Kommunismus. Wir hatten bereits die

surrealistische Sprache. Das Goldene Zeitalter.

Catiti Catiti

Imara Notiá

Notiá Imara

Ipejú.

Más não foram cruzados que vieram. Foram fugitivos

de uma civilização que estamos comendo, porque somos

fortes e vingativos como o Jabuti.

Aber es waren keine Kreuzfahrer, die da kamen. Es waren

Flüchtlinge einer Zivilisation, die wir jetzt auffressen, weil

wir stark sind und rachsüchtig wie ein Jabuti-Indianer.

Se Deus é a consciência do Universo Incriado, Guaraci é a

mãe dos viventes. Jaci é a mãe dos vegetais.

Wenn Gott das Bewußtsein des Ungeschaffenen Universums

ist, so ist Guarací die Mutter der Lebenden. Jací ist die

Mutter der Pflanzenwelt.

Antes do portugueses descobrirem o Brasil, o Brasil tinha

descoberto a felicidade.

Bevor die Portugiesen Brasilien entdeckten, hatte Brasilien

bereits das Glück entdeckt.

Contra a realidade social, vestida e opressora, cadastrada

por Freud - a realidade sem complexos, sem loucura, sem

prostituição e sem penitênciárias do matriarcado de Pindorama.

Gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit, angekleidet und unter-

drückend, von Freud klassifiziert und kastriert - die Wirklichkeit

ohne Komplexe, ohne Wahnsinn, ohne Prostitutierung und ohne

Strafanstalten, die Wirklichkeit des Matriarchats von Pindorama.

Oswald de Andrade, Em Piratininga, Ano 374 da Deglutição

do Bispo Sardinha. Revista de Antropologia no 1, ano 1 maio de 1928.

Zu São Paulo, Im Jahre 374 nach der Verspeisung des Bischofs Sardinha.

GROßSTADT

Den Arbeitern Mexikos

I


 


Hier ist mein Gedicht

brutal

kollektiv

an die neue Stadt.

Oh Stadt ganz eingespannt

in Kabel und Kräfte

lauttönend

von Motoren und Flugzeuglärm

Explosion simultan

der neuen Theorien

ein wenig jenseits

Auf der räumlichen Ebene

von Whitman und Turner

und ein wenig diesseits

von Maples Arce.

Die Lungen Rußlands

blasen uns zu

den Wind der sozialen Revolution.

die sentimentalen Literaten 

werden nichts verstehen

von dieser neuen Schönheit

des Jahrhundertschweißes,

und die reifen 

Monde

die da fielen

sind die Fäulnis die 

aus der intellektuellen Kloake

zu uns dringt.

Hier ist mein Gedicht:

Oh starke Stadt

vielarmig

ganz Eisen und Stahl.

Die Molen. Die Docks.

Die Kräne.

Und das Liebesfieber

der Fabriken.

Großstadt:

Straßenbahnen geben Geleitschutz

durchfahren die umstürzlerischen Straßen.

Die Schaufenster greifen die Bürgersteige an

und die Sonne plündert die Alleen.

Am Rande der Tage

gesäumt von tariflich gestaffelten Telegraphenstangen

defilieren Augenblickslandschaften

rauf und runter im Rohrsystem.

Plötzlich,

oh die grüne Stichflamme

ihrer Augen. 

Ungeachtet der sorglosen Rollos der Stunde

ziehen die roten Bataillone vorbei.

Der kannibalische Kitsch der Yankee-Musik

nistet sich ein in den Masten.

Oh internationale Stadt,

bis zu welch entlegenem Meridian

trieb es dich Ozeanriesen?

Ich spüre wie alles sich entfernt.

Die abgenutzten Dämmerungen

treiben dahin in einem Panorama aus Stein.

Gespensterzüge brausen

dorthin

in die Ferne, keuchend vor Zivilisation.

Außer Rand und Band

plantscht die Menge in der Musik der Straßen.

Und jetzt werden die räuberischen Bürger anfangen zu zittern

wegen der Einnahmen

die sie dem Volk abnahmen,

jemand hält unter dem Gewand seiner Träume

die geistliche Musik des Sprengstoffs versteckt.

Hier ist mein Gedicht:

Hurrarufe wie Wimpel im Wind,

in Flammen aufgehendes Haar

und im Auge der morgige Tag hinter Gittern.

Oh Stadt

ganz Musik

und nur Rhythmen mechanisch.

Wer weiß, ob morgen

nur das Licht meines Gedichts

die in die Knie gezwungenen Horizonte erhellt.

(...)
 


(Maples Arce, URBE)



 


STRAßENNOTIZ


 


Auf der Terrasse eines Cafés sitzt eine Familie in Grau. Vorbeiziehende Brüste schielen zu den Tischen, um ein Lächeln zu erhaschen. Der Lärm der Automobile verfärbt die Blätter der Bäume. In einem fünften Stockwerk kreuzigt sich jemand beim weiten Öffnen eines Fensters.

Ich überlege, wo ich all die Zeitungskioske, die Straßenlaternen, die Passanten, die in meine Pupillen eintreten, aufbewahren soll. So viele Dinge drängen sich in mir, daß ich Angst habe zu platzen... Ich müßte Ballast auf dem Trottoir ablassen.

An der nächsten Straßenecke löst sich mein Schatten von mir und wirft sich plötzlich unter die Räder einer Straßenbahn.

ALTAZOR

V

(...)

Ahora soy rosal y hablo con lenguaje de rosal

Y digo

Sal rosa rorosalía

Sal rosa al día

Salía al sol rosa sario

Fueguisa mía sonrodería rososoro oro

(...)

Jetzt bin ich Rosenstock und rede wie ein Rosenstock

und ich sage 

Salz Rose roRosalia

Salz Rose am Tag

Ging auf mit der Sonne eine Rose ein Kranz

Mein Feuergleichnis rosenradfarben rososoro oro

(mehr oder weniger wörtliche Übersetzung)

jetzt bin ich rosenstock und rede wie ein rosenstock

und ich sage

stockrose rororohrstock

rosa rosen im schilfrohrmeer

stockrosentrunken

rohrstöcke winken

aurororosa prosa de mar

(sehr freie Übersetzung)

HUACO (Grabbeilage)

Ich bin der blinde Vogelkönig

der durch die Brille einer Wunde blickt,

gefesselt bin ich an die Erdkugel,

wie an ein skurriles Huaco, das sich dreht.

Ich bin das Lama, berührt nur von

der feindseligen Torheit,

die Signalhornschnecken schert,

Signalhornschnecken glänzend vor Ekel 

gebräunt vom Klang eines alten Yaraví.

Ich bin die Kondor-Taube, die ihre Federn

dem lateinischen Schützen überließ;

an der Oberfläche der Menschheit 

schwebe ich dahin in den Anden 

wie ein lichter Lazarus, ewiglich.

Ich bin die inkaische Anmut, sich verzehrend

in Goldenen Feldern und Tempeln, getauft 

mit Phosphat, mit Irrtum, mit Schierling.

Bisweilen bockt in meinem Gestein

der tote Nerv eines längst ausgestorbenen Puma.

Die Sonne gärt;

Der Schatten des Herzens geht auf!

(César Vallejo, Schwarze Herolde / Imperiale Sehnsüchte)



TRILCE XXXII

999 Hitzekalorien

Rumsss... krrr... rach... zack

der Marktschrei in Serpentinen

den Giraffenhals hoch auf’s Trommelfell

Der eine, wie vereist. Nein, nicht.

Der andere weder noch sondern auch.

Und noch einer just in der Mitte.

1000 Hitzekalorien.

Saublau der Gringo-Himmel

grinst er und grölt er vor Schnaps. Puterrot

steigt die Sonne herab, auch dem Eiskältesten

auf’s Dach.

Mach’s dem Buhmann nach. Nnnnaaaaagennnn ...

bis auf den Knochen

das Auto, mobil vor Durst,

zärtlich eilt es zum Strand.

Luft, Luft! Eis!

Wenn wenigstens die Hitze (..........Besser

ich sage gar nichts mehr.

Sogar die Feder,

mit der ich schreibe, biegt sich und bricht.

Dreiunddreißig Trillonen dreihundertdrei

unddreißig Hitzekalorien.

(César Vallejo)





[1]Die Vulkan- und Fiebersymbolik ist ein Topos der avantgardistischen Dichtung (z.B. in Marinettis Zang Tumb Tuuum, Cendrars‘ Tour, PessoasOde triunfal,Huidobros Altazor, Gómez-Correas Las cosas al parecer perdidas). 
[2]Textauszüge no.15,16.
[3]Vgl. die Mise en abîme von Gómez-Correas Gedichtzyklus La caja chica / Die kleine Kiste (Dichtungsring 1996; siehe dazu weiter unten S.21 und Epilog).

[4] Von den antiken, humanistischen und aufklärerischen Vorformen wird hier abgesehen.
[5]Dieser inzwischen gängigen Auffasung ist der weniger bekannte Surrealismus der chilenischen Mandragora-Gruppe ergänzend entgegenzuhalten; in seinen besten Dichtungen ist dieser dem poetischen Radikalismus Vallejos durchaus vergleichbar (vgl. Kap.“Surrealismus“ und Text no.12a, b).
[6]Vgl. auch die Heraldos negros / Die schwarzen Herolde C.Vallejos sowie die ‚schwarze Magie‘ und den ‚humour noir‘ des frz. Surrealismus.