Jedes
Heer auf dem Vormarsch verfügt über eine Avantgarde, eine Vorhut
also, die dem Troß voraus marschiert. Dieser militärische Bedeutung
verdankt die metaphorische Verwendung des Begriffs in Kunst- und Literaturwissenschaft
ihre minimale Kontinuität: künstlerische und literarische Avantgarden
sind dem Gros ihrer Zeit ein Stück voraus, woraus ihr provokativer,
subversiver Gehalt herrühre. Dieser semantische Minimalgehalt reicht
aber nicht aus, um den Begriff trennscharf von viel allgemeineren Konzepten
zu differenzieren wie etwa dem der Moderne. Denn darüber, daß
Kunst und Literatur der Moderne auf Innovation, auf den Futur, die Überbietung
des Gewesenen, die Abweichung vom Bestehenden, auf die Überraschung
der Erwartungen, auf Neuheit, Originalität und Choc abonniert sind,
herrscht ein weitreichender Konsens, weshalb es schwerfallen würde,
den „Futurismus“ der Moderne vom „Futurismus“ der Avantgarde zu unterscheiden.
Wenn James Joyce Avantgardist ist, warum nicht auch Schnitzler, wenn Rotschenko
Avantgardist ist, warum nicht Kurt Schwitters, wenn die écriture
automatique der Surrealisten ein Verfahren der Avantgarde ist, warum
ist dann Daniel Paul Schreber kein Avantgardist? Und wenn man D’Annunzio
zur Avantgarde zählt aufgrund der politischen und sozialen Dimension
seiner Projekte, warum dann nicht auch aus denselben Gründen Stefan
George? Warum zählt man gelegentlich Richard Wagners Musiktheater
zum Ästhetizismus, die vergleichbar synästhetischen und multimedialen
Projekte Alexander Skrjabins aber zur Avantgarde?
Die
Schwierigkeiten, die uns die Avantgarde bereitet, finden zu einem guten
Teil ihren Grund in der Internationalität und Multimedialität
des Phänomens: beinahe alle Nationalliteraturen und die Kunst und
Musik der meisten Länder kennen Avantgarden. Ob es möglich ist,
über die Gattungen der Kunst und die Grenzen der Länder hinweg
von Avantgarde zu sprechen, ist eine Fragestellung, die mit Aussicht auf
Erfolg nur interdisziplinär anzugehen ist. Aus diesem Grund tritt
die „Fachgruppe Literaturwissenschaft“ der Fakultät für Philologie
zum ersten Mal als Veranstalter einer Ringvorlesung auf – und wie sie dem
Plakat oder ihren Vorlesungsverzeichnissen entnehmen können, sind
der Einladung zu dieser Vorlesung nicht nur Vertreter der hier im Haus
gelehrten modernen Nationalphilologien gefolgt, sondern dankenswerter Weise
auch Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Kunstgeschichte und
für Musikwissenschaften.
Falls
sie von der „Fachgruppe Literaturwissenschaft“ der Fakultät für
Philologie bislang noch nichts gehört haben, dann liegt das daran,
daß diese Art der Organisation noch recht neu und noch sehr schwach
institutionalisiert ist. Es gibt mehrere solcher Fachgruppen, die versuchen,
quer durch die Institute des Hauses hindurch gemeinsame Interessen zu bündeln,
um so etwa Literaturwissenschaftler der Romanistik, Anglistik, Komparatistik,
Germanistik und Slawistik zusammenzubringen, was ja zumindest genauso plausibel
ist wie die gängige Praxis, in nach Sprachen unterschiedenen Instituten
Linguisten, Mediavisten und Literaturwissenschaftler zusammenzulegen. Die
Fachgruppe stellt diese nationalphilologische Unterscheidung von Germanisten
und Romanisten zurück und die theoretischen und methodischen Gemeinsamkeiten
der Literaturwissenschaftler in den Vordergrund. Dr. Kretzschmar und ich,
die im Rahmen der „Fachgruppe Literaturwissenschaft“ diese Vorlesungsreihe
initiiert und vorbereitet haben, konnten bislang in mehreren gemeinsamen
Veranstaltungen erfahren, wie hilfreich und attraktiv es sein kann, über
den Tellerrand der eigenen Nationalliteratur hinauszuschauen – beispielsweise
um herauszufinden, was es in so unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften
wie der russischen und der deutschen bedeutet, von Romantik oder Realismus
zu sprechen. Wir glaubten daher, daß es interessant für die
Klientel unserer Fakultät sein könnte, Themen von so grundsätzlicher
Relevanz wie das der Avantgarde aus vielen verschiedenen Blickwinkeln kennenzulernen.
Denn
die Avantgarde ist ein ästhetisches Phänomen, das allen so unterschiedlichen
kulturellen, historischen und sozialen Rahmenbedingungen zum Trotz in Italien,
Frankreich, Spanien, Deutschland und der Sowjetunion beinahe zeitgleich
in den ersten Dekaden unseres Jahrhunderts auftritt. Trifft dies zu, dann
stellt sich allen Anhängern von sozialhistorischen oder kontextorientierten
Ansätzen die Frage, wie es möglich sein kann, daß in so
differierenden Sozialordnungen und so sehr verschiedenen Kontexten ein
ästhetisches Phänomen zu selben Zeit und im selben Gewand auftritt.
Oder müßte man im Gegenteil gerade aufgrund der großen
Unterschiede der Voraussetzungen und Umstände davon absehen, generalisierend
von Avantgarde zu sprechen, um statt dessen nur noch von italienischen
oder sowjetischen, deutschen oder spanischen Avantgardisten zu reden. Diese
Fragestellungen lassen sich kaum nationalphilologisch stellen und beantworten.
Wir
glauben daher, daß die ästhetische Eigentümlichkeit der
Avantgarden als Stil, ihre Bedeutung als Epoche der modernen Kunst und
ihre jeweilige nationale Spezifität Probleme aufwerfen, die besonders
erfolgversprechend in einer fächerübergreifenden Kooperation
der Literatur- und Kunstwissenschaften behandelt werden können. Als
internationales und gleichsam multimediales Phänomen lädt es
zur Interdisziplinarität geradezu ein – und wir sind sehr froh, daß
wir für diese Ringvorlesung nicht nur Kolleginnen und Kollegen aus
der Philologie gewinnen konnten, sondern auch Vertreter der Institute für
Kunstgeschichte und für Musikwissenschaften, so daß der schillernde
Gegenstand der Avantgarden aus all den Perspektiven betrachtet werden kann,
die er selbst anbietet: der Literatur, der bildenden Künste, des Films
und der Musik. Wir hoffen, daß dieser multiperspektivische Blick
auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede der einzelnen Avantgarden dem Thema
eine besonders scharfe Kontur geben wird, der verdeutlicht, wie sehr es
sich lohnen könnte, über die Instituts- und Fakultätsgrenzen
hinweg an einem gemeinsamen Thema zu forschen und zu lehren.