Niels Werber

Ringvorlesung „Avantgarden der Kunst und Literatur“

Eine Einführung (20. 10. 1999, 14 c.t., HGB 40)

Besitzen Sie vielleicht ein mehrfarbiges Sofa, zusammengesetzt aus verschiedenen geometrischen Formen oder auch eins aus Chrom und Leder, kennen sie matt schimmernde Kaffeekannen im Projektildesign, haben Sie auf den Laufstegen der Modedesigner schon einmal Kleider aus Metall oder Röcke für den Herrn gesehen, haben Sie von schnellen Autos mit Dreilitermotor oder mit auswechselbaren, farbigen Seitenteilen gehört oder von der Verwendung von Instrumenten australischer Ureinwohner in 180 beats per minute schnellen Breakbeat-Stücken oder auch von Mobiltelefonen oder Microwellenherden, mit denen man im Internet surfen kann? Wenn ja, dann wissen Sie, was heutzutage so alles das Prädikat „avantgardistisch“ bekommen kann. In Mode und Möbeldesign, bei der Architekur von Gebäuden und Fahrzeugen, im Musikbetrieb und in Kabelfernsehsendern spricht man so geläufig vom Avantgardistischen, daß das Wort seine begrifflichen Konturen eingebüßt zu haben scheint und nicht mehr viel mehr bedeutet als „irgendwie neu“ oder „irgendwie anders“ oder „crazy“. 
 
Dies verhält sich in den Literatur- und Kunstwissenschaften leider nicht anders. Avantgarde: das kann eine Epoche bezeichnen, ein künstlerisches Verfahren, eine Künstlergruppe, ein Äquivalent für Innovation oder für Moderne oder für Alterität. In der deutschen Literaturwissenschaft bezeichnet man beispielsweise einmal Hugo Ball und Hans Arp aufgrund ihrer Verfahren als Avantgardisten, zählt aber auf der Grundlage des Gewohnheitsrechtes, den Begriff auch als Epoche zu fassen, Autoren, die ähnliche Verfahren benutzen – wie vorher Christian Morgenstern oder nachher Jandl – nicht dazu; der Dadaismus während des WK I gilt als avantgardistisch wegen seiner kritischen Tendenz, Ernst Jüngers Texte aber nicht, obwohl sie strukturell und semantisch von ähnlichen Texten der italienischen Futuristen und sowjetischen Kubofuturisten kaum zu unterscheiden sind, die traditionell als Avantgardisten gelten. Bisweilen gilt die Attacke auf semantische und formale Konventionen als avantgardistisch, bisweilen der Versuch semantischer Entdifferenzierung und diskursiver Integration. Einmal gilt noch Joseph Beuys als Avantgardist, ein andermal kommt die Avantgarde mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus an ein endgültiges Ende. Mit wechselnden ideologischen Interessen sieht die Forschung eine offenbar immer subversive Avantgarde im künstlerischen Dauerkonflikt mit totalitären Regimen oder spricht umgekehrt vom ‚Gesamtkunstwerk Stalin‘ oder von der avantgardistischen Verschmelzung von Ästhetik und Politik im deutschen Nationalsozialismus oder italienischen Faschismus. 
 

Jedes Heer auf dem Vormarsch verfügt über eine Avantgarde, eine Vorhut also, die dem Troß voraus marschiert. Dieser militärische Bedeutung verdankt die metaphorische Verwendung des Begriffs in Kunst- und Literaturwissenschaft ihre minimale Kontinuität: künstlerische und literarische Avantgarden sind dem Gros ihrer Zeit ein Stück voraus, woraus ihr provokativer, subversiver Gehalt herrühre. Dieser semantische Minimalgehalt reicht aber nicht aus, um den Begriff trennscharf von viel allgemeineren Konzepten zu differenzieren wie etwa dem der Moderne. Denn darüber, daß Kunst und Literatur der Moderne auf Innovation, auf den Futur, die Überbietung des Gewesenen, die Abweichung vom Bestehenden, auf die Überraschung der Erwartungen, auf Neuheit, Originalität und Choc abonniert sind, herrscht ein weitreichender Konsens, weshalb es schwerfallen würde, den „Futurismus“ der Moderne vom „Futurismus“ der Avantgarde zu unterscheiden. Wenn James Joyce Avantgardist ist, warum nicht auch Schnitzler, wenn Rotschenko Avantgardist ist, warum nicht Kurt Schwitters, wenn die écriture automatique der Surrealisten ein Verfahren der Avantgarde ist, warum ist dann Daniel Paul Schreber kein Avantgardist? Und wenn man D’Annunzio zur Avantgarde zählt aufgrund der politischen und sozialen Dimension seiner Projekte, warum dann nicht auch aus denselben Gründen Stefan George? Warum zählt man gelegentlich Richard Wagners Musiktheater zum Ästhetizismus, die vergleichbar synästhetischen und multimedialen Projekte Alexander Skrjabins aber zur Avantgarde?

Die Schwierigkeiten, die uns die Avantgarde bereitet, finden zu einem guten Teil ihren Grund in der Internationalität und Multimedialität des Phänomens: beinahe alle Nationalliteraturen und die Kunst und Musik der meisten Länder kennen Avantgarden. Ob es möglich ist, über die Gattungen der Kunst und die Grenzen der Länder hinweg von Avantgarde zu sprechen, ist eine Fragestellung, die mit Aussicht auf Erfolg nur interdisziplinär anzugehen ist. Aus diesem Grund tritt die „Fachgruppe Literaturwissenschaft“ der Fakultät für Philologie zum ersten Mal als Veranstalter einer Ringvorlesung auf – und wie sie dem Plakat oder ihren Vorlesungsverzeichnissen entnehmen können, sind der Einladung zu dieser Vorlesung nicht nur Vertreter der hier im Haus gelehrten modernen Nationalphilologien gefolgt, sondern dankenswerter Weise auch Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Kunstgeschichte und für Musikwissenschaften. 

 

Falls sie von der „Fachgruppe Literaturwissenschaft“ der Fakultät für Philologie bislang noch nichts gehört haben, dann liegt das daran, daß diese Art der Organisation noch recht neu und noch sehr schwach institutionalisiert ist. Es gibt mehrere solcher Fachgruppen, die versuchen, quer durch die Institute des Hauses hindurch gemeinsame Interessen zu bündeln, um so etwa Literaturwissenschaftler der Romanistik, Anglistik, Komparatistik, Germanistik und Slawistik zusammenzubringen, was ja zumindest genauso plausibel ist wie die gängige Praxis, in nach Sprachen unterschiedenen Instituten Linguisten, Mediavisten und Literaturwissenschaftler zusammenzulegen. Die Fachgruppe stellt diese nationalphilologische Unterscheidung von Germanisten und Romanisten zurück und die theoretischen und methodischen Gemeinsamkeiten der Literaturwissenschaftler in den Vordergrund. Dr. Kretzschmar und ich, die im Rahmen der „Fachgruppe Literaturwissenschaft“ diese Vorlesungsreihe initiiert und vorbereitet haben, konnten bislang in mehreren gemeinsamen Veranstaltungen erfahren, wie hilfreich und attraktiv es sein kann, über den Tellerrand der eigenen Nationalliteratur hinauszuschauen – beispielsweise um herauszufinden, was es in so unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften wie der russischen und der deutschen bedeutet, von Romantik oder Realismus zu sprechen. Wir glaubten daher, daß es interessant für die Klientel unserer Fakultät sein könnte, Themen von so grundsätzlicher Relevanz wie das der Avantgarde aus vielen verschiedenen Blickwinkeln kennenzulernen.

Denn die Avantgarde ist ein ästhetisches Phänomen, das allen so unterschiedlichen kulturellen, historischen und sozialen Rahmenbedingungen zum Trotz in Italien, Frankreich, Spanien, Deutschland und der Sowjetunion beinahe zeitgleich in den ersten Dekaden unseres Jahrhunderts auftritt. Trifft dies zu, dann stellt sich allen Anhängern von sozialhistorischen oder kontextorientierten Ansätzen die Frage, wie es möglich sein kann, daß in so differierenden Sozialordnungen und so sehr verschiedenen Kontexten ein ästhetisches Phänomen zu selben Zeit und im selben Gewand auftritt. Oder müßte man im Gegenteil gerade aufgrund der großen Unterschiede der Voraussetzungen und Umstände davon absehen, generalisierend von Avantgarde zu sprechen, um statt dessen nur noch von italienischen oder sowjetischen, deutschen oder spanischen Avantgardisten zu reden. Diese Fragestellungen lassen sich kaum nationalphilologisch stellen und beantworten.

 

Wir glauben daher, daß die ästhetische Eigentümlichkeit der Avantgarden als Stil, ihre Bedeutung als Epoche der modernen Kunst und ihre jeweilige nationale Spezifität Probleme aufwerfen, die besonders erfolgversprechend in einer fächerübergreifenden Kooperation der Literatur- und Kunstwissenschaften behandelt werden können. Als internationales und gleichsam multimediales Phänomen lädt es zur Interdisziplinarität geradezu ein – und wir sind sehr froh, daß wir für diese Ringvorlesung nicht nur Kolleginnen und Kollegen aus der Philologie gewinnen konnten, sondern auch Vertreter der Institute für Kunstgeschichte und für Musikwissenschaften, so daß der schillernde Gegenstand der Avantgarden aus all den Perspektiven betrachtet werden kann, die er selbst anbietet: der Literatur, der bildenden Künste, des Films und der Musik. Wir hoffen, daß dieser multiperspektivische Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede der einzelnen Avantgarden dem Thema eine besonders scharfe Kontur geben wird, der verdeutlicht, wie sehr es sich lohnen könnte, über die Instituts- und Fakultätsgrenzen hinweg an einem gemeinsamen Thema zu forschen und zu lehren.