Ruhr-Universität Bochum

Germanistisches Institut

WS 2002/2003

PS: „M“, Mabuse, Moriati, Morvitius, Medien, Massen und Manipulation in den 20er Jahren

Dozent: Dr. Niels Werber

Gabriele Knafla, Laura Pöss

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Aldous Huxley, Brave New World

 

 

1.Das Kastensystem in der Brave New World

 

In der Brave New World werden menschliche Wesen nicht mehr auf natürliche Weise gezeugt und geboren, sondern in einem Brut- und Konditionierungszentrum künstlich produziert und entkorkt. [1] Dieser Zeugungsvorgang macht es möglich, die Menschen in ein genormtes Kastensystem zu gliedern. Die Bewohner dieses Weltstaats werden in einem Labor gezüchtet und entkorkt, damit sie die ihnen zugedachte Rolle im bestehenden Gesellschaftssystem erfüllen können. [2] Die Gesellschaft besteht aus fünf Kasten: den Alphas, Betas, Gammas, Deltas und Epsilons. Jede Kaste hat ihre eigene, vorbestimmte Aufgabe in der Gesellschaft und ist durch Aussehen, Kleidung, Beruf und Verhalten für die anderen Kasten erkennbar  und grenzt sich so von ihnen ab. Die zukünftige Kastenzugehörigkeit des gezüchteten Menschen ist schon in seiner Reifephase entschieden. [3]

 Die Reifephase funktioniert folgendermaßen: Die künstlich befruchteten Eier werden in sogenannten Brutöfen gelagert. Die Angehörigen der oberen Kasten, die Alphas und Betas, bleiben bis zur endgültigen Abfüllung in ihren Flaschen. Die Gammas, Deltas und Epsilons werden schon nach 36 Stunden heraus genommen und dem Bokanowskyverfahren unterzogen. Das bokanowkysierte Ei knospt, sprosst und teilt sich. Es können bis zu 69 Knospen entstehen von der sich jede einzelne zu einem Menschen entwickelt. Die Knospung und Teilung der Eier wird durch die Unterbrechungen des Entwicklungsverlaufs des Eis erreicht.

So besteht die Möglichkeit durch nur ein befruchtetes Ei bis zu 69 identische Gammas, Deltas und Epsilons entstehen zu lassen. [4] Diese kontrollierbare Massenproduktion wird als eine der Hauptstützen für eine stabile Gesellschaft gesehen. [5]

Durch weitere gezielte Eingriffe während der Reifephase werden die zukünftigen Menschen den Kasten zugehörig gemacht. Durch Sauerstoffverknappung wird zum Beispiel gewährleistet, dass der Embryo unter dem Durchschnitt bleibt: „The lower the caste [...] the shorter the oxygen.“ [6] Die Sauerstoffverknappung beeinflusst das Wachstum des Gehirns. Angehörige der niederen Kasten haben daher kein ausgeprägte Intelligenz oder verfügen über eigenen Willen. Durch zuwenig Sauerstoffzufuhr wird auch das natürliche Wachstum des Körpers beeinträchtigt. Ab dreißig Prozent Verknappung wird der Embryo kleinwüchsig entkorkt. [7] Dieses Normungsverfahren wird auch im Hinblick auf den Beruf und das soziale Leben und Umfeld des entstehenden Menschen angewandt. Tropen- oder Stahlarbeiter werden an Hitze gewöhnt. Kälte wird ihnen schon während der Reifephase mit Unbehagen gekoppelt verabreicht. Zukünftige Chemie- oder Laborarbeiter werden an Blei, Teer und Chlor gewöhnt. Raketeningenieure werden in kreisenden Behältern gezüchtet um den Gleichgewichtssinn zu stärken. [8] Siebzig Prozent der weiblichen Lebewesen werden durch die Zufuhr von männlichem Sexualhormon empfängnisfrei gezüchtet, um die kontrollierbare Fortpflanzung nicht zu gefährden. [9] Durch die vorgesehenen, genau abgestimmten Dosierungen weisen die menschlichen Wesen die körperlichen und geistigen Eigenschaften auf, die ihre vorbestimmte Rolle im Leben erfordert.

Alphas und Betas werden produziert, um Aufgaben in Kunst, Wissenschaft und Verwaltung zu übernehmen. Alphas ” [are] separate and unrelated individuals of good heredity and conditioned so as to be capable ( with in limits) of making a free choice and assuming responsibilities.” [10] Sie sind in der Lage das System zu durchschauen und sich ihm zu entziehen. Alphas werden, wie schon beschrieben, nur aus einem Ei gezüchtet. In dieser Kaste existieren keine identischen Dutzendlinge. Betas besitzen einen gut ausgeprägten Körperbau, sind aber weniger intelligent als Alphas. Aus diesem Grund sind ihre Tätigkeiten in mittleren Management angesiedelt oder sie arbeiten als Assistenten. Gammas verfügen über geringe Intelligenz und sind zur freien Willensentscheidung nicht fähig. Sie führen einfache, stupide Tätigkeiten aus. Deltas verrichten ebenfalls einfache Arbeiten. Sie sind meist Bedienstete oder Fabrikarbeiter. Diese Arbeit führen sie auf Grund ihrer dafür vorbestimmten nicht vorhandenen Intelligenz und ihrer kleinwüchsigen Körperbeschaffung gut aus. Epsilons, die unterste Kaste, können weder Lesen noch Schreiben. Ihnen werden nur die anspruchslosesten  Arbeiten zugewiesen. Alle Kasten führen ihre ihnen vorbestimmten Aufgaben kritiklos aus. Sie empfinden ihre Tätigkeit, ihr Umfeld, ihr ganzes Dasein als angenehm und zufriedenstellend.

Nach der Entkorkung folgt die weitere Erziehung und Normung durch die Hypnopädie, die Schlafschulung. Hier werden dem Bewohner der Brave New World schon als Kind Grundsätze, Regeln und Tugenden des Kasten- und Gesellschaftssystems angenormt. Diese Anweisungen bestimmen sein ganzes Handeln. Den Menschen werden unausrottbare Reflexe angenormt. [11]  Die Hypnopädie ermöglicht es, die Grundbegriffe und elementaren Regeln des Kastenwesens tief ins Unterbewusstsein einzuprägen. [12] ( Regeln für Beta Zugehörige: „Alpha children wear grey. They work much harder than we do, because they’re so frightfully clever. I’m really awfully glad I’m Beta, because I don’t work so hard. And then we are much better than the Gammas and Deltas. Gammas are stupid. They all wear green, and Delta children wear khaki. Oh no, I don’t want to play with Delta children. And Epsilons are still worse. They’re too stupid to be able to read or write. Besides, they wear black, which is such a beastly colour. I’m so glad I’m a Beta.”) [13]  Darüber hinaus verfolgt diese Normung das Ziel, dass die Menschen ihre unumstößliche soziale Bestimmung lieben lernen [14] und sich nur in ihrer Kaste und ihrem Umfeld zufrieden und glücklich fühlen: „They get what they want, and they never want what they can’t get.“ [15]

Die Weltobersten sehen die Hypnopädie als das beste Mittel zu Stärkung der sittlichen und sozialen Gefühle. Die Welt wird dadurch im Gleichgewicht gehalten. Denn wenn ein Alpha die Arbeiten eines Epsilons verrichten müsste, würde alles zusammenbrechen, da die Alphas für diese Art der Arbeit nicht genormt sind. [16]

Das Kastensystem wird hier mit einem Eisberg verglichen: „eight-ninths below the water line [Gammas, Deltas, Epsilons], one- ninth above [Alphas, Betas].“ [17] Die Kasten, die unter Wasser liegen, fungieren als Gerüst, sie bilden das Rückrad der Gesellschaft. [18]

 Durch die Hypnopädie und Normung sind alle Bewohner mit der ihr zugeteilten Aufgabe zufrieden und würden keine andere, auch höhere Kaste, ihrer vorziehen. Sie würden sie sogar als Verschlechterung ansehen. Die Gesellschaft ist manipuliert um das Motto des Weltstaates – Community, Identity, Stability – aufrecht zu erhalten. Die Menschen werden im Hinblick auf den Zweck, für den sie stehen sollen, produziert und entkorkt und sind nach Belieben und Bedarf uneingeschränkt verfügbar.

 

 

 

 

 

2. Der Massengedanke in Huxleys Brave New World

 

“Community, Identity, Stability!” [19] Schon zu Beginn von Huxleys Roman werden die Grundelemente – „the World State`s motto“ [20] – der Brave New World genannt. Diese Gedanken erinnern nicht zuletzt an die Grundsätze der französischen Revolution

(Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit), doch vielmehr wird durch dieses Programm die Gesellschaftsstruktur zur Massenkultur. Die Gesellschaft verformt sich in Huxleys Werk zu einer Masse, die aus Alphas, Betas, Gammas, Deltas und Epsilons besteht.

Übertragen auf unsere Welt könnte Utopia durch seinen Massengedanken keinen Bestand haben : „  [da] die Idee der Gleichheit offensichtlich unsinnig [ist]. Eine Gesellschaft, die auf dieser Idee basiert kann gar nicht funktionieren, weil die Menschen biologisch-genetisch-psychologisch ungleich sind, und auch keine Erziehung die verschiedenen Intelligenz-Typen gleichmachen kann.“ [21] Doch in Utopia genießen die Massen den großen Vorteil der technischen „incubators“ [22] , der Entkorkungsmaschinen und vor allem des „Bokanovsky Process“ [23] als „eine Hauptstütze einer

stabilen Gesellschaft.“

Unter dem Zeichen Fords werden  nicht mehr Individuen geboren, sondern  Dutzendlinge  produziert. Diese werden in ihrem weiteren Leben durch Erziehung und Propaganda von Massenmedien wie z.B. den  feelies  soweit manipuliert, „dass sie nur in Arbeit und Gehorsam ihr Glück finden.“  [24]  Eine Verschmelzung zur Masse findet außerdem in den sogenannten „massed Community Sing[s]“ [25] statt. „Twelve of them ready to be made one, waiting to come together, to be fused, to lose their twelve separate identities in a larger being.” [26] Das allseits verwendete Soma unterstützt dabei den hypnotischen Zustand. Diese „Eintrachtsandacht“ [27] erinnert an die Massenveranstaltung von Sekten, die auch durch solche Massenorgien versuchen an Einheit zu gewinnen.

Eine Ausnahme dieses System bildet lediglich die Alpha-Masse, der eine gewisse Willensfreiheit gestatt ist. Die Folgen einer nur aus Alphas bestehenden Gesellschaft schildert Mustafa Mond im Gespräch mit dem Wilden und Helmholtz so : Die Folgen waren, der „first-class civilwar“ [28] und „nineteen out of the twenty-two thousand had been killed.“ [29]

Hierdurch wird deutlich, dass auch die Gesellschaft in Utopia, nicht aus einer homogenen Masse, sondern nur aus verschiedenen Massenelementen bestehen kann. Nur durch Pawlowsche Normung, sowie der Regulierung der Sauerstoffzufuhr im embryonalen Zustand, gelingt es, die Masse aus fünf Bausteinen aufzubauen, die zwar in sich homogen, jedoch untereinander so unterschiedlich sind, dass ein Zusammenleben und damit die Bildung einer einzigen großen Masse möglich ist.

Schon im Jahr 1930 prophezeite Russell in seinem Werk „The Scintific Outlook“ die Zukunft der Beeinflussung und Manipulation. Dabei stellt er folgende Thesen für die Zukunft auf: [30]

 

- die systematische Anwendung der Erkenntnisse von Freud und Pawlow zur

               Verhaltenssteuerung

- Manipulation des Unbewussten zu kommerziellen und politischen Zwecken

- Erziehung als Anpassung der Staatsbürger an bestehende Verhältnisse

- Gleichschaltung des menschlichen Bewusstseins durch Massenmedien und  

              Unterhaltungsindustrie

- Systematische Eugenik

- Absichtliche Röntgen-Bestrahlung von Embryos

- Injektion von Chemikalien in die Gebärmutter

- Züchtung von Intelligenz, Verdummung und Ablenkung der Arbeiter

- Neue Drogen ohne unangenehme Nebenwirkungen

- Elimination der alten Literatur und Kunst

- Oberflächliche, flüchtige - promiskutive Sexualität

 

Diese Thesen finden teilweise nicht nur Bestätigung in unserer heutigen Gesellschaftsform, sondern spiegeln sich vor allem in der Massenbildung und -normung der Brave New World wider.

 



[1] Aldous Huxley, „Schöne neue Welt”, Fischer Taschenbuchverlag 2000, 57. Auflage, S.34

[2] Ebd. S. 30

[3] Ebd. S. 30

[4] Aldous Huxley, “Brave New World”, HarperCollins, London 1997, 8. Auflage, S. 21ff

[5] Ebd. S. 23

[6] Ebd. S. 29

[7] Ebd. S. 29

[8] Ebd. S. 31f

[9] Ebd. S. 28

[10] Ebd. S. 220f

[11] Aldous Huxley, “Brave New World”, HarperCollins, London 1997, 8. Auflage, S. 36

[12] Ebd. S. 36

[13] Ebd. S. 41f

[14] Ebd. S.31

[15] Ebd. S. 218

[16] Ebd. S.221

[17] Ebd.  S. 222

[18] Ebd.  S.222

[19] Aldous Huxley, „Brave new World“, Granada 1977, S. 15

[20] Ebd. S. 15

[21] Christoph Bode, „Aldous Huxley: Brave new World”, Wilhelm Fink Verlag München 1985, S. 32

[22] Aldous Huxley, „Brave new World“, Granada 1977, S. 16

[23] Ebd. S. 16

[24] Christoph Bode, „Aldous Huxley: Brave new World”, Wilhelm Fink Verlag München 1985, S. 20

[25] Aldous Huxley, „Brave new World“, Granada 1977, S. 71

[26] Ebd. S. 72

[27] Aldous Huxley, „Schöne neue Welt“, Fischer Taschenbuchverlag Verlag 2002, 60. Auflage, S. 95

[28] Aldous Huxley, „Brave new World“, Granada 1977, S. 177

[29] Ebd. S. 179

[30] Christoph Bode, „Aldous Huxley: Brave new World“, Wilhelm Fink Verlag München 1985, S. 52