Kommunikation ohne Interaktion

Thesen zu einem zweiten „Strukturwandel“ der Massenmedien

von Niels Werber

1.

Die Frage, wer spricht, ist für die massenmediale Erzeugung von Öffentlichkeit entscheidend. Das eherne Gesetz der Medien, Aufmerksamkeit zu erzeugen und zu binden, erzwingt geradezu eine Fokussierung auf Eminenz. Dies schließt nicht aus, bei der Selektion auch auf Themen zu achten, doch meistens resultiert deren Bedeutung aus dem hohen Rang derjenigen, die sie behandeln. Es macht bei der Kalkulation von Auflagenhöhen und Einschaltquoten einen Unterschied aus, ob eine These von einem Staatsminister für Kultur vor einem ranghohen Forum in Berlin vertreten worden ist oder von einem unbekannten Literaturwissenschaftler auf einer Doktorandentagung in Bochum. Ganz anders verhält es sich in der Urszene des Öffentlichen, der Diskussion unter Anwesenden. Hier dürfte es schwer fallen, eine These allein auf die Autorität des hohen Rangs zu stützen statt auf eine plausible Argumentation. Doch die Argumente, die bei einem Diskurs unter Anwesenden ihre ganze Plausibilität und Wucht in einem Diskussionskontext entfalten, verwandeln sich in der medialen Berichterstattung in „Argumente für Kameras“. „Argumente für Kameras“ oder auch „Argumente für 180 Zeilen“, darunter verstehe ich eine Transformation, die dann stattfindet, wenn Medien einem Thema eine Öffentlichkeit verschaffen. Aus einer Argumentationskette, für die mehrere kluge Köpfe ein paar Stunden brauchen, werden 30 Sekunden-Statements fürs Kulturprogramm oder ein Zweisatz-Zitat im Feuilleton. Dass hier Komplexität reduziert wird, liegt auf der Hand, aber dabei bleibt es nicht. Denn die Sache, die verhandelt wird, wird nicht nur schlichter, einfacher, verständlicher dargestellt, sondern sie wird vom Zauberstab der Massenmedien verwandelt in News, in eine Neuigkeit, die das Interesse der Konsumenten zu wecken und zu befriedigen verspricht. Wenn aus Argumenten für Anwesende Statements werden, findet also eine Selektion statt, die zuallererst nicht thematisch orientiert ist, sondern am Aufmerksamkeitswert eines Arguments oder dessen, der die Sache vertritt. Und da es ein Dutzend großer Tageszeitungen und ähnlich viele Kulturformate in Funk und Fernsehen gibt, sollte die Sache möglichst aktuell erscheinen, möglichst spannend aufbereitet sein und möglichst schnell publiziert werden. Wer eine Woche wartet, muss mit einem Publikum rechnen, das sich schon für informiert hält und in einem weiteren Bericht nur Redundantes erwartet und daher erst gar nicht hineinschaut oder -liest – gleichgültig, was wirklich in der Sache berichtet wird. 

Die Gesetzmäßigkeit dieser Transformation kann man natürlich bereits als Teilnehmer einer Konferenz, einer Diskussionsrunde oder eines Forums berücksichtigen, um sich über die Anwesenden hinweg direkt an die Medien zu wenden. Man könnte vermuten, dass es hier auf Statements ankommt, die schon so appetitlich und mundgerecht zubereitet sind, dass mediale Erwähnung wahrscheinlich wird, statt auf Überzeugendes in der Sache, auf Rücksicht auf den Kontext und den Verlauf der Tagung. Ignoriert man dagegen die drohende mediale Auswertung, dann könnte man die Zeit nutzen, die man hat, um seine Sache zu vertreten. Die Argumente müssen plausibel sein, statt unterhaltsam, und dass das Publikum nicht einfach so weglaufen kann, wie es um- und ausschalten oder die Zeitung beiseite legen oder umblättern kann, lädt zu höheren Zumutungen ein. Oder man lässt sich im Wissen, dass die Massenmedien berichten werden, zu dem Versuch verführen, den Diskussionsbeitrag über die Anwesenden hinaus »unmittelbar« an »die« Öffentlichkeit zu richten. Warum auch nicht: sich mit einer guten Sache an die Öffentlichkeit zu wenden, scheint von vorneherein selbst eine gute Sache zu sein, aber die noch ungeklärte Frage ist, was bei diesem Vorgang überhaupt geschieht. Zunächst wird aus einer Interaktion unter Anwesenden, die nur hier und jetzt stattfindet und überzeugt oder nicht überzeugt, ein Angebot, das sich an ein anonymes, räumlich verstreutes Publikum wendet, dessen Rezeption nicht mit dem Vorgang des Vortrags und der Diskussion zusammenfällt, sondern später und woanders stattfindet. Was passiert nun, wenn ein Beitrag sich nicht primär an eine überschaubare Gruppe von Diskutanten richtet, sondern vor allem an ein prinzipiell unbekanntes Publikum? 

Man kann erwarten, dass etwas Ähnliches passiert wie während des von Habermas sogenannten Strukturwandels der Öffentlichkeit im 17. und 18. Jahrhundert, wo die Entstehung von Zeitungen und Zeitschriften den alten Begriff der Geselligkeit abgelöst haben durch ein abstraktes Konzept von public opinion. Die unzähligen, zerstreuten Öffentlichkeiten der Salons, Clubs und Gesellschaften, in denen alle Themen nur mündlich und in einer ausgewählten Gruppe Anwesender besprochen wurden, weshalb sie ohne große Reichweite blieben, fielen nun in den Bereich des Privaten, während die Öffentlichkeit im Singular das wurde, was in den Zeitungen Resonanz fand. Was nun unter den Augen Anwesender in den Salons geäußert wurde, galt als privat, die Artikel in der Presse dagegen als öffentliche Meinung. Wer anderer Meinung war, musste, um gehört zu werden, selbst publizieren – und sei es in Form von Leserbriefen. Die Meinung wurde von ihrem Mittel: dem Druckmedium dazu gezwungen, den im Gesprächsverlauf immer schon vorhandenen Kontext nun selbst aufzubauen. Verweisen konnte man nur auf bereits Publiziertes; anders als bei guten Freunden, oft gesehenen Gästen oder der eigenen Familie kann jedoch niemand bei der Publikation wissen, was das Publikum schon weiß, mit der Ausnahme all dessen, was bereits als öffentliche Meinung kursiert. Dies wird als bekannt unterstellt. Zola geht davon aus, dass seine Leser wissen, wer Dreyfuss ist und was ihm angetan wurde. Was bereits erschienen ist, wird als bekannt vorausgesetzt. Diese, so Niklas Luhmann, „operative Fiktion“, alle wüssten aus den Massenmedien alles und gleichzeitig, diese „Unterstellung universeller Informiertheit“ begleitet nun jeden Beitrag, der sich an die Öffentlichkeit wendet.[1] Daran lässt sich also mit Gewissheit anschließen, wenn man für Unbekannte produziert. Es liegt nahe, dass sich in den Massenmedien eine Struktur herausbildet, in der Beiträge auf andere Beiträge zurückgreifen – zum Beispiel in der Form, dass bereits erfolgreiche Beiträge von neuen Beiträgen kopiert werden, was man vielen Formaten und Kinofilmen ohne weiteres ansieht. Da aber die Massenmedien zum Zeitpunkt ihrer Publikation mit ihrem Publikum grundsätzlich keinen Kontakt unterhalten, haben sie keine andere Chance, als ihre eigene Vergangenheit zu beobachten in der Hoffnung, hier Erfolgschancen für die Zukunft zu entdecken. Natürlich trügt diese Hoffnung, weil das Publikum sich mit jeder Sendung verändert und heute zu verdammen bereit ist, was es gestern noch goutiert hat. 

Jeder interaktive Kontakt zwischen Sendern und Publikum wird von der Technologie der Massenmedien ausgeschlossen. Weil man daher davon ausgehen kann, dass das Publikum nicht nach den zwei ersten Sätzen interveniert, darf sich die Argumentation mehr Zeit dabei lassen, ihre Sache ins rechte Licht zu rücken. Größere Sorgfalt ist überdies nötig, denn der gedruckte Beitrag läuft Gefahr, noch einmal gelesen zu werden, die Thesen, Zitate, Argumente könnten überprüft werden. Hier liegt übrigens eine folgenreiche Differenz zwischen gedruckten und gesendeten Massenmedien: ein TV- oder Radiobeitrag kann nicht ohne größeren Aufwand ein zweites Mal rezipiert und auf Referenzen überprüft werden. Man müsste weitere Techniken (Rekorder) dazwischenschalten. Bei ohne Mühe mehrfach zu lesenden Drucksachen reicht es jedenfalls nicht mehr aus, wie im Fall der antiken Rede, das anwesende Publikum mit allen rhetorischen Mitteln einmal zu überzeugen oder zu überreden in dem Wissen, dass sich kein Gedächtnis alle verwendeten Finessen und Tricks merken wird, um dann eine Gegenargumentation aufzubauen. Vielmehr ist man überzeugt, und hat bereits vergessen warum. Der Buchdruck bereitet dieser Form der Rhetorik ein Ende, und man könnte vermuten, dass sie heute im Fernsehen eine neue Heimat gefunden hat. Sich in Druckform an die Öffentlichkeit zu wenden, wirkt also versachlichend und generalisierend, man beginnt mit der regulativen Idee zu operieren, das bessere Argument setze sich mit zwanglosem Zwang durch. 

In Bezug auf Öffentlichkeit spricht man von Meinung, aber obwohl der Begriff Meinung allein eigentlich deutlich genug anzeigt, dass es – im Gegensatz zur Wahrheit – immer noch andere Meinungen gibt, spricht man seit dem 18. Jahrhundert von »der« öffentlichen Meinung. „Die Reflexion“ des Phänomens sei, so Luhmann, „der Gefahr des Singulars“ erlegen.[2] Die unvermeidbare Paradoxie, dass jede Meinung mindestens eine – mit einem neuen Wort des neuen Dudens – „Zweitmeinung“ impliziert, also nur im Plural auftritt, man aber dennoch von einem Singular ausgeht, wird dadurch aufgelöst, dass der Plural der Meinungen als Diskurs konzipiert wird, an dessen Ende dann schließlich »eine« Meinung stehen wird, nämlich »die« richtige, die dann von allen Vernünftigen akzeptiert wird, weil sie nur durch den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ überzeugt und nicht durch Autorität, durch Tradition oder Rhetorik. Eine Veranstaltung mit dem Titel „Zerstreute Öffentlichkeiten“ aber hat sich von dieser von Jürgen Habermas beschriebenen „regulativen Idee“ eines auf Konsens gerichteten Diskurses verabschiedet. Denn wenn es Öffentlichkeiten allein noch im Plural gibt, sind deren Meinungen nirgends mehr integrierbar, denn es gibt nirgendwo einen Ort, an dem die Meinungen in ein vernünftiges Gespräch zu »einem« Ende bringen wären. Mit Verweis auf die „wachsenden Selektionszwänge der elektronischen Massenkommunikation“ schreibt Habermas selbst in einem neuen Vorwort zum Strukturwandel der Öffentlichkeit aus dem Jahre 1990, dass er sich nicht sicher sei, welches Ergebnis eine neuerliche Untersuchung „für eine Demokratietheorie haben würde“.[3] Die völlig in Sparten, special interest groups, Nischen und Programme sektorierte Medienwelt bringt jedenfalls keine Öffentlichkeit im Sinne von Habermas mehr hervor, die neuen Medien haben „dem Prinzip der Publizität seine Unschuld“ geraubt[4] – und der Begriff überlebt aus Pietät und womöglich auch wegen des nicht nachlassenden Bedarfs der Politik, einen Ansprechpartner außerhalb ihrer Organisationen zu imaginieren, der sich über alles befragen lässt wie das märchenhafte Spiegelein an der Wand. 

Nur die Öffentlichkeit im Singular sichert der „operativen Fiktion“[5] ihre Wirksamkeit, dass potentiell jeder teilnehme und daher virtuell jedes denkbare gute Argument falle und so der Diskurs zum bestmöglichen Ergebnis gelange. Eine »zerstreute« Öffentlichkeit jedoch vermag kaum noch als „Filter fairer Verhandlungen und rationaler Diskurse“ zu dienen, wie Habermas’ Modell es noch 1992 in Faktizität und Geltung vorsieht.[6] Die Öffentlichkeit lässt sich zerstreuen, und eine sogenannte deliberative Funktion der Medien ließe sich wohl nur noch contrafaktisch behaupten. Man könnte nun fast in den Schwanengesang derer einstimmen, die das schöne demokratienahe, vernünftige und gerechte Modell der Öffentlichkeit in der „Bilderflut“ der Massenmedien untergehen sehen.

2.

»Bilderflut« ist ein Begriff, der suggeriert, es gebe mehr Bilder, als man gefahrlos verkraften könne. Diskurstheoretiker würden sagen, dass die Metapher »Bilderflut« geradezu »Dammbauten« herbeischreit. Wir werden von Bildern überflutet, die Vernunft, die Öffentlichkeit, die Konzentration gehen unter, nun müssen Dämme errichtet werden. Öffentliches Fernsehen, Privates Fernsehen, Pay-TV, Sattelitenfernsehen, Internet, Steaming Media: wer hier von »Bilderflut« spricht, rennt offene Türen ein und meint eigentlich: „genug ist genug“. Neil Postman ist mit dieser Ansicht berühmt geworden. Der Begriff »Bilderflut« ist anscheinend evident, und die defensive Haltung, die sich mit ihm verbündet, versteht sich von selbst. Dagegen könnte man die Vermutung ins Feld führen, dass diese Evidenz ein Effekt ist, der sich bestimmten, nicht weiter hinterfragten Schematismen verdankt, zum Beispiel der Annahme, dass es tatsächlich ein Zuviel an Bildern gibt, obwohl ja kaum jemand mehr als ein Programm gleichzeitig sieht, dass also den Konsumenten, die in der Bilderflut ertrinken, offenbar nicht zugetraut wird, das für sie richtige Programm selbst auszusuchen. Dagegen sehen sich diejenigen, die über »Bilderflut« lamentieren, ohne weiteres in der Lage, innerhalb des audiovisuellen Stroms sozusagen die gefährliche Brandung von den sanften Wellen zu unterscheiden, um dann vor MTV zu warnen und stattdessen ARTE zu empfehlen. Dass all diese bekannten Mahnungen und Loblieder seit langem nicht das Geringste fruchten, führt aber nicht zur Revision der Thesen, sondern bestätigt die Kulturkritik nur in ihrer Einschätzung, denn offensichtlich hat die »Bilderflut« die Rezipienten schon derartig verdummt, dass sie von der Kritik nicht mehr erreicht werden können. Mit mehr Erfolg wenden sich diese Deichgrafen der »Bilderflut« an staatliche Organe, die mit medienrechtlichen Maßnahmen beispielsweise private Sender dazu zwingen, ihr Publikum mit ganz hervorragenden Interviews von Alexander Kluge mit Niklas Luhmann zu verblüffen. 

Ich will im folgenden nicht die Kulturkritiker kritisieren, sondern statt dessen danach fragen, was einem entgeht, wenn man mit dem Schema »Bilderflut« die Massenmedien beobachtet. Meine These ist, dass die Vorstellung einer »Bilderflut« eine der zentralen Eigenschaften der Massenmedien übersieht: nämlich die Tatsache, „dass keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfängern stattfinden kann. Interaktion wird durch Zwischenschaltung von Technik ausgeschlossen.“[7] Für Niklas Luhmann hat dies „weitreichende Konsequenzen, die uns den Begriff der Massenmedien definieren. [...] Durch die Unterbrechung des unmittelbaren Kontaktes sind [...] zwei Selektoren am Werk: die Sendebereitschaft und das Einschaltinteresse, die nicht zentral koordiniert werden können.“ (S. 11f) Worauf Luhmann an dieser Stelle seines Buches über Die Realität der Massenmedien hinaus will, ist zunächst einmal die einfache Feststellung, dass ein direktes feed-back zwischen Produzent und Rezipient wie bei einem Gespräch oder einer anderen Interaktion unter Anwesenden unmöglich ist. Während man im Gespräch flexibel agiert, Themen wechselt, das Tempo ändert, auf Nachfragen reagiert, Informationen nachschiebt, expliziert oder unterdrückt, um das Gespräch am Laufen zu halten,[8] sind die Sender zum Zeitpunkt ihrer Sendung vollkommen allein mit ihren Vermutungen und Hoffnungen – und die Konsumenten der Massenmedien sind es auch: sie können zu einem Zeitpunkt nur das konsumieren, was angeboten wird, nichts sonst, und dass dies bisweilen trotz minutenlangen Zappens nicht befriedigt, weiß jeder, der gelegentlich über Freizeit und eine Fernbedienung verfügt. Jeder aufmerksame Gesprächspartner bemerkt, wenn er sein Gegenüber langweilt, überfordert, unterfordert oder begeistert – die Organisationen der Massenmedien können dagegen über die Wirkung ihrer Ausstrahlungen nur spekulieren. Einschaltquoten und Umfrageergebnisse dienen der internen Orientierung, aber die Interpretation der Daten erfolgt innerhalb der Sender. Die Folge dieser Deutung mag dann sein: noch mehr Quizsendungen und Container oder auch: noch weniger Kulturformate. Aber wie das Publikum auf dieses veränderte Angebot reagiert, kann man bei aller Programmplanung nicht miteinplanen. Es verhält sich hier ganz wie bei Wahlumfragen: erst die Wahl selbst entscheidet die Wahl, erst die Quote der bereits gesendeten Sendung steht fest. Über die Motive, die Wähler zur Wahl treiben oder sie zuhause bleiben oder die den Zuschauer ein-, ab-, um- oder ausschalten lassen, kann wiederum nur gemutmaßt werden, denn auch hier kommt jede Umfrage notorisch zu spät, denn die Motive haben sich nach der Wahl wie auch nach der Sendung verändert. Im Rückblick auf eine gewonnene oder verlorene Wahl, auf eine interessante oder langweilige Sendung bieten sich neue Motive zur Erklärung des eigenen Verhaltens an und überlagern diejenigen, die während der Entscheidungen eine Rolle gespielt haben mögen. Wenn sich dies so verhält, was hat das mit dem Schema „Bilderflut“ zu tun?

„Bilderflut“ impliziert ein kausales und überdies passives Verständnis von Kommunikation: die Bilder strömen vom Sender zum Empfänger. Dieses Modell der Massenmedien haben am beeindruckendsten und hierzulande wohl auch wirkungsmächtigsten Adorno und Horkheimer vertreten. Im berühmten Kapitel Kulturindustrie in der Dialektik der Aufklärung beschreiben sie „Film, Radio, Magazine“ als ein „System“, dessen einziger Zweck die ideologische Manipulation und ökonomische Ausbeutung der Konsumenten ist.[9] „Der Zuschauer soll keiner eigenen Gedanken bedürfen: das Produkt zeichnet jede Reaktion vor: nicht durch seinen sachlichen Zusammenhang – dieser zerfällt, soweit er Denken beansprucht – sondern durch Signale.“[10] Adorno und Horkheimer vergleichen hier die Rezipienten des Mediensystems mit Pawlowschen Hunden, die völlig vorhersehbar exakt so auf die Signale reagieren, wie das System es vorsieht. Die „Fusion von Kultur und Unterhaltung“ lasse niemanden entkommen und führe letztlich zur absoluten Affirmation, zum „Einverstandensein“.[11] Die Massenmedien überwältigen die Individuen und verwandeln sie in die Masse der beliebig zu manipulierenden Konsumenten.[12] Die in der „Bilderflut“ Ertrunkenen sind für Adorno und Horkheimer nicht besser als Zombies. Habermas formuliert dieselbe Diagnose nur etwas vornehmer: „Die durch Massenmedien zugleich vorstrukturierte und beherrschte Öffentlichkeit wuchs sich zu einer vermachteten Arena aus, in der mit Themen und Beiträgen nicht nur um Einfluss, sondern um eine in ihren strategischen Intentionen möglichst verborgene Steuerung verhaltenswirksamer Kommunikationsflüsse gerungen wird.“[13] Der Zuschauer reagiere kausal auf die Reize der Massenmedien und merke es nicht einmal – noch weiter kann man die Rezipienten nicht erniedrigen.

Ich möchte hier die Gegenthese vertreten und den einzelnen Rezipienten ernst nehmen. Dafür sei zunächst noch einmal an die technische Gestalt der Massenmedien erinnert, die jede Interaktion unter Anwesenden ausschließt, denn daraus lässt sich schlussfolgern, dass zum Zeitpunkt der Sendung überhaupt keine Kommunikation zwischen Sender und Empfänger stattfindet.[14] Luhmann schreibt: „Der Informationsgeber sieht im Medium der kurrenten Information sich selbst und andere Sender. Der Informationsnehmer sieht sich selbst und andere Informationsnehmer und lernt nach und nach, was man hochselektiv zur Kenntnis zu nehmen hat, um im jeweiligen Sozialkontext mitwirken zu können. Der Spiegel selbst ist intransparent.“[15] Die Apparate haben sich zwischen Sender und Empfänger geschoben. Die Kommunikation, die so stattfindet, ist kein Fluss von Informationen von A nach B, sondern, wenn sie denn stattfindet, ein unwahrscheinlicher Zufall, denn wenn die Sendung nicht überzeugt, kann sie nicht gleichsam in Kooperation mit dem Zuschauer geändert und angepasst werden; vielmehr wird sie stoisch ausgestrahlt, selbst wenn das Interesse des Rezipienten ausfallen sollte. Es sind Angebote denkbar, die bei niemanden auf Nachfrage stoßen – Bücher, die niemand liest, Filme, die niemand anschaut. Entsprechend groß ist der Reiz sogenannter „interaktiver“ Medien, die Kommunikation in Echtzeit versprechen.

Auf der Seite der Informationsgeber versucht man die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ihre Sendungen auch Zuschauer finden, zu erhöhen, indem andere Sender beobachtet werden und man versucht, es genauso zu machen bzw. genau davon abzuweichen, um aufzufallen. Die Programmgestaltung der Massenmedien erfolgt also nicht im Kontakt mit dem Publikum, sondern maßgeblich durch Selbstbeobachtung. Und auch die Zuschauer beobachten sich selbst und wählen aus dem Angebot der Informationsgeber dann das aus, von dem sie wissen, das andere erwarten, dass sie es wissen. So hat denn jeder Jugendliche in den 80er Jahren Dallas nicht deshalb gesehen, weil er sich für Ölbarone mit Cowboyhüten interessiert hat, sondern weil er darauf zählen konnte, dass „man“ Dallas gesehen haben muss. Heute mögen die Simpsons ähnliches leisten. Entscheidend ist, dass man nicht im Fernsehen, sondern auf dem Pausenhof erfährt, welche Sendung unbedingt angeschaut werden muss, will man nicht auf Mitwirkung „im jeweiligen Sozialkontext“ verzichten. Den Vertretern der Manipulations- und Überflutungstheorie kann man also mit Luhmann entgegnen, dass sich die Organisationen der Massenmedien einen direkten Durchgriff ihrer Planungen auf die Empfänger zwar wünschen mögen, die Realität der Massenmedien aber damit zurechtkommen muss, dass „Sendebereitschaft und Einschaltinteresse nicht zentral koordiniert werden können“.[16] Wenn es anders wäre, gäbe es keine Flops, keine Buchverramschungen und keine abgesetzten Showmaster oder Zeitungs-Redakteure. Offenbar lassen sich die Rezipienten nicht ohne weiteres überfluten, sondern schalten oder steigen um auf Formate, wo ihr idiosynkratisches „Einschaltinteresse“ besser versorgt wird. Die Metapher „Bilderflut“ ist ein Topos, kein Ausdruck der Realität der Massenmedien. 

Ich gebe dafür wenigstens ein Beispiel. Bertolt Brecht erinnert sich 1927 in einem seiner Beiträge zur Radiotheorie an „einen förmlichen Radio-Hurrikan, der an der Arbeit war, Amerika zu verwüsten“. Was hat man sich unter einem Radio-Hurrikan vorzustellen? Dasselbe wie unter Bilderflut. Brecht schreibt über „Wiener Walzer“ und „Küchenrezepte“, die der „ganzen Welt zugänglich“ gemacht würden, ohne dass jemand wüsste „wozu“.[17] Mit der Naturgewalt des technisch Neusten dokumentiere das Radio auf planetarischem Niveau allein die Tatsache, dass man sich „nichts zu sagen hatte“.[18] Nur fünf Jahre später, 1932, ist Brecht dagegen vom Radio vollkommen begeistert, weil er glaubt, man könne den „Rundfunk“ vom „Distributionsapparat“ des Broadcasting „in einen Kommunikationsapparat verwandeln“, der es „verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen.“[19] Die Hörer müssen Sender, und die Sender müssen Hörer werden. Aus dem Rundfunk, der mit einer Sendung die Massen erreicht, die diese Sendung nur konsumieren können oder nicht konsumieren können, soll das Radio in ein interaktives Medium umgebaut werden, zu dessen zentralem Element die Antwort, die Aktivität, das Gespräch gehört. Vom Hurrikan ist nun natürlich keine Rede mehr – derartige Metaphern sind dem Broadcasting vorbehalten. 

Man erkennt in Habermas’ Konzeption der Öffentlichkeit leicht das Echo dieser interaktiven Vision Brechts wieder. Die Medien bringen die Vernünftigen in Kontakt und ermöglichen so einen Diskurs, dessen Verlauf und Ergebnis unter Beobachtung einer kritischen Öffentlichkeit stattfindet, an der jeder aktiv teilzunehmen vermag. Dies kann man zwar aus guten Gründen wünschen, verfehlt aber die Realität der Massenmedien. Aber genauso wenig trifft das Gegenteil zu: dass das Publikum wie Pawlowsche Hunde beliebig von den Massenmedien fernzusteuern sei. Ich habe versucht plausibel zu machen, dass beide skizzierten Positionen: dass nämlich die Medien die Einzelnen in interaktiven Kontakt bringen oder dass sie die Massen im Wortsinne in-formieren, in Formation bringen, die Wirklichkeit der Massenmedien deshalb verfehlen, weil sie ihre technische Grundstruktur, die jede Interaktion ausschließt, ignorieren. Für die Öffentlichkeit im Singular folgt daraus: es gibt sie nicht mehr im Sinne der politischen Philosophie des letzten Jahrhunderts. Die aktuelle Sender- und Formatvielfalt der Medien und das unvorhersehbare „Einschaltinteresse“ der Rezipienten macht die Unterstellung unwahrscheinlich, alle hätten mehr oder minder das gleiche gesehen. Die Annahme, es gebe die „öffentliche Meinung“, lässt sich nicht mehr halten; alle darauf aufbauenden politischen Philosophien haben ihren Halt in der Realität verloren. Die aktuelle Sender- und Formatvielfalt der Medien macht die Unterstellung »einer« Öffentlichkeit unwahrscheinlich: niemand hat mehr das gleiche gesehen. Diese Diversifizierung unter dem Titel »Bilderflut« zu verhandeln, ignoriert vollständig die Rolle des Rezipienten, dessen Einschaltinteresse an der Kommunikation der Massenmedien genauso beteiligt ist wie die Sendebereitschaft der Broadcaster

Dass am Begriff der öffentlichen Meinung dennoch festgehalten wird, liegt vermutlich nicht an den Massenmedien, sondern an der Politik, die in ihr eine Möglichkeit gefunden hat, sich selbst zu beobachten. Dann handelt es sich womöglich bei der öffentlichen Meinung, die sich die Politik wie einen Spiegel vorhält, um ihre eigene Fiktion, der noch eine lange Zukunft beschieden sein könnte. Für die Aufrechterhaltung dieser „operativen Fiktion“ braucht es ja nicht allzu viel; von öffentlicher Meinung zu diesem oder jenem Thema spricht man ja schon, wenn man ein paar hundert Äußerungen statistisch ausgewertet und bei Sabine Christiansen darüber geredet hat. Die Politik orientiert dann ihre Entscheidungen an ihren Deutungen dieser öffentlichen Meinung – und ahnt doch erst am Wahlabend, was wirklich die Meinung der Wähler gewesen wäre. Wenn am Morgen danach nach Erklärungen gesucht werden muss, findet der Topos der »Bilderflut« dankbare Abnehmer. Man ist dann halt mit den eigentlich »besseren« politischen Programmen zum Wähler nicht durchgedrungen, und Schuld daran, sind die Massenmedien.



[1]Luhmann, Niklas, „Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien“ [1975], in: ders., Soziologische Aufklärung. Bd. 3, Opladen (Westdeutscher Verlag) 1991, S. 309-320 (hier: S. 313f).
[2]Luhmann, Niklas, „Öffentliche Meinung und Demokratie“, in: Maresch, Rudolf/Werber, Niels (Hgg.), Kommunikation. Medien. Macht, Frankfurt/M (Suhrkamp) 1999, S. 19-34 (hier: S. 21).
[3]Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M (Suhrkamp) 1990, S. 49f.
[4]Ebd., S. 28.
[5]Luhmann, „Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation“ (Anm. 1), S. 313.
[6]Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung, Frankfurt/M (Suhrkamp) 1992, S. 414.
[7]Luhmann, Niklas, Die Realität der Massenmedien, Opladen (Westdeutscher Verlag) 1996, S. 11.
[8]Die Erfahrung mit öffentlichen „Diskussionen“ mit Politikern lehrt, dass dies keineswegs Interaktionen in diesem Sinne sind; vielmehr gehen die Politiker gewissermaßen „auf Sendung“, statt auf die Argumente anderer zu reagieren. Wer die Organisation von Parteien, Regierungen, Fraktionen etc. kennt, weiß, dass es gar nicht anders geht. Umso erstaunlicher ist der vielfach bekundete Wunsch der Politik nach Interaktion mit der Öffentlichkeit. Vgl. dazu vom Verfasser: „Wenn Quotenblütenträume platzen. Ökonomie der Zerstreuung: Sektorierung der Öffentlichkeit“, in: FR vom 17. 11. 2000.
[9]Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung [1944], Frankfurt/M (Fischer) 1986, S. 128f.
[10]Ebd., S. 145.
[11]Ebd., S. 152f. 
[12]Ebd., S. 173, 165ff.
[13]Habermas, Strukturwandel (Anm. 3), S. 28.
[14]Und auch keine „parasoziale Interaktion“, wie Harald Wenzel annimmt. Vgl. Harald Wenzel, Die Abenteuer der Kommunikation. Echtzeitmassenmedien und der Handlungsraum der Hochmoderne, Weilerswirst (Velbrück) 2001. 
[15]Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1997, S. 1102.
[16]Luhmann, Realität der Massenmedien (Anm. 7), S. 12.
[17]Brecht, Berthold, „Radiotheorie“, in: ders., Werke. Bd. 18, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1967, S. 121.
[18]Ebd., S. 123.
[19]Ebd., S. 134.