von Niels Werber
1.
Die
Frage, wer spricht, ist für die massenmediale Erzeugung von Öffentlichkeit
entscheidend. Das eherne Gesetz der Medien, Aufmerksamkeit zu erzeugen
und zu binden, erzwingt geradezu eine Fokussierung auf Eminenz. Dies schließt
nicht aus, bei der Selektion auch auf Themen zu achten, doch meistens resultiert
deren Bedeutung aus dem hohen Rang derjenigen, die sie behandeln. Es macht
bei der Kalkulation von Auflagenhöhen und Einschaltquoten einen Unterschied
aus, ob eine These von einem Staatsminister für Kultur vor einem ranghohen
Forum in Berlin vertreten worden ist oder von einem unbekannten Literaturwissenschaftler
auf einer Doktorandentagung in Bochum. Ganz anders verhält es sich
in der Urszene des Öffentlichen, der Diskussion unter Anwesenden.
Hier dürfte es schwer fallen, eine These allein auf die Autorität
des hohen Rangs zu stützen statt auf eine plausible Argumentation.
Doch die Argumente, die bei einem Diskurs unter Anwesenden ihre ganze Plausibilität
und Wucht in einem Diskussionskontext entfalten, verwandeln sich in der
medialen Berichterstattung in „Argumente für Kameras“. „Argumente
für Kameras“ oder auch „Argumente für 180 Zeilen“, darunter verstehe
ich eine Transformation, die dann stattfindet, wenn Medien einem Thema
eine Öffentlichkeit verschaffen. Aus einer Argumentationskette, für
die mehrere kluge Köpfe ein paar Stunden brauchen, werden 30 Sekunden-Statements
fürs Kulturprogramm oder ein Zweisatz-Zitat im Feuilleton. Dass hier
Komplexität reduziert wird, liegt auf der Hand, aber dabei bleibt
es nicht. Denn die Sache, die verhandelt wird, wird nicht nur schlichter,
einfacher, verständlicher dargestellt, sondern sie wird vom Zauberstab
der Massenmedien verwandelt in News, in eine Neuigkeit, die das
Interesse der Konsumenten zu wecken und zu befriedigen verspricht. Wenn
aus Argumenten für Anwesende Statements werden, findet also eine Selektion
statt, die zuallererst nicht thematisch orientiert ist, sondern
am Aufmerksamkeitswert eines Arguments oder dessen, der die Sache vertritt.
Und da es ein Dutzend großer Tageszeitungen und ähnlich viele
Kulturformate in Funk und Fernsehen gibt, sollte die Sache möglichst
aktuell erscheinen, möglichst spannend aufbereitet sein und möglichst
schnell publiziert werden. Wer eine Woche wartet, muss mit einem Publikum
rechnen, das sich schon für informiert hält und in einem weiteren
Bericht nur Redundantes erwartet und daher erst gar nicht hineinschaut
oder -liest – gleichgültig, was wirklich in der Sache berichtet wird.
Die
Gesetzmäßigkeit dieser Transformation kann man natürlich
bereits als Teilnehmer einer Konferenz, einer Diskussionsrunde oder eines
Forums berücksichtigen, um sich über die Anwesenden hinweg direkt
an die Medien zu wenden. Man könnte vermuten, dass es hier auf Statements
ankommt, die schon so appetitlich und mundgerecht zubereitet sind, dass
mediale Erwähnung wahrscheinlich wird, statt auf Überzeugendes
in der Sache, auf Rücksicht auf den Kontext und den Verlauf der Tagung.
Ignoriert man dagegen die drohende mediale Auswertung, dann könnte
man die Zeit nutzen, die man hat, um seine Sache zu vertreten. Die Argumente
müssen plausibel sein, statt unterhaltsam, und dass das Publikum nicht
einfach so weglaufen kann, wie es um- und ausschalten oder die Zeitung
beiseite legen oder umblättern kann, lädt zu höheren Zumutungen
ein. Oder man lässt sich im Wissen, dass die Massenmedien berichten
werden, zu dem Versuch verführen, den Diskussionsbeitrag über
die Anwesenden hinaus »unmittelbar« an »die« Öffentlichkeit
zu richten. Warum auch nicht: sich mit einer guten Sache an die Öffentlichkeit
zu wenden, scheint von vorneherein selbst eine gute Sache zu sein, aber
die noch ungeklärte Frage ist, was bei diesem Vorgang überhaupt
geschieht. Zunächst wird aus einer Interaktion unter Anwesenden, die
nur hier und jetzt stattfindet und überzeugt oder nicht überzeugt,
ein Angebot, das sich an ein anonymes, räumlich verstreutes Publikum
wendet, dessen Rezeption nicht mit dem Vorgang des Vortrags und der Diskussion
zusammenfällt, sondern später und woanders stattfindet. Was passiert
nun, wenn ein Beitrag sich nicht primär an eine überschaubare
Gruppe von Diskutanten richtet, sondern vor allem an ein prinzipiell unbekanntes
Publikum?
Man
kann erwarten, dass etwas Ähnliches passiert wie während des
von Habermas sogenannten Strukturwandels der Öffentlichkeit
im 17. und 18. Jahrhundert, wo die Entstehung von Zeitungen und Zeitschriften
den alten Begriff der Geselligkeit abgelöst haben durch ein abstraktes
Konzept von public opinion. Die unzähligen, zerstreuten Öffentlichkeiten
der Salons, Clubs und Gesellschaften, in denen alle Themen nur mündlich
und in einer ausgewählten Gruppe Anwesender besprochen wurden, weshalb
sie ohne große Reichweite blieben, fielen nun in den Bereich des
Privaten, während die Öffentlichkeit im Singular das wurde, was
in den Zeitungen Resonanz fand. Was nun unter den Augen Anwesender in den
Salons geäußert wurde, galt als privat, die Artikel in der Presse
dagegen als öffentliche Meinung. Wer anderer Meinung war, musste,
um gehört zu werden, selbst publizieren – und sei es in Form von Leserbriefen.
Die Meinung wurde von ihrem Mittel: dem Druckmedium dazu gezwungen, den
im Gesprächsverlauf immer schon vorhandenen Kontext nun selbst aufzubauen.
Verweisen konnte man nur auf bereits Publiziertes; anders als bei guten
Freunden, oft gesehenen Gästen oder der eigenen Familie kann jedoch
niemand bei der Publikation wissen, was das Publikum schon weiß,
mit der Ausnahme all dessen, was bereits als öffentliche Meinung kursiert.
Dies wird als bekannt unterstellt. Zola geht davon aus, dass seine
Leser wissen, wer Dreyfuss ist und was ihm angetan wurde. Was bereits erschienen
ist, wird als bekannt vorausgesetzt. Diese, so Niklas Luhmann, „operative
Fiktion“, alle wüssten aus den Massenmedien alles und gleichzeitig,
diese „Unterstellung universeller Informiertheit“ begleitet nun jeden Beitrag,
der sich an die Öffentlichkeit wendet.[1]
Daran lässt sich also mit Gewissheit anschließen, wenn man für
Unbekannte produziert. Es liegt nahe, dass sich in den Massenmedien eine
Struktur herausbildet, in der Beiträge auf andere Beiträge zurückgreifen
– zum Beispiel in der Form, dass bereits erfolgreiche Beiträge von
neuen Beiträgen kopiert werden, was man vielen Formaten und Kinofilmen
ohne weiteres ansieht. Da aber die Massenmedien zum Zeitpunkt ihrer Publikation
mit ihrem Publikum grundsätzlich keinen Kontakt unterhalten, haben
sie keine andere Chance, als ihre eigene Vergangenheit zu beobachten in
der Hoffnung, hier Erfolgschancen für die Zukunft zu entdecken. Natürlich
trügt diese Hoffnung, weil das Publikum sich mit jeder Sendung verändert
und heute zu verdammen bereit ist, was es gestern noch goutiert hat.
Jeder
interaktive Kontakt zwischen Sendern und Publikum wird von der Technologie
der Massenmedien ausgeschlossen. Weil man daher davon ausgehen kann, dass
das Publikum nicht nach den zwei ersten Sätzen interveniert, darf
sich die Argumentation mehr Zeit dabei lassen, ihre Sache ins rechte Licht
zu rücken. Größere Sorgfalt ist überdies nötig,
denn der gedruckte Beitrag läuft Gefahr, noch einmal gelesen zu werden,
die Thesen, Zitate, Argumente könnten überprüft werden.
Hier liegt übrigens eine folgenreiche Differenz zwischen gedruckten
und gesendeten Massenmedien: ein TV- oder Radiobeitrag kann nicht ohne
größeren Aufwand ein zweites Mal rezipiert und auf Referenzen
überprüft werden. Man müsste weitere Techniken (Rekorder)
dazwischenschalten. Bei ohne Mühe mehrfach zu lesenden Drucksachen
reicht es jedenfalls nicht mehr aus, wie im Fall der antiken Rede, das
anwesende Publikum mit allen rhetorischen Mitteln einmal zu überzeugen
oder zu überreden in dem Wissen, dass sich kein Gedächtnis alle
verwendeten Finessen und Tricks merken wird, um dann eine Gegenargumentation
aufzubauen. Vielmehr ist man überzeugt, und hat bereits vergessen
warum. Der Buchdruck bereitet dieser Form der Rhetorik ein Ende, und man
könnte vermuten, dass sie heute im Fernsehen eine neue Heimat gefunden
hat. Sich in Druckform an die Öffentlichkeit zu wenden, wirkt also
versachlichend und generalisierend, man beginnt mit der regulativen Idee
zu operieren, das bessere Argument setze sich mit zwanglosem Zwang durch.
In
Bezug auf Öffentlichkeit spricht man von Meinung, aber obwohl
der Begriff Meinung allein eigentlich deutlich genug anzeigt, dass
es – im Gegensatz zur Wahrheit – immer noch andere Meinungen gibt, spricht
man seit dem 18. Jahrhundert von »der« öffentlichen
Meinung. „Die Reflexion“ des Phänomens sei, so Luhmann, „der Gefahr
des Singulars“ erlegen.[2]
Die unvermeidbare Paradoxie, dass jede Meinung mindestens eine – mit einem
neuen Wort des neuen Dudens – „Zweitmeinung“ impliziert, also nur im Plural
auftritt, man aber dennoch von einem Singular ausgeht, wird dadurch aufgelöst,
dass der Plural der Meinungen als Diskurs konzipiert wird, an dessen Ende
dann schließlich »eine« Meinung stehen wird, nämlich
»die« richtige, die dann von allen Vernünftigen akzeptiert
wird, weil sie nur durch den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“
überzeugt und nicht durch Autorität, durch Tradition oder Rhetorik.
Eine Veranstaltung mit dem Titel „Zerstreute Öffentlichkeiten“ aber
hat sich von dieser von Jürgen Habermas beschriebenen „regulativen
Idee“ eines auf Konsens gerichteten Diskurses verabschiedet. Denn wenn
es Öffentlichkeiten allein noch im Plural gibt, sind deren Meinungen
nirgends mehr integrierbar, denn es gibt nirgendwo einen Ort, an dem die
Meinungen in ein vernünftiges Gespräch zu »einem«
Ende bringen wären. Mit Verweis auf die „wachsenden Selektionszwänge
der elektronischen Massenkommunikation“ schreibt Habermas selbst in einem
neuen Vorwort zum Strukturwandel der Öffentlichkeit aus dem
Jahre 1990, dass er sich nicht sicher sei, welches Ergebnis eine neuerliche
Untersuchung „für eine Demokratietheorie haben würde“.[3]
Die völlig in Sparten, special interest groups, Nischen und
Programme sektorierte Medienwelt bringt jedenfalls keine Öffentlichkeit
im Sinne von Habermas mehr hervor, die neuen Medien haben „dem Prinzip
der Publizität seine Unschuld“ geraubt[4]
– und der Begriff überlebt aus Pietät und womöglich auch
wegen des nicht nachlassenden Bedarfs der Politik, einen Ansprechpartner
außerhalb ihrer Organisationen zu imaginieren, der sich über
alles befragen lässt wie das märchenhafte Spiegelein an der Wand.
Nur
die Öffentlichkeit im Singular sichert der „operativen Fiktion“[5]
ihre Wirksamkeit, dass potentiell jeder teilnehme und daher virtuell jedes
denkbare gute Argument falle und so der Diskurs zum bestmöglichen
Ergebnis gelange. Eine »zerstreute« Öffentlichkeit jedoch
vermag kaum noch als „Filter fairer Verhandlungen und rationaler Diskurse“
zu dienen, wie Habermas’ Modell es noch 1992 in Faktizität und
Geltung vorsieht.[6]
Die Öffentlichkeit lässt sich zerstreuen, und eine sogenannte
deliberative Funktion der Medien ließe sich wohl nur noch contrafaktisch
behaupten. Man könnte nun fast in den Schwanengesang derer einstimmen,
die das schöne demokratienahe, vernünftige und gerechte Modell
der Öffentlichkeit in der „Bilderflut“ der Massenmedien untergehen
sehen.
2.
»Bilderflut«
ist ein Begriff, der suggeriert, es gebe mehr Bilder, als man gefahrlos
verkraften könne. Diskurstheoretiker würden sagen, dass die Metapher
»Bilderflut« geradezu »Dammbauten« herbeischreit.
Wir werden von Bildern überflutet, die Vernunft, die Öffentlichkeit,
die Konzentration gehen unter, nun müssen Dämme errichtet werden.
Öffentliches Fernsehen, Privates Fernsehen, Pay-TV, Sattelitenfernsehen,
Internet, Steaming Media: wer hier von »Bilderflut«
spricht, rennt offene Türen ein und meint eigentlich: „genug ist genug“.
Neil Postman ist mit dieser Ansicht berühmt geworden. Der Begriff
»Bilderflut« ist anscheinend evident, und die defensive Haltung,
die sich mit ihm verbündet, versteht sich von selbst. Dagegen könnte
man die Vermutung ins Feld führen, dass diese Evidenz ein Effekt ist,
der sich bestimmten, nicht weiter hinterfragten Schematismen verdankt,
zum Beispiel der Annahme, dass es tatsächlich ein Zuviel an Bildern
gibt, obwohl ja kaum jemand mehr als ein Programm gleichzeitig sieht, dass
also den Konsumenten, die in der Bilderflut ertrinken, offenbar nicht zugetraut
wird, das für sie richtige Programm selbst auszusuchen. Dagegen sehen
sich diejenigen, die über »Bilderflut« lamentieren, ohne
weiteres in der Lage, innerhalb des audiovisuellen Stroms sozusagen die
gefährliche Brandung von den sanften Wellen zu unterscheiden, um dann
vor MTV zu warnen und stattdessen ARTE zu empfehlen. Dass all diese bekannten
Mahnungen und Loblieder seit langem nicht das Geringste fruchten, führt
aber nicht zur Revision der Thesen, sondern bestätigt die Kulturkritik
nur in ihrer Einschätzung, denn offensichtlich hat die »Bilderflut«
die Rezipienten schon derartig verdummt, dass sie von der Kritik nicht
mehr erreicht werden können. Mit mehr Erfolg wenden sich diese Deichgrafen
der »Bilderflut« an staatliche Organe, die mit medienrechtlichen
Maßnahmen beispielsweise private Sender dazu zwingen, ihr Publikum
mit ganz hervorragenden Interviews von Alexander Kluge mit Niklas Luhmann
zu verblüffen.
Ich
will im folgenden nicht die Kulturkritiker kritisieren, sondern statt dessen
danach fragen, was einem entgeht, wenn man mit dem Schema »Bilderflut«
die Massenmedien beobachtet. Meine These ist, dass die Vorstellung einer
»Bilderflut« eine der zentralen Eigenschaften der Massenmedien
übersieht: nämlich die Tatsache, „dass keine Interaktion unter
Anwesenden zwischen Sender und Empfängern stattfinden kann. Interaktion
wird durch Zwischenschaltung von Technik ausgeschlossen.“[7]
Für Niklas Luhmann hat dies „weitreichende Konsequenzen, die uns den
Begriff der Massenmedien definieren. [...] Durch die Unterbrechung des
unmittelbaren Kontaktes sind [...] zwei Selektoren am Werk: die Sendebereitschaft
und das Einschaltinteresse, die nicht zentral koordiniert werden können.“
(S. 11f) Worauf Luhmann an dieser Stelle seines Buches über Die
Realität der Massenmedien hinaus will, ist zunächst einmal
die einfache Feststellung, dass ein direktes feed-back zwischen
Produzent und Rezipient wie bei einem Gespräch oder einer anderen
Interaktion unter Anwesenden unmöglich ist. Während man im Gespräch
flexibel agiert, Themen wechselt, das Tempo ändert, auf Nachfragen
reagiert, Informationen nachschiebt, expliziert oder unterdrückt,
um das Gespräch am Laufen zu halten,[8]
sind die Sender zum Zeitpunkt ihrer Sendung vollkommen allein mit ihren
Vermutungen und Hoffnungen – und die Konsumenten der Massenmedien sind
es auch: sie können zu einem Zeitpunkt nur das konsumieren, was angeboten
wird, nichts sonst, und dass dies bisweilen trotz minutenlangen Zappens
nicht befriedigt, weiß jeder, der gelegentlich über Freizeit
und eine Fernbedienung verfügt. Jeder aufmerksame Gesprächspartner
bemerkt, wenn er sein Gegenüber langweilt, überfordert, unterfordert
oder begeistert – die Organisationen der Massenmedien können dagegen
über die Wirkung ihrer Ausstrahlungen nur spekulieren. Einschaltquoten
und Umfrageergebnisse dienen der internen Orientierung, aber die Interpretation
der Daten erfolgt innerhalb der Sender. Die Folge dieser Deutung mag dann
sein: noch mehr Quizsendungen und Container oder auch: noch weniger Kulturformate.
Aber wie das Publikum auf dieses veränderte Angebot reagiert, kann
man bei aller Programmplanung nicht miteinplanen. Es verhält sich
hier ganz wie bei Wahlumfragen: erst die Wahl selbst entscheidet die Wahl,
erst die Quote der bereits gesendeten Sendung steht fest. Über die
Motive, die Wähler zur Wahl treiben oder sie zuhause bleiben oder
die den Zuschauer ein-, ab-, um- oder ausschalten lassen, kann wiederum
nur gemutmaßt werden, denn auch hier kommt jede Umfrage notorisch
zu spät, denn die Motive haben sich nach der Wahl wie auch nach der
Sendung verändert. Im Rückblick auf eine gewonnene oder verlorene
Wahl, auf eine interessante oder langweilige Sendung bieten sich neue Motive
zur Erklärung des eigenen Verhaltens an und überlagern diejenigen,
die während der Entscheidungen eine Rolle gespielt haben mögen.
Wenn sich dies so verhält, was hat das mit dem Schema „Bilderflut“
zu tun?
„Bilderflut“
impliziert ein kausales und überdies passives Verständnis
von Kommunikation: die Bilder strömen vom Sender zum Empfänger.
Dieses Modell der Massenmedien haben am beeindruckendsten und hierzulande
wohl auch wirkungsmächtigsten Adorno und Horkheimer vertreten. Im
berühmten Kapitel Kulturindustrie in der Dialektik der Aufklärung
beschreiben sie „Film, Radio, Magazine“ als ein „System“, dessen einziger
Zweck die ideologische Manipulation und ökonomische Ausbeutung der
Konsumenten ist.[9]
„Der Zuschauer soll keiner eigenen Gedanken bedürfen: das Produkt
zeichnet jede Reaktion vor: nicht durch seinen sachlichen Zusammenhang
– dieser zerfällt, soweit er Denken beansprucht – sondern durch Signale.“[10]
Adorno und Horkheimer vergleichen hier die Rezipienten des Mediensystems
mit Pawlowschen Hunden, die völlig vorhersehbar exakt so auf die Signale
reagieren, wie das System es vorsieht. Die „Fusion von Kultur und Unterhaltung“
lasse niemanden entkommen und führe letztlich zur absoluten Affirmation,
zum „Einverstandensein“.[11]
Die Massenmedien überwältigen die Individuen und verwandeln sie
in die Masse der beliebig zu manipulierenden Konsumenten.[12]
Die in der „Bilderflut“ Ertrunkenen sind für Adorno und Horkheimer
nicht besser als Zombies. Habermas formuliert dieselbe Diagnose
nur etwas vornehmer: „Die durch Massenmedien zugleich vorstrukturierte
und beherrschte Öffentlichkeit wuchs sich zu einer vermachteten Arena
aus, in der mit Themen und Beiträgen nicht nur um Einfluss, sondern
um eine in ihren strategischen Intentionen möglichst verborgene
Steuerung verhaltenswirksamer Kommunikationsflüsse gerungen wird.“[13]
Der Zuschauer reagiere kausal auf die Reize der Massenmedien und merke
es nicht einmal – noch weiter kann man die Rezipienten nicht erniedrigen.
Ich
möchte hier die Gegenthese vertreten und den einzelnen Rezipienten
ernst nehmen. Dafür sei zunächst noch einmal an die technische
Gestalt der Massenmedien erinnert, die jede Interaktion unter Anwesenden
ausschließt, denn daraus lässt sich schlussfolgern, dass zum
Zeitpunkt der Sendung überhaupt keine Kommunikation zwischen
Sender und Empfänger stattfindet.[14]
Luhmann schreibt: „Der Informationsgeber sieht im Medium der kurrenten
Information sich selbst und andere Sender. Der Informationsnehmer
sieht sich selbst und andere Informationsnehmer und lernt nach und nach,
was man hochselektiv zur Kenntnis zu nehmen hat, um im jeweiligen Sozialkontext
mitwirken zu können. Der Spiegel selbst ist intransparent.“[15]
Die Apparate haben sich zwischen Sender und Empfänger geschoben. Die
Kommunikation, die so stattfindet, ist kein Fluss von Informationen von
A nach B, sondern, wenn sie denn stattfindet, ein unwahrscheinlicher Zufall,
denn wenn die Sendung nicht überzeugt, kann sie nicht gleichsam in
Kooperation mit dem Zuschauer geändert und angepasst werden; vielmehr
wird sie stoisch ausgestrahlt, selbst wenn das Interesse des Rezipienten
ausfallen sollte. Es sind Angebote denkbar, die bei niemanden auf Nachfrage
stoßen – Bücher, die niemand liest, Filme, die niemand anschaut.
Entsprechend groß ist der Reiz sogenannter „interaktiver“ Medien,
die Kommunikation in Echtzeit versprechen.
Auf
der Seite der Informationsgeber versucht man die Wahrscheinlichkeit
dafür, dass ihre Sendungen auch Zuschauer finden, zu erhöhen,
indem andere Sender beobachtet werden und man versucht, es genauso zu machen
bzw. genau davon abzuweichen, um aufzufallen. Die Programmgestaltung der
Massenmedien erfolgt also nicht im Kontakt mit dem Publikum, sondern maßgeblich
durch Selbstbeobachtung. Und auch die Zuschauer beobachten sich selbst
und wählen aus dem Angebot der Informationsgeber dann das aus, von
dem sie wissen, das andere erwarten, dass sie es wissen. So hat denn jeder
Jugendliche in den 80er Jahren Dallas nicht deshalb gesehen, weil
er sich für Ölbarone mit Cowboyhüten interessiert hat, sondern
weil er darauf zählen konnte, dass „man“ Dallas gesehen haben
muss. Heute mögen die Simpsons ähnliches leisten. Entscheidend
ist, dass man nicht im Fernsehen, sondern auf dem Pausenhof erfährt,
welche Sendung unbedingt angeschaut werden muss, will man nicht auf Mitwirkung
„im jeweiligen Sozialkontext“ verzichten. Den Vertretern der Manipulations-
und Überflutungstheorie kann man also mit Luhmann entgegnen, dass
sich die Organisationen der Massenmedien einen direkten Durchgriff ihrer
Planungen auf die Empfänger zwar wünschen mögen, die Realität
der Massenmedien aber damit zurechtkommen muss, dass „Sendebereitschaft
und Einschaltinteresse nicht zentral koordiniert werden können“.[16]
Wenn es anders wäre, gäbe es keine Flops, keine Buchverramschungen
und keine abgesetzten Showmaster oder Zeitungs-Redakteure. Offenbar lassen
sich die Rezipienten nicht ohne weiteres überfluten, sondern schalten
oder steigen um auf Formate, wo ihr idiosynkratisches „Einschaltinteresse“
besser versorgt wird. Die Metapher „Bilderflut“ ist ein Topos, kein Ausdruck
der Realität der Massenmedien.
Ich
gebe dafür wenigstens ein Beispiel. Bertolt Brecht erinnert sich 1927
in einem seiner Beiträge zur Radiotheorie an „einen förmlichen
Radio-Hurrikan, der an der Arbeit war, Amerika zu verwüsten“. Was
hat man sich unter einem Radio-Hurrikan vorzustellen? Dasselbe wie unter
Bilderflut. Brecht schreibt über „Wiener Walzer“ und „Küchenrezepte“,
die der „ganzen Welt zugänglich“ gemacht würden, ohne dass jemand
wüsste „wozu“.[17]
Mit der Naturgewalt des technisch Neusten dokumentiere das Radio auf planetarischem
Niveau allein die Tatsache, dass man sich „nichts zu sagen hatte“.[18]
Nur fünf Jahre später, 1932, ist Brecht dagegen vom Radio vollkommen
begeistert, weil er glaubt, man könne den „Rundfunk“ vom „Distributionsapparat“
des Broadcasting
„in einen Kommunikationsapparat verwandeln“, der es „verstünde, nicht
nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht
nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren,
sondern ihn in Beziehung zu setzen.“[19]
Die Hörer müssen Sender, und die Sender müssen Hörer
werden. Aus dem Rundfunk, der mit einer Sendung die Massen erreicht, die
diese Sendung nur konsumieren können oder nicht konsumieren können,
soll das Radio in ein interaktives Medium umgebaut werden, zu dessen
zentralem Element die Antwort, die Aktivität, das Gespräch gehört.
Vom Hurrikan ist nun natürlich keine Rede mehr – derartige Metaphern
sind dem Broadcasting vorbehalten.
Man
erkennt in Habermas’ Konzeption der Öffentlichkeit leicht das Echo
dieser interaktiven Vision Brechts wieder. Die Medien bringen die Vernünftigen
in Kontakt und ermöglichen so einen Diskurs, dessen Verlauf und Ergebnis
unter Beobachtung einer kritischen Öffentlichkeit stattfindet, an
der jeder aktiv teilzunehmen vermag. Dies kann man zwar aus guten Gründen
wünschen, verfehlt aber die Realität der Massenmedien. Aber genauso
wenig trifft das Gegenteil zu: dass das Publikum wie Pawlowsche Hunde beliebig
von den Massenmedien fernzusteuern sei. Ich habe versucht plausibel zu
machen, dass beide skizzierten Positionen: dass nämlich die Medien
die Einzelnen in interaktiven Kontakt bringen oder dass sie die Massen
im Wortsinne in-formieren, in Formation bringen, die Wirklichkeit der Massenmedien
deshalb verfehlen, weil sie ihre technische Grundstruktur, die jede Interaktion
ausschließt, ignorieren. Für die Öffentlichkeit
im Singular folgt daraus: es gibt sie nicht mehr im Sinne der politischen
Philosophie des letzten Jahrhunderts. Die aktuelle Sender- und Formatvielfalt
der Medien und das unvorhersehbare „Einschaltinteresse“ der Rezipienten
macht die Unterstellung unwahrscheinlich, alle hätten mehr oder minder
das gleiche gesehen. Die Annahme, es gebe die „öffentliche
Meinung“, lässt sich nicht mehr halten; alle darauf aufbauenden politischen
Philosophien haben ihren Halt in der Realität verloren. Die aktuelle
Sender- und Formatvielfalt der Medien macht die Unterstellung »einer«
Öffentlichkeit unwahrscheinlich: niemand hat mehr das gleiche gesehen.
Diese Diversifizierung unter dem Titel »Bilderflut« zu verhandeln,
ignoriert vollständig die Rolle des Rezipienten, dessen Einschaltinteresse
an der Kommunikation der Massenmedien genauso beteiligt ist wie die Sendebereitschaft
der Broadcaster.
Dass
am Begriff der öffentlichen Meinung dennoch festgehalten wird, liegt
vermutlich nicht an den Massenmedien, sondern an der Politik, die in ihr
eine Möglichkeit gefunden hat, sich selbst zu beobachten. Dann handelt
es sich womöglich bei der öffentlichen Meinung, die sich die
Politik wie einen Spiegel vorhält, um ihre eigene Fiktion, der noch
eine lange Zukunft beschieden sein könnte. Für die Aufrechterhaltung
dieser „operativen Fiktion“ braucht es ja nicht allzu viel; von öffentlicher
Meinung zu diesem oder jenem Thema spricht man ja schon, wenn man ein paar
hundert Äußerungen statistisch ausgewertet und bei Sabine Christiansen
darüber geredet hat. Die Politik orientiert dann ihre Entscheidungen
an ihren Deutungen dieser öffentlichen Meinung – und ahnt doch erst
am Wahlabend, was wirklich die Meinung der Wähler gewesen wäre.
Wenn am Morgen danach nach Erklärungen gesucht werden muss, findet
der Topos der »Bilderflut« dankbare Abnehmer. Man ist dann
halt mit den eigentlich »besseren« politischen Programmen zum
Wähler nicht durchgedrungen, und Schuld daran, sind die Massenmedien.