„Der Gott der Materie“

Das deutsche Amerika als geopolitisches Erbe Hegels

1. Eine Reise nach Amerika

Es ist nun beinahe ein Jahrhundert her: Im Herbst des Jahres 1904 folgt die Crême der deutschen Kulturwissenschaftler einer Einladung eines Kollegen von der Harvard University in die USA.[1] Max Weber, Ferdinand Tönnies, Werner Sombart und Ernst Troeltsch zählen zu dieser Gruppe, aus der bedeutende Arbeiten über Moderne, Kapitalismus, Industrialisierung und Säkularisierung hervorgehen werden. Zwei unterschiedliche Sichtweisen auf Amerika haben sich in dieser Gruppe schnell herausgebildet. Entweder begrüßt man begeistert die unverbauten Möglichkeiten, die „Vitalität und Entschlossenheit der wirtschaftlichen und politischen Aktivitäten“, die im „scharfen Kontrast“ zur Kristallisation und Stagnation des wilhelminischen Reichs erscheinen. Oder man lehnt diesen stürmischen Aktivismus auf Seiten der Wirtschaftsführung und der Industrialisierung als kalten, geistlosen Pragmatismus ab, um die USA zum „materialisierten Prinzip des zivilisatorischen Fortschritts“ zu erklären, eines Fortschritts, der jeden Schritt nach vorn mit einer weiteren Entfernung von der „europäischen Kultur“ erkaufe (S. 186). Ob man es nun begrüßen oder kritisieren mag, die gelehrten Touristen folgen alle derselben Formel: „Europa und Amerika verhalten sich zueinander wie Körper und Geist oder Kultur und Zivilisation“ (S. 187). Amerika wird demzufolge als vitaler Körper ohne Geist oder als fortentwickelte, aber kulturlose Zivilisation angesehen.

Ein Pastor namens Haupt, der in den USA Weber und Troeltsch umfassendes Material über den Zusammenhang von Kirche und Wirtschaft zusammengestellt hat,[2] berichtet, daß sich seine Besucher weder für sein Material noch für seine Meinung interessiert haben. Er hatte der Eindruck, „that the professors knew all that could be known without having to weigh empirical evidence.“[3] Die deutsche Reisegruppe hochkarätiger Wissenschaftler „entdeckt” Amerika nicht, sie “erfindet” Amerika (S. 197), und Erfindung steht hier keineswegs für Originalität, sondern für das Ausmalen wohlfeiler Stereotypien. Oder anders formuliert: die deutschen Soziologen wissen schon alles über Amerika, bevor sie es besuchen, und berücksichtigen nur, was zu ihren Konstruktionsregeln paßt. Ein gewichtiger Grund für diesen Konstruktivismus liegt in der Geschichte der deutschen Kulturwissenschaften: alle haben Herder und Hegel gelesen.

2. Herders Raumdenken und Hegels geopolitische Weltgeschichte

Und zwar die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte,[4] die einen kurzen, aber wirkungsmächtigen Abschnitt Amerika gewidmet haben. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hält seine Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte[5] in einem zweijährigen Turnus vom WS 1822/23 bis zum WS 1830/31, seit 1840 liegt die Vorlesung gedruckt vor. Mit einem cäsarischen „divisa est“ beginnt Hegel den kurzen, aber ungeheuer wirkungsmächtigen Abschnitt, der dem amerikanischen Kontinent gewidmet ist: „Die Welt wird in die Alte und Neue geteilt“ (S. 107). Zugrundegegangen an der eigenen „Inferiorität“, stehe die „ursprüngliche Nation“ Amerikas einer Besiedlung nicht im Wege. Sie „mußte untergehen, sowie der Geist sich ihr näherte“ (S. 108f), denn sie hatte sich den Kontinent nicht aneignen können. „Denn die Eingeborenen sind, nachdem die Europäer in Amerika landeten, allmählich an dem Hauche der europäischen Tätigkeit untergegangen. [...] Die Inferiorität dieser Individuen in jeder Rücksicht, selbst in Hinsicht der Größe, gibt sich in allem zu erkennen…“ (Hegel, S. 108). Das klingt einigermaßen euphemistisch, am „Hauche“ Europas sind die inferioren Eingeborenen untergegangen, als der „Geist“ anlandete, so als ob sie an ihrem eigenen Gefühl der Unterlegenheit erstickt wären, statt ausgerottet worden zu sein. „Hauch“ heißt allerdings in der Muttersprache der Philosophie, πνέυμά, und πνέυμά bedeutet außer Hauch eben auch Geist, und das Medium dieses Geistes seit Anbeginn der Moderne ist – nach Friedrich Kittlers Auskunft – bei Hegel nichts anderes als „Schießpulver“.[6] „Der Krieg ist der Geist“, liest man in Hegels „Phänomenologie des Geistes“ von 1807 (Hegel-Werke Bd. 3, S. 353). Und wenn man Hauch somit durch Geist und Geist durch Krieg ersetzt, dann kommt Hegels Bemerkung eine Evidenz zu, die man erst übersieht. Im Unterschied zu Hegel spricht Johann Gottfried Herder bemerkenswerten Klartext:

„Amerika raucht noch vom Blut seiner Erschlagnen, und die von Europa zu Knechten gemachten Völker verwünschen noch ihre Bekehrer.“ (Ideen Bd. 2, S. 404)

Aber auch für Herder liegt der Grund für die Unterlegenheit der Indianer in der fehlenden Raumnahme des Kontinents, und der Grund dafür in dessen Geographie Amerikas, das „von außen das zugangbarste Land“ aufweise, in seinem Inneren aber eine Gestalt annehme, die verhindere, „eine eigene Hochkultur zu erzeugen“.[7] „Günstig ist diese Lage für uns europäische Räuber“, erläutert Herder, „ungünstig war seine innere Durchschnittenheit für die Bildung der alten Einwohner.“ Eine wirkliche „Kultur“ dieses „Erdstrichs“ konnte sich aus geographischen Gründen gar nicht ausbilden.[8] Europa, das alte, hatte es besser: „Wäre Europa reich wie Indien, undurchschnitten wie die Tatarei, heiß wie Afrika, abgetrennt wie Amerika gewesen, es wäre, was in ihm geworden ist, nicht entstanden,“ (Herder: Ideen Bd. 2, S. 483) behauptet Herder. Europa verdanke seinen „Rang“ unter den „Völkern“ also nicht nur dem eigenen Fleiß, sondern zumal seiner geographischen Gestalt. In Amerika, verstanden als Raum, wäre Europa, verstanden als Kultur, nie entstanden. Die Flüsse, Seen und Ströme, die das Land öffnen wie zerschneiden, haben die Ausbildung einer Kultur verhindert, denn die Bevölkerung vermochte es nicht, diesen Raum zu einer Kulturlandschaft zu integrieren. Aus der Diversität und Verschiedenartigkeit der Landschaften und Lagen folgert Herder nicht etwa eine entsprechende Vielfalt autochthoner Kulturen, sondern die Vorherrschaft einer einzigen Nicht-Kultur. Seine Überlegung ist in Kürze die, daß eine Bevölkerung, die nicht speziell an einen eigentümlichen Raumabschnitt angepaßt ist und also keine Kulturlandschaft hervorbringt, nur eine Zivilisation hervorbringen kann, der die Differenzen des Raums gleichgültig ist. Herder betont die große „Vielförmigkeit“ der Landschaften und zugleich den „einförmigen Anblick der Völker“ (Bd. 1, S. 390), „ohngeachtet der großen Verschiedenheit der Himmelsstriche“, weise der „Charakter der Einwohner [...]  Einförmigkeit“ auf. (Ideen Bd. 1, S. 233f.)

Herders Problemstellung und eine Hegelianische Lösung zugleich finden wir bei Gotthard Günther, dem aus Leipzig in die USA geflohenen Assistenten Arnold Gehlens. In Günthers hochinteressanter Essay-Sammlung „Die amerikanische Apokalypse[9] findet sich folgende Bemerkung: „Ein Blick auf die Landkarte“, empfiehlt Günther, „ist in dieser Hinsicht sehr belehrend.“ Die „enormen“ Dimensionen des Kontinents seien „seelisch nicht als landschaftliche Einheit beherrschbar. Die spirituelle Konzentration, die das untere Niltal, das Gangestal oder die wesentlich kompakteren Bereiche Westeuropas erlauben und eher begünstigen, ist in einer »Landschaft«, die sich von Key West bis an die Mündung des St. Lorenzstroms erstreckt, platterdings unmöglich.“ (S. 94f) Günther betreibt hier gleichsam Geophilosophie. Das Erbe Herders ist offensichtlich, das Erbe Hegels werden wir noch bestimmten:

Der „Typus und Charakter des Volkes, das der Sohn solchen Bodens ist“ (S. 106), erläutert Hegel den Zusammenhang von Geographie und Weltgeschichte, gestattet den Indianern keine „kompaktere“ gesellschaftliche Organisation (S. 114). Staat und Kultur konnten hier nicht entstehen. Die „Söhne“ des amerikanischen Bodens konnten daher nur untergehen, als der europäische „Geist“ anlandete. Für die Ausbildung eigener Hochkulturen, die für Günther ihren Charakter den engen Nischen ihrer „Mutterlandschaft“ verdanken (S. 17), sei Nordamerika „einfach [...] zu groß“ (S. 96). Gotthard Günther stellt die Frage, welche „hypothetische Kultur“ überhaupt diese ungeheure „Landschaft integrieren“ könnte (S. 96). Die Eingeborenen waren dazu jedenfalls nicht in der Lage. „Die Indianer waren im Vergleich zu ihrem Land gar zu schwach“, stellt auch Hermann Graf Keyserling hundert Jahre nach Hegel fest.[10] Amerika ist für deutsche Philosophen und Publizisten Raum ohne Volk – und daher, so wieder Hegel, „kommt die wirksame Bevölkerung meist aus Europa her“, das Welle für Welle seinen „Überfluß“ hinüber werfe (S. 109). Was wird aus ihnen in diesem Raum ohne Grenzen? Was passiert, wenn aus den eingewanderten Europäern „natives“ werden.[11]

In Hegels Augen reisen sie mit leichtem Gepäck: Die „Auswandernden haben vieles abgestreift, was ihnen in der Heimat beengend sein konnte, und bringen den Schatz des europäischen Selbstgefühles und der Geschicklichkeiten mit“ in ein Land, in dem sie ihre Fähigkeiten ungehemmt entfalten können. Zumal Nordamerika verhalte sich zu Europa wie einst das alte Hamburg zum freieren Altona oder wie das alte Nürnberg zum jüngeren Fürth. Denn auch dort seien aus den – wie Hegel es ausdrückt – „versteinerten“ Verhältnissen der alten Reichsstädte „viele“ in Neugründungen geflohen, die „solchen Zwang nicht hatten“ (S. 109). Zwang und Enge versus Freiheit und Weite. Die deutschen Auswanderer in Ferdinand Kürnbergers Roman Der Amerikamüde von 1855 lassen die Enge der Kleinstaaterei, des Zunftwesens, der politischen Restauration und der Standesdünkel hinter sich und betreten das Reich der Freiheit, das allen gleichgeborenen Menschen Raum läßt. Was allerdings die schwäbischen Schneider, westfälischen Tapezierer, pfälzischen Schreiner oder sächsischen Buchbinder mit Gesellenstück und Meisterbrief in New York vorerst am Erfolg hindert, ist ihr pedantisches Festhalten an der deutschen Lebensführung (S. 150-159). In der gemütlichen Enge eines Gasthauses im sogenannten „Kleindeutschland“, einem Stadtteil New Yorks, stimmen sie den „teutonischen Rückwärtschorus“ an (S. 159), „Ja hier war Deutschland!“ (S. 122), statt das „weltgroße Hinterland“ zu erobern (S. 152). Die aus Nürnberg oder Hamburg mitgebrachten versteinerten Verhältnisse schützen die deutschen Auswanderer vor der Weite des neuen Kontinents, verhindern aber damit auch all ihre Versuche, tatsächlich zu Amerikanern zu werden.

„Was macht den Yankee groß?“, fragt der Ratgeber der deutschen Kolonie und antwortet selbst: „Daß er keinen Moment zu fixieren, sondern jeden zu überbieten strebt. Anders der Deutsche. Er liebt das Beharren, alles, auch das Schlechteste, wird ihm zum Ruhepunkte. Fragen Sie sich selbst, wie sie dahin kamen, dieses kleindeutsche Kartenhaus festzuhalten?“ (S. 155)

Der Zusammenhang zwischen Raum und Zeit, Amerika und Deutschland läßt sich hier gut beobachten: solange sich die Auswanderer in „Kleindeutschland“ wie in einem Staat im Staate zusammenballen, dominiert die Zeitdimension der Kommunikation. Sitte, Tradition, Gewohnheit, Erinnerung verhindern das wirkliche Ankommen der Kolonisten in Amerika. Um in Amerika Erfolg zu haben, müssen sie die „alten ausgefahrenen Geleise“ (S. 159) verlassen und sich einem Raum aussetzen, der bei tagelangem Ritt „keine einzige Wagenspur“ aufweist (S. 420). Um Amerikaner zu werden, müssen sich die Einwanderer gleichsam mobilisieren lassen: keine Tradition, keine Gewohnheit, keine nationale Eigentümlichkeit darf mehr dem pragmatischen Handeln in einem Raum unendlicher Möglichkeiten entgegenstehen. Dieser schier unendliche amerikanische Raum unterscheidet sich scharf von den „Kulturstaaten“ im europäischen Sinn. Kürnbergers Protagonist Moorfeldt merkt angesichts der unendlichen Einöden der Vereinigten Staaten an: „Wenn das keinen Schluß auf Geisteskultur zuläßt, so giebt’s keine Logik“ (S. 420). Der Schluß ist selbstredend Hegelianisch: Geist und Kultur kann es in Amerika nicht geben, weil der Raum zu weit dafür ist. „Aber freilich“, bekennt Moorfeldt, „Geist zu sehen, war ich auch nicht ausgeritten. Und ich fand ihn auch nicht. Gott ist mein Zeuge!“ (S. 420) Moorfelds Dichtername ist übrigens Nikolaus – und sein Vorbild, der Amerika-Reisende und Dichter Nikolaus Lenau, schrieb am 5. März 1833 von Ohio nach Reinbeck: „Das atlantische Meer aber ist der isolierende Gürtel für den Geist und alles höhere Leben.“ Das „amerikanische Klima“ läßt nichts anderes zu als Kulturlosigkeit.[12] 

Aus deutscher Sicht bleibt es dabei. Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen von 1918 reklamieren unaufhörlich Geist und Kultur fürs Deutsche Reich; den USA bleiben Pragmatismus und Kapitalismus.[13] Und seine voluminöse Studie über Amerika aus dem Jahre 1930 beendet Graf Keyserling mit der Behauptung, Amerika sei das Land, in dem der Geist „mehr als irgendwo sonst in Todesgefahr“ schwebe (S. 474). Dafür habe Amerika Raum, Pragmatismus, Technik. „Amerika ist ein Rumpf, [...] dem aber der Geist [...] fehlt“, meint George Herman Scheffauer 1923;[14] Amerika habe seine „Seele“ (S. 99), so können wir Keyserling sekundieren lassen, im Zuge der ausschließlich „äußeren Expansion“ verloren (S. 119). In der Weite des Raums könne eine, so Scheffauer, „wirkliche Kultur, eine bodenständige, der Rasse entsprechende und wahrhaft nationale Kultur“, die sich den Raum in „Generationen überdauernder Arbeit“ aneignet und gleichsam vergeistigt (S. 146), nicht entstehen. Auch von „Kulturlandschaft“, erfahren wir bereits aus Kürnbergers Roman, könne selbstverständlich keine Rede sein:

„Amerikanische Kultur entstellt das Land eher, als das sie es verschönert. Der Amerikaner ist nicht Bauer, nur Freibeuter. Er setzt seinen Fuß auf die Erde, haut, sticht, sengt und brennt in sie hinein, und verläßt sie dann wieder. Er hat kein Gemütsverhältnis zum Boden, auf dem er sitzt. Sein Haus liegt da wie ein viereckiger Kasten, der vom Möbeltransportwagen herabgefallen ist. Er blickt dich an, so kalt, so nüchtern, ohne Horizont, ohne Perspektive. [...] Oft kommt die ganze Stadt auf dem Transportwagen, und glänzend vom Hobel her, und stellt sich auf wie aus der Puppenschachtel.“ (S. 334f)

Ein globalisierungsfähiges Konzept. Überall auf der Welt könnte die Stadt wieder abgeladen und aufgebaut werden. Ein ganzes Jahrhundert später behauptet Gotthard Günther noch genau dasselbe:

„Die seelischen Differenzen, die in Europa den Menschen der französischen, deutschen usw. Landschaft auszeichnen, halten sich nur in der ersten Generation von Einwanderern. In der nächsten sind sie völlig ausgelöscht, als wären sie nie gewesen. [...] Im strikten Gegensatz etwa zu den landschaftlich gebundenen Gefühlen des geborenen Neapolitaners, des bretonischen Bauern, des Tirolers, des Schlesiers usw., für den die Heimat eine eng begrenzte Region voller intimster Individualität ist, lebt der moderne amerikanische Mensch nur relativ zum ganzen Kontinent“, wenn nicht zur Welt. „Der emotionelle Abstand gegenüber der Individualität der Landschaft ist die psychologische Voraussetzung des rücksichtslosen Raubbaus, der mit dem Boden, seiner Tierwelt und seinem Waldbestand getrieben wird.“ (S. 98f)

Der „ganz enorme Abbau emotionaler Traditionen“ (S. 119) ermögliche dem Amerikaner im Unterschied zum Europäer mit seinem entschieden historischen und kulturellen Bewußtsein einen um „Vergangenheit“ wie „Zukunft“ unbekümmerten Zugriff auf die „Gegenwart“ (S. 279). Er lebe ganz im Hier und Jetzt, und tue entschieden, was gerade zu tun sei. So entsteht hier in der Neuen Welt, spekuliert Günther, die „anthropologische Voraussetzung zu einer späteren planetarischen Hochkultur“ (S. 278), die das Erbe von Herders „Nicht-Kultur“ antritt und so mobil und flexibel ist, wie bereits Kürnberger sie beschreibt. Sie ist planetarisch oder auch global, wie etwa Keyserling ausführt, weil der Nordamerikaner wie ein Nomade, aber mit „vorgeschrittenster Technik“ überall auf der Welt aufzutreten vermag, ohne je seßhaft zu werden (S. 140). Der Amerikaner sei „wesentlich Nomade, nicht bodenständig“ (S. 106). Die ganze Welt wird ihm zum „glatten Raum“:[15] Sein Boden ist wie das „Meer“ ohne „Spur“ und „feste Linien“, hat weder „Ordnung noch Ortung“.[16] Daß er sich überall auf der Welt zu halten vermag, verdankt er seiner Seelenlosigkeit oder Flexibilität und seiner überlegenen Technologie. Von der alten Nicht-Kultur der Ureinwohner unterscheidet ihn die rücksichtslos eingesetzte europäische Technik. Im 19. Jahrhundert habe der Amerikaner die „technischen Mittel entwickelt, die die rein physische Beherrschung eines Kulturgebiets vom Puget Sound bis zum Golf von Kalifornien möglich“ machen,[17] erst Eisenbahnen und Telegrafen ermöglichen die Herrschaft über den von Gebirgen und Strömen zerschnittenen unendlichen Raum.

Aber lesen wir genau: Günther konzediert der Technik die Ermöglichung einer „rein physischen Beherrschung“ des Raums, von einer geistigen Durchdringung hat er kein Wort gesagt. „Der Amerikaner“ sei der „Gott der Materie“, schreibt Kürnberger 1855, dafür habe er sich das „Geistige vom Halse geschafft“ (S. 161). Er konnte gar nicht anders – seine „Seele“ habe sich in der grenzenlosen Weite des Kontinents entleeren müssen.[18] Der Amerikaner bleibt auf seinem Kontinent ohne die typisch europäische Verbindung zu einer Kulturlandschaft. Im Unterschied zu Europas zahllosen Regionalkulturen machen die USA daher für Keyserling den Prototyp der „modernen technischen Zivilisation“ aus (S. 153), die global überlebensfähig ist: „planetarisch“, wie Gotthard Günther formuliert. Die Amerikaner werden sich über die gesamte Welt verbreiten, es entspreche ihrem Wesen: „Es besteht nicht der geringste Grund, warum die Grenze nicht über den Ozean vorgeschoben werden soll und immer weiter, bis sie sich vom Osten her nach einem vollen Erdumlauf ihren Ausgangspunkt wieder nähert: Dann erst ist der Prozeß organisch beendet“, dessen Formeln seit dem 19. Jahrhundert „frontier“ oder „trek“ lauten (S. 116). In allen diesen Hypothesen folgt Günther altehrwürdigen Mustern der Amerikaliteratur.

1855 schildert Kürnberger, wie in den USA in kürzester Frist an beliebigem Ort Städte errichtet werden, in denen eine Straße die andere, ein Haus das andere, ein Quartier das nächste wiederholt. Alles sei „fabriksmäßig uniform“ (S. 311) – und nehme keinerlei Rücksicht auf irgendwelche lokalen Begebenheiten. Für den durch und durch mobilen Amerikaner sei „sein Haus nur Absteigquartier“ (S. 373), das er verlasse, wenn woanders ein Geschäft zu machen sei. Mensch und Haus sehen dann überall auf dem Kontinent gleichermaßen gleichförmig aus – und stehen mit den so unterschiedlichen Umwelten in keinem anderen Verhältnis als dem der Indifferenz oder der temporären Nutzung.

Der Einwohner der uniformen Häuser und standardisierten Quartiere: der nomadische Amerikaner ist selbst ein Produkt der „Massenschablonisierung“, wie Scheffauer 1923 formuliert.[19] Es ist nur folgerichtig, von Amerikanern als „menschliche Maschinen“ zu sprechen (S. 157). Dazu passen natürlich dann Fordismus und Taylorsystem, die die Massen noch weiter „entmenschlichen“ (S. 156), d.h. für Scheffauer, entindividualisieren. Der Amerikaner, der Städte und Häuser bewohnt, die schon für Kürnbergers Moorfeldt „aus der Schneidemaschine herausgefallen“ sein könnten, und der auch selbst so aussieht (S. 311), ist für Keyserling ein „Mensch ohne Einzigkeit“. Denn keine „differenzierte Einzelseele“ (S. 358) kann auf diesem Kontinent entstehen. Amerika hat seine Kolonisten „vom Fluch des Individualismus befreit“ (S. 195).

Der Amerikaner ist kein „Individuum“, sondern ein „Normaltyp“.[20] Auch diese Neuprägung oder Typisierung wird als ein Korrelat des Raums gedacht. Schon Herder hat daran gezweifelt, „daß die Kunst der Menschen mit stürmender Willkür einen fremden Erdteil sogleich zu einem Europa umschaffen könne“.[21] Es verhalte sich umgekehrt: die Kolonisten werden enteuropäisiert. Kürnberger beschreibt, wie deutsche Siedler ihre Eigentümlichkeiten in wenigen Jahrzehnten verlieren. Sein Protagonist Moorfeldt diagnostiziert das völlige Aussterben deutscher Nationalität in Pennsylvania (S. 330). Der Deutsche werde in kürzester Zeit zum Amerikaner, er wird, so Moorfeldts neudeutsche Formulierung aus dem Jahre 1855, „hyperyankeesiert“ (S. 413). Es sei das Schicksal eines jeden Einwanderers, im melting pot eingeschmolzen zu werden und so sein eigentümliches Wesen einzubüßen. Moorfeldt berichtet aus Harrisburg:

„Von den deutschen Charakterzügen pflegen sie nur noch den Hang für Gartenkunst [...]. Das ist alles. [...] Es wird einem Ach und Weh, an einem lebendigen Organismus eine so fortschreitende Verödung – möchte ich als Arzt sagen – zu beobachten.“ (S. 328f)

Das gleiche e pluribus unum bekommt Karl Anton Postls Romanheld Morton 1835 auf seiner „großen Tour“ über Pennsylvania zu hören: „Alles fand sich da zusammen: Engländer, Schottländer, Irländer, vorzüglich aber Deutsche“,[22] um in Yankees verwandelt zu werden. In den USA, so liest man es auch in Anton in Amerika, einer Fortsetzung von Freytags Soll und Haben, finde ein Prozeß statt, der „alle Typen unwiderstehlich [...] ummodelt“.[23] Das Ergebnis ist dann jener pragmatische Nomade ohne Eigenschaften, der im grenzenlosen Raum seines Kontinents nie Wurzeln zu schlagen und nie eine Regionalkultur auszubilden vermochte, weshalb ihm allein die ganze Welt zum Handlungsraum wird. Der Amerikaner, so liest man 1841 auch im Kajütenbuch von Charles Sealsfield alias Karl Anton Postl, ist daher „überall zu Hause“ und tritt überall „als Herr“ auf.[24] 

Dieselben Differenzen zwischen Deutschen und Amerikanern beschreibt im selben Jahr (1855) wie Kürnbergers Moorfeld der an der Wall Street amerikanisierte Herr von Fink, genannt: „Der Amerikaner“ (S. 223) in Gustav Freytags Roman Soll und Haben.[25] „Achten Sie auf die deutschen Auswanderer. Welche Masse unnützen Krames schleppt dies Volk übers Wasser, alte Vogelbauer, zerbrochene Holzstühle, wurmstichige Wiegen und andern Plunder. Ich habe einen Kerl gekannt, der in brennender Sonnenhitze acht Tagesreisen machte, um einmal Sauerkraut zu essen.“ Nach einigem Spott über die kleindeutsche „Gemütlichkeit“ lobt Fink den neuen Typus des Amerikaners, der den Plunder der Geschichte fortgeworfen oder musealisiert hat,[26] um allein in der Gegenwart zu leben. Fink, der die Dimensionen eines Landes schätzt, durch das man lange Zeit reiten kann, ohne „an einen Grenzstein [...] zu stoßen“ (S. 83), der dem „langweiligen Leben“ im engen Hamburg in die Neue Welt zu entkommen suchte, der ohne „Heimat“ dem Lauf seiner Launen und Geschäften folgt, entwirft den Amerikaner als mobilen Pragmatiker: er „wird sich nie in seine Hütte, seine Fenz, in seine Zugtiere verlieben. Was er besitzt, das hat ihm gerade nur den Wert, der sich in Dollars ausdrücken läßt.“ (S. 220) Der Amerikaner, wie Freytags Fink ihn beschreibt, lebt allein in der Gegenwart, kauft, was er „für den täglichen Gebrauch nötig“ hat, um es wegzuwerfen, wenn der „Tand“ seine Nützlichkeit eingebüßt hat (S. 221). Die Herren und Damen des uralten Handelshauses Schröter freilich hören dieser Schilderung mit Entsetzen zu. Der Held des Romans, Anton Wohlfahrt, lehnt den Gedanken ans Auswandern kategorisch ab und macht sich lieber mit Spaten und Gewehr an die Eindeutschung polnischer Territorien. Finks Vorschlägen gibt er zur Antwort: „Mein guter Vater hat mir oft gesagt: Bleibe im Lande und nähre dich redlich. Ich will nach seinen Worten leben.“ (S. 256) Amerika scheint das genaue Gegenteil von dem zu sein, was man an Deutschland liebt, gleichwohl schildert Freytag wie durch Monetarisierung und Industrialisierung selbst urdeutsche Rittergüter zu einem Wert herunterkommen, der sich nur noch in Dollars oder Mark ausdrücken läßt. Diese Amerikanisierung wird in „Soll und Haben“ von jüdischen Protagonisten vorangetrieben, womit eines der unheilvollsten Leitmotive der deutschen Kultursemantik gestiftet ist: die Verschmelzung des internationalen Kapitalismus mit dem heimatlosen Juden zum Plutokraten.

3. Raum ohne Geschichte - Yankeesierung

Den Vereinigten Staaten widmet Goethe 1827 eine Xenie: „Amerika, du hast es besser / Als unser Kontinent, das alte, / Hast keine verfallene Schlösser / Und keine Basalte. / Dich stört nicht im Innern / Zu lebendiger Zeit / Unnützes Erinnern / Und vergeblicher Streit.“[27] Ernst Jünger zitiert das Gedicht, um die überraschende und ungeheure Mobilisierungsfähigkeit der USA im ersten Weltkrieg zu plausibilisieren, der keine Tradition einen Stein in den Weg stellt.[28] Die Xenie wird immer wieder zitiert, um die Differenz zwischen Europa und Amerika zu illustrieren. Ohne „unnützes Erinnern“ habe Amerika es in mancher Hinsicht besser als das alte Europa, denn mit der Erinnerung verblasse auch aller Anlaß zu vergeblichem Streit. Der europäischen Enge entflieht der Auswanderer also nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich: durch eine Löschung überflüssigen Erinnerns. Amerika lebt, aber nicht in der Vergangenheit. Auch für Goethe sind die USA das geschichtslose Land der Gegenwart. Die Haltung, die der Geschichtslosigkeit entspricht, findet Günther im amerikanischen „Pragmatismus“. Diese Weltanschauung setze voraus, daß „nichts, aber auch wirklich nichts“, was bereits gedacht und erlebt worden ist, die Effizienz aktueller Problemlösungen blockiert.[29] „Die Intention des Pragmatismus“, so erläutert Günther seine These, „ist es zu ignorieren, daß der Mensch in früheren Zeiten schon gedacht hat.“ (S. 241) Er läßt sich von keinen „unnützen“ Erinnerungen stören. Dieser in Echtzeit operierende Pragmatismus ist für Günther eine unweigerliche Konsequenz des Raums. Der amerikanische Raum löst jene historische Zeitdimension auf, die für europäische Regionalkulturen typisch ist – und die europäischen Völker immer wieder, wie Hegel erläutert, in den Streit zwingt (S. 113). Kultur jedenfalls, meint Keyserling, gebe es allein im „Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“. Davon aber haben „die heutigen Amerikaner keinen Begriff“ (S. 423). Der große Historiker des 19. Jahrhunderts, Jacob Burckardt, hat bereits in den 1870er Jahren festgestellt: „Der Barbar und der neuamerikanische Bildungsmensch leben geschichtslos.“[30]

Der von Hegel geschilderte amerikanische Vorzug der Weite, die frei vom Zwang mache, schlägt in ein Problem um, da sie nicht allein von obrigkeitsstaatlicher Drangsalierung und zünftischer Enge befreit, sondern von Ordnung schlechthin. Hegel konstatiert, die Bevölkerung habe sich im unermeßlich weiten Raum verloren, statt sich in einem „wirklichen Staat“ zusammenzuschließen (S. 113). Den USA fehlt die für einen „festen Zusammenhalt“ notwendige Dichte, daher gebe es auch keine „wirkliche Staatsregierung“ (S. 113). Staatlichkeit ergibt sich für Hegel eben aus einem Quotienten aus Volk und Raum. Ohne eine gewisse Bevölkerungsdichte gibt es keinen „wirklichen Staat“. Hegels Behauptung mangelnder Staatlichkeit wird nun aufgegriffen und ausgemalt. Folgt man den Beschreibungen Kürnbergers, dann erfaßt diese gleichsam anarchische Zerstreuung nicht nur den unendlichen Westen, sondern auch die Städte der Ostküste. Jede „Ordnung“ eines „öffentlichen Gemeinwesens“ vermißt Moorfeld selbst in New York vollkommen; in der Stadt herrschen Zustände, die man kürzlich in den „Gangs of New York“ im Kino sehen konnte.[31] Auf die Frage nach der „Polizei“ (S. 577), welche die öffentliche Ordnung herzustellen hätte, wird angesichts der Anarchie des Kampfes aller gegen aller nur noch zynisch angemerkt: „We are in a free country!“ (S. 577) Das sog. „Recht“ des Stärkeren, Reicheren oder Mächtigeren hat in Amerika freie Bahn. Es herrscht der Naturzustand anarchischer Freiheit im Gegensatz zum europäischen Kulturzustand. Ganz offensichtlich ist in Amerika überall, wieder mit Hegels Worten, „das Interesse der Einzelnen als solcher der letzte Zweck“,[32] weshalb die USA kein Staat sein können, sondern allenfalls eine Interessengemeinschaft zur Wahrung vom Eigentumsrechten.

4. Das Land der Zukunft als globale Macht

Zum Abschluß seiner kurzen Passage über die „Neue Welt“ schenkt Hegel den Kulturtheorien und Ideologien der kommenden Jahrhunderte noch die äußerst zitable Behauptung, Amerika sei „weltgeschichtlich“ das „Land der Zukunft“ und der „Sehnsucht für alle die, welche die historische Rüstkammer des alten Europas langweilt.“ (S. 114) Hegel hat mit dieser Formel Amerika aus der weltgeschichtlichen Gegenwart erst einmal herausgerechnet. Nichts, was den Historiker interessieren könnte, werde passieren, solange Nordamerika nur seinen schier „unermeßlichen Raum“ auffülle, statt Differenzen in Ordnungen zu überführen oder im Kampf gegen konkurrierende Weltentwürfe auszutragen. „Was bis jetzt sich hier ereignet“, stellt Hegel fest, „ist nur der Widerhall der Alten Welt und der Ausdruck fremder Lebendigkeit, und als Land der Zukunft geht es uns überhaupt hier nichts an“ (S. 114). Die entscheidende Frage lautete nun, unter welchen Voraussetzungen „uns“ Amerika etwas anginge?

Wann schlägt die Stunde Amerikas? Die geringe amerikanische Bevölkerungsdichte steht für Hegel erst einmal dem Kampf und also dem Geist und der Staatenbildung entgegen. Vorerst müßten die Freistaaten ohne „Nachbarstaat“ auskommen, gegen den sie ein „stehendes Heer zu halten hätten“, verdeutlicht Hegel die bellizistische Pointe seiner Thesen (S. 114), deren Klartext lautet, daß Europa deshalb alleiniger Schauplatz der Weltgeschichte sei, weil allein die Staaten des eng besiedelten Abendlandes im Kampf der Ideen und Weltanschauungen gegeneinander Krieg führen müssen, weil sie nicht einfach in den Raum ausweichen können. Die „französische Revolution“, behauptet Hegel, wäre niemals „ins Leben getreten“, wenn die unendlichen „Wälder Germaniens noch existiert hätten“ (S. 113). In diese Wälder hätten sich alle Spannungen entladen können, so daß es eine Revolution erst gar nicht gegeben hätte. Man wäre dem Kampf um die Ideen in den freien Raum im Osten ausgewichen. Amerika aber hat seinen Westen, hat die frontier oder den trek, kann also allem inneren Streit in den Raum ausweichen, Europa aber muß kämpfen.[33]

Benthals Analyse der USA, vom Autor in das Jahr 1832, Hegels Todesjahr, gelegt, tritt dessen geopolitisches Erbe an, wenn er vermutet, daß die konfligierenden Kräfte nicht mehr in den weiten Räumen verpuffen könnten, sobald das „Stille Meer erreicht“ (S. 208) sein werde. Dann beginne, so Benthal, eine „Reihe von Bürgerkriegen“, aus denen ein starker Präsident mit umfassenden Vollmachten hervorgehen werde (S. 209). Dieser Bürgerkrieg fand dann tatsächlich statt und brachte eine Armee und eine Kriegsflotte hervor, mit dem die wieder einige Union in die Offensive gehen konnte. Daß ohne Kriege die USA zu keiner „wirklichen“ Staatlichkeit finden würden, war ja Hegels feste Überzeugung. Die USA könnten jeder „Spannung“ ausweichen, so Hegel, denn sie hätten ja „unaufhörlich den Ausweg der Kolonisation in hohem Grade offen, und es strömen beständig eine Menge Menschen in die Ebenen des Mississippi. Durch dieses Mittel ist die Hauptquelle der Unzufriedenheit geschwunden, und das Fortbestehen des jetzigen [...] Zustands wird verbürgt“ – also Geschichts-, Geist- und Kulturlosigkeit, fehlende Staatlichkeit etc. Erst wenn der „unermeßliche Raum“ der Freistaaten „ausgefüllt und die bürgerliche Gesellschaft in sich zurückgedrängt wäre“, könne Nordamerika mit Europa verglichen werden (S. 113f). Mit anderen Worten: Amerika wird die „Feuerprobe des Krieges zu bestehen“ haben (S. 539), wenn es Weltgeschichte schreiben will.

Aus Hegels Zusammenführung von Kultur- und Kriegsgeschichte, auf die vor einigen Jahren Friedrich Kittler aufmerksam gemacht hat,[34] läßt sich folgern, die USA würden dann in die Weltgeschichte eintreten, wenn sie die innere Kolonisierung des Kontinents abgeschlossen haben und sich an anderen Nationen zu reiben beginnen. Im Schutz der Monroe-Doktrin und des Isolationismus bleiben die USA zunächst ein „geschlossenes System“, so Keyserling (S. 86), das zunächst überall die Grenzen seines Raums erkundet, den Pazifik erreicht, mexikanische Provinzen annektiert, Kuba nimmt, Panama von Kolumbien abtrennt und annektiert und schließlich die Philippinen erreicht. Alexis de Toqueville hat bereits 1835 in seinem berühmten Buch Über die Demokratie in Amerika die These vertreten, die USA würden in ihrer Ausdehnung am Pazifik nicht haltmachen:

„Das Gebiet, das die Vereinigten Staaten von Amerika heute in Besitz genommen haben oder bewohnen, stellt etwa den zwanzigsten Teil der bewohnten Erde dar. Wieweit immer diese Grenzen sich erstrecken, falsch wäre es, zu glauben, die Angloamerikaner würden an ihnen für dauernd haltmachen; dafür haben sie sich schon heute zu weit ausgedehnt.“[35]

 

Jacob Burckardt sagt 1876 voraus, daß die Vereinigten Staaten „sich, kraft ihrer Sinnesweise, mit der Zeit auf gar keinem Meere noch irgend eine Schranke gefallen lassen“ werden, um zur „grandiosen Ausbeutung“ der gesamten „Welt“ zu schreiten, worin sie ihre „unbedingte Tätigkeit“ verstünden (S. 83). Auch Gotthard Günther geht davon aus, daß es Grenzen für diese amerikanische Raumnahme grundsätzlich nicht gebe, die USA verstünden sich, so Günther, als „prinzipiell unbegrenzt ausdehnungsfähig“ (S. 110). Dies liege daran, wie oben erläutert, daß der Amerikaner ein planetarischer Typus sei, der genau wie Herders Indianer oder Freytags Nomade an keine spezifische Kulturlandschaft gebunden und damit als einziger globalisierungsfähig sei. Graf Keyserling zieht konsequenterweise einen amerikanischen Willen zur „Welteroberung“ (S. 214) in Betracht. Amerika habe, meint auch Scheffauer 1923,[36] eine „Amerikanisierungs-Maschinerie“ in Gang gesetzt (S. 216), die „Ehrgeiz genug besitzt, um an die Eroberung der Welt zu gehen und der ganzen Menschheit eine oberflächliche, mechanische und materialistische Wirtschafts- und Staatsordnung aufzuzwingen.“ (S. 224) Europa dagegen, verkündet der Historiker, „will vielartig bleiben.“[37] Es wird also zum Krieg kommen.

„Die Monroe Doktrin“, schreibt Scheffauer, „wird durch die Aneignung der Philippinen theoretisch aufgehoben.[38] Die USA kommen in der Weltgeschichte an. Europa muß beginnen, mit den USA zu rechnen. Umgekehrt geht aus dem nun unvermeidbaren Streit ganz hegelianisch nun das Selbstbewußtsein der USA hervor: „Der Weltkrieg stellt das wichtigste Ereignis in der bisherigen Geschichte der Vereinigten Staaten dar“, schreibt Graf Keyserling, „weil Amerika sich als Ganzes dank der durch ihn verursachten Erschütterung zum erstenmal seiner eigenen Seele bewußt geworden ist.“ Der Krieg „brachte dem eingeborenen Amerikaner zum erstenmal sein Amerikanertum zum Bewußtsein; sie ließ ihn erkennen und fühlen, daß er eine ausschließliche Volksseele besitzt.“ (S. 87) Seele, Bewußtsein, Geist – alles, was Amerika bislang von den deutschen Autoren abgesprochen wurde, erlangt es nun im Krieg. Amerika kommt zu sich selbst erst als „Europas Feind“.[39]

Diese Argumentationslinie Günthers, Keyserlings und vieler anderer kann sich auf eine Vielzahl von Topoi stützen, die alle in der deutschen Amerikaliteratur nach Hegel anzutreffen sind. Die Gemeinplätze der Kulturwissenschaften des frühen 20. Jahrhunderts sind mithin dem Romanleser bereits gut bekannt – und werden so mit einer Plausibilität ausgestattet, die eher literarischer Suggestivität als überzeugender wissenschaftlicher Argumentation zu verdanken ist. Über die genuine wurzellose Globalität des Amerikaners erfahren wir beispielsweise 1841 bei Karl Anton Postl:

„In seinem Lande weiß der Amerikaner gar nicht, welchen unschätzbaren Vorteil er vor den Franzosen, Spaniern oder andern Völkern voraushat. Wir sind uns desselben kaum bewußt [...] Von uns gilt, was in anderer Beziehung Napoleon von Talleyrand so treffend bemerkt: Er mag fallen, wie er will, er wird wie die Katze immer richtig auf die Füße fallen. Wir dürfen in Timbuktu, in China, in Rußland vom Himmel fallen, wir würden richtig immer auch zuerst auf unser self-government [...] fallen.“[40]

Gleichgültig gegen Raum und Zeit, Umstände und Umwelt: wo immer auch „nur ein Dutzend Amerikaner zusammentreffen“, in Timbuktu oder China, da ist Amerika (S. 355). Wer damit nicht einverstanden ist, gilt nicht allein als „Feind unseres Landes“, das überall ist, wo Amerikaner sich vereinigen, beispielsweise in Mexiko;[41] er gilt auch als „ein Feind der Menschheit“ (S. 345), weil der Amerikaner nicht nur global agiert, sondern auch beansprucht, überall die Menschheit schlechthin zu repräsentieren. Er sei vollkommen „anpassungsunfähig“, so führt Keyserling 1930 die Überzeugungen Postls von 1842 bruchlos fort, und trete daher „stets und immer als Missionar“ auf (S. 30). Der Amerikaner „kann nicht einsehen, daß »Demokratie«, wie er sie versteht, vielleicht nur eine Lebensform unter anderen ist, den Amerikanern durchaus gemäß, doch für andere Völker gänzlich unbrauchbar; seiner Meinung nach müssen seine Besonderheiten die absolut besten Eigenschaften in abstracto sein.“

All diese Thesen sind uns aus aktuellen Kontexten wohlvertraut. Es handelt sich um gepflegte Semantik. Der Amerikaner, so geht es weiter in dieser Liste der Stereotypien, „beurteilt alles Nichtamerikanische instinktiv als minderwertig, wenn nicht als moralisches Greuel.“ Er paßt sich daher nirgends an, „er kann nur erobern und absorbieren.“ (S. 84) Amerika habe sich vom geistigen Erbe seiner Einwanderer gelöst und mache sich nun an die Aufhebung der Kulturräume und Raumordnungen der Welt. Der Amerikaner, der in Amerika nie zu einem „Sohn der Erde“ werden konnte, kröne sich nun zum Herrn der Welt, die, wie Gotthard Günther formuliert, den „transzendental restlos entleerten Spielregeln für ein [...] Zusammenleben auf diesem Planeten“ zu folgen habe (S. 278). Diese Regeln nennt man auch heutzutage noch pragmatisch oder realistisch.

Diese Linien einer literarisch-philosophischen Imagination Amerikas ließen sich bis in die aktuelle Globalisierungsdiskussion und die Debatten um die Ursachen und Konsequenzen der Attentate vom 11. September 2001 und die Legitimität eines „präventiven“ Krieges gegen den Irak verlängern. Die Anschlüsse fallen allzu leicht. 1995 hat der ehemalige Amerikakorrespondent, Chefredakteur des „Stern“ und „Geo“-Herausgeber Rolf Winter ein schmales Buch namens „Little America“ publiziert, das die Deutschen davor warnt, Amerika sei „ein Born des Materialismus, des Vulgären, der Muskelstärke, der Gewalt“. Beherrscht von einer „Plutokratie“, folge alle „Macht“ dem „Geld“, alles Denken müsse sich in Dollars auszahlen, so daß selbst der Krieg als globales „business“ betrieben werde. Vierzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellt er fest: „Keine andere Nation hat in der jüngeren Geschichte mehr und länger Kriege geführt als die amerikanische, keine andere mehr an Kriegen profitiert, keine andere den Krieg so sehr auch als Mittel wirtschaftlicher Stimulanz instrumentalisiert.“ Vor einer „Ansteckung“ mit dem amerikanischen „Virus“ warnt Winter die gesamte „alte Welt“, zumal er maskiert daherkomme, als Cant.

Auch die Globalisierungskritiker könnten sich bei Hegel und seinen literarischen und kulturwissenschaftlichen Nachfolgern munitionieren: Der weltweit operierende Yankee habe aus seinem Profit eine Religion gemacht, und der Staat schütze nun, so Hegel, jenes nur „formelle Recht“, in dessen Deckung „die amerikanischen Kaufleute“ die übrige Welt zu „betrügen“ suchen (S. 112), vor allem aber, so heißt es in „Anton in Amerika“, die „dummen Deutschen“.[42] Bereits Ferdinand Kürnberger läßt seine Protagonisten immer wieder groteske Beispiele aus der Praxis amerikanischer Rechtsverhältnisse erzählen (S. 164f, S. 508ff), deren Pointe stets darin besteht, daß das amerikanische Rechtssystem ohne weiteres auch offensichtliches Unrecht durchsetzt, solange es nur Amerika nützt. Sealsfield läßt in seinem „Kajütenbuch“ einen texanischen General über das „Anrecht“ der Amerikaner auf die mexikanischen Provinzen dozieren. Er gesteht zu, dieses Recht halte womöglich einer „strengen Prüfung der Moralphilosophie oder der völkerrechtlichen Kritik“ nicht Stand (S. 440), doch spiele das aber keine Rolle, da das offensichtliche „Recht des Stärkeren“ bereits triumphiert habe (S. 441) und Gott also wieder einmal auf der Seite der stärkeren Bataillone gewesen sei. Fünfzig Jahre später, 1898, wird kein Geringerer als der große Historiker Theodor Mommsen zum spanisch-amerikanischen Krieg anmerken: „Die heuchlerische Humanität, die Vergewaltigung des Schwächeren, die Kriegsführung zum Zweck der Spekulation und Agiotage drücken diesem amerikanischen Unternehmen ein Gepräge auf, welches noch nichtswürdiger ist, als das der schlimmsten sogenannten Kabinettskriege“.

Thomas Mann zitiert diese Passage in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“,[43] die er im Verlaufe des ersten Weltkriegs anstellt, um deutschen Geist und deutsche Kultur der „doktrinären Verlogenheit“ des Yankeetums entgegenzustellen (S. 364). Man könnte die Liste nach Belieben verlängern. Hegel spricht vom Betrug, Kürnberger vom abgefeimten „Yankee-Tricke“ (S. 127), Mommsen von der Heuchelei, Thomas Mann entdeckt überall nur den angelsächsischen cant,[44] den Betrug in der Maske des Rechts; heute neigt man zur Unterstellung, hinter jedem völkerrechtlichen, moralischen oder politischen Argument für eine erzwungene Entwaffnung des Iraks verbürgen sich ohnehin nur „Öl-Interessen“ nicht eines Staates, sondern der herrschenden Großkonzerne. Die USA – sie stehen in Manns Augen für „niedrigen Utilitarismus, Unwissenheit, Bigotterie, Dünkel, Roheit, [...] Negermißhandlung [...], lynchlaw, ungestraften Meuchelmord, brutalste Duelle, offene Verhöhnung des Rechts und der Gesetze“ (S. 146). Alle Bausteine dieser Liste findet man in den Romanen Freitags, Postls oder Kürnbergers. Diese Autoren und Interpreten Herders und Hegels haben die Gestalt deutscher Amerikabilder so nachhaltig geprägt, daß man ihre Spuren noch heute in den deutschen Massenmedien nachweisen könnte. In ihren ‚Gleisen’ variieren deutsche Amerikabilder noch immer ihre Klischees. Ob sie zutreffen, ist eine andere Frage.



[1] Ich folge hier Georg Kamphausens Studie „Die Erfindung Amerikas in der Kulturkritik der Generation von 1890“ (Weilerswirst 2002).

[2] Kamphausen, Erfindung Amerikas, S. 189f.

[3] Kamphausen, Erfindung Amerikas, S. 190.

[4] Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke Bd. 12, Frankfurt am Main 1986, Vgl. Hegels Anspielung auf Cäsar S. 133.

[5] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke Bd. 12, Frankfurt am Main 1986, Vgl. Hegels Anspielung auf Cäsar S. 133.

[6] Kittler, Kulturgeschichte, S. 118.

[7] Gotthard Günther, Die Amerikanische Apokalypse, München 2000, S. 94.

[8] Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, (1782-88), 2 Bde., hrsg. von Heinz Stolpe, Berlin und Weimar 1965, S. 43.

[9] Gotthard Günther, Die Amerikanische Apokalypse, München 2000. Eine Gruppe Klagenfurter Wissenschaftler hat diese frühen, äußerst interessanten Texte aus dem Nachlaß zugänglich gemacht.

[10] Hermann Graf Keyserling, Amerika. Der Aufgang einer neuen Welt, Stuttgart, Berlin 1930, S. 32.

[11] Für Herder ist es klar: sie sterben früher. „Selbst der europäische Fleiß gesitteter Kolonien in andern Weltteilen vermag nicht immer die Wirkung des Klima zu ändern. »In Nordamerika«, bemerkt Kalm132, »kommen die europäischen Geschlechter eher zu reifen Jahren, aber auch eher zum Alter und Tode als in Europa. Es ist nichts Seltnes«, sagt er, »kleine Kinder zu sehen, die auf die vorgelegten Fragen bis zur Verwunderung lebhaft und fertig antworten, aber auch die Jahre der Europäer nicht erreichen. Achtzig oder neunzig Jahr sind für einen in Amerika gebornen Europäer ein seltnes Beispiel, da doch die ersten Einwohner oft ein hohes Alter erlebten; auch die in Europa Gebornen werden gemeiniglich viel älter als die von europäischen Eltern in Amerika Erzeugten.“ (Herder: Ideen Bd. 1, S. 278)

[12] Nikolaus Lenau, Sämtliche Werke und Briefe in zwei Bänden, Bd. 2, Frankfurt am Main 1971, S. 213.

[13] Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), Frankfurt am Main 2001, S. 52, 186f.

[14] Herman George Scheffauer, Das Land Gottes, Hannover 1923, S. 184.

[15] Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1997, S. 524.

[16] Carl Schmitt, Der Nomos der Erde (1950), Berlin 1997, S. 13. Die für die Tausend Plateaus zentrale Metapher des „glatten Raums“ findet sich schon bei Schmitt (S. 258).

[17] Günther, Amerikanische Apokalypse, S. 95.

[18] Keyserling, Amerika, S. 99.

[19] Scheffauer, Das Land Gottes, S. 142.

[20] Scheffauer, Wenn ich Deutscher wär, S. 181.

[21] Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 2 Bde., hrsg. von Heinz Stolpe, Berlin und Weimar 1965, S. 278f.

[22] Charles Sealsfield (= Karl Anton Postl), Morton oder die große Tour (1835), Rudolstadt 1988, S. 70.

[23] Reinhold Solger, Erich Ebermayer, Anton in Amerika (1862/1928), Berlin 1928, S. 125.

[24] Charles Sealsfield (= Karl Anton Postl), Das Kajütenbuch (1841), Rudolstadt 1988, S. 355.

[25] Gustav Freytag, Soll und Haben (1855), München 1953. Er wird den auch „der Amerikaner“ genannt (S. 223).

[26] Vgl. Scheffauer, Das Land Gottes, S. 9.

[27] In: Johann Wolfgang Goethe, Berliner Ausgabe, Bd. 2, S. 384.

[28] Das Gedicht wird zitiert bei Ernst Jünger, Die totale Mobilmachung, S. 131 (Werke, Bd. 7, Stuttgart). Daß die USA vorzüglich zur Totalen Mobilmachung fähig waren, wie Jünger meint, prädestiniert sie, zum homeland des Arbeiters zu werden.

[29] Gotthard Günther, Die amerikanische Apokalypse, S. 242.

[30] Jacob Burckardt, Historische Fragmente (1865-85), Stuttgart 1957, S. 3.

[31] Ferdinand Kürnberger, Der Amerikamüde (1855), Leipzig ² 1865, S. 573.

[32] Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke. Bd. 7, Frankfurt am Main 1986, S. 399.

[33] Das „Leben des Okzidents ist der Kampf“, konstatiert Jacob Burckardt (S. 201).

[34] Vgl. Friedrich Kittler, Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2000.

[35] Alexis de Toqueville, Über die Demokratie in Amerika (1835/1840), Stuttgart 2001, S. 209f.

[36] Herman George Scheffauer, Das Land Gottes, Hannover 1923.

[37] Burchardt, Fragmente, S. 206.

[38] Scheffauer, Das Land Gottes, S. 42.

[39] Scheffauer, Das Land Gottes, S. 48.

[40] Sealsfield, Kajütenbuch, S. 383.

[41] Vgl. Toqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 211.

[42] Ebermayer / Solger, Anton in Amerika, S. 91.

[43] Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), Frankfurt am Main 2001, S. 365.

[44] Vgl. Kamphausen, Erfindung Amerikas, S. 200.