Die derart attackierte Ontologik hat selbstredend ihren Sitz im Leben bzw. der Gesellschaft. „Ein Pferd“, so schreibt Luhmann in seinem Kapitel über die alteuropäische Ontologie in der Gesellschaft der Gesellschaft, „ein Pferd kann kein Esel sein, aber auch ein Grieche kein Barbar und ein guter Mensch kein böser Mensch. Es gibt keine Mischformen, und wenn sie vorkommen oder fabuliert werden, [...] sind es Monstren, die nur beweisen, daß es so nicht geht.“[6] Sowohl die alteuropäische Semantik wie auch die Inklusions- und Exklusionsmechanismen ihrer Gesellschaftsstruktur basieren, so Luhmann, auf einer „zweiwertigen Logik“, die „alles Dritte ausschließt“. (S. 905) Derartige Passagen lesen sich, als ob die moderne Gesellschaft und ihre soziologischen Beobachter nicht nur die alteuropäische Ordnung weit hinter sich zurückgelassen hätte, sondern auch die in ihr wirksame Ontologik. „Dekonstruktivistische Lektüren von Niklas Luhmanns Systemtheorie“, wie Urs Stähelis Buch Sinnzusammenbrüche im Untertitel heißt, haben dies jedenfalls getan, um mit Derrida[7] und Verve „tertium datur“ zu rufen.[8] Nur hartnäckige Ontologen und naive Realisten entziehen sich dem Charme des Dritten und sind „afraid of deconstruction“, um es mit einem Aufsatztitel Sepp Gumbrechts zu formulieren.[9] Luhmann zählt selbstredend nicht zu diesen Angsthasen, denn die Form seiner Differenztheorie besitzt „keine ontologische Verfassung mehr“, wie Armin Nassehi nachweist.[10] Tatsächlich wird auch Luhmann selbst gelegentlich emphatisch, wenn er ontologische bzw. metaphysische Positionen dekonstruiert, zurückweist und durch eine Theorie der second order observation abzulösen gedenkt: „Kein unterscheidungslogischer Rationalitätsbegriff“, so Luhmann, „wird jemals auf diese Position der Einheit und der Autorität zurückführen. Nie wieder Vernunft!“[11] Die von Spencer Brown übernommene transklassische Beobachtungslogik wird von Luhmann ausdrücklich mit der Figur des Dritten in Verbindung gebracht: „der Beobachter selbst ist immer das ausgeschlossene Dritte. Er ist im Sinne von Michel Serres der Parasit seiner Beobachtungen.“ (S. 64) Oder mit Blick auf einen historischen Epochenumbruch: „Dies ist die Welt, die uns heute verlorengegangen ist: die Welt der ontologischen Metaphysik, die Welt von Sein und Nicht-Sein, die Welt jener zweiwertigen Logik, die einen (und nur einen) Beobachter voraussetzte, der zur Erkenntnis einfach durch die Betrachtung der Sache selbst gelangte.“[12]
Ob man nun den Ausschluß des Dritten historisch dramatisiert und für obsolet erklärt oder seine Einbeziehung als Befreiung feiert – die Figur des Dritten wird warmherzig, ja enthusiastisch begrüßt und – als sei es noch ein letztes Mal gestattet, den Satz des Widerspruchs anzuwenden – sein Gegenspieler, die duale Logik des tertium non datur, wird als altmodisch, terroristisch, totalitär und unterkomplex zu den Akten gelegt, um nicht zu sagen: aus der Moderne ausgeschlossen.
1.„ein Gegensatz zwischen Zweyen, die sich wechselseitig voraussetzen und wovon das eine nur im Gegensatz gegen das Andere seine eigenthümliche Bedeutung hat“;
2.nämlich als „innere Einheit dieses Gegensatzes in einem dritten, welches“
3.„als eine Einheit eigenthümlicher Art sein Daseyn dem Gegensatze verdankt, und ohne den Gegensatz nicht wäre“.[14]
Der Magnet ist also das umfassende Dritte oder Ganze einer Polarität. Andererseits könnte man dieses Dritte, verstanden als „innere Einheit dieses Gegensatzes“, auch innerhalb des Magneten situieren, wie Schelling vorschlägt. Es gebe nämlich dort einen „ein Punkt A [...] , wo beide Kräfte, die positive und die in der entgegengesetzten Richtung kommende negative, miteinander im Gleichgewicht stehen, welcher Punkt also weder positiv noch negativ, sondern völlig indifferent sein wird.“[15] Im Innersten des Magneten liegt also der Indifferenzpunkt der Differenz von Nord- und Südpol. Dieses Dritte ist also das Ganze oder liegt im Ganzen, jedenfalls wird hier ein ganz und gar undynamisches, ausgeglichenes, statisches Verhältnis beschrieben, an dem keine Kraft etwas zu ändern vermag. Seien es nun stärkere Magnete, zu denen man schwächere aufaddiert, oder seien es die Fragmente eines zertrümmerten Magneten: stets haben wir es mit einer Differenz zu tun, deren Einheit oder Indifferenz als Drittes bezeichnet wird und deren Relationen und Proportionen dieselben bleiben.
Das Beispiel des Magneten ist auch für Hegel ausgesprochen wichtig, denn „der Magnet stellt auf eine einfache naive Weise die Natur des Begriffes, und zwar in seiner entwickelten Form als Schluß (§ 181) dar.“ In der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften von 1817 schreibt Hegel weiter:
„Die Pole sind die sinnlich existierenden Enden einer realen Linie[...]; als Pole haben sie aber nicht die sinnliche, mechanische Realität, sondern eine ideelle; sie sind schlechthin untrennbar. Der Indifferenzpunkt, in welchem sie ihre Substanz haben, ist die Einheit, in der sie als Bestimmungen des Begriffs sind, so daß sie Sinn und Existenz allein in dieser Einheit haben, und die Polarität ist die Beziehung nur solcher Momente.“[16]
Andreas Herberg-Rothe hat zu dieser Konzeption des Magneten bemerkt,
„die Einheit von Nordpol und Südpol [sei] keineswegs diejenige, Pol zu sein, sondern die untrennbare Einheit beider ist ein drittes, der Magnet. [...] Hierdurch wird ein Drittes bestimmt, das über die beiden Pole hinaus geht und sie übergreift. Dieses Dritte ist jedoch keineswegs außerhalb der beiden Gegensätze, sondern dieses Dritte ist bestimmt durch die Gegensätzlichkeit der Beziehung der beiden Pole“. (S. 182f)
Was ist dieses Dritte nun? Folgen wir dem Modell des Magneten bei Schelling, Wilbrand und Hegel, dann bezeichnet das Dritte die polare Relation des Ersten und Zweiten. Für Hegel stellt der Magnet die „Natur“ des „Begriffs“ dar, die, wie er an derselben Stelle schreibt, „überhaupt“ darin liege, „das Identische different und das Differente identisch zu setzen“.[17] Das Dritte des Magneten ist zum einen die Differenz des Selben, daß nämlich der Magnet aus zwei Polen besteht, und zum anderen die Identität des Differenten, daß nämlich die beiden Pole nichts sind außer als Drittes, nämlich als Magnet. Das Modell ist erweiterbar nach unten und oben: man kann einen Magneten zertrümmern, um weitere Magneten zu erhalten, und man kann Magneten zu größeren Einheiten vereinigen. Alle Magneten weisen aber dieselbe Struktur auf: zwei Pole, ein Indifferenzpunkt und das Dritte als Einheit der polaren Relation. Damit ist ein Prinzip der Textgeneration gewonnen, das auf allen Ebenen der Theoriebildung zur Anwendung gelangt. Bei Schelling wird dieses Programm so formuliert:
Selbiges kann nun als Indifferenz wieder nach zwei Seiten potenziert werden, [...] so daß im Moment des Entstehens der Differenz auch die Identität aufgehoben, und zwar die eine und selbe Substanz unter zwei differenten [...] Formen dargestellt wird.[18]
Jeder Begriff kann durch das Magnetprinzip gleichsam so polarisiert werden, daß die Einheit des Begriffs zunächst als „absolute Indifferenz“ bestimmt wird (S. 180); sodann wird das Differente der Indifferenz benannt oder, wie Hegel formuliert, das Identische different gesetzt; beispielsweise wird der Indifferenzpunkt näher bestimmt als jener Punkt, so weiter Schelling, „wo das ganze Allgemeine auch das ganze Besondere, das ganze Besondere das ganze Allgemeine ist.“ (S. 180). Die Differenz der Indifferenz wäre in diesem Fall also die Unterscheidung des Allgemeinen vom Besonderen. Gerhard Plumpe hat in seiner Ästhetischen Kommunikation der Moderne vorgeführt,[19] wie Schelling mit dieser „Theoriebautechnik“ eine umfassende, kleinteilige Kunstphilosophie entwirft, indem er – um es mit Hegel zu sagen – gleichsam den Magneten „zerhaut“, um in jedem Stück wiederum einen Magneten vorzufinden, d.h. jedes Differente wieder als Indifferenzpunkt setzt, der dann als Polarität eines Dritten verstanden werden kann. In unübertroffener Allgemeingültigkeit formuliert Hegel dieses Schreibprogramm in seiner Wissenschaft der Logik anhand von Variablen:
„Der Satz des ausgeschlossenen Dritten [...] enthält, daß es nicht etwas gebe, welches weder A noch Nicht-A, daß es nicht ein Drittes gebe, das gegen den Gegensatz gleichgültig sei. In der Tat aber gibt es in diesem Satze selbst das Dritte, das gleichgültig gegen den Gegensatz ist, nämlich A selbst ist darin vorhanden. Dies A ist weder +A noch -A und ebensowohl auch + A als -A. - Das Etwas, das entweder +A oder Nicht-A sein sollte, ist hiermit auf +A sowohl als Nicht-A bezogen; und wieder, indem es auf A bezogen ist, solle es nicht auf Nicht-A bezogen sein, sowie nicht auf A, indem es auf Nicht-A bezogen ist. Das Etwas selbst ist also das Dritte, welches ausgeschlossen sein sollte...“[20] –
aber offenbar zugleich eingeschlossen ist. Anwendbar ist das Programm auf viele Bereiche. Hegel selbst schlägt beispielsweise „das Geschlechtsverhältnis“ vor sowie „die geistigen Verhältnisse der Liebe, Freundschaft usf.“[21] Friedrich Schlegel hat dieses Schreibprogramm in seiner Lucinde erprobt: die Menschheit als Gattung wird als Indifferenzpunkt gesetzt, dann werden unter dem Aspekt der Liebe die Geschlechterdifferenzen eingeführt, so daß sich ein polares Verhältnis von Mann und Frau ergibt, dessen Einheit das Dritte ausmacht. „Ich kann nicht mehr sagen, meine Liebe oder deine Liebe; beide sind sich gleich und vollkommen Eins, so viel Liebe als Gegenliebe. Es ist Ehe, ewige Einheit und Verbindung unsrer Geister, nicht bloß für das was wir diese oder jene Welt nennen, sondern für die eine wahre, unteilbare, namenlose, unendliche Welt, für unser ganzes ewiges Sein und Leben.“ (S. 11) Wenn man den Magnet zerschlägt, wiederholt sich die polare Struktur in seinen Teilen. Lucinde etwa zerfällt in den eher weiblichen Pol der „zärtlichsten Geliebten“ und den eher maskulinen Pol der „vollkommenen Freundin“, deren Einheit Julius „Frau“ nennt (S. 10). Unter dem Aspekt des Ganzen dieser Polarität „sah ich auch mit dem Auge meines Geistes die Eine ewig und einzig“ (S. 7). Entsprechend bezeichnet ein Fragment Schlegels die „Liebe“ als „eine eigne Art von Magnetismus.“[22]
Ein neues Geschlecht, die Überwindung der Gender-Differenzen oder Hybride als ausgeschlossene Dritte einer dualistischen Konzeption kommen hier nicht in Sicht. Das Dritte ist vielmehr immer schon eingeschlossen, und zwar nicht als Parasit, sondern als indifferente Ganzheit einer Polarität.[23] Ein letztes Beispiel: Hölderlin bestimmt in seiner Programmschrift Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes von 1800 ein „reines poetisches Ich in seiner dreifachen Natur“ wie folgt: „als entgegensetzend das Harmonischentgegengesetzte, als (formal) vereinigend das Harmonischentgegengesetzte, als in Einem begreifend das Harmonischentgegengesetzte“. Auch das poetische Ich ist ein Magnet, dessen Einheit „durch ein drittes bestimmt unterscheidbar gemacht wird“, durch ein „drittes“, welches einerseits das Differente unterscheidbar macht, aber zugleich „das Ich im harmonischentgegengesetzten Leben als Einheit“ darstellt.[24] Dieselbe Analyse könnte man der Liebe oder der Menschheit, Gott oder der Natur zukommen lassen. Aber seiner enormen Produktivität zum Trotz ist das Modell so statisch wie Schellings Götterwelt ewig.[25] „Die Extreme hatten für ihn von jeher magnetische Polarität - wie die Mitte nur Indifferenzpunkte“, heißt es 1800 über Albano, den Helden des Titan. Jean Paul hätte das gleiche von der ganzen Epoche behaupten können.[26]
Ohne nun weiter auf Details der Systemarchitektur bei Hegel oder Schelling und die Strukturanalogien der romantischen Literatur einzugehen, möchte ich festhalten, daß die Figur des Dritten hier alles andere ist als ein Prinzip, das den Dualismus der abendländischen Metaphysik aufsprengen würde; sie erlaubt vielmehr die Entfaltung dieser Metaphysik zu einer äußerst flexiblen wie filigranen Theoriebautechnik, der nichts entgeht und die zugleich aber überall nur dasselbe sieht: Polaritäten, die Dualismen zu einem Dritten integrieren.
Armin Nassehi hat den Operationskalkül zweiter Ordnung mit Bezug auf George Spencer Brown, Dirk Baecker und Luhmann am Beispiel des Mannes vorgeführt. Eine Bezeichnung sei nur möglich als Unterscheidung. „Jemand ist Mann und nicht Frau“.[30] Die Bezeichnung „Mann“ impliziert hier die Unterscheidung von der Frau. „Reicht es nicht“, fragt Nassehi, „Mann zu bezeichnen, ohne ihn von Frau zu unterscheiden? Diese Frage ließe sich mit Ja beantworten, wenn Mann ein ontologisches Faktum wäre, dessen Sein bereits unabänderlich von allem anderen, also auch von Frau unterschieden wäre, wenn also Bezeichnungen Abbilder von Sein wären.“ (S. 50) Dies ist aber nicht der Fall, denn Mann läßt sich nicht allein von Frau unterscheiden, sondern auch von Kind, Schlappschwanz oder Lebengefährte. Die Bezeichnung Mann impliziert also je unterschiedliche Unterscheidungen, und diese wiederum weitere Differenzen. Er ist ein Mann und kein Kind, hier geht es um das Lebensalter; er ist ihr Mann und nicht ihr Lebensgefährte, hier geht es um soziale Formen des Zusammenlebens. Womöglich ist der Mann aber auch noch kein Greis oder kein One-Night-Stand, womit weitere Unterscheidungen ins Spiel kämen. Erst diese Unterscheidungen, so betont Nassehi, ermöglichen die Bezeichnung. Der Unterschied zum Magnetmodell besteht darin, daß sich die Unterscheidungen nicht zu einem Dritten als Ganzen summieren lassen – Kind und Mann oder Lebensgefährte und Mann, ja nicht einmal Kind und Greis oder Lebensgefährte und Geliebter bezeichnen polare Verhältnisse, deren Drittes dann der Mann vor aller Differenzierung wäre. Wenn jemand Männer beobachtet, dann wird der Beobachter dieser Beobachtung darauf achten müssen, wie sie unterschieden werden und nicht etwa, wie sie wirklich sind. „Daraus folgt“, so weiter Nassehi, „daß es kein beobachtungsunabhängiges Sein geben kann, wie es die gesamte metaphysische Tradition des Abendlandes behauptet hatte.“ (S. 51) Was aber diese postontologische Beobachtungslogik mit dem Magnetmodell gemeinsam hat, ist ihre Fruchtbarkeit als Schreibprogramm. Keine Bezeichnung, die nicht wieder in Unterscheidungen eines Beobachters überführt werden könnte.
Dem alteuropäischen Beobachter von Dingen wird vorgeführt, daß er mit den von ihm verwendeten Unterscheidungen die Dinge, die er sieht, erst konstruiert. Sogar die Ontologie selbst wird nun auf Unterscheidungen eines Beobachters zurückgeführt und damit auf eine mögliche Form unter anderen. Wie steht es aber mit dem, der diese Beobachter erster Ordnung beobachtet? Ihm, dem Beobachter zweiter Ordnung, geht es nicht besser, denn erstens sind auch seine Unterscheidungen kontingent und zweitens ist er immer auch ein Beobachter erster Ordnung, denn wovon er selbst die Differenz, die er bezeichnet, unterscheidet, bleibt ihm im Moment der Unterscheidung verborgen.[31] Der Beobachter zweiter Ordnung kann zwar dem beobachteten Beobachter immer zurufen: „Ich sehe was, was Du nicht siehst“[32], doch man wird es sich auch stets selbst sagen lassen müssen. Man kann also nicht, wie die Ideologiekritik des letzten Jahrhunderts, nur den anderen auf die Interessiertheit, Perspektivität und Kontingenz seiner vermeintlich „objektiven“ Beobachtungen hinweisen, um dabei selbst in Anspruch zu nehmen, daß dieser Hinweis allerdings „objektiv“ sei – vielmehr gilt „auch das eigene“ Beobachten als „unterscheidungsabhängig“ (S. 232). Die Beobachtung zweiter Ordnung, so folgert Luhmann, müsse daher „darauf verzichten, dem beobachteten Beobachter ihre eigenen Unterscheidungen aufzudrängen.“ (S. 232) Sie operiert rekursiv: sie weiß, daß sie nur sieht, was sie sieht, und nicht sieht, was sie nicht sieht. Tertium non datur!
Die Systemtheorie als Theorie des Beobachtens zweiter Ordnung, zieht Luhmann die Konsequenz, „wird keine verbindliche Repräsentation mehr anerkennen, sondern sich selbst - nicht nur die anderen! - in einer polykontextural konstituierten Welt vorfinden. Sie wird, je mehr sie ihre eigene Kontextur reflektiert, das schmerzliche Opfer der Selbst-Desinteressierung zu erbringen haben, kompensiert durch die mitgebrachte Gewißheit, daß es auch andere Ausgangspunkte für Rationalität und für Beobachtung zweiter Ordnung gibt.“[33] Der Dritte ist die Kurzformel dafür, daß es bei jeder Beobachtung welcher Ordnung auch immer einen Parasiten der verwendeten Unterscheidung gibt, der sich im Kontext des Unterscheidens nicht beobachten läßt, der sich aber wiederum von anderen Beobachtern „sehen und bezeichnen“ läßt – „wenngleich immer nur als ein weiterer Beobachter, der nur sieht, was er sieht, und nicht sieht, was er nicht sieht.“ (S. 64) Dieser „Dritte“, um einmal Serres zu Wort kommen zu lassen, „ist immer da“, und er ist als „Drittes vor dem Zweiten“.[34] Ohne ihn gibt es keine Beobachtung (S. 365). Dieses Dritte nennt Luhmann auch bisweilen den „blinden Fleck“ einer Beobachtung oder ihre Paradoxie. Der Beobachter zweiter Ordnung entdeckt, daß das, was der Beobachter erster Ordnung der Welt zuschreibt, sich den Unterscheidungen verdankt, die der Beobachter erster Ordnung verwendet, wenn er etwas bezeichnet. Sobald der Beobachter zweiter Ordnung diese Überlegung auf sich selbst anwendet, bemerkt er, daß er selbst in dem vorkommt, was er beobachtet, so daß die übliche Differenzierung von Subjekt und Objekt oder Beobachtung und Gegenstand zusammenfällt. Andererseits kann auch ein Beobachter zweiter Ordnung dies nicht beobachten, ohne – zu beobachten: also wiederum mit Unterscheidungen zu operieren, deren Einheit ausgeschlossen wird. Dieser von der Beobachtung ausgeschlossene Dritte aber ist der Beobachter. Serres formuliert diese Paradoxie so: „Der Beobachter ist das Nicht-Beobachtbare.“[35]
Ich glaube, daß dies nur sehr eingeschränkt der Fall ist. Daß auch die Systemtheorie „das schmerzliche Opfer der Selbst-Desinteressierung“ darzubringen habe, scheint mir eher rhetorische Konsequenzen aus der Paradoxie der Beobachtung zu ziehen, denn für die eigene Theoriearchitektur folgt daraus überhaupt nichts. Zwar gesteht, wie oben zitiert, Luhmann ein, es gebe „andere Ausgangspunkte für Rationalität“, doch wird im selben Satz vorausgesetzt, daß es sich auch in diesem Fall um „Beobachtung zweiter Ordnung“ handele, also um verwandte epistemologische Positionen. Wer hier nicht mitspielt, wird als Alteuropäer ausgelacht. Und wer mitmachen will, wird von Luhmann aufgefordert, die vorgelegte „Theoriekonstruktion aus sich selbst heraus zu beurteilen“.[37] – Die Rhetorik des Parasiten, des Dritten oder des blinden Flecks ändert nichts am Aufbau der Systemsoziologie als Differenztheorie. Denn sie benutzt, wie Luhmann in den Sozialen Systemen grundsätzlich ausführt, „Leitdifferenzen“, und vor allem die „Leitdifferenz von System und Umwelt“.[38] Über das Dritte dieser Differenz macht die Systemtheorie keine Aussagen, die nicht schon die Differenz von System und Umwelt voraussetzten, Aussagen des Typs etwa, daß die Gesellschaft das ausgeschlossene Dritte der Unterscheidung von System und Umwelt wäre. Die Differenz würde so nur supplementiert werden, denn die Gesellschaft ist natürlich nur Gesellschaft als System in einer systemspezifischen Umwelt. Die Systemtheorie situiert sich selbst in dieser Gesellschaft, sie ist also „einer ihrer Gegenstände“ (S. 30). Der Beobachter ist also (zum Teil) das, was er beobachtet. Dieses Verhältnis hatten wir oben als Parasiten bezeichnet.
Daß der Parasit immer schon mit am Tisch sitzt, stört die Systemtheoretiker nun nicht im Geringsten, denn die Brosamen, die er verspeist, werden nicht vermißt, ja nicht einmal beobachtet. Denn das tertium datur, das die Unterhaltung bei Tisch belebt, spielt auf der operativen Ebene keine Rolle. Es bleibt bei der „Leitdifferenz von System und Umwelt“, sei es, um die Gesellschaft von ihrer Umwelt zu unterscheiden, sei es, um Funktionssysteme und Organisationen innerhalb der Gesellschaft von ihren systemspezifischen Umwelten zu differenzieren. Es bleibt vor allem – gleichgültig wie viele re-entries man vollzogen hat – allezeit dabei, daß das System die Grenze zur Umwelt selbst erzeugt, es bleibt dabei, daß die Umwelt komplexer als das System ist, und es bleibt dabei, daß das System seine Umwelt mitkonstruiert. Im vollen Bewußtsein der Systemreferenz seiner eigenen Aussagen kann Luhmann das erste Kapitel der Sozialen Systeme mit dem Satz beginnen: „Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt.“ (S. 30) Und ihre Umwelten (S. 31). Tertium non datur.
Dies führt, wie schon Hegel bemerkt hat, zu Paradoxien oder Tautologien. Das System ist das System, und das System ist nicht das System, insofern der Beobachter, der Systeme mit der Unterscheidung von System und Umwelt beobachtet, selbst Teil des Systems ist – nämlich Teil der Gesellschaft – und nur im System die Umwelt konstruiert. Die Umwelt ist Teil der Konstruktion des Systems. Voilà: das System ist die Umwelt. Tautologien und Paradoxien werden nun von der Systemtheorie entparadoxiert oder invisibilisiert.[39] Dies geschieht mit der Einführung weiterer Unterscheidungen. Die Paradoxie der Beobachtung wird also aufgehoben, indem sie verschoben wird. Im Falle eines Funktionssystems besorgt dies beispielsweise der binäre Code des Systems. Die Paradoxie des Systems wird entfaltet durch eine weitere Differenz. Das Rechtssystem begnügt sich nicht mit der Tautologie, daß Recht Recht ist, sondern beobachtet seine Umwelt mit der Unterscheidung von Recht und Unrecht. Alles, was derart codiert werden kann, kann im Rechtssystem rechtsförmig verhandelt werden. Aber wer unterscheidet so? „Die Paradoxie wird dadurch erzeugt“, daß als Antwort „eine Einheit erwartet wird“.[40] Was wäre denn die Einheit der Differenz von Recht und Unrecht? Sind Positionen vor dem Gesetz denkbar? Solche Fragestellungen führen zum einem Re-Entry der Differenz und damit zum „Problem der Rechtmäßigkeit der Oktroyierung einer Unterscheidung von Recht und Unrecht“, doch wird, so Luhmann im Aufsatz Am Anfang war kein Unrecht,[41] diese „Paradoxie des Rechtssystem invisibilisiert, ohne daß die Operation, die dies leistet, ihrerseits sichtbar werden würde“. Die Paradoxie des Systems wird in einem binären Code entfaltet, und die Paradoxie des Codes wird invisibilisiert, obwohl jede Operation des Systemcodes das Paradox mitführt. „Die Paradoxie der Codierung des Rechts“ wird, so Luhmann weiter, nicht als sozusagen autologisches Problem des Rechts, sondern als ein „Problem behandelt, das durch eine Orientierung an der Welt, so wie sie ist, gelöst werden kann; es wird als ein ontologisches Problem [...] behandelt, – so als ob es um eine Frage ginge, für die es unter Ausschluß dritter Möglichkeiten nur richtige und falsche Antworten gibt.“ Die Ampel war rot, und sie war nicht nicht-rot – das Bußgeld wird erteilt; dritte Möglichkeiten sind nicht vorgesehen, und wer sie dennoch ins Spiel bringt, gefährdet den Rechtsstaat.
Solche „Entparadoxierungsstrategien“ sind für Urs Stäheli beispielhaft für die Sozialsysteme der Gesellschaft oder genauer: für die Rekonstruktion der Systeme der Gesellschaft durch die Systemtheorie, also letztlich für sie selbst (S. 50). Sie führen „normalerweise“ zur Entfaltung oder zur Invisibilisierung der Paradoxie: dies heißt aber auch, daß der „ausgeschlossene Dritte“ durchaus ernst genommen wird, so ernst, daß er eigens getarnt wird. Im Falle systemtragender Differenzen, also etwa im Falle von Funktionscodes und Leitdifferenzen, genießt die Paradoxie des ausgeschlossenen Dritten „Latenzschutz“. „Latenz“ definiert Luhmann in Soziale Systeme als „Struktursicherungsmittel“,[42] der Begriff wird also funktional gefaßt. „Wenn Strukturen Latenzschutz benötigen“, so weiter Luhmann, „heißt dies nicht, daß Bewußtheit bzw. Kommunikation unmöglich wäre; sondern es heißt nur, daß Bewußtheit bzw. Kommunikation Strukturen zerstören bzw. erhebliche Umstrukturierungen auslösen würde, und daß diese Aussicht Latenz erhält, also Bewußtheit bzw. Kommunikation blockiert.“ (S. 459) An einem Prozeß im Rechtssystem wird etwa die Möglichkeit latent gehalten, daß einmal nicht „ohne Ansehen der Person“ geurteilt werden könnte, weil Personen bekannt sind, oder daß das Wissen um die politischen und wirtschaftlichen Folgen eines Urteils die Urteilsfindung beeinflussen, obwohl dieses Wissen nicht rechtsförmig codierbar ist. Sobald diese Parasiten des Rechts sichtbar werden, reagiert das System mit internen Säuberungen: zum Beispiel werden Richter für „befangen“ erklärt oder Urteile gleichsam „ohne Entscheidung“ gefällt und die Sache an den Gesetzgeber zurückverwiesen, der politische Probleme auch politisch zu behandeln vermag. Wenn jedoch der Parasit seinem Wirt das Gesetz gibt und dies sichtbar wird, kann es zum Zerfall des Systems kommen. Die Parteien können nicht länger im Verfahren dazu gebracht werden, das eigene Unrecht als Recht zu akzeptieren, wenn sie allen Grund zur Annahme haben, daß die Entscheidung „gekauft“ oder politisch erzwungen ist. Die Funktion des Rechtssystems besteht darin, diejenigen zu schützen, die „normgemäßes Verhalten“ erwarten.[43] Dank des Rechts kann man wissen, „mit welchen Erwartungen man sozialen Rückhalt findet, und mit welchen nicht“. (S. 132) Wenn solche Erwartungen frustriert werden, wird in einem Verfahren geklärt, ob Normen verletzt wurden oder nicht. Am Ende ergeht ein Urteil, die Sache wird entschieden. „Die Entscheidung selbst“, so schreibt Luhmann in Das Recht der Gesellschaft,
„ist aber keine Komponente der ihr vorliegenden Alternative [...]. Sie ist, muß man deshalb vermuten, das durch die Alternativität der Alternative ausgeschlossene Dritte. Sie ist die Differenz, die diese Alternative konstituiert; oder genauer: sie ist die Einheit dieser Differenz. Also ein Paradox. Entscheidungen gibt es nur, wenn etwas prinzipiell Unentscheidbares (nicht nur: Unentschiedenes!) vorliegt. Denn anderenfalls wäre die Entscheidung schon entschieden und müßte nur noch »erkannt« werden.“ (S. 308)
Diese Paradoxie der Entscheidung läuft der Funktion des Rechts zuwider, Entscheidungen erwartbar und „vorhersehbar“ zu halten (S. 19). Auch in der Entscheidung über Recht und Unrecht haust der Parasit des Dritten. Zu seiner Beobachtung benötigt man allerdings entweder Distanz oder Zeit – und im Moment der Entscheidung spielt ihre mögliche Dekonstruktion keine Rolle. Die Paradoxie der Entscheidung wird im Rechtssystem nicht thematisiert, sondern mystifiziert:
„Autorität, Dekoration, Begrenzung des Zugangs zum Geheimnis, Texte, auf die man sich beziehen kann, Auftritt und Abtritt des Gerichts – all das tritt an den Platz, an dem verhindert werden muß, daß das Paradox der Entscheidung als Paradox erscheint und damit verrät, daß die Voraussetzung, es könne nur mit Recht über Recht und Unrecht entschieden werden, ebenfalls eine Paradoxie ist“ (S. 309f).
Diese systemtheoretische Analyse, so vermutet Luhmann, sei „für Juristen unakzeptabel“ (S. 309). Schon die operative Schließung des Rechts als Funktionssystem sorgt dafür, daß es sich von derartigen Beobachtungen zweiter Ordnung auch gar nicht irritieren lassen muß. Seine Verfahren führen zur Entscheidung – Gerichte „müssen jeden ihnen vorgelegten Fall entscheiden“. Die „entsprechende Norm“ ist das „Verbot der Justizverweigerung.“ (S. 310) Was nicht entschieden wird, ist auch kein Fall. Und was ein Fall ist, entscheiden die Gerichte (S. 227). Auch das ist paradox und führt zu den notorischen Klagen über die Ungerechtigkeit des Rechts, ändert aber nichts an der systeminternen Rechtspraxis.[44]
Was wir hier am Rechtssystem vorgeführt haben, gilt auch für die Systemtheorie als Teil des Wissenschaftssystems. Die Systemtheorie vermeidet es, ihrem „Interesse an Paradoxien und blinden Flecken“ eine „dekonstruktive Wendung“ zu geben[45] – vielmehr hält sie ihre Leitdifferenzen stabil. Die vom System selbst erzeugte Grenze zwischen dem System und seiner Umwelt bleibt bestehen – oder das System endet. Ohne Grenze, ohne „Differenz zur Umwelt“, gäbe es kein System und keine Systemtheorie. „In diesem Sinne ist Grenzerhaltung Systemerhaltung“, erläutert Luhmann.[46] Das Dritte der Unterscheidung von System und Umwelt wird, um die Operationsfähigkeit der Systemtheorie zu gewährleisten, nachhaltig ausgeschlossen. Ein Vergleich bietet, wohl nicht zufällig, die Theologie.
Vor dem Anfang, wenn man so sagen darf, gibt es nur reine Selbstreferenz mit Einschluß alles ausgeschlossenen Dritten. Durch den Anfang erzeugt Gott die Differenz von Himmel und Erde und setzt sich selbst zu dieser Differenz different. Gott ist jetzt, und erst jetzt, weder Himmel noch Erde. Er schließt sich selbst als Drittes aus - als Drittes, dessen Eintritt in die Differenz eine Paradoxie erzeugen würde.“[47]
Der Schöpfer der Welt schließt sich durch die Schöpfung aus der Schöpfung aus. „Draw a distinction!“ heißt der von Luhmann immer wieder zitierte erste Imperativ des Formenkalküls von George Spencer Brown. Nach dem Autor dieses Imperativs ist bisher nicht gefragt worden. Er bleibt als Drittes ausgeschlossen, denn sein Eintritt in die Differenz würde Paradoxien erzeugen. Es mag auch hier einen „outside observer“ geben, der eine Position einnimmt, „from which a distinction is supposed to be seen.“[48]Dieser Beobachter zweiter Ordnung könnte den Dritten der Unterscheidung, den Parasiten der Differenz beobachten. Die Systemtheorie kann aber nicht selbst dieser „outside observer“ sein, wenn sie denn eine System-Umwelt-Theorie bleiben will. Weder Re-Entries noch Temporalisierung der Differenz ändern etwas daran, daß ihre Handhabung ein Drittes ausschließt, daß gerade mit der Differenz von System und Umwelt nicht zu beobachten ist. Sobald man es dennoch versucht, riskiert man die Grenze zwischen System und Umwelt und so die Systemerhaltung. Der Systemtheoretiker Peter Fuchs hat solch einen Versuch unternommen.
Wir nehmen die Metaphorik ernst und formulieren die Frage, die Fuchs dekonstruiert, wie folgt: „wie läßt sich das System von seiner Umwelt unterscheiden?“ Die beiden Antworten, die unsere kurze de Man-Lektüre nahe legt, lauten: „mit einer Differenz natürlich, nämlich mit der Differenz von System und Umwelt“, oder aber: „gar nicht“. Man darf vermuten, daß es auch Fuchs auf die Einheit dieser widerstreitenden Antworten ankommt: auf die Dekonstruktion, die – so formulieren wir das Paul de Man-Zitat um – der Systemtheorie nicht hinzugefügt wird, sondern die sie allererst konstituiert.
De Man hat an seinen Lektüren vorgeführt, daß eine Differenz zwar differenziert, sich das Unterschiedene aber nicht widerspruchsfrei unterscheiden läßt. Insbesondere die Differenzierungen von Zeichen und Bedeutung, Logik und Rhetorik, Innen und Außen werden von der Dekonstruktion ausgehebelt, in dem sie zeigt, daß die Logik immer schon eine Rhetorik, das Innen ein Außen und keine Bedeutung ohne Zeichen sei. Die Unterscheidung und zugleich Suspendierung der Unterscheidung durch das Unterschiedene (Derrida nennt dies auch „différance“) sei, so betont de Man, keine Operation des Interpreten, sondern im „Text am Werk“. Diese Textbewegung heißt: Dekonstruktion. Ohne auf diese Position de Mans näher einzugehen, überträgt (metapherein) Fuchs ihr Modell in die Systemtheorie, d.h. er versucht vorzuführen, daß die „différance“ in ihr immer schon am Werk ist.
Bereits Urs Stäheli sah einen „dekonstruktiven Parasiten“ in der Systemtheorie am Werk; liest man nun Fuchs, dann darf man sagen, daß sich dieser Parasit mittlerweile außerordentlich wohlfühlen muß, denn alle zentralen Begriffe (und d.h. für Luhmann: Unterscheidungen) sind ihm erlegen. Zuerst wird Yeats „allgemein leitende Frage“ von Fuchs an System und Umwelt, Kommunikation und Bewußtsein, Sprache und Schrift herangetragen, worauf die Unterscheidungen in eine Innen/Außen-Differenz umformuliert werden, um dann diese Differenz als „zentrales metaphorisches Moment der Systemtheorie“ zu bestimmen (S. 85). Die sachlich und methodisch kontrolliert auftretenden Leitdifferenzen der Systemtheorie werden als figurative Effekte oder performative Inszenierungen erkannt, und Fuchs konstatiert ein „Verschwimmen der Unterscheidung“. In zahlreichen Lektüren führt Fuchs den Nachweis, daß im Text eine „Verdrehung oder Verschiebung an oder mit der Innen/Außen-Unterscheidung geschieht“, ja daß womöglich „alle Unterscheidung wegfällt“ in einem „Sein ohne Differenz, [...] ohne Zeit, ohne Raum“ (S. 46). Fuchs nennt dies eine nicht-euklidische, nicht-cartesische „Soziologie“ (S. 29), obwohl es doch wohl eher ein Sprachspiel ist, das auch soziologische Texte liest.
Die Differenzierungen „System/Umwelt, Innen/Außen“
werden als „Hypostasierungen“ oder als „Ausblenden nicht-cartesischer Komplexität“
entlarvt, um schließlich dem „Begriff Differenzierung“ selbst derart
zu dekonstruieren, daß man sagen muß, nicht die Differenz,
sondern die différance „etabliert das Differentielle“. Fuchs kann
nun schreiben, daß „Theorien des Typs, der sich hier betreibt,
aller Ontologie abgeschworen haben.“ Wie die Dekonstruktion in Yeats Gedicht
betreibt sich die dekonstruierte Systemtheorie selbst, also ohne etwas
oder jemanden, dem man die Unterscheidungen zurechnen kann. Die, wie Fuchs
empört feststellt, „offenbar nicht auszurottende Gepflogenheit,
einen Täter von Taten, ein Selbst des Bewußtseins, einen Unterscheider
oder Operateur zu unterstellen“ (S. 81), ist nun doch ausgemerzt worden,
denn die Theorie betreibt sich ja selbst. Konsequent wird all das, was
bei Luhmann ein Beobachter gewesen ist, dem die Unterscheidungen seiner
Beobachtungen zuzurechnen waren, durchgestrichen: Gesellschaft,
Kommunikation,
System.
Wenn die Soziologie
ein Teil der Gesellschaft ist, und was sollte sie sonst sein, dann folgt
daraus, daß sie in ihrem Beobachtungsbereich selbst enthalten ist.
Dies ist nicht selbstverständlich, schließlich sind Botaniker
keine Bäume, die Beschreibung der Gesellschaft
ist jedoch Teil der Gesellschaft. Jede soziologische Operation ist eine
Kommunikation – und mithin Teil ihres Objektbereiches. Dieses Verhältnis
hat Luhmann in dem Titel seines opus magnum Die Gesellschaft
der Gesellschaft ausgestellt. Seine Gesellschaftstheorie
macht das „Angebot einer Beschreibung der Gesellschaft in der Gesellschaft“,
also nicht von einer Außenperspektive auf die Gesellschaft, sondern
als ihr Teil. Aus der daraus resultierenden Kontingenz der Beschreibungen
folgt für Luhmann aber nicht, man müsse auf zurechenbare, methodisch
kontrollierte Aussagen verzichten, vielmehr haben sie als wissenschaftliche
Kommunikation die „Konkurrenz“ anderer Theorien zu bestehen. „Machen Sie
es anders“, ermuntert Luhmann gegen Ende der Gesellschaft der Gesellschaft,
um hinzuzufügen: „aber mindestens ebenso gut“. (S. 1133)
Peter
Fuchs dagegen kommt „zu folgendem Satz: Die Gesellschaft der Gesellschaftist
die Gesellschaft.“ Dem kann man nur schwer widersprechen; aber eine sich
selbst bewegende Theorie steht auch nicht in Konkurrenz zu soziologischen
Positionen. „Die
Aussage eines Gedichtes läßt sich nicht paraphrasieren,
nicht in der Form eines Satzes zusammenfassen, der dann wahr oder falsch
sein kann“, schreibt Luhmann in Die Kunst der Gesellschaft.
Man darf diese Aussage auf Fuchs beziehen, denn die „Systemtheorie, die
wir hier betreiben“, so Fuchs, hat keine „referablen Kerne“ (S. 224). Es
leuchtet nun ein, daß er an den Anfang seines Schreibens die „Kunst
des Fabulierens“ setzt und den Beobachtern empfiehlt, „das Unerforschliche
in aller Ruhe zu verehren“. Man könnte Fuchs’ „Theorie“ mit Fug als
„Lehrgedicht“ bezeichnen.[51]
Ein Buch dieses Titels befindet sich in Druck.
Fuchs’ Versuch, den ausgeschlossenen Dritten einzuschließen, bezieht genau jene Position paradoxer Unentscheidbarkeit, deren Möglichkeit Luhmann zwar konzediert, aber zugunsten von Konsistenz und Operationalität der Theorie sogleich wieder räumt. Fuchs dagegen invisibilisiert die Paradoxie nicht, noch verschiebt er sie: er führt sie vor. Ich zitiere:
„innen ist außen, außen ist innen. Die Barre der Unterscheidung wird nicht eigentlich durchgestrichen, aber sie beginnt, eine Selbigkeit zu trennen, sie ist kaum noch der Schied eines Unterschieds, sondern das Zeichen für eine kuriose Tautologie: Dasselbe ist das Geschiedene, das Geschiedene ist Dasselbe.“ Die Unterscheidung kennt „kein Grenzzeichen, kein Schied mehr“ (S. 104).
Luhmann dagegen, so behauptet Fuchs wohl mit Recht, habe im Dienst der Operativität seiner Theorie die „Hypostasierung der Differenzseiten (System / Umwelt, Innen / Außen etc.)“ in „Kauf genommen. Bezahlt wird mit jener spezifischen Blindheit im Blick auf den Schied oder die Barre, durch die die Einheit bezeichnet wird, die wir System nennen.“ (S. 145) Die „Annahme, daß in der Gesellschaft Funktionssysteme wie Wirtschaft, Recht, Kunst, Wissenschaft, Erziehung, Religion nebeneinander existieren“, hält Fuchs für „kurios“ (S. 155), weil diese These der Systemdifferenzierung unterschlägt oder besser: ausschließt, daß das Geschiedene Dasselbe ist. Wer Funktionssysteme oder Organisationen oder Interaktionssysteme (vgl. S. 155) beobachten will, „muß mit einem eingebauten Sehfehler arbeiten“ (S. 242f). Ohne Blindness, keine Insight.
Wer sich dagegen angesichts der Paradoxien des Beobachters
nicht ein Auge zuhalten will, sieht mit Fuchs im System die Metapher für
das Zwischen der „System / Umwelt-Unterscheidung“, für die sogenannte
„Barre“, die als Differenz weder Nichts ist noch nicht Nichts (S. 242).
„Sie ist und ist nichts“ (S. 122). Die
Aufgabe, der sich Fuchs verschreibt, ist die Heideggers, nämlich „die
Differenz als solche zu bedenken“[52]
und dabei alle onto-theo-logischen Fesseln abzustreifen. Der zentrale Begriff
der Systemtheorie: System ist eine Metapher für etwas, das noch jenseits
der Differenz des Systems liegt in einem „post-cartesischen“ Raum, der
„keinen Rand hat, keine Grenze“ (S. 79), in einem Raum, der auch keine
Differenz mehr zwischen System und Umwelt kennt, weil dies ein Grenzregime
erforderte, also in einem Raum „vor“ aller Differenz. Die Gesellschaft,
deren Beobachtung die Systemsoziologie betreibt, kann Fuchs nun nur noch
durchgestrichen anschreiben:
Gesellschaft. Diese Gesellschaft
sei, so Fuchs, ein „a-topos“, ein „Nicht-Ort oder UN-Ort“ (S. 117). „Auch
hier“, so Fuchs, „könnte es sich empfehlen, das Wort System
als die Metapher für diese Unausdrückbarkeit zu nehmen.“ (S.
168) Wer immer dieses Wort verwendet, sollte wissen, daß es sich
um eine Übertragung handelt, die eine Differenz unterschlägt,
und das Wort eigentlich „System“ heißen müßte.
Mit diesem, wie Fuchs es nennt, „gebarrten“ Wort endet sein Buch.
Man hat sich über diese programmatischen Aussagen
Luhmanns empört oder belustigt. Fuchs hat versucht, eine Systemtheorie
zu entwerfen, die auf solche „Seinsaussagen“ über die „wirkliche Welt“
verzichten kann. Dies hat den Vorteil, daß sich diese Systemtheorie
nicht auf eine Bewährung ihrer Aussagen an der Wirklichkeit einlassen
muß, denn sie betreibt sich oder schreibt sich selbst als ständig
aufgeschobene Differenz (S. 84), die sich auf die Beobachtung „sozialer
Kontakte“ in der wirklichen Welt nicht einläßt. Es kommt ihr,
wie Fuchs ausführt, „ersichtlich nicht darauf an, ob man in
Urwäldern, auf Savannen, in Groß Wesenberg, Dinkelsbühl,
New York oder Kalkutta lebt oder einstens lebte im Rom der Gladiatoren
oder in China vor dem Bau der großen Mauer oder von Höhlen oder
dereinst leben wird in den megalopolen Zentren Europas, Asiens, Amerikas
oder in den Slums, die sie mitproduzieren.“ (S. 238) Der Systemsoziologie
kommt es aber genau darauf an. Die Figur des Dritten in der Systemtheorie,
so könnte man pathetisch sagen, opfert ihrem epistemologischen Ultraismus
alles erste und zweite auf, das die Soziologie mit der Unterscheidung von
System und Umwelt zu beschreiben versucht.