Denn
aus jenem erkenne ich, mehr als aus diesem, daß ich wirklich ein
großer Maler bin; daß es aber meine Hand nur nicht immer ist.
- Oder meinen Sie, Prinz, daß Raphael nicht das größte
malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicher Weise ohne
Hände wäre geboren worden? Meinen Sie, Prinz?“
Der
Künstler mißtraut seinem Medium, doch er vertraut seiner Subjektivität.
Um es zunächst in den Begriffen der Zeit[1]
zu formulieren: Der Weg von dem, was der Künstler sich in seiner Phantasie
vorstellt, zur Abbildung dieser Phantasie im Kunstwerk ist zu lang und
zu unwegsam: es geht viel verloren. Conti bezeichnet sich selbst als großen
Maler, weil seine Phantasie groß ist, weil sein Auge Großes
sieht, nicht aber, weil er eine talentierte Hand habe. Gerade der Beobachtung
der Differenz von Werk und Vision verdankt er seine Überzeugung, ein
großer Maler zu sein. Was auch immer auf die Leinwand kommen mag,
ausschlaggebend ist die Unmittelbarkeit der Vision des Werkes im Medium
der Einbildungskraft und nicht seine Entäußerung mittels Leinwand,
Pinsel und Öl. Daher ist es für Conti konsequent zu behaupten,
daß „Raphael“ auch in dem Fall „das größte malerische
Genie“ aller Zeiten gewesen wäre, „wenn er unglücklicher Weise
ohne Hände wäre geboren worden“. Das Genie ist Künstler
auch ohne Werk. Wie ist das möglich?
Ein
Blick zurück, auf die vormoderne Konzeption des Werks, ermöglicht
eine Antwort. Der römische Philosoph und Politiker Seneca schreibt
47 n. Chr. in seiner Trostschrift an Marcia: „Du wirst [mancherlei]
Künste lernen und lehren, einige, die das Leben versorgen,
andere, die es schmücken, andere, die es regeln.“[2]
An diesem beliebig ausgewählten Zitat sind mehrere Punkte symptomatisch
für die Kunst in Alteuropa. Zum einen ist von Künsten im Plural
die Rede, die lehrbar wie lernbar sind. Dies gilt für die Rhetorik
wie für die Mathematik, für die Astronomie wie für die Musik
oder die Poesie. Zum zweiten haben diese Künste unterschiedliche Funktionen,
etwa die, nützlich oder ergötzend, belehrend oder bewegend zu
sein. Mit welchen Mitteln man welche Zwecke erlangt, ist in zahlreichen
Abhandlungen niedergelegt und kann als techné erlernt werden.
An dieser überaus reduzierten Skizze kommt es nur darauf an, was auch
Niklas Luhmann in seiner Kunst der Gesellschaft betont:
Nämlich
daß noch „die spätmittelalterlichen und frühmodernen Kunstprogramme
in der Form von Rezepten und Regeln auftreten. Es geht zunächst
um die Renaissance der Antike, um den Wiedergewinn ihres Könnens an
Hand der wiederentdeckten Themenvorlagen. [...] Dafür genügen
erlernbare Regeln, und solange es bei der Handhabung dieser Regeln zu Verstößen
kommt, mag die bloße Demonstration des Könnens schon als Kunst
gelten.“[3]
Solange
die Kunst erstens auf die Mimesis einer von Gott geschaffenen und wohlgeordneten
Welt verpflichtet ist und zweitens diese Repräsentation der Welt im
Werk auf ein Set von Selektionsaneisungen, Techniken und Regeln zurückgreifen
kann oder besser: muß,[4]
ist jedoch für Künstler ohne Werk kein Platz. Der Geniebegriff,
den Conti verwendet, wenn er einen Raphael selbst ohne Hände zum größten
Maler aller Zeiten kürt, stützt sich auf ein neues, nicht-technisches,
post-mimetisches Verständnis von Kunst. Konnte nach der Vorstellung
Alteuropas sozusagen jeder ein Künstler sein, wenn er nur die Regeln
und Techniken seiner Kunst erlernte und sie vorschriftgemäß
anwendete, so hat die Ästhetik des späten 18. Jahrhundert eine
ganz andere Voraussetzung entdeckt, die weder lehr- noch lernbar ist, sondern
von der Natur gleichsam schicksalhaft an wenige Auserwählte verschenkt
wird: das Genie.
An
der kurzen Skizze der alteuropäischen Semantik der Künste und
der modernen Ästhetik des Genies kommt es uns hier nur auf den Unterschied
an, der die paradoxe Formel des „Künstlers ohne Werk“, des Malers
„ohne Hände“ plausibel zu machen vermag. Dieser Unterschied liegt
im Verhältnis zur Technik oder techné. Das Genie wird
der lehr- und lernbaren Kunstproduktion am Leitfaden von Regeln und Technologien
strikt entgegengesetzt, und diese Differenz wird unüberbietbar dann
inszeniert, wenn das Genie überhaupt nichts Materielles mehr produzieren
muß, um Künstler zu sein. Werther formuliert dieses Paradox
wie folgt: „Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und
bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken.“[5]
Auch er ist ein Künstler ohne Werk. Daß es hier um eine Abgrenzung
von der alteuropäischen Auffassung der Künste geht, macht Werther
genauso deutlich. Ich zitiere eine Passage des Romans, in der Natur und
Kunst gegen Regeln und Gesetze ausgespielt werden:
„Das
bestärkte mich in meinem Vorsatze, mich künftig allein an die
Natur zu halten. Sie allein ist unendlich reich, und sie allein bildet
den großen Künstler. Man kann zum Vorteile der Regeln viel sagen,
ungefähr was man zum Lobe der bürgerlichen Gesellschaft sagen
kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie etwas Abgeschmacktes
und Schlechtes hervorbringen, wie einer, der sich durch Gesetze und Wohlstand
modeln läßt, nie ein unerträglicher Nachbar, nie ein merkwürdiger
Bösewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel, man rede
was man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck
derselben zerstören!“ (S. 15)
Die
Natur wird nun nicht mehr im Werk repräsentiert, sondern die Natur
wird in ihrer unendlichen Produktivität zum Vorbild des Genies. Die
sehr selbstbewußte Abwendung der Genieästhetik von den alteuropäischen
Regelpoetiken und -Codizes steigert sich nicht nur im Werther zu
einem Verdacht gegen alle Medien der Kunst schlechthin: gegen Sprache wie
gegen Leinwand und Farben. Conti wünschte sich nichts dringlicher,
als „unmittelbar mit den Augen [zu] malen“. Das Mißtrauen
gegen Medien der Kunst hängt unmittelbar mit dem Geniekonzept zusammen,
insofern es sich auf radikale Individualität stützt oder, juristisch
formuliert, auf Eigentümlichkeit.[6]
Der alteuropäische Künstler orientiert sich an „Regeln und Rezepten“,
das heißt: er wendet allgemein zur Verfügung stehende Wissensbestände
an, ähnlich wie ein Handwerker, ein Ingenieur oder ein Mathematiker.
Er ist im alten Sinn des Wortes ein Techniker. Was er derart produziert,
hätte – forciert gesprochen – unter vergleichbaren Bedingungen jedermann
herstellen können: alles, was man dazu braucht, steht jedem zu Verfügung
und gilt als Gemeingut. Entsprechend hat der Künstler kein
Urheberrecht auf seine Produkte: sie können kopiert und vervielfältigt
werden. In der Literatur war der Nachdruck von Werken, in der bildenden
Kunst das Kopieren in Form von Kupferstichen, das sprichwörtliche
„Abkupfern“, bis ins 19. Jahrhundert hinein vollkommen legal, weil die
Vorstellung vorherrschte, das Werk gehöre seinem Urheber in keiner
Weise eigentümlich an, weil es nämlich ein Produkt ist,
zu dessen Herstellung „Gemeingut“ dient und nichts Individuelles an sich
hat. Dies ändert sich erst, wenn das Werk als Werk des Genies zur
„Inschrift des Individuellen“ wird, als Werk, das sich durch die höchst
individuelle, originale, eigentümliche Formung eines Mediums auszeichnet,
als individuelle Prägung, die dem Originalgenie höchstpersönlich
und exklusiv zuzurechnen ist,[7]
und zwar juristisch wie hermeneutisch oder ästhetisch.
Das
Problem dieses neuartigen Werkbegriffs liegt nun darin, daß das Genie
bei seiner Schöpfung auf Medien zurückgreifen muß, die
sich per definitionem der Individualität verschließen, weil
sie sozusagen commun sind. Im Falle der Dichtung ist dies die Sprache,
die sich ja gerade dadurch auszeichnet, daß sie Kommunikation ermöglicht.
Friedrich Schiller hat dies 1793 so formuliert: „Die Sprache beraubt also
den Gegenstand, dessen Darstellung ihr anvertraut wird, seiner Sinnlichkeit
und Individualität und drückt ihm eine Eigenschaft von ihr selbst
(Allgemeinheit) auf, die ihm fremd ist.“[8]
Die Aufgabe des Genies wäre für Schiller dann die, umgekehrt
dieses allgemeine Medium individuell zu formen. Dies sei eine schwierige
Aufgabe deshalb, weil das Medium selbst eine Tendenz zur Abstraktion habe
– denn Worte abstrahieren, d.h. sie sehen von dem Allermeisten ab,
was ein Individuum ausdrücken will; anders geht es nicht, denn eine
wahrhaft individuelle oder originelle Sprache wäre für alle außer
den Sprecher selbst unverständlich. Eine „individualisierte Sprache“
vergleicht E.T.A. Hoffmann mit der „Hieroglyphe“, also mit einer gar nicht
oder nur sehr schwer zu dechiffrierenden Geheimschrift.[9]
Schiller
freilich glaubte immerhin an die Möglichkeit einer individuellen Handhabung
eines „allgemeinen“ Mediums – aber radikale Theoretiker der Genieästhetik
wie Conti und Werther wollten gleich ganz auf die Nutzung von Medien verzichten.
Dies war auch insofern konsequent, als das, worauf es ankam: die Individualität
oder Originalität ihres Genies im Innersten des Menschen ausgemacht
wurde, während alle Manifestationen in Form von Kunstwerken in der
äußeren Welt stattfinden mußten. Der Künstler ist
also am reinsten Genie im Akt seiner geistigen Schöpfung, nicht aber
im materiellen Produkt dieser Schöpfung. „Genie ist Geist“,[10]
wie Friedrich Schlegel prägnant formuliert. Um, mit Schillers Worten,
dem ‚Raub der Individualität’ durch Kommunikationsmedien zu entgehen,
verzichten Conti und Werther auf die Medien der Kunst. Herder vertritt
1772 eine ähnliche sprachkritische Position: „was sich bloß
durchs dunkle Gefühl empfinden läßt, ist keines
Worts für uns fähig, weil es keines deutlichen Merkmals fähig
ist.“ Das Gefühl ist weder clare noch distincte – und
doch eine zentrale Eigenschaft des Menschen, weshalb Herder folgert: „Die
Basis der Menschheit ist also, wenn wir von willkürlicher Sprache
reden, unaussprechlich.“[11]
Die Innenwelt des Menschen ist daher grundsätzlich nicht verlustlos
darstellbar. Vieles, so noch einmal Herder, was gefühlt wird, „findet
weder in Sprache noch Kunst einen Ausdruck“.[12]
Die Zweifel der jungen Genieästhetik der 1770er Jahre an der Möglichkeit,
mit allgemein zur Verfügung stehenden Mitteln und Regeln etwas
Individuelles
schaffen zu können, führen, wie Gerhard Plumpe es ausdrückt,
geradewegs in ein folgenreiches „Kommunikationsparadox“. Zu dessen „Konsequenzen“
gehört u.a.
„der
absolute Vorrang der Künstlerindividualität vor ihrem Werk; liegt
der Grund der Kunst in sozialexterner Subjektivität, dann erscheint
das Werk als deren Ausdruck zweitrangig, vor allem als zweideutig. Zweitrangig,
weil alles auf die subjektive Vision, die geniale Gestimmtheit, die individuelle
Wahrnehmung ankommt, die das Werk bestenfalls fixieren, d.h. wiederholen
kann; zweideutig, weil diese Wiederholung der authentischen Subjektivität
Medien der Kommunikation bedarf, die sie stets zu verfehlen drohen.“[13]
Dem
Genie bliebe nur noch übrig, zu schweigen oder – aufgrund der
radikal singulären Subjektivität seiner Äußerungen
– unverstanden zu bleiben. Die Fruchtlosigkeit dieses Paradoxes
wird aber schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts durchschaut und der Geniebegriff
modifiziert. Kant etwa, der ja seinen Kunstbegriff durchaus auf das Genie
stützt, macht sich über all jene „seichten Köpfe“ lustig,
die glauben, „daß sie nicht besser zeigen können, sie wären
aufblühende Genies, als wenn sie sich vom Schulzwange aller Regeln
lossagen, und glauben, man paradiere besser auf einem kollerichten Pferde,
als auf einem Schulpferde. Das Genie“, so weiter Kant, „kann nur reichen
Stoff zu Produkten der schönen Kunst hergeben; die Verarbeitung desselben
und die Form erfordert ein durch die Schule gebildetes Talent, um einen
Gebrauch davon zu machen, der vor der Urteilskraft bestehen kann.“[14]
Etwas durch und durch Soziales, der „Geschmack“ nämlich, legt dem
Genie gleichsam die Kandare an. „Der Geschmack ist, so wie die Urteilskraft
überhaupt, die Disziplin (oder Zucht) des Genies, beschneidet diesem
sehr die Flügel und macht es gesittet oder geschliffen“. (S. 257)
Die Kunst wird von Kant wieder in die „Gesellschaft“ (S. 229) hineingeholt,
anthropologisch wird dies mit dem Topos des Menschen als eines sozialen
Wesens begründet. Ein vollkommen isolierter Mensch werde nie Werke
der Kunst hervorbringen, sie entstünden nur in und für die Gesellschaft
(S. 229f). Ohne Medien der Kommunikation gehe es also nicht.
Auch
Raphaels Genie wird jetzt, 30 Jahre nach Lessings Emilia Galotti,
ganz anders gesehen, nämlich nicht als potentiell verstümmelter
Künstler ohne Werk, sondern als jemand, der seine Materialien und
Werkzeuge beherrscht und sein eigenes Genie so diszipliniert hat, wie Kant
es fordert. Georg Foster stellt ihn lobend den jungen „Totalgenies“ entgegen:
„So
wußte Raphael, der größte Mensch der je den Pinsel führte,
seinem Genius zu gebieten, indem er es nicht für kleinfügig hielt,
zu jeder seiner Figuren eine Skizze zu entwerfen, deren Verhältnisse
er mit dem Zirkel maß. Daher kommt es denn auch, daß die Arroganz
der jungen Zeichner, die auf den ersten Blick an seinen Figuren nichts
besonders sehen, bei dem ersten Versuche sie zu kopiren, zu Schanden wird.“
Die
Beherrschung von Regeln und Techniken weiß man wieder zu schätzten
– dies ist freilich nur deshalb möglich, weil diese notwendige Komponente
niemand mehr mit der alteuropäischen Kunst als techné
verwechseln würde.[15]
Die
Schweizer Kunstzeitschrift „material“ (Nr. 5, 2001) stellte kürzlich
fest, daß der größte Teil der Kommunikation über
Kunst in Printmedien stattfinde, die in der Regel langen Texten schlechte
Abbildungen an die Seite stellten. Im Falle von Ausstellungsbesprechungen,
so die These, bildeten die Kernreferenz dieser Texte in aller Regel nicht
die einzelnen Werke, sondern das Konzept des Kurators (S. 34). Wenn dies
zutrifft, dann könnte der Grund dafür in der Verfaßtheit
des Systems der Massenmedien liegen: die massenmedial verbreiteten „Texte
zur Kunst“ finden in den programmatisch auftretenden Konzepten der Kuratoren
Formeln und Skripte vor, die deshalb ohne Umstände verwendet werden
können, weil sie bereits diskursiviert sind: word
processing.
Man kann derart Texte aus Texten herstellen und so tun, als berichte man
über Kunst. Die Kuratorenprosa, so vermutet der guest
editor
von material, der Kasseler Kurator Tobias Berger, wird so zum entscheidenden
„Teil des Werks“, weil dessen Beschreibungen immer wieder „rezitiert“ würden
und so „historisch am relevantesten“ seien (S. 33). Heinz-Werner Lawo hat
in einem Beitrag für das „Kunstforum international“ (Bd. 125, Januar/Februar
1994) die rhetorische Frage „Texte statt Kunst?“ mit der These beantwortet,
die Kunstkritik spiele mittlerweile die Hauptrolle auf einer Bühne,
die einmal den Werken gehörte, während die Kunstwerke nunmehr
gleichsam im Zuschauerraum säßen, um dieser Neubesetzung hilflos
zuzusehen (S. 213). Über die „documenta X“ hatte Beat Wyss geschrieben:
„es fehlte das Kunstwerk“ (SZ vom 27./28. 9. 1997); was gewiß
nicht
fehlte, waren Texte, vor allem theoretische Texte, oder genauer: zitierte
Textfragmente aus Soziologie, Medien- und Kulturwissenschaft, Ethnologie
und anderen Humanities,
die „Politics,
das buch zur documenta“ prägten (Cantz Verlag, Kassel 1997). Einen
großen Teil der dort mitabgedruckten Bilder darf man wohl getrost
als Illustration mehr oder weniger wissenschaftlicher Thesen bezeichnen.
All
diese Beispiele geben deutliche Hinweise auf eine mögliche Entkopplung
der Kunstwerke von der Kunstkommunikation. Statt selbst zu dichten, wie
die Romantik es von ihren Kunstkritikern verlangte, beobachtet die Kunstkommunikation
lieber Kuratoren als Werke. Dies hat den enormen Vorzug, daß sämtliche
Probleme, die bei der Diskursivierung von Wahrnehmung auftreten können,
gar nicht erst auftreten. All das ist freilich so neu nicht: Tom Wolfe
hat in seiner Polemik „The
painted Word“
(1975) behauptet, das Wichtigste der modernen Kunst seien die Texte über
moderne Kunst: „Gemälde und andere Kunstwerke existieren nur, um den
Text zu illustrieren“.[24]
In einer ähnliche Metaphorik wie Lawo behauptet Wolfe, die „Kunsttheorie“
spiele nicht „länger die zweite Geige“ (S. 37), sie dirigiere. Die
Künstler, behauptet Tom Wolfe, stellten sich unterdessen auf diese
Hegemonie der Texte ein. Ich zitiere:
„So
begab es sich, daß im April 1970 en Künstler namens Lawrence
Weiner im Arts Magazine ein maschinenschriftliches Kunstwerk – als
Kunstwerk – veröffentlichte, dem keine visuellen Erfahrungen vorausgegangen
war und dem auch keine folgen würde, und zwar:
1.
Der Künstler könnte ein Werk entwickeln
2.
Das Werk könnte erfunden sein
3.
Das Werk muß nicht ausgeführt sein.
Da
alle drei Punkte gleichermaßen in Einklang mit den Absichten des
Künstlers stehen, liegt die Entscheidung bezüglich der zu wählenden
Bedingung angelegentlich des Empfangs beim Empfänger.“
Wolfe
kommentiert dieses gleichsam immaterielle Werk;
„Da
war es also endlich! Kein Realismus mehr, keine Gegenstände mehr,
keine Linien, Farben, Formen und Konturen, kein Pigmente, keine Pinselstriche,
keine Assoziationen, keine Rahmen, Wände, Galerien, Museen [...],
kein Publikum mehr“ (S. 102).
Was
bleibt, sind „Worte auf einer Seite“, die aber selbst nicht das Werk sind,
sondern nur auf ein Werk verweisen, das der Empfänger selbst konstruiert,
wenn er es denn so will; ein Werk, das also wiederum so radikal singulär,
individuell und inkommunikabel ist wie die genialischen Projekte 200 Jahre
zuvor. Wolfe hält dies Werkform für eine „unsichtbare, ja unaussprechliche
Vision, so unaussprechlich wie die Engel“ (S. 103). Der Diskurs der modernen
Kunstkommunikation ist damit dort angekommen, wo er begonnen hat: im Paradox.
Noch
ein zweiter Weg führt dorthin. Wir hatten oben das Mißtrauen
der Genieästhetik in alle Medien der Kommunikation geschildert. Dieses
Mißtrauen wurde nicht substantiell überwunden, aber umgangen.
Hunderte von Seiten zeugen beredt von den Zweifeln an der Kommunikabilität
von Kunst. Und Kunstkritiken, die selbst zur Kunst zählen sollen,
stellen sich der paradoxen Aufgabe, das Inkommunikable zu kommunizieren.
Wenn man heute von „objectless
art“ oder
„post-media
art“ spricht,
dann sind womöglich vergleichbare Probleme involviert. Als Beispiel
wähle ich die Kunstform der „Aktion“.[25]
Die Aktion ist keine Poiesis, sie bringt nichts außer sich
hervor, sie produziert keine „Werke“ in dem Sinne des Begriffs, wie Werther
ihn gebraucht. „Das Besondere an Aktionen ist“, so entnehme ich der Zeitschrift
„material“, „daß sie einmalig stattfinden. Selten sind sie
wiederholbar; wobei eine »Originalwiederholung« ohnehin als
Paradox erscheint. [...] Das Problem der Konservierung ist der Aktion damit
immanent.“ (S. 34) Die Aktion ist also ein singuläres Ereignis, sie
ist als unwiederholbares Original nicht zu konservieren, sie ist also nicht
verlustlos zu medialisieren. Es kommen noch weitere Eigenschaften hinzu,
die uns aus der „Künstler ohne Werk“-Debatte bereits vertraut sind.
So ist etwa die Aktion selbst zu der Zeit, in der sie stattfindet, für
externe Beobachter nur schwer wahrzunehmen. Man denke etwa an die Performance
von Ulay und Abramovi? von 1988 in China.
„Ulay
und Abramovi? begeben sich am 30. März auf die Große Mauer.
Ulay befindet sich in Jaiyuaguan, die Peripherie der Gobi Wüste und
das westliche Ende der Grossen Mauer. Abramovi? ist in Shanhaiguan, an
der Küste des Gelben Meeres und dem östlichen Ende der Großen
Mauer. Zwischen ihnen liegen 4250 km Abstand, Ulay läuft in östlicher
Richtung über und entlang der Großen Mauer. Abramovi? läuft
in westlicher Richtung über und entlang der Großen Mauer. Beide
laufen, bis sie sich begegnen.“ (S. 41)
Daß
es sich bei diesem großen Spaziergang um ein gigantisches Kunstwerk
handelt, dessen Medium 4250 km lang ist, wissen zunächst einmal nur
die beiden Künstler selbst. Es ist für andere, selbst wenn jemand
einen der Künstler begleitete, unbeobachtbar. Ähnlich wie Werthers
immaterielles Meisterwerk ist es inkommunikabel. Auch die jahrelangen Aktionen
von Tehching Hsieh entziehen sich der Beobachtung als Kunst. Das „cage
piece“ von 1978/79, in dem er sich für ein Jahr in einem etwa 6 qm
großen Raum unter Bedingungen rigider Isolationshaft einsperren läßt,
schließt jedes Publikum per se aus. Und was immer er in seiner Aktion
Earth
1986-1999 zu tun gedenkt: „I will not show it PUBLICLY“ (S. 51). Erneut
bewegt sich hier die Kunst am Rande der Nichtkommunikation, also am Rande
ihrer sozialen Existenz. Daß diese Aktionen dennoch Teil der Kunst
sind, belegt, daß auch hier ein Ausweg aus der Paradoxie gefunden
worden ist.
Die
Lösung scheint einfach und elegant zu sein: Die Aktionen werden mit
technischen
Medien protokolliert oder sie werden schriftlich notiert. „Als Abhilfe
und um Museumsdirektoren, Ausstellungsmacher und Sammler zu befriedigen,
wurden daher“, so Tobias Berger, „Dokumentarreliquien hergestellt“ (S.
35). Das dreifache „Problem der Einmaligkeit, der Nichtausstellbarkeit
und Unverkäuflichkeit“ wird so kassiert, und die bislang nahezu medien-
und beobachterlose Aktion wird von einem Aufschreibesystem zu jener Form
von Werk weiterverarbeitet, von dem die Aktionskunst eigentlich aggressiv
Abschied genommen hatte. Nicht nur Videos und Photos, auch die diversen
Verschriftlichungen und Notationen zählen zur Aktion dazu, die konsequenterweise
nun auch wieder „Kunstwerk“ heißen darf (S. 37). Die als Alternative
zur Kunst der Werke gepriesene objectless art hat – als sei sie
eine Wiedergängerin der Romantik – ihre Paradoxie umgangen und verschoben.
So wie die Rede über Kunst in der Romantik selbst Kunst sein mußte,
wird hier die Aufzeichnung der Aktion zum Teil der Aktion, damit die Künstler
ohne Kunst zu Ausstellungen und Honoraren gelangen und damit die objectless
art zur Kunst wird, die man beobachten und über die man kommunizieren
kann. Wenn es einmal so weit gekommen ist, kann sich das Verhältnis
von Aktion und Aufzeichnung sogar umkehren: das pure Projekt und seine
Beschreibung sind entscheidend, ob „eine Aktion wirklich ausgeführt“
werde, sei dagegen „nicht so wichtig“ (S. 37). Damit ergibt sich eine weitere
Strukturanalogie zur Romantik, und zwar zur Figur des genialen „Projektmachers“,
der auf die Ausarbeitung von Werken verzichtet zugunsten einer unerschöpflichen
Produktion von Manifesten. So liest man in Schlegels Lucinde über
Julius:
„Ja
er vernachlässigte seine Kunst fast nie mehr, als da er sich und seine
Freunde mit Projekten überströmte von allen Werken, die er vollbringen
wollte, und die ihm im Augenblick der ersten Begeisterung schon fertig
schienen.“[26]
Das
Genie entwirft „Projekte die so weit sind, wie der blaue Himmel“[27]
– und genau diese Form gilt dann bald nicht mehr als Entwurf eines Werkes,
das dann nach diesem Plan geschaffen würde, sondern als Werk eigenen
Rechts. Das Projekt entwirft nichts außer sich selbst. Der Text,
den Wolfe zitiert hat, ist das Kunstwerk, das es projektiert. Die
zahlreichen Aktionsnotationen, die „material“ dokumentiert, sind es ebenfalls,
denn ob diese Aktionen je ausgeführt wurden oder werden, ist in vielen
Fällen fraglich, ja zum Teil wird offen damit kokettiert, daß
die Aktion ein „bloßer Fake ist“ (S. 37). Die „Aktionsbeschreibungen“
sind mithin nicht nur ein „Teil des Werkes“, wie Tobias Berger meint, sondern
sie sind das Werk selbst, denn darüber hinaus kann nichts von Dritten
beobachtet oder an Dritte kommuniziert werden.
Ich
hatte oben einige Beispiele für eine Entkopplung der Kunstwerke von
der Kunstkommunikation angeführt und die These erörtert, ob die
in den Massenmedien geführte Kunstkommunikation diese Tendenz deshalb
forciert, weil sie vorzugsweise auf kuratorische Texte zurückgreift
statt auf Werke. Ich möchte zum Abschluß meines Vortrags diesen
Eindruck zumindest kurz belegen.
Here,
one can identify a highly interesting and accurate understanding of the
post-colonial/post-Cold War reality being deeply transformed by the waves
of Globalization: the traditional relationships binary, polarized distinctions
between the West and East, between the center and the periphery, as the
basic structure of the world order are now gradually dissolving, together
with its geopolitical model and way of thinking. What in turn emerges front
of stage is a “network of global cities”, as Saskia Sassen strongly argues
in her analysis of the state of the world.[28]
Ich
gebe ein weiteres Beispiel:
Seit
dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist „Entwicklung“ ein Schlagwort der Modernisierung,
Synonym für den großen Sprung nach vorn Richtung Unterstützungswürdigkeit
und wirtschaftliche Unabhängigkeit. „Entwicklung“ lautete auch die
Direktive einer Reihe globaler Institutionen, die das Ziel verfolgten,
demokratische Gesellschaften nach den Vorgaben und im Rahmen des kapitalistischen
Modells zu erschaffen. Indem sie der Idee der Demokratie ein Korsett anlegten,
haben entwicklungspolitische Institutionen wie die Weltbank und der IWF
in der Tat vielerorts den Prozess gesellschaftlicher Veränderung massiv
behindert. Über die ethischen Maßstäbe einer solchen Globalisierung
wurde innerhalb jener Länder, die es in diesem Sinne „zu entwickeln“
galt, erbittert gestritten. Sie selbst boten Alternativen zur Polarisierung
von Tradition und Moderne an und plädierten für eine enge Verknüpfung
von wirtschaftlicher Entwicklung und gesellschaftlichem Fortschritt.[29]
Und
noch eins:
Innovationsbereitschaft,
technologische Kompetenz und ‚global playing’ gelten als das Rüstzeug
für den Überlebenskampf im neuen Jahrhundert. Die alten Fortschrittsmythen
im neuen, smarten Outfit verheißen den unaufhaltsamen Durchbruch
der Welt von ‚Morgen’, die scheinbar jedem, der sich nur geschickt anstellt,
als individueller Spielplatz grenzenlos offensteht. [...] Nicht von der
Hand zu weisen ist indes, daß die innovativen Gewänder der Globalisierung
zutiefst mit den ‚bewährten’ Strukturen von Gewalt, der Ausbeutung
und Ausgrenzung des ‚Fremden’ verschränkt sind.[30]
Diese
Zitate entstammen nun nicht der von Ulrich Beck herausgegebenen Reihe „Edition
Zweite Moderne“, in der soziologische Schriftsteller und Philosophen wie
Giddens oder Habermas über die Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung
spekulieren, sie entstammen auch nicht einer am Postkolonialismus orientierten
Ethnologie, der Exklusionsforschung oder den Verlautbarungen von sogenannten
Globalisierungsgegnern wie Attac; es handelt sich vielmehr um Kuratorenprosa.
Auffällig ist die Homogenität dieser Texte, obwohl sie in Shanghai,
Kassel und Dortmund entstanden und chinesische, afroamerikanische und westdeutsche
Federn am Werk gewesen sind. Ob Hou Hanru, Okwui Enwezor oder die Kuratoren
der hARTwareprojekte, sie sprechen alle die gleiche Sprache, deren gemeinsame
Pointe sicherlich darin besteht, daß das autonome Kunstwerk aufgelöst
und die Kunst verpflichtet wird, über den eigenen ästhetischen
und institutionellen Rahmen hinaus zu enervieren, zu provozieren, zu intervenieren,
zu reflektieren, anzuregen, einzugreifen. Es geht um die Mobilisierung
eines diskursiven Potentials. Auf dieser abstrakten Ebene werden aktuelle
Ausstellungskonzepte vergleichbar wie etwa Cathérine Davids Exposition
türkischer Gefängnissen, patrouillierender Geländewagen
in den besetzten Gebieten der palästinensischen Autonomie und chinesischer
Slums in den Kunstwerken Berlin und Okwui Enwezors Programmatik
für die Documenta 11,[31]
der diese so wichtige Veranstaltung ganz ins Zeichen der Globalisierung
stellt und verspricht „KünstlerInnen, Intellektuelle und AktivistInnen“
zu zeigen, die in „Kunst, Kultur und Politik intervenieren“, oder auch
die Ausstellungsreihe „Neue Welten“ des Frankfurter Kunstvereins,
welche die „politischen und vor allem die gesellschaftlichen Umstrukturierungen
der letzten Jahre verhandeln“ und an einer „Redefinition des Öffentlichen“
sowie der neuen „Positionierung des Individuums in der spektakularisierten“
im Kontext einer „globalisierten Ökonomie“ arbeiten will.[32]
Dazu wird durchaus auch Kunst gezeigt, doch diese Kunst wird in den kuratorischen
Verlautbarungen genau auf das verpflichtet, was Tom Wolfe schon in den
70ern beobachtet hat: auf die Illustration von Texten. Die Fragen, auf
die nach Auskunft dieser Texte die Ausstellungen zu antworten suchen, sind
keine ‚ästhetischen’ Fragen nach der Möglichkeit überzeugender
Formgebung oder Materialbeherrschung, sondern Fragen nach den Globalisierungsfolgen,
nach den stadtsoziologischen Folgen der Disneyfizierung und Gentrifizierung
der Städte, nach der Bedeutung des Privaten und Öffentlichen
in einer Eventkultur, die diese Differenz einzuziehen sucht, nach den Konflikten
zwischen regionalen Leitkulturen und globalen Migrationströmen oder
nach dem Anderen. Dieser Diskurs hat sich dank der massenmedialen Aufmerksamkeit,
die er findet, erfolgreich zwischen die ausgestellten Kunstwerke und die
Rezipienten der Kunstkommunikation gelegt und eine autonome Ebene etabliert,
die der der Kunstwerke gleichkommt. Man muß nun stets mit angeben,
ob man über ausgestellte Werke oder über die kuratorische Programmatik
spricht, wenn man Ausstellungen verhandelt, da beide Ebenen oft nur noch
kontingente Verbindungen unterhalten. Das Subjekt des Künstlers spielt
in diesem Diskurs der Kuratorenprosa kein Rolle mehr – und doch handelt
es sich auch hier um Kunstkommunikation, die beinahe vollständig auf
Künstler und Kunstwerke zu verzichten vermag. Die Orientierung an
der Anschlußfähigkeit der kuratorischen Texte in den Massenmedien
macht auch hier Subjektivität überflüssig und macht die
weltweite Homogenität dieser Prosa plausibel. Zugleich sicher aber
diese Autonomie der kuratorischen Kunstkommunikation der Ebene der ausgestellten
Kunst selbst alle Freiheiten, denn die Programmatik nimmt wenig Einfluß
auf die Selektion der Werke oder die operative Ebene ihrer Produktion.
Es wären auf Äquifunktionalität angelegte Vergleiche nötig,
um zu überprüfen, ob mit der Entstehung kuratorischer Kommunikation
in der Kunst eine Ebene entsteht, wie sie andere Funktionssysteme wie Politik,
Wissenschaft oder Wirtschaft mit Ethikbeiräten und runden Tischen
eingezogen haben: eine Ebene, in der im System das Gespräch mit der
Umwelt des Systems simuliert wird. Wenn dies zuträfe, dann ließe
sich vielleicht sagen, daß die Kuratoren die Kunst mittels Massenmedien
im Gespräch mit der Gesellschaft halten wie Mitglieder des nationalen
Ethikrates oder des runden Tisches – und zwar in allen Fällen mit
beliebigem Bezug zum operativen Geschäft der Kunst, der Politik, der
Wirtschaft oder der Wissenschaften. Wäre es anders, sollte sich also
die Kunst auf die Erforschung oder Thematisierung von Globalisierungsfolgen,
Exklusionsprozessen und Marginalisierung festlegen lassen, hörte sie
auf, denn sie wäre zu einem wissenschaftlichen oder politischen Programm
geworden. Das Kunstwerk wird also weiterhin gezwungen sein, sich selbst
beobachten zu lassen und seiner Bebachtung Differenzierungen abzutrotzen,
die allein der Tatsache geschuldet sind, daß es sich um Kunst handelt.
Ob der Garant für diese Distinktion noch, wie vor 200 Jahren, die
Subjektivität des Künstlers sein kann, steht allerdings in Frage.