Niels Werber

Kunst ohne Künstler – Künstler ohne Kunst

Paradoxien der Kunst der Moderne

1. Künstler ohne Werk

Am Anfang der modernen Kunst steht ein Paradox. 1772 erscheint Lessings Drama Emilia Galotti, in dem ein sehr aufschlußreiches Gespräch stattfindet, das zwischen dem Prinzen Hettore Gonzaga und dem von ihm geförderten Maler Conti geführt wird. Der Prinz ist bereits in die junge und schöne Emilia Galotti entbrannt, als Conti ihm zufällig ihr Porträt präsentiert. Gonzaga ist begeistert, ja bestürzt, verbirgt aber als Hofmann und Politiker routiniert seine Erregung. Sein Lob des Abbilds einer Frau, die er nur „so halb“ kenne, gerade gut genug, „um sie eben wieder zu kennen“ (I, 4), trifft auf einen durchaus selbstkritischen Künstler, der das Paradigma der Malerei als Repräsentation einer gegebenen Welt hinter sich zu lassen wünscht. Conti bemerkt zu seinem Werk:
„Gleichwohl hat mich dieses noch sehr unzufrieden mit mir gelassen. - Und doch bin ich wiederum sehr zufrieden mit meiner Unzufriedenheit mit mir selbst. - Ha! daß wir nicht unmittelbar mit den Augen malen! Auf dem langen Wege, aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel, wie viel geht da verloren! - Aber, wie ich sage, daß ich es weiß, was hier verloren gegangen, und wie es verloren gegangen, und warum es verloren gehen müssen: darauf bin ich eben so stolz, und stolzer, als ich auf alles das bin, was ich nicht verloren gehen lassen. 

Denn aus jenem erkenne ich, mehr als aus diesem, daß ich wirklich ein großer Maler bin; daß es aber meine Hand nur nicht immer ist. - Oder meinen Sie, Prinz, daß Raphael nicht das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicher Weise ohne Hände wäre geboren worden? Meinen Sie, Prinz?“

Der Künstler mißtraut seinem Medium, doch er vertraut seiner Subjektivität. Um es zunächst in den Begriffen der Zeit[1] zu formulieren: Der Weg von dem, was der Künstler sich in seiner Phantasie vorstellt, zur Abbildung dieser Phantasie im Kunstwerk ist zu lang und zu unwegsam: es geht viel verloren. Conti bezeichnet sich selbst als großen Maler, weil seine Phantasie groß ist, weil sein Auge Großes sieht, nicht aber, weil er eine talentierte Hand habe. Gerade der Beobachtung der Differenz von Werk und Vision verdankt er seine Überzeugung, ein großer Maler zu sein. Was auch immer auf die Leinwand kommen mag, ausschlaggebend ist die Unmittelbarkeit der Vision des Werkes im Medium der Einbildungskraft und nicht seine Entäußerung mittels Leinwand, Pinsel und Öl. Daher ist es für Conti konsequent zu behaupten, daß „Raphael“ auch in dem Fall „das größte malerische Genie“ aller Zeiten gewesen wäre, „wenn er unglücklicher Weise ohne Hände wäre geboren worden“. Das Genie ist Künstler auch ohne Werk. Wie ist das möglich?

Ein Blick zurück, auf die vormoderne Konzeption des Werks, ermöglicht eine Antwort. Der römische Philosoph und Politiker Seneca schreibt 47 n. Chr. in seiner Trostschrift an Marcia: „Du wirst [mancherlei] Künste lernen und lehren, einige, die das Leben versorgen, andere, die es schmücken, andere, die es regeln.“[2] An diesem beliebig ausgewählten Zitat sind mehrere Punkte symptomatisch für die Kunst in Alteuropa. Zum einen ist von Künsten im Plural die Rede, die lehrbar wie lernbar sind. Dies gilt für die Rhetorik wie für die Mathematik, für die Astronomie wie für die Musik oder die Poesie. Zum zweiten haben diese Künste unterschiedliche Funktionen, etwa die, nützlich oder ergötzend, belehrend oder bewegend zu sein. Mit welchen Mitteln man welche Zwecke erlangt, ist in zahlreichen Abhandlungen niedergelegt und kann als techné erlernt werden. An dieser überaus reduzierten Skizze kommt es nur darauf an, was auch Niklas Luhmann in seiner Kunst der Gesellschaft betont: 

Nämlich daß noch „die spätmittelalterlichen und frühmodernen Kunstprogramme in der Form von Rezepten und Regeln auftreten. Es geht zunächst um die Renaissance der Antike, um den Wiedergewinn ihres Könnens an Hand der wiederentdeckten Themenvorlagen. [...] Dafür genügen erlernbare Regeln, und solange es bei der Handhabung dieser Regeln zu Verstößen kommt, mag die bloße Demonstration des Könnens schon als Kunst gelten.“[3]

Solange die Kunst erstens auf die Mimesis einer von Gott geschaffenen und wohlgeordneten Welt verpflichtet ist und zweitens diese Repräsentation der Welt im Werk auf ein Set von Selektionsaneisungen, Techniken und Regeln zurückgreifen kann oder besser: muß,[4] ist jedoch für Künstler ohne Werk kein Platz. Der Geniebegriff, den Conti verwendet, wenn er einen Raphael selbst ohne Hände zum größten Maler aller Zeiten kürt, stützt sich auf ein neues, nicht-technisches, post-mimetisches Verständnis von Kunst. Konnte nach der Vorstellung Alteuropas sozusagen jeder ein Künstler sein, wenn er nur die Regeln und Techniken seiner Kunst erlernte und sie vorschriftgemäß anwendete, so hat die Ästhetik des späten 18. Jahrhundert eine ganz andere Voraussetzung entdeckt, die weder lehr- noch lernbar ist, sondern von der Natur gleichsam schicksalhaft an wenige Auserwählte verschenkt wird: das Genie. 

An der kurzen Skizze der alteuropäischen Semantik der Künste und der modernen Ästhetik des Genies kommt es uns hier nur auf den Unterschied an, der die paradoxe Formel des „Künstlers ohne Werk“, des Malers „ohne Hände“ plausibel zu machen vermag. Dieser Unterschied liegt im Verhältnis zur Technik oder techné. Das Genie wird der lehr- und lernbaren Kunstproduktion am Leitfaden von Regeln und Technologien strikt entgegengesetzt, und diese Differenz wird unüberbietbar dann inszeniert, wenn das Genie überhaupt nichts Materielles mehr produzieren muß, um Künstler zu sein. Werther formuliert dieses Paradox wie folgt: „Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken.“[5] Auch er ist ein Künstler ohne Werk. Daß es hier um eine Abgrenzung von der alteuropäischen Auffassung der Künste geht, macht Werther genauso deutlich. Ich zitiere eine Passage des Romans, in der Natur und Kunst gegen Regeln und Gesetze ausgespielt werden:

„Das bestärkte mich in meinem Vorsatze, mich künftig allein an die Natur zu halten. Sie allein ist unendlich reich, und sie allein bildet den großen Künstler. Man kann zum Vorteile der Regeln viel sagen, ungefähr was man zum Lobe der bürgerlichen Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie etwas Abgeschmacktes und Schlechtes hervorbringen, wie einer, der sich durch Gesetze und Wohlstand modeln läßt, nie ein unerträglicher Nachbar, nie ein merkwürdiger Bösewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel, man rede was man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck derselben zerstören!“ (S. 15)

Die Natur wird nun nicht mehr im Werk repräsentiert, sondern die Natur wird in ihrer unendlichen Produktivität zum Vorbild des Genies. Die sehr selbstbewußte Abwendung der Genieästhetik von den alteuropäischen Regelpoetiken und -Codizes steigert sich nicht nur im Werther zu einem Verdacht gegen alle Medien der Kunst schlechthin: gegen Sprache wie gegen Leinwand und Farben. Conti wünschte sich nichts dringlicher, als „unmittelbar mit den Augen [zu] malen“. Das Mißtrauen gegen Medien der Kunst hängt unmittelbar mit dem Geniekonzept zusammen, insofern es sich auf radikale Individualität stützt oder, juristisch formuliert, auf Eigentümlichkeit.[6] Der alteuropäische Künstler orientiert sich an „Regeln und Rezepten“, das heißt: er wendet allgemein zur Verfügung stehende Wissensbestände an, ähnlich wie ein Handwerker, ein Ingenieur oder ein Mathematiker. Er ist im alten Sinn des Wortes ein Techniker. Was er derart produziert, hätte – forciert gesprochen – unter vergleichbaren Bedingungen jedermann herstellen können: alles, was man dazu braucht, steht jedem zu Verfügung und gilt als Gemeingut. Entsprechend hat der Künstler kein Urheberrecht auf seine Produkte: sie können kopiert und vervielfältigt werden. In der Literatur war der Nachdruck von Werken, in der bildenden Kunst das Kopieren in Form von Kupferstichen, das sprichwörtliche „Abkupfern“, bis ins 19. Jahrhundert hinein vollkommen legal, weil die Vorstellung vorherrschte, das Werk gehöre seinem Urheber in keiner Weise eigentümlich an, weil es nämlich ein Produkt ist, zu dessen Herstellung „Gemeingut“ dient und nichts Individuelles an sich hat. Dies ändert sich erst, wenn das Werk als Werk des Genies zur „Inschrift des Individuellen“ wird, als Werk, das sich durch die höchst individuelle, originale, eigentümliche Formung eines Mediums auszeichnet, als individuelle Prägung, die dem Originalgenie höchstpersönlich und exklusiv zuzurechnen ist,[7] und zwar juristisch wie hermeneutisch oder ästhetisch.

Das Problem dieses neuartigen Werkbegriffs liegt nun darin, daß das Genie bei seiner Schöpfung auf Medien zurückgreifen muß, die sich per definitionem der Individualität verschließen, weil sie sozusagen commun sind. Im Falle der Dichtung ist dies die Sprache, die sich ja gerade dadurch auszeichnet, daß sie Kommunikation ermöglicht. Friedrich Schiller hat dies 1793 so formuliert: „Die Sprache beraubt also den Gegenstand, dessen Darstellung ihr anvertraut wird, seiner Sinnlichkeit und Individualität und drückt ihm eine Eigenschaft von ihr selbst (Allgemeinheit) auf, die ihm fremd ist.“[8] Die Aufgabe des Genies wäre für Schiller dann die, umgekehrt dieses allgemeine Medium individuell zu formen. Dies sei eine schwierige Aufgabe deshalb, weil das Medium selbst eine Tendenz zur Abstraktion habe – denn Worte abstrahieren, d.h. sie sehen von dem Allermeisten ab, was ein Individuum ausdrücken will; anders geht es nicht, denn eine wahrhaft individuelle oder originelle Sprache wäre für alle außer den Sprecher selbst unverständlich. Eine „individualisierte Sprache“ vergleicht E.T.A. Hoffmann mit der „Hieroglyphe“, also mit einer gar nicht oder nur sehr schwer zu dechiffrierenden Geheimschrift.[9]

Schiller freilich glaubte immerhin an die Möglichkeit einer individuellen Handhabung eines „allgemeinen“ Mediums – aber radikale Theoretiker der Genieästhetik wie Conti und Werther wollten gleich ganz auf die Nutzung von Medien verzichten. Dies war auch insofern konsequent, als das, worauf es ankam: die Individualität oder Originalität ihres Genies im Innersten des Menschen ausgemacht wurde, während alle Manifestationen in Form von Kunstwerken in der äußeren Welt stattfinden mußten. Der Künstler ist also am reinsten Genie im Akt seiner geistigen Schöpfung, nicht aber im materiellen Produkt dieser Schöpfung. „Genie ist Geist“,[10] wie Friedrich Schlegel prägnant formuliert. Um, mit Schillers Worten, dem ‚Raub der Individualität’ durch Kommunikationsmedien zu entgehen, verzichten Conti und Werther auf die Medien der Kunst. Herder vertritt 1772 eine ähnliche sprachkritische Position: „was sich bloß durchs dunkle Gefühl empfinden läßt, ist keines Worts für uns fähig, weil es keines deutlichen Merkmals fähig ist.“ Das Gefühl ist weder clare noch distincte – und doch eine zentrale Eigenschaft des Menschen, weshalb Herder folgert: „Die Basis der Menschheit ist also, wenn wir von willkürlicher Sprache reden, unaussprechlich.“[11] Die Innenwelt des Menschen ist daher grundsätzlich nicht verlustlos darstellbar. Vieles, so noch einmal Herder, was gefühlt wird, „findet weder in Sprache noch Kunst einen Ausdruck“.[12] Die Zweifel der jungen Genieästhetik der 1770er Jahre an der Möglichkeit, mit allgemein zur Verfügung stehenden Mitteln und Regeln etwas Individuelles schaffen zu können, führen, wie Gerhard Plumpe es ausdrückt, geradewegs in ein folgenreiches „Kommunikationsparadox“. Zu dessen „Konsequenzen“ gehört u.a.

„der absolute Vorrang der Künstlerindividualität vor ihrem Werk; liegt der Grund der Kunst in sozialexterner Subjektivität, dann erscheint das Werk als deren Ausdruck zweitrangig, vor allem als zweideutig. Zweitrangig, weil alles auf die subjektive Vision, die geniale Gestimmtheit, die individuelle Wahrnehmung ankommt, die das Werk bestenfalls fixieren, d.h. wiederholen kann; zweideutig, weil diese Wiederholung der authentischen Subjektivität Medien der Kommunikation bedarf, die sie stets zu verfehlen drohen.“[13]

Dem Genie bliebe nur noch übrig, zu schweigen oder – aufgrund der radikal singulären Subjektivität seiner Äußerungen – unverstanden zu bleiben. Die Fruchtlosigkeit dieses Paradoxes wird aber schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts durchschaut und der Geniebegriff modifiziert. Kant etwa, der ja seinen Kunstbegriff durchaus auf das Genie stützt, macht sich über all jene „seichten Köpfe“ lustig, die glauben, „daß sie nicht besser zeigen können, sie wären aufblühende Genies, als wenn sie sich vom Schulzwange aller Regeln lossagen, und glauben, man paradiere besser auf einem kollerichten Pferde, als auf einem Schulpferde. Das Genie“, so weiter Kant, „kann nur reichen Stoff zu Produkten der schönen Kunst hergeben; die Verarbeitung desselben und die Form erfordert ein durch die Schule gebildetes Talent, um einen Gebrauch davon zu machen, der vor der Urteilskraft bestehen kann.“[14] Etwas durch und durch Soziales, der „Geschmack“ nämlich, legt dem Genie gleichsam die Kandare an. „Der Geschmack ist, so wie die Urteilskraft überhaupt, die Disziplin (oder Zucht) des Genies, beschneidet diesem sehr die Flügel und macht es gesittet oder geschliffen“. (S. 257) Die Kunst wird von Kant wieder in die „Gesellschaft“ (S. 229) hineingeholt, anthropologisch wird dies mit dem Topos des Menschen als eines sozialen Wesens begründet. Ein vollkommen isolierter Mensch werde nie Werke der Kunst hervorbringen, sie entstünden nur in und für die Gesellschaft (S. 229f). Ohne Medien der Kommunikation gehe es also nicht.

Auch Raphaels Genie wird jetzt, 30 Jahre nach Lessings Emilia Galotti, ganz anders gesehen, nämlich nicht als potentiell verstümmelter Künstler ohne Werk, sondern als jemand, der seine Materialien und Werkzeuge beherrscht und sein eigenes Genie so diszipliniert hat, wie Kant es fordert. Georg Foster stellt ihn lobend den jungen „Totalgenies“ entgegen:

„So wußte Raphael, der größte Mensch der je den Pinsel führte, seinem Genius zu gebieten, indem er es nicht für kleinfügig hielt, zu jeder seiner Figuren eine Skizze zu entwerfen, deren Verhältnisse er mit dem Zirkel maß. Daher kommt es denn auch, daß die Arroganz der jungen Zeichner, die auf den ersten Blick an seinen Figuren nichts besonders sehen, bei dem ersten Versuche sie zu kopiren, zu Schanden wird.“

Die Beherrschung von Regeln und Techniken weiß man wieder zu schätzten – dies ist freilich nur deshalb möglich, weil diese notwendige Komponente niemand mehr mit der alteuropäischen Kunst als techné verwechseln würde.[15]

2. Inkommunikable Kunstbeobachtung 

Der Verzicht des Genies auf Werke gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde oben als Versuch gedeutet, die Kunst aus dem Paradigma der technai herauszulösen und auf eine neue, radikal subjektivistische Grundlage zu stellen. Man könnte darin mit Niklas Luhmann das Bemühen sehen, „Autonomie zu kommunizieren“.[16] Das von keinen Regeln und keinen medialen Widerständen mehr beschränkte Genie gibt sich offensichtlich selbst das Gesetz, es ist autonom. Diese Programmatik läuft freilich auf die Paradoxie hinaus, daß die „Kunst“ dieser Genies sich von anderen nicht beobachten läßt, weil sie auf die Nutzung von Kommunikationsmedien verzichtet. Künstler ohne Werk wie Werther haben deshalb auf „sympathetische“ Verständigung jenseits von Kommunikation gesetzt (HA Bd. 6, S. 56, 75), zum Beispiel auf eine eloquentia cordis, die, wie Lenz 1776 formuliert, „ins Innerste unsers Herzens“ reicht und die „keine menschliche Sprache wird ausdrücken können.“[17] Dieses Mißtrauen gegen Sprache ist freilich äußerst gesprächig; gegen Ende des 18. Jahrhunderts artikuliert es sich in einer Rhetorik, deren Beredsamkeit sich dem Nachweis verschreibt, alles Substantielle der Kunst sei unaussprechlich. Dies gilt nicht für die Poesie allein. Goethe schreibt 1805 über Winkelmann: „Er sieht mit den Augen, er faßt mit dem Sinn unaussprechliche Werke, und doch fühlt er den unwiderstehlichen Drang, mit Worten und Buchstaben ihnen beizukommen.“[18] Mit den Augen malen, mit den Augen sprechen. Auch die quasi kongeniale Beobachtung der Kunst läuft Gefahr, sprachlos zu verstummen – und muß daher sozusagen selbst Kunst werden, um den unaussprechlichen Sinn dennoch auszusprechen. Goethe behauptet daher über Winckelmann: „Er muß Poet sein, er mag daran denken, er mag wollen oder nicht.“ (S. 507) Auch diese Forderung ist symptomatisch:
Die Paradoxie des Künstlers ohne Werk wird auf den Kunstrezipienten, der nur noch staunend „Potztausend“ rufen mag,[19] und vor allem: auf den Kunstkritiker verschoben, die das, was sie in der Rezeption erleben, nicht zu kommunizieren vermögen. „Kunstwerke sind unaussprechlich“,[20] stellt Goethe in seiner Reflexion Über Laokoon ganz generell fest, und fährt fort: „Ein echtes Kunstwerk bleibt [...] für unsern Verstand immer unendlich; es wird angeschaut, empfunden; es wirkt, es kann aber nicht eigentlich erkannt, viel weniger sein Wesen, sein Verdienst mit Worten ausgesprochen werden.“ (S. 129) Geniale Künstler bleiben ohne Werk und kongeniale Beobachter jener Werke, die es bereits gibt, können gerade das, worauf es ankommt, nicht mitteilen, weil sich auch hier die Kommunikation wieder als ungeeignet für die Übermittlung innerpsychischer Ereignisse erweist. Da auch auf der Seite der Rezipienten die Kunstkommunikation an ein Ende kommen würde, das niemand will, wird ein überzeugender, weil tautologischer Ausweg aus dem Paradox angeboten. Der Kritiker muß Künstler sein. „Alle echte positive Kritik ist doch nur eine neue Dichtkunst“, schreibt Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik.[21] Und Friedrich Schlegel stellt fest: „Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, [...] hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst.“[22] Das Problem, daß die angemessene Rezeption radikal individueller Werke nicht zu kommunizieren ist, wird einfach dadurch umgangen, indem man die Paradoxie der Inkommunikabilität der Kunst vom Werk auf die Kunstkritik verschiebt. Auch die Kommunikation über Kunst findet als Kunst in der Kunst statt. Übersetzungen in eine allgemein verständliche Sprache der Topoi oder „Gemeinplätze“, wie Werther sagen würde, werden ausgeschlossen.

3. Kunst ohne Künstler oder Kuratoren ohne Kunst

Meine These ist nun, daß sich heute, in einer Zeit, in der für viele das Ende der Moderne längst gekommen ist, daß sich heute im Kunstsystem eine Paradoxie beobachten läßt, die sehr viel mit der forciert genieästhetischen Paradoxie des „Künstlers ohne Kunst(werk)“ und der darauf basierenden Folgeparadoxie des „Kritikers als Künstler“ gemein hat und die ich „Kunst ohne Künstler“ nennen möchte. In Anspielung an jenen berühmten Kurator, der in einem leeren Museum eine Ausstellung ohne Publikum veranstalten wollte, könnte man Contis berühmtes Diktum so formulieren: „Oder meinen Sie, Prinz, daß X nicht der genialste Kurator aller Zeiten gewesen wäre, selbst wenn er unglücklicher Weise nie ein einziges Werk ausgestellt hätte?“ 
Ohne Zweifel spielt der Kurator in der aktuellen Kunstkommunikation eine zentrale Rolle. Dies liegt zum einen an der entscheidenden Bedeutung der Massenmedien an der Kunstvermittlung. Luhmanns Beobachtung, daß das, was wir über die Welt wissen, durchweg den Massenmedien entstammt und die derart vermittelte Realität nach ihren spezifischen Regeln konstruiert ist,[23] gilt nicht nur für News aus Wirtschaft, Politik oder Sport, sondern auch für Kunst. Im Zeitalter globalisierter Kunst oder „Weltkunst“ spielt die persönliche Präsenz eine immer geringere Rolle. Die Wenigsten werden alle fünf über die Welt verstreuten „Plattformen“ der „documenta 11“ selbst besuchen können, aber ein großer Teil jener Minderheit, die es tut, wird uns darüber in den Medien informieren. Präsenz allerdings läßt sich nicht medial vermitteln – was wird also kommuniziert? 

Die Schweizer Kunstzeitschrift „material“ (Nr. 5, 2001) stellte kürzlich fest, daß der größte Teil der Kommunikation über Kunst in Printmedien stattfinde, die in der Regel langen Texten schlechte Abbildungen an die Seite stellten. Im Falle von Ausstellungsbesprechungen, so die These, bildeten die Kernreferenz dieser Texte in aller Regel nicht die einzelnen Werke, sondern das Konzept des Kurators (S. 34). Wenn dies zutrifft, dann könnte der Grund dafür in der Verfaßtheit des Systems der Massenmedien liegen: die massenmedial verbreiteten „Texte zur Kunst“ finden in den programmatisch auftretenden Konzepten der Kuratoren Formeln und Skripte vor, die deshalb ohne Umstände verwendet werden können, weil sie bereits diskursiviert sind: word processing. Man kann derart Texte aus Texten herstellen und so tun, als berichte man über Kunst. Die Kuratorenprosa, so vermutet der guest editor von material, der Kasseler Kurator Tobias Berger, wird so zum entscheidenden „Teil des Werks“, weil dessen Beschreibungen immer wieder „rezitiert“ würden und so „historisch am relevantesten“ seien (S. 33). Heinz-Werner Lawo hat in einem Beitrag für das „Kunstforum international“ (Bd. 125, Januar/Februar 1994) die rhetorische Frage „Texte statt Kunst?“ mit der These beantwortet, die Kunstkritik spiele mittlerweile die Hauptrolle auf einer Bühne, die einmal den Werken gehörte, während die Kunstwerke nunmehr gleichsam im Zuschauerraum säßen, um dieser Neubesetzung hilflos zuzusehen (S. 213). Über die „documenta X“ hatte Beat Wyss geschrieben: „es fehlte das Kunstwerk“ (SZ vom 27./28. 9. 1997); was gewiß nicht fehlte, waren Texte, vor allem theoretische Texte, oder genauer: zitierte Textfragmente aus Soziologie, Medien- und Kulturwissenschaft, Ethnologie und anderen Humanities, die „Politics, das buch zur documenta“ prägten (Cantz Verlag, Kassel 1997). Einen großen Teil der dort mitabgedruckten Bilder darf man wohl getrost als Illustration mehr oder weniger wissenschaftlicher Thesen bezeichnen. 

All diese Beispiele geben deutliche Hinweise auf eine mögliche Entkopplung der Kunstwerke von der Kunstkommunikation. Statt selbst zu dichten, wie die Romantik es von ihren Kunstkritikern verlangte, beobachtet die Kunstkommunikation lieber Kuratoren als Werke. Dies hat den enormen Vorzug, daß sämtliche Probleme, die bei der Diskursivierung von Wahrnehmung auftreten können, gar nicht erst auftreten. All das ist freilich so neu nicht: Tom Wolfe hat in seiner Polemik „The painted Word“ (1975) behauptet, das Wichtigste der modernen Kunst seien die Texte über moderne Kunst: „Gemälde und andere Kunstwerke existieren nur, um den Text zu illustrieren“.[24] In einer ähnliche Metaphorik wie Lawo behauptet Wolfe, die „Kunsttheorie“ spiele nicht „länger die zweite Geige“ (S. 37), sie dirigiere. Die Künstler, behauptet Tom Wolfe, stellten sich unterdessen auf diese Hegemonie der Texte ein. Ich zitiere:

„So begab es sich, daß im April 1970 en Künstler namens Lawrence Weiner im Arts Magazine ein maschinenschriftliches Kunstwerk – als Kunstwerk – veröffentlichte, dem keine visuellen Erfahrungen vorausgegangen war und dem auch keine folgen würde, und zwar:

1. Der Künstler könnte ein Werk entwickeln

2. Das Werk könnte erfunden sein

3. Das Werk muß nicht ausgeführt sein.

Da alle drei Punkte gleichermaßen in Einklang mit den Absichten des Künstlers stehen, liegt die Entscheidung bezüglich der zu wählenden Bedingung angelegentlich des Empfangs beim Empfänger.“

Wolfe kommentiert dieses gleichsam immaterielle Werk;

„Da war es also endlich! Kein Realismus mehr, keine Gegenstände mehr, keine Linien, Farben, Formen und Konturen, kein Pigmente, keine Pinselstriche, keine Assoziationen, keine Rahmen, Wände, Galerien, Museen [...], kein Publikum mehr“ (S. 102).

Was bleibt, sind „Worte auf einer Seite“, die aber selbst nicht das Werk sind, sondern nur auf ein Werk verweisen, das der Empfänger selbst konstruiert, wenn er es denn so will; ein Werk, das also wiederum so radikal singulär, individuell und inkommunikabel ist wie die genialischen Projekte 200 Jahre zuvor. Wolfe hält dies Werkform für eine „unsichtbare, ja unaussprechliche Vision, so unaussprechlich wie die Engel“ (S. 103). Der Diskurs der modernen Kunstkommunikation ist damit dort angekommen, wo er begonnen hat: im Paradox.

Noch ein zweiter Weg führt dorthin. Wir hatten oben das Mißtrauen der Genieästhetik in alle Medien der Kommunikation geschildert. Dieses Mißtrauen wurde nicht substantiell überwunden, aber umgangen. Hunderte von Seiten zeugen beredt von den Zweifeln an der Kommunikabilität von Kunst. Und Kunstkritiken, die selbst zur Kunst zählen sollen, stellen sich der paradoxen Aufgabe, das Inkommunikable zu kommunizieren. Wenn man heute von „objectless art“ oder „post-media art“ spricht, dann sind womöglich vergleichbare Probleme involviert. Als Beispiel wähle ich die Kunstform der „Aktion“.[25] Die Aktion ist keine Poiesis, sie bringt nichts außer sich hervor, sie produziert keine „Werke“ in dem Sinne des Begriffs, wie Werther ihn gebraucht. „Das Besondere an Aktionen ist“, so entnehme ich der Zeitschrift „material“, „daß sie einmalig stattfinden. Selten sind sie wiederholbar; wobei eine »Originalwiederholung« ohnehin als Paradox erscheint. [...] Das Problem der Konservierung ist der Aktion damit immanent.“ (S. 34) Die Aktion ist also ein singuläres Ereignis, sie ist als unwiederholbares Original nicht zu konservieren, sie ist also nicht verlustlos zu medialisieren. Es kommen noch weitere Eigenschaften hinzu, die uns aus der „Künstler ohne Werk“-Debatte bereits vertraut sind. So ist etwa die Aktion selbst zu der Zeit, in der sie stattfindet, für externe Beobachter nur schwer wahrzunehmen. Man denke etwa an die Performance von Ulay und Abramovi? von 1988 in China. 

„Ulay und Abramovi? begeben sich am 30. März auf die Große Mauer. Ulay befindet sich in Jaiyuaguan, die Peripherie der Gobi Wüste und das westliche Ende der Grossen Mauer. Abramovi? ist in Shanhaiguan, an der Küste des Gelben Meeres und dem östlichen Ende der Großen Mauer. Zwischen ihnen liegen 4250 km Abstand, Ulay läuft in östlicher Richtung über und entlang der Großen Mauer. Abramovi? läuft in westlicher Richtung über und entlang der Großen Mauer. Beide laufen, bis sie sich begegnen.“ (S. 41)

Daß es sich bei diesem großen Spaziergang um ein gigantisches Kunstwerk handelt, dessen Medium 4250 km lang ist, wissen zunächst einmal nur die beiden Künstler selbst. Es ist für andere, selbst wenn jemand einen der Künstler begleitete, unbeobachtbar. Ähnlich wie Werthers immaterielles Meisterwerk ist es inkommunikabel. Auch die jahrelangen Aktionen von Tehching Hsieh entziehen sich der Beobachtung als Kunst. Das „cage piece“ von 1978/79, in dem er sich für ein Jahr in einem etwa 6 qm großen Raum unter Bedingungen rigider Isolationshaft einsperren läßt, schließt jedes Publikum per se aus. Und was immer er in seiner Aktion Earth 1986-1999 zu tun gedenkt: „I will not show it PUBLICLY“ (S. 51). Erneut bewegt sich hier die Kunst am Rande der Nichtkommunikation, also am Rande ihrer sozialen Existenz. Daß diese Aktionen dennoch Teil der Kunst sind, belegt, daß auch hier ein Ausweg aus der Paradoxie gefunden worden ist.

Die Lösung scheint einfach und elegant zu sein: Die Aktionen werden mit technischen Medien protokolliert oder sie werden schriftlich notiert. „Als Abhilfe und um Museumsdirektoren, Ausstellungsmacher und Sammler zu befriedigen, wurden daher“, so Tobias Berger, „Dokumentarreliquien hergestellt“ (S. 35). Das dreifache „Problem der Einmaligkeit, der Nichtausstellbarkeit und Unverkäuflichkeit“ wird so kassiert, und die bislang nahezu medien- und beobachterlose Aktion wird von einem Aufschreibesystem zu jener Form von Werk weiterverarbeitet, von dem die Aktionskunst eigentlich aggressiv Abschied genommen hatte. Nicht nur Videos und Photos, auch die diversen Verschriftlichungen und Notationen zählen zur Aktion dazu, die konsequenterweise nun auch wieder „Kunstwerk“ heißen darf (S. 37). Die als Alternative zur Kunst der Werke gepriesene objectless art hat – als sei sie eine Wiedergängerin der Romantik – ihre Paradoxie umgangen und verschoben. So wie die Rede über Kunst in der Romantik selbst Kunst sein mußte, wird hier die Aufzeichnung der Aktion zum Teil der Aktion, damit die Künstler ohne Kunst zu Ausstellungen und Honoraren gelangen und damit die objectless art zur Kunst wird, die man beobachten und über die man kommunizieren kann. Wenn es einmal so weit gekommen ist, kann sich das Verhältnis von Aktion und Aufzeichnung sogar umkehren: das pure Projekt und seine Beschreibung sind entscheidend, ob „eine Aktion wirklich ausgeführt“ werde, sei dagegen „nicht so wichtig“ (S. 37). Damit ergibt sich eine weitere Strukturanalogie zur Romantik, und zwar zur Figur des genialen „Projektmachers“, der auf die Ausarbeitung von Werken verzichtet zugunsten einer unerschöpflichen Produktion von Manifesten. So liest man in Schlegels Lucinde über Julius:

„Ja er vernachlässigte seine Kunst fast nie mehr, als da er sich und seine Freunde mit Projekten überströmte von allen Werken, die er vollbringen wollte, und die ihm im Augenblick der ersten Begeisterung schon fertig schienen.“[26]

Das Genie entwirft „Projekte die so weit sind, wie der blaue Himmel“[27] – und genau diese Form gilt dann bald nicht mehr als Entwurf eines Werkes, das dann nach diesem Plan geschaffen würde, sondern als Werk eigenen Rechts. Das Projekt entwirft nichts außer sich selbst. Der Text, den Wolfe zitiert hat, ist das Kunstwerk, das es projektiert. Die zahlreichen Aktionsnotationen, die „material“ dokumentiert, sind es ebenfalls, denn ob diese Aktionen je ausgeführt wurden oder werden, ist in vielen Fällen fraglich, ja zum Teil wird offen damit kokettiert, daß die Aktion ein „bloßer Fake ist“ (S. 37). Die „Aktionsbeschreibungen“ sind mithin nicht nur ein „Teil des Werkes“, wie Tobias Berger meint, sondern sie sind das Werk selbst, denn darüber hinaus kann nichts von Dritten beobachtet oder an Dritte kommuniziert werden.

Ich hatte oben einige Beispiele für eine Entkopplung der Kunstwerke von der Kunstkommunikation angeführt und die These erörtert, ob die in den Massenmedien geführte Kunstkommunikation diese Tendenz deshalb forciert, weil sie vorzugsweise auf kuratorische Texte zurückgreift statt auf Werke. Ich möchte zum Abschluß meines Vortrags diesen Eindruck zumindest kurz belegen.

Here, one can identify a highly interesting and accurate understanding of the post-colonial/post-Cold War reality being deeply transformed by the waves of Globalization: the traditional relationships binary, polarized distinctions between the West and East, between the center and the periphery, as the basic structure of the world order are now gradually dissolving, together with its geopolitical model and way of thinking. What in turn emerges front of stage is a “network of global cities”, as Saskia Sassen strongly argues in her analysis of the state of the world.[28]

Ich gebe ein weiteres Beispiel:

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist „Entwicklung“ ein Schlagwort der Modernisierung, Synonym für den großen Sprung nach vorn Richtung Unterstützungswürdigkeit und wirtschaftliche Unabhängigkeit. „Entwicklung“ lautete auch die Direktive einer Reihe globaler Institutionen, die das Ziel verfolgten, demokratische Gesellschaften nach den Vorgaben und im Rahmen des kapitalistischen Modells zu erschaffen. Indem sie der Idee der Demokratie ein Korsett anlegten, haben entwicklungspolitische Institutionen wie die Weltbank und der IWF in der Tat vielerorts den Prozess gesellschaftlicher Veränderung massiv behindert. Über die ethischen Maßstäbe einer solchen Globalisierung wurde innerhalb jener Länder, die es in diesem Sinne „zu entwickeln“ galt, erbittert gestritten. Sie selbst boten Alternativen zur Polarisierung von Tradition und Moderne an und plädierten für eine enge Verknüpfung von wirtschaftlicher Entwicklung und gesellschaftlichem Fortschritt.[29]

Und noch eins:

Innovationsbereitschaft, technologische Kompetenz und ‚global playing’ gelten als das Rüstzeug für den Überlebenskampf im neuen Jahrhundert. Die alten Fortschrittsmythen im neuen, smarten Outfit verheißen den unaufhaltsamen Durchbruch der Welt von ‚Morgen’, die scheinbar jedem, der sich nur geschickt anstellt, als individueller Spielplatz grenzenlos offensteht. [...] Nicht von der Hand zu weisen ist indes, daß die innovativen Gewänder der Globalisierung zutiefst mit den ‚bewährten’ Strukturen von Gewalt, der Ausbeutung und Ausgrenzung des ‚Fremden’ verschränkt sind.[30]

Diese Zitate entstammen nun nicht der von Ulrich Beck herausgegebenen Reihe „Edition Zweite Moderne“, in der soziologische Schriftsteller und Philosophen wie Giddens oder Habermas über die Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung spekulieren, sie entstammen auch nicht einer am Postkolonialismus orientierten Ethnologie, der Exklusionsforschung oder den Verlautbarungen von sogenannten Globalisierungsgegnern wie Attac; es handelt sich vielmehr um Kuratorenprosa. Auffällig ist die Homogenität dieser Texte, obwohl sie in Shanghai, Kassel und Dortmund entstanden und chinesische, afroamerikanische und westdeutsche Federn am Werk gewesen sind. Ob Hou Hanru, Okwui Enwezor oder die Kuratoren der hARTwareprojekte, sie sprechen alle die gleiche Sprache, deren gemeinsame Pointe sicherlich darin besteht, daß das autonome Kunstwerk aufgelöst und die Kunst verpflichtet wird, über den eigenen ästhetischen und institutionellen Rahmen hinaus zu enervieren, zu provozieren, zu intervenieren, zu reflektieren, anzuregen, einzugreifen. Es geht um die Mobilisierung eines diskursiven Potentials. Auf dieser abstrakten Ebene werden aktuelle Ausstellungskonzepte vergleichbar wie etwa Cathérine Davids Exposition türkischer Gefängnissen, patrouillierender Geländewagen in den besetzten Gebieten der palästinensischen Autonomie und chinesischer Slums in den Kunstwerken Berlin und Okwui Enwezors Programmatik für die Documenta 11,[31] der diese so wichtige Veranstaltung ganz ins Zeichen der Globalisierung stellt und verspricht „KünstlerInnen, Intellektuelle und AktivistInnen“ zu zeigen, die in „Kunst, Kultur und Politik intervenieren“, oder auch die Ausstellungsreihe „Neue Welten“ des Frankfurter Kunstvereins, welche die „politischen und vor allem die gesellschaftlichen Umstrukturierungen der letzten Jahre verhandeln“ und an einer „Redefinition des Öffentlichen“ sowie der neuen „Positionierung des Individuums in der spektakularisierten“ im Kontext einer „globalisierten Ökonomie“ arbeiten will.[32] Dazu wird durchaus auch Kunst gezeigt, doch diese Kunst wird in den kuratorischen Verlautbarungen genau auf das verpflichtet, was Tom Wolfe schon in den 70ern beobachtet hat: auf die Illustration von Texten. Die Fragen, auf die nach Auskunft dieser Texte die Ausstellungen zu antworten suchen, sind keine ‚ästhetischen’ Fragen nach der Möglichkeit überzeugender Formgebung oder Materialbeherrschung, sondern Fragen nach den Globalisierungsfolgen, nach den stadtsoziologischen Folgen der Disneyfizierung und Gentrifizierung der Städte, nach der Bedeutung des Privaten und Öffentlichen in einer Eventkultur, die diese Differenz einzuziehen sucht, nach den Konflikten zwischen regionalen Leitkulturen und globalen Migrationströmen oder nach dem Anderen. Dieser Diskurs hat sich dank der massenmedialen Aufmerksamkeit, die er findet, erfolgreich zwischen die ausgestellten Kunstwerke und die Rezipienten der Kunstkommunikation gelegt und eine autonome Ebene etabliert, die der der Kunstwerke gleichkommt. Man muß nun stets mit angeben, ob man über ausgestellte Werke oder über die kuratorische Programmatik spricht, wenn man Ausstellungen verhandelt, da beide Ebenen oft nur noch kontingente Verbindungen unterhalten. Das Subjekt des Künstlers spielt in diesem Diskurs der Kuratorenprosa kein Rolle mehr – und doch handelt es sich auch hier um Kunstkommunikation, die beinahe vollständig auf Künstler und Kunstwerke zu verzichten vermag. Die Orientierung an der Anschlußfähigkeit der kuratorischen Texte in den Massenmedien macht auch hier Subjektivität überflüssig und macht die weltweite Homogenität dieser Prosa plausibel. Zugleich sicher aber diese Autonomie der kuratorischen Kunstkommunikation der Ebene der ausgestellten Kunst selbst alle Freiheiten, denn die Programmatik nimmt wenig Einfluß auf die Selektion der Werke oder die operative Ebene ihrer Produktion. Es wären auf Äquifunktionalität angelegte Vergleiche nötig, um zu überprüfen, ob mit der Entstehung kuratorischer Kommunikation in der Kunst eine Ebene entsteht, wie sie andere Funktionssysteme wie Politik, Wissenschaft oder Wirtschaft mit Ethikbeiräten und runden Tischen eingezogen haben: eine Ebene, in der im System das Gespräch mit der Umwelt des Systems simuliert wird. Wenn dies zuträfe, dann ließe sich vielleicht sagen, daß die Kuratoren die Kunst mittels Massenmedien im Gespräch mit der Gesellschaft halten wie Mitglieder des nationalen Ethikrates oder des runden Tisches – und zwar in allen Fällen mit beliebigem Bezug zum operativen Geschäft der Kunst, der Politik, der Wirtschaft oder der Wissenschaften. Wäre es anders, sollte sich also die Kunst auf die Erforschung oder Thematisierung von Globalisierungsfolgen, Exklusionsprozessen und Marginalisierung festlegen lassen, hörte sie auf, denn sie wäre zu einem wissenschaftlichen oder politischen Programm geworden. Das Kunstwerk wird also weiterhin gezwungen sein, sich selbst beobachten zu lassen und seiner Bebachtung Differenzierungen abzutrotzen, die allein der Tatsache geschuldet sind, daß es sich um Kunst handelt. Ob der Garant für diese Distinktion noch, wie vor 200 Jahren, die Subjektivität des Künstlers sein kann, steht allerdings in Frage.



[1] Seume schreibt, er habe „einige Mädchengesichter gesehen, ich möchte sie fast Gesichte nennen, die Raphael in seiner schönsten Phantasie nicht schöner erblickt und nachgeschaffen hat.“ Seume: Mein Sommer, S. 231. Seume-P, S. 814.
[2] Seneca: Trostschrift an Marcia, AS, S. 35
[3] Niklas Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 322.
[4] Vgl. Gerhard Plumpe, Kunst und juristischer Diskurs, in: Fohrmann / Müller, Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main 1988, S. 330-345, S. 335.
[5] Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther, HA Bd. 6, S. 9.
[6] Wir folgen hier Gerhard Plumpe, Epochen moderner Literatur, Opladen 1995, S. 80-87.
[7] Vgl. hier Plumpe, Kunst und juristischer Diskurs, S. 335.
[8] Schiller, Kallias oder über die Schönheit, Werke Bd. 5, S. 432)
[9] Hoffmann: Fantasiestücke in Callots Manier, PW Bd. 1, S. 464.
[10] Schlegel: Georg Forster, KFSA, 1. Abt. Bd. 2, S. 98.
[11] Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, SuD-Müller Bd. 1, S. 190.
[12] Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität, Herder-HB Bd. 2, S. 77.
[13] Gerhard Plumpe, Epochen, S. 83f.
[14] Kant: Kritik der Urteilskraft, Werke Bd. 10, S. 245.
[15] Forster: Ansichten vom Niederrhein, S. 109. Werke Bd. 2, S. 434.
[16] Niklas Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 461.
[17] Lenz: Der Waldbruder, WuS Bd. 1, S. 298
[18] Goethe: Winckelmann, BA Bd. 19, S. 507
[19] „Wenn manche mystische Kunstliebhaber, welche jede Kritik für Zergliederung, und jede Zergliederung für Zerstörung des Genusses halten, konsequent dächten: so wäre Potztausend das beste Kunsturteil über das würdigste Werk. Auch gibts Kritiken, die nichts mehr sagen, nur viel weitläuftiger.“ Schlegel, Lyceums-Fragment Nr. 57, KFSA, 1. Abt. Bd. 2, S. 154)
[20] Goethe: Über Laokoon, S. 2. BA Bd. 19, S. 129.
[21] Jean Paul-W, 1. Abt. Bd. 5, S. 362
[22] Schlegel: KFSA, 1. Abt. Bd. 2, S. 162
[23] Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 9.
[24] Tom Wolfe, Worte in Farbe, München 1992, S. 8.
[25] Vgl. Tobias Berger, Reduce to the Text, in: „Material, Nr. 5“, S. 33-64, S. 34.
[26] Schlegel: Lucinde, KFSA, 1. Abt. Bd. 5, S. 46.
[27] Schlegel: Kritische Fragmente, KFSA, 1. Abt. Bd. 2, S. 155.
[28] 2000 as the theme, by Hou Hanru, chinese-art.com
[29] Plattform 1, Documenta 11, http://www.documenta.de/data/german/index.html
[30] hARTwareprojekte, new ideas – old tricks. Ausstellung über Strukturen der Globalisierung und Optionen des Widerständigen.
[31] Vgl. zur Documenta-Programmatik das fridericianum magazin. ein und alle, No. 6, Frühjahr 2001.
[32]Neue Welt, hrsg. von Nikolaus Schaffhausen, New York 2001, S. 6.