Wenn man nach Theorien zur Phantastik vor Todorov Ausschau hält, stößt man unweigerlich auf diese Poetik des Wunderbaren. Todorov selbst meint, in Bezug auf die pragmatische Dimension der Texte sei die „Unterscheidung zwischen Fantastischem und Wunderbaren“ nicht „interessant“, denn die „Reaktion“ des Lesers sei dieselbe (S. 93).
Rosemary
Jackson stellt in ihrer Monographie Fantasy
fest:[7]
„Critics have traditionally defined fantasy in terms of its relation to
the ‘real’, and in literary terms this meant that the fantastic tended
to be understood through its relation to realism.“ (S.
26) Diese Opposition des Phantastischen und des Realen hat auch die Debatte
um das Wunderbare bestimmt. Was aber bedeutet relation to the ‘real’
und
was hat das Reale mit literarischem Realismus[8]
zu tun?
Der „Begriff des Fantastischen“, schreibt Todorov, „definiert sich [...] aus seinem Verhältnis zu den Begriffen des Realen und des Imaginären“ (S. 26). Aber das Phantastische definiert sich nicht selbst, vielmehr wird es definiert: nämlich als jene „Ungewißheit“, eine „unheimliche Erscheinung“ sowohl aus „natürlichen Ursachen oder aber aus übernatürlichen“ erklären zu können (ebd.). Man könnte von der Kontingentsetzung, Gödelisierung oder Dekonstruktion der Unterscheidung des Realen vom Irrealen sprechen, die vom Text (oder vom Leser) nicht zugunsten einer der beiden Seiten der Differenz vereindeutigt werden kann. „Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat.“ (ebd.) Die Kenntnis der „natürlichen Gesetze“, die unsere „Realität“ ausmachen, wird also zunächst einmal gefordert, damit ein übernatürliches Ereignis die Natürlichkeit dieser (für einen bestimmten Menschen oder den Menschen gültigen?) Realität in Frage zu stellen vermag. Umgekehrt ist alles, was im Text das Irreale „umgibt, real“ (S. 150). Die Differenz wird also zugleich behauptet und im Moment des doute fantastique aufgehoben.
Stanislaw Lem hat in einem bissigen Todorov-Kommentar betont, wie sehr diese Distinktionen einen „naiven Realismus“ voraussetzen.[9] Gemeint ist die Annahme einer „wirklichen Welt“ (S. 27), einer realen, „normalen“ Realität auf der einen und der anormalen oder irrealen „Erscheinung“ (ebd.) auf der anderen Seite. Dieser Realismus zeugt gewiß von einer geradezu orthodoxen binären Ontologie, deren einzige Differenz das Sein und das Nichts ist. Entweder ist etwas oder etwas ist nicht – tertium non datur. Zweifel an der eindeutigen Zuordnung von Ereignissen zum Sein oder zum Nichts machen das Phantastische aus. Auf der Höhe dieser Abstraktion könnte man sagen: das Phantastische verhält sich bei Todorov zum Realen wie die Sophistik zur Philosophie bei Platon.
Die „Fantastik“, schreibt Todorov, sei eine Literatur, „die die Existenz des Realen, des Natürlichen, des Normalen postuliert, um dann in diese Welt eine Bresche zu schlagen.“ (S. 154) Ob das, was normal sein soll, normal ist, entscheidet der (implizite) Leser im Vergleich mit der wirklichen Welt. Das mag so sein. Berücksichtigt man die politische Dimension phantastischer Romane wie Tolkiens Herrn der Ringe oder phantastischer Filme wie Star Wars, dann könnte man dieses Postulat ohne weiteres umkehren: Die Fantastik postuliert das Irreale, Unnatürliche, Anormale, um von dort aus eine Bresche in unsere Welt zu schlagen. Auch so könnte Kafka gelesen werden.[10] All dies ist ziemlich beliebig. Diese Beliebigkeit erkennt Todorov selbst – und schließt Lektüreoptionen dezisionistisch aus. Allegorische Lektüren etwa, die die Bio- und Geopolitik im Herrn der Ringe, die Denunziation des Parlamentarismus in Star Wars oder die Kritik von Normalismus und Bürokratismus bei Kafka herausarbeiten würden, werden verboten. Das „Fantstische“ schlechthin wird „an die wörtliche Bedeutung gebunden“ (S. 69).
Die „gesamte Literatur“, das weiß natürlich auch Todorov, „entzieht sich der Kategorie des Wahren und des Falschen“ (S. 76). Derartige Verlautbarungen haben ihm den Ruf eingetragen, in seinen Lektüren „an analysis of the text in its own terms“ geliefert zu haben.[13] Tatsächlich trägt aber Todorovs Diskurs des Wunderbaren (S. 51ff) die Kategorien des Wahren und Falschen, des Seins und des Nichts unaufhörlich an die Literatur heran, um zu entscheiden, ob es sich beispielsweise bei den Märchen aus tausendundeiner Nacht um „wunderbare Geschichten“ handelt – was Todorov bejaht, weil die Schlangen zu lang sind, der Vogel Roc zu groß, ein Nashorn keinen Elefanten aufspießt, ein Teppich nicht fliegt und eine Lampe keinen Geist enthält. Mit Breitinger dagegen würde man dieses Wunderbare auf die Prämissen des Textes beziehen und darin ein „vermummtes Wahrscheinliches“ (S. 137) ausmachen. In Aladins Welt können Teppiche fliegen. – es ist weder notwendig noch unmöglich. Unmöglich wäre dagegen, daß Mohammed nicht der Prophet Allahs ist oder eine Frau zum Vorbeter wird. Für Todorov dagegen ist es falsch, daß Teppiche fliegen, deshalb muß es wahr sein, daß es sich um einen wunderbaren Text handelt. Aus denselben Gründen würde Todorov Kafkas Textuniversum für phantastisch erklären, etwa weil es eine rhizomatische Architektur, in der man von jeder Dachstube oder Besenkammer in die Korridore des Gerichts gelangt, nicht wirklich geben könne.
Auch Don Sylvio, zunächst eine Art phantastischer Solipsist, bleibt nicht allein. Im Umgang mit ihm wird auch sein Diener zur Konstruktion einer Welt bekehrt, in der es Feen und Geister gibt. Sobald dies geschehen ist, bestätigt jeder Vorfall die Prämissen einer Weltsicht, die nur von außen als paranoid, pathologisch oder unnatürlich bezeichnet werden kann. Don Eugenios Versuch, Don Sylvio von seinen Konstruktionsregeln abzubringen, setzt entsprechend anspruchsvoll an. Er weist ihn nicht einfach darauf hin, die Feen-Welt gebe es gar nicht, sie sei unwahrscheinlich, unmöglich, unwahr. Diese Maßstäbe Gottscheds und womöglich noch Todorovs werden zurückgelassen, wenn Don Eugenio erläutert, nach den „Gesetzen der Vernunft“ und der „Wahrscheinlichkeit“ könne die Realität, in der sich Don Sylvio befindet, überhaupt nicht beurteilt werden. Bereits Wieland stellt hier auf die Beobachtung zweiter Ordnung um. Don Eugenio läßt sich darauf ein, daß alle „Feen-Mährchen“, die Don Sylvio verschlungen hat und genauso für wahr hält wie der größte Teil der Gesellschaft die Phantastik Tlöns, daß alle diese „Feen-Mährchen“ durchaus wahrhaftige Geschichten seien, um dann mehrere Erzählungen miteinander zu konfrontieren und so zu zeigen, daß sich die Prämissen der Welterzeugung von Märchen zu Märchen ändern. Auch phantastische Ordnungen mit einem kontingenten Anfang sind nicht beliebig. Da die Ordnungen von Märchen zu Märchen wechseln, kann ihre Referenz nicht eine Feen-Welt sein. Ihr Tertium findet sich nicht in ihrer Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit, sondern in ihrer literarischen Funktion. Don Eugenio demonstriert, und das ist sein wichtiger poetologischer Einsatz, daß ein „Feen-Mährchen“ nur mit „andern Feen-Mährchen“ verglichen werden kann, und diese genreinternen Vergleiche machen Don Sylvio plausibel, daß als passende Vergleichskriterien nur ästhetische taugen. Entscheidend ist nicht, was sie erzählen, sondern wie sie es tun. Die immanente Reflexionstheorie des Textes akzentuiert einen wichtigen Wechsel: Kriterien zur Beurteilung der „wunderbaren“ Literatur stammen nicht mehr aus Philosophie und Wissenschaft, sondern aus der Literatur und ihrer Geschichte. Verglichen werden nicht Literatur und Realität, Phantasie und Philosophie, sondern fiktive Weltentwürfe. Und der Gegensatz von wunderbar und natürlich wird von Wieland als literarische Differenz gehandhabt – nicht als Differenzierung zwischen Literatur und Welt.
Borges hat am Anfang seiner seltsamen Entdeckungen angemerkt, daß „die Literatur Uqbars phantastischer Natur sei, und daß ihre Epen und ihre Legenden sich nie auf die Wirklichkeit bezögen, sondern auf die beiden Phantasiereiche Mlejnas und Tlöns.“ (S. 20) Am Ende seiner Erzählung hat sich die Geschichte der Wirklichkeit in phantastische Literatur verwandelt, während umgekehrt Tlön zur Welt geworden ist. Der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Phantastik ist auch bei Borges eine Unterscheidung der Literatur und keine Differenzierung anhand „ontologischer Kategorien“.[20] Todorovs zentrale Kategorie: die „Unschlüssigkeit“ (S. 31), spielt übrigens weder bei Wieland noch bei Borges eine Rolle, denn während die Welt bereits beginnt, Tlön zu sprechen, hält der Erzähler an seiner Realität fest und arbeitet an einer Übersetzung Brownes ins Spanische; und Don Sylvio hat keinerlei Zweifel daran, von Feen verfolgt oder unterstützt zu werden, während die Landpartie Don Eugenios davon in keiner Weise genötigt wird, ihrer eigenen Weltsicht zu mißtrauen. Lem hat wohl ganz recht, wenn er meint, es sei „kein Zufall, daß Borges mitsamt seinem Werk für T. Todorov überhaupt nicht existiert“ (S. 109), denn dessen Texte entziehen sich mühelos den strukturalistischen Distinktionen.
Rosemary Jackson hat Todorovs Vorschlag generalisiert und die Phantastik auf Subversion schlechthin verpflichtet. „The centre of the fantastic text tries to break with repression, yet is inevitably constrained by its surrounding frame.“(S. 122) Entstanden unter den Bedingungen des Kapitalismus und unfähig, diesen zu entfliehen, sei „the modern fantastic, the form of literary fantasy“ stets „subversive literature“ (S. 180). Jacksons Funktionsbestimmung hat den Vorzug, inklusiver zu sein. Die gesellschaftliche Wirklichkeit insgesamt wird von der Phantastik kontingent gesetzt, also als anders möglich sichtbar gemacht. Diese genuin dekonstruktive Kraft phantastischer Literatur wird aber völlig überflüssiger Weise auf die Subversion des Kapitalismus eingeschränkt – als hätten Stanislaw Lem oder Wladmir Sorokin (Die Herzen der Vier) keine Texte geschrieben, die als Kritik des Kommunismus zu entziffern wären. Ob phantastische Erzählungen wie Borges’ Tlön, Uqbar, Orbis Tertius oder auch Die Bibliothek von Babel überhaupt in Kategorien politischer Subversion oder sexueller Transgression zu übersetzen wären, möchte ich bezweifeln. Zudem vermute ich, daß nicht jede alternative Realitätskonstruktion sich zur bestehenden Ordnung subversiv verhalten muß, es müßten auch affirmative Bezüge denkbar sein.
Ich denke hier an deutsche, phantastische Romane der NS-Periode wie Befehl aus dem Dunkel (1933) oder Land aus Feuer und Wasser (1939) von Hans Dominik, Krieg im All (1935) von St. Bialkowski oder Gefahr aus dem Weltall (1939) von Rudolf Heinrich Daumann. Die im Zuge großdeutscher politischer wie technischer Planungen als erreichbar unterstellten Fernziele erscheinen in diesen Romanen als wirklich wie wünschenswert. Wer die imperialen Raumnahmen, die Vernichtungs- und Strafexpeditionen gegen farbige Völker, die Ausbreitung des Deutschen als weltweiter Standardsprache in diesen Texten verfolgt, wird sich des von Todorov geforderten Gruseln oder Schreckens kaum entziehen können.
Aber zählen diese Texte überhaupt zum Phantastischen? Nicht im Sinne Todorovs, wohl aber im Sinne Lems, der Science fiction wie Politic fiction zum „Gattungsspektrum“ des Phantastischen zählt (S. 112). In den 1930er Jahren würde man die genannten Romane wohl zur Science fiction zählen, denn sie beruhen auf „instrumentalen Prämissen“ (S. 113) wie Weltraumfahrt, Raketentechnik, Laser- und Nukleartechnologie, lichtschneller Datenübertragung etc.[22] Aus der Sicht eines aktuellen Lesers, der all diese Techniken kennt, handelt es sich eher um Politic fiction, also, mit Lems Worten, um Literatur, „die darüber berichtet, was für einen alternativen Gang die Geschichte genommen hätte, wenn gewisse entscheidende Ereignisse im Zeitgeschehen nicht so verlaufen wären, wie es der Fall war, also etwa, wenn Deutschland den Ersten und/oder den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte.“ (S. 112) Vergleicht man das weltweit zum Gruß erhobene „Heil Terra“ (Krieg im All) oder die gegen die USA gerichtete Landnahmen durch deutsche Luftflotten (Land aus Feuer und Wasser) mit den etwa von Ralf Giordano beschriebenen Plänen der Nazis nach dem Endsieg,[23] dann scheinen diese Romane genau solche alternative Geschichten zu erzählen. Es liegt auf der Hand, daß es sich bei diesen alternativen Versionen der Realität nicht um Subversion handelt, wie Jackson sie versteht.
Viele dieser Texte konnten unverändert und unkommentiert
in den 1970er Jahren im Heyne Verlag erscheinen – und an dieser Stelle
wird die Frage nach der sozialen Funktion der Texte wirklich interessant.
Konnten womöglich sämtliche Macht- und Eroberungsphantasien des
Dritten Reiches gleichsam in diese Romane emigrieren? Wenn Bialkowski die
ultimative Waffe eines Todessterns beschreibt, der im Weltall die Erde
umkreist und von einer technisch versierten wie moralisch bedenkenlosen
Truppe bedient wird, müßte man nicht George Lucas nahezu identische
Visionen in den Kontext dieser Machtphantasien stellen? Sollte
man die minutiöse Ausmalung einer von technisch, organisatorisch und
rassisch überlegenen deutschen Verbänden erkämpften Weltherrschaft
etwa deshalb nicht phantastisch nennen, weil den Texten jeder Zweifel an
der Realisierbarkeit dieser Fiktion fehlt und auch sexuelle Motive kaum
auszumachen sind?
Ich habe oben im Rückgriff auf Borges und Wieland zu zeigen versucht, inwieweit das Phantastische als operativer Konstruktivismus sozialer Gruppen zu begreifen ist und phantastische Texte demonstrieren, wie aus kontingentem Anfang ein Kosmos strenger Gesetzmäßigkeit hervorgehen kann, der schließlich keine Alternativen mehr kennt. Die Texte führen zunächst konkurrierende Realitätskonstruktionen vor: die Welt versus Tlön oder die Welt versus Elfenland, um dann eine der Varianten zu tilgen: die Welt bei Borges, die Feen-Welt bei Wieland. Eine Wirklichkeitsperspektive setzt sich hier deswegen durch, weil sie kohärenter, strenger, geordneter ist. Verglichen mit der Welt ist Tlön ein Kosmos und das Feen-Reich ein Chaos. Um konkurrierende Weltanschauungen und Ordnungsmuster geht es auch den phantastischen Romanen im Dritten Reich – und sie führen vor, wie Alternativen getilgt werden können. Die durchgesetzten Ordnungsvorstellungen sind durchweg rassisch und hierarchisch, und obwohl alternative Realitätsentwürfe durchaus vorkommen und den eigenen Standpunkt als beobachterabhängig ausweisen könnten, werden im Handlungsverlauf alle Realitätskonstruktionen außer einer einzigen mit militärisch-technischen Mitteln beseitigt. Während Romane wie Brave New World (1932) die überraschende Genese von Alternativen in einer technisch wie ideologisch gleichgeschalteten Welt beschreiben, geht es in den deutschen Romanen derselben Epoche um die Rückführung alternativer Perspektiven auf eine einzige verbindliche Ordnung des Seins.
In Daumanns Gefahr aus dem Weltall ist es übrigens für einige Protagonisten zweifelhaft, ob bestimmte Vorkommnisse rund um „Neutief“, einer futuristischen Peenemünde-Variante, auf Natürliches oder Übernatürliches zurückzuführen sind (S. 157ff). Dominiks Befehl aus dem Dunkel greift sowohl auf magisch-okkulte Praktiken wie auf futuristische Technik zurück – und der Roman beginnt mit der Schilderung von Ereignissen, die für die Protagonisten „sonderbar“, „merkwürdig“, ja „unbegreiflich“ und „unfaßbar“ sind (S. 5f), was die Ausgrenzung der Texte aus dem Phantastischen selbst für Todorov schwer machen würde. Die Differenz von phantastisch und natürlich wird auch in diesen Texten als literarische gehandhabt – in Bezug auf fiktive Weltentwürfe, nicht in Bezug auf eine wirkliche Wirklichkeit. Doch ob ein bestimmtes politisches Ziel mit übernatürlichen oder technischen Mitteln erreicht wird, scheint mir für diese Texte weniger relevant zu sein als das Phantastische des Ziels selbst: Weltherrschaft, ein Ziel, das bereits Protagonisten der deutschen Phantastik der 20er Jahre wie Dr. Mabuse oder Prof. Morvitius mit allen „natürlichen“ und „unnatürlichen“, magischen und technischen Mitteln verfolgen.
Freilich wäre auch dieses Ziel nicht an der Realität zu messen, sondern an Realitätskonstruktionen sozialer Gruppen. Im Kontext der 30er und 40er Jahre könnte man vermuten, daß diese Romane die Phantasmen der (politischen) Macht ausbuchstabieren und als machbar ausweisen. „Nehmen wir zunächst einmal an, das Unwahrscheinliche würde doch Wirklichkeit“ (S. 7), beginnt Dominiks Land aus Wasser und Feuer. Dann folgt das Abenteuer einer ungeheuren Landnahme und Kolonialisierung. Die Erzählung plausibilisiert das Unwahrscheinliche innerhalb der eigenen Wirklichkeitskonstruktion – vor allem durch den Einsatz überlegener Technologien und überragender Führer. Die Macht der (literarischen) Phantastik bestünde nun darin, daß sie sich in den politischen Diskurs einschreibt und womöglich die Phantasmen der Macht mitprägt. Die literarische Entfaltung ethnischer Differenzen, die Unterstellung technologischer Überlegenheit und demographischer Raumnot Deutschlands oder Europas, die vollkommen militärisch organisierte, gleichgeschaltete Gesellschaft, die Abwertung liberaler wie kommunistischer Ideologien und sämtlicher Religionen, die Beschwörung eines gewinnbaren Revanchekrieges, ja einer von Deutschen beherrschten rassisch homogenen Welt bereits vor der Machtergreifung legt die Vermutung nahe, daß die Machtphantasien der NS-Politik ihren Erfolg wohleingeführter Realitätskonstruktionen zu verdanken haben. Die sozusagen „echten“ Phantasmen der Macht: etwa der Bau eines Stratosphärenbombers zum Angriff auf amerikanische Städte (1938), die Errichtung von Inselstützpunkten als Knoten globaler Luftherrschaft oder die Entwicklung interkontinentaler Raketen sind ins politische Leben überführte literarische Phantasmen. Bialkowskis Krieg im All nimmt 1935 einen gigantischen „Luftangriff auf Berlin“ vorweg, der die Stadt in Schutt und Asche legte. Das neue Berlin des dritten Jahrtausends wurde als Gartenstadt wiederrichtet: „Nirgends sah das Auge zusammenhängende Häuserkomplexe, weil die modernen Großstädte in konsequenter Fortentwicklung der durch die in früheren Kriegen häufig erfolgten Luftangriffe bestimmten Bauweisen folgten, und Einzelsiedlungen bevorzugten.“ (S. 376f) An diesem Modell entwirft Heinrich Himmler Ende 1943 in seiner berüchtigten Geheimrede vor hohen SS-Funktionären die künftige Architektur der zerbombten deutschen Städte.
Die phantastischen Romane haben gleichsam das Tlön des Nationalsozialismus entworfen.[24] Wie sollte man, fragt Borges, sich dieser Welt nicht „unterwerfen, der minutiösen und umfassenden Ersichtlichkeit eines geordneten Planeten?“ (S. 35) Genau wie Orbis Tertius projektieren die phantastischen Romane und die phantastische Politik der Nazis eine globale Raumrevolution (die Umwandlung der gesamten „Erdoberfläche“, S. 36), die jede Differenz, jede alternative Ordnung „vom Planeten“ verschwinden lassen will (S. 36). Der Erzähler Borges gedachte dieser phantastischen Transformation der Welt in einem einsamen Landhaus entkommen zu können (S. 36) Die Massenvernichtungen und Ausmerzungen ganzer Städte, Regionen, Länder, Ethnien, Planeten in den phantastischen Romanen der 30er (vgl. Krieg im All, S. 174ff) lassen für diese Position des Einsiedlers keinen Raum. Ihre neue Ordnung des Realen ist geschlossen und total.
Aber nicht weil sie sich auf ein sicher schauriges „Phantasiereich“ beziehen, statt auf „unsere“ Wirklichkeit, sind diese Romane „phantastischer Natur“,[25] sondern weil sie diese Ordnung als alternativlos darstellen. Darin liegt ihre soziale Funktion. Sie liegt – auch – in der Belieferung der politischen Semantik mit kulturellen Mustern, Stereotypen und Topoi mit dem Effekt, politische Selbstbeschreibungsformeln mit phantastischer Evidenz auszustatten. Der Ausweis von Kontingenz geht bei dieser politischen Neukontextierung verloren. Beobachter zweiter Ordnung sind nicht mehr zugelassen. Genau diesen Totalitarismus hat Luhmann mit Verve als „Position der Einheit und der Autorität“ abgelehnt. Todorovs Ontologie setzt dagegen genau diese Position voraus.