Niels Werber

Homosexualität und Latenzschutz 

Niklas Luhmann mit Marcel Proust

I

In einem Artikel, der ausgerechnet „Politische Romantik“ überschrieben ist, polemisiert am 4. November 1999 Konrad Adam in der FAZ gegen das Vorhaben der Regierung, ein Antidiskriminierungsgesetz zu erlassen, das homosexuelle Paare Ehepaaren gleichstellen möchte. Adam wendet gegen diese Initiative ein, es verkenne völlig – und darum handele es sich um „politische Romantik“ –, daß es dem Staat nicht um diese oder jene Art der Beziehung gehe, sondern um die Sicherung der Reproduktion seines Staatsvolkes, wozu Beiträge wohl von heterosexuellen, nicht aber von homosexuellen Paaren zu erwarten seien. Er schreibt:

„Artikel 6 des Grundgesetzes stellt Ehe und Familie ja nicht deshalb unter den besonderen Schutz der staatlichen Gemeinschaft, weil der Verfassungsgeber sentimental veranlagt war und etwas für die Liebe tun wollte. Er handelte in Anerkennung der Tatsache, daß ohne Nachwuchs kein Staat zu machen ist und daß die besten Voraussetzungen für das Heranwachsen von Kindern nicht in Kinderkrippen oder Kindergärten zu finden sind, sondern bei den Eltern. Was da geschützt oder gefördert werden soll, ist also nicht eine gefühlsbetonte Partnerschaft, sondern eine Funktion, die so elementar ist, daß sie von allen schwarzen, roten oder grünen Sozialpolitikern dieser Welt zwar nachhaltig beschädigt, aber weder beseitigt noch ersetzt werden konnte. Die Natur läßt sich eben nicht überlisten oder betrügen“.

Konrad Adams Polemik gegen die „Gleichstellung“ gleichgeschlechtlich Liebender führt die Paragraphen des Grundgesetzes – „(6.1.) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (6.2.) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ – auf die aus der Sicht der Politik „elementare Funktion“ der Ehe zurück, die in der Natur selbst wurzele. Der Staat setzt kein Recht, sondern schützt im Grundgesetz die Natur – man könnte Adam fragen, wozu dieser Naturschutz nötig sein soll, wenn sich die Natur doch selbst gegen Sozialpolitiker durchzusetzen vermag. Neben dem Rekurs auf Natur, der sich häufig auch bei Proust findet,[1] ist an Adams Argument interessant, daß er all das, was man seit Fichte und Hegel mit der Familie und der Ehe zu verbinden pflegt: nämlich Liebe, Vertrautheit, Intimität, Zuneigung und Vertrauen als „romantische“ oder „sentimentale“ Phrasen bezeichnet, an die die Liebenden glauben mögen und an die auch der junge Marcel glaubte: „Was ich als Kind mir als das Süßeste an der Liebe vorgestellt hatte und was mir zu ihrem innersten Wesen zu gehören schien, war, daß man bei der Geliebten seine Zärtlichkeit, seine Dankbarkeit für ihre Güte, sein Verlangen nach einem immerwährenden gemeinsamen Leben freimütig verströmen könne.“ (Die Gefangene, S. 463) Dieser „naiven“ Vorstellung haftet er noch an, als er den Moment fürchtete, „eines Tages Albertine nicht mehr zu lieben.“ (Wiedergefundene Zeit, S. 493) Diese Semantik einer auf Dauer gestellten Intensität, die einen und nur einen beliebigen anonymen anderen in den significant other zu verwandeln vermag, ist aber eben nicht maßgeblich für den Gesetzgeber, der allein die Vermehrung seines Staatsvolkes verfolgt. Der naiven Binnensicht der Liebe auf sich selbst wird die nüchterne Außensicht entgegengestellt, die den Kern der Sache zu enthüllen vermag. Robert Spaemann hat in einem FAZ-Beitrag vom 14. 3. 2000 dieselbe Ansicht vertreten, wenn er mit Sinn für Differenz und Arbeitsteilung schreibt: „Das Schlafzimmer hat den liberalen Staat nur insoweit zu interessieren, als er der potentielle Ort für die Weitergabe menschlichen Lebens und also der Reproduktion des Menschengeschlechts ist.“ Dazu tragen aber Homosexuelle (beim aktuellen Stand der Biotechnologie jedenfalls) nichts bei.

Mit diesen Thesen gegen die Homosexuellenehe wird die Semantik, die gewöhnlich die mit der Eheschließung gegründete Familie umgibt, durchbrochen – freilich allein aus rechtsphilosophischer Sicht, doch wird diese Sicht als einzig entscheidende angesehen, alles andere sei „sentimental“. Im Rückblick des Erzählers der Recherche auf sein Leben aus der Sicht dessen, der nicht mehr liebt, ergibt sich ein ähnliches Bild. Die Liebe ist eine Konstruktion oder Projektion (Mädchenblüte, S. 535f, Wiedergefundene Zeit, S. 317), für deren Konstruktionsbedingungen man so lange blind ist, wie die Liebe währt: danach fallen die Interessen ins Auge, die man selbst oder der Partner unter dem Schutz der Konstruktion verfolgt haben. Bei Adam und Spaemann ist dieses Interesse das des Staates und der Natur. Ihr Einwand gegen die Homosexuellenehe basiert auf der Freilegung der auf der Natur selbst basierenden Funktion der Ehe von allem semantischen Beiwerk. Damit wird aber der notorische „Latenzschutz“, mit denen die Sozialsysteme ihre Funktionen tarnen, aufgehoben und ausgesprochen, worum es bei der Ehe offenbar tatsächlich geht: nämlich neue Bürger zu gebären und aufzuziehen. In diesem Sinne wird in der Recherche die Ehe des homosexuellen Monsieur de Courvoisier „als die beste Ehe von ganz Paris zitiert“, denn seitdem er seiner Neigung in „gewissen Häusern“ frönt, „liebte er daraufhin seine Frau nur noch um so mehr“, was im Klartext bedeutet, daß er „seinen Fortpflanzungseifer verdoppelte“ und Madame andauernd schwanger ist (Wiedergefundene Zeit, S. 28). Schwule Ehemänner machen ihre Frauen glücklich, generalisiert Marcel (S. 27), und auch Saint-Loup läßt sich von seiner Neigung zu Morel und anderen nicht daran hindern, „dafür zu sorgen, daß [Gilberte] Kinder bekam“ (Entflohene, S. 369). Die Ehe ist das Institut der Reproduktion, aber nicht unbedingt der Liebe. Und nur unter diesem Aspekt, so Spaemann, habe sich der Staat für die Ehe zu interessieren. Da allein heterosexuelle Paare zur Vermehrung befähigt sind, wird allein ihr Zusammenleben institutionalisiert und verfassungsrechtlich geschützt. Freilich sehe die Selbstbeschreibung der Ehen und Familien anders aus, man spricht dann von „Liebe“ oder „Gefühlen“, doch sei dies eben ein naiver Blick, der den Funktionalismus der Natur wie der staatlichen Gesetzgebung vollkommen verkenne. Homosexuelle Paare, und seien sie wahrhaftig noch so ineinander verliebt, müßten also, so Adam, keinesfalls „gleichgestellt“ werden, da sie dem Staat keinen „Nachwuchs“ schenken können. Ohne Leistung, keine Gegenleistung. Das geplante Gesetz sei daher „überflüssig“, Spaemann hält es sogar für „ungerecht“.

Patrick Bahners Intervention (FAZ vom 22. 12. 1999) steht auf verlorenem Posten, denn sie versucht gleichsam aus der Perspektive der Liebe das Recht zu deuten. Unter dezidiertem Rückgriff auf die romantische Liebessemantik, die in der Ehe die Verschmelzung einer Zweiheit in eine Einheit versteht,[2] verteidigt Bahners den Begriff der Ehe gegen die Zumutung, allein als „Reproduktionsanstalt“ den Schutz des Grundgesetzes zu genießen. Gegen die funktionalistische Vorstellung der Justizministerin Däubler-Gmelin, die Ehe sei eine „Geschlechtsgemeinschaft zwischen Mann und Frau, an die sich [...] die Erwartung gemeinsamer Kinder und ihre Erziehung knüpft“, wendet Bahners ein, die „Liebe“, welche die Ehe stifte, sei nicht „biologisch“ zu definieren, sondern „intellektuell, moralisch, erotisch“, also gerade nicht natürlich, sondern semantisch. Da auf der semantischen Ebene der Codierung von Intimität die Liebe zwischen „Mann und Mann“ sowie „Frau und Frau“ nicht von der zwischen Mann und Frau zu unterscheiden sei, habe der Gesetzgeber auch diese Form der Ehe seinen „Schutz nicht länger zu versagen“. Das Rechtsinstitut der registrierten Partnerschaft lehnt Bahners daher als Diskriminierung ab. Alle, die sich lieben, sollen heiraten dürfen. 

Auch bei Proust wird derart die Semantik der Liebe gegen ihre Biologie ausgespielt: Homosexuelle Liebe unterstehe einerseits „den allgemeinen Gesetzen der Liebe“ (Wiedergefundene Zeit, S. 190), andererseits aber sei sie eine „abnorme Veranlagung“ (Sodom, S. 28), eine „Krankheit“ (S. 94), eine „Erbanlage“, deren Entfaltung gleichgültig gegen jeden äußeren Einfluß erfolgt. Man denke etwa an den jungen Prinz de Fois in Die Wiedergefundene Zeit, der dem Schicksal seines Vaters nicht entgeht, obwohl er von allen „schlechten Einflüssen von außen her geschützt“ wurde (S. 202). Nicht die Genetik, aber die Semantik der Liebe ist bei Homo- und Heterosexuellen die gleiche, und daher vergleicht Marcel immer wieder seine Liebe zu Albertine mit der des Baron Charlus zu Morel; ihre Kopplung an den symbiotischen Mechanismus der Sexualität ist dagegen grundverschieden. Wie das Beispiel der Orchidee und der sie befruchtenden Hummel aus Sodom und Gomorra (S. 43ff) zeigt, liegt der Unterschied in der folgenreichen oder folgenlosen Befruchtung, in der Reproduktion also. Aus dieser biologischen Differenz zieht auch die normalistische Unterscheidung regulärer und irregulärer Sexualität, die vor allem Sodom und Gomorra prägt (S. 28), ihre überzeugende Wirksamkeit. 
 

II

Wir haben vom „Latenzschutz“ gesprochen, der vom Funktionalismus zerstört wird. „Latenz“ definiert Luhmann in Soziale Systeme als „Struktursicherungsmittel“,[3] der Begriff wird also funktional gefaßt. „Wenn Strukturen Latenzschutz benötigen“, so weiter Luhmann, „heißt dies nicht, daß Bewußtheit bzw. Kommunikation unmöglich wäre; sondern es heißt nur, daß Bewußtheit bzw. Kommunikation Strukturen zerstören bzw. erhebliche Umstrukturierungen auslösen würde, und daß diese Aussicht Latenz erhält, also Bewußtheit bzw. Kommunikation blockiert.“ (S. 459) Der Gebrauchtwagenhändler lobt die Garagenhaltung des Fahrzeugs und läßt die Aussicht auf seine Prämie unerwähnt. Die Wissenschaft betont, es gehe ihr allein um die Sache und nicht um die Promotion von Karrieren; daß theoretische Entscheidungen im Interesse der Laufbahn gefällt werden können, bleibt latent. Oder der Arzt empfiehlt die Ultraschallaufnahme mit medizinischen Argumenten und vermeidet es, ein Interesse an einer wirtschaftlichen Nutzung seines Maschinenparks erkennen zu lassen. Der „Latenzschutz“ macht so die Annahme von Selektionsofferten wahrscheinlich: man hält ein Argument oder einen Befund für überzeugender, wenn externe Motive unsichtbar bleiben. Wenn umgekehrt der „Latenzschutz“ versagt, drohen die Strukturen des Kommunikationssystems aus den Fugen zu geraten – obwohl die Argumente für die Computertomographie, den Gebrauchtwagen oder die Hypothese trefflich und in der Sache vorzüglich sind, überzeugen sie nicht, weil sie nunmehr allein von externen Interessen motiviert zu sein scheinen. Die medizinischen, ökonomischen oder wissenschaftlichen Kommunikationen büßen so ihre Anschlußfähigkeit ein. Ein Beispiel Luhmanns ist die Liebe; in ihrem Fall bleibe all jenes latent, „was deutlich macht, daß man nicht »aus Liebe« heiratet“ (S. 460). Hierfür ließen sich viele Beispiele aus der Recherche anführen. Externe Motive bei der Führung intimer Kommunikation wie etwa die Gier nach Reichtum und Einfluß oder sexuelles Verlangen, das Marcel in die Bordelle und Charlus in die Darkrooms führt, werden abgeblendet. Obwohl alle Beteiligten wissen könnten, daß bei jeder Kontaktanbahnung Interessen verfolgt werden und gerade der Erzähler selbst sich über die seinen meistens ein sehr klares Bild macht, kommt ihm in dem Moment, als Albertine ihn als Besonderen auszeichnet („Ich mag sie sehr gern“, Mädchenblüte, S. 641), keinesfalls der Gedanke, ihre relative Armut und seine gehobene Stellung habe damit auch nur das geringste zu tun. Gerade weil er sie liebt, glaubt er, daß er auch umgekehrt „das Wesen“ sei, „das sie liebte“ (Wiedergefundene Zeit, S. 493). Das scheinbar so uneigennützige Angebot des Barons de Charlus, einer „zur Begeisterung für die Tugend befähigten Seele den Nutzen“ seines Wissens zukommen zu lassen (Guermantes, S. 384), wird von Marcel auf dessen „gute Gesinnung“ zurückgeführt (S. 385) und nicht als homosexuelle Kontaktanbahnung durchschaut, obwohl die Anspielungen darauf so zahlreich sind. Saint-Loup, so nimmt Marcel an, vollbringt Meisterleistungen der Ignoranz, um zu übersehen, daß seine Geliebte Rahel „ihn vielleicht nicht liebte“, sondern nur „um seines Geldes willen“ bei ihm blieb (Guermantes, S. 203), indessen übersieht Rahel die Möglichkeit, sie könnte nur als Schirm für Saint-Loups Homophilie dienen. Und obwohl Marcel diese Instrumentalisierungen bei anderen so deutlich zu sehen scheint, hofft er doch, daß Albertine ihn liebt, ohne aber deshalb zu wagen, darauf Verzicht zu leisten, sie mit gigantischen Ausgaben und der Aussicht auf immer spektakulärere Aufwendungen an sich zu binden (Die Gefangene). „Latenz“, heißt es treffend in der Gesellschaft der Gesellschaft, bezieht sich „auf den blinden Fleck des beobachteten Beobachters, auf das, was er nicht sehen kann.“ (S. 1119) Während Marcel als Beobachter der Liebe anderer sieht, was die Beteiligten selbst notorisch übersehen: nämlich all jene Faktoren, die eine intime Beziehung aufrecht erhalten, ohne daß dafür Liebe nötig wäre, kann er als Beteiligter allenfalls im Rückblick wahrnehmen, was er bei anderen so scharfsinnig beobachtet. Am Ende des Werks behauptet er, er habe nicht „einen Augenblick an die Liebe Albertines“ geglaubt (Wiedergefundene Zeit, S. 316), eine Lüge, wie Adorno meint.[4] Wenn aber vormals latente Motive sichtbar werden, hat die Liebe bereits ein Ende gefunden, denn nicht mehr die Semantik der Liebe begründet dann die intime Beziehung, sondern eben alle vordem latent gehaltenen Interessen, das Bedürfnis Albertines nach Luxus, Geschmack, die Aussicht auf eine gute Partie oder den Umgang mit den besten Kreisen. Albertine bekommt allerdings erst Jahrzehnte nach ihrem Tod ihrerseits eine Funktion zugewiesen: sie war dem Erzähler „in literarischer Hinsicht nützlicher [...] als ein Sekretär“ (Wiedergefundene Zeit, S. 316). Auch die sich durch das gesamte Werk ziehenden Schilderungen der käuflichen Prostitution machen die Funktion des Latenzschutzes deutlich. Die Frauen, die man für einen Louisdor kaufen kann, die junge Odette und Rahel zum Beispiel oder auch zahlreiche namenlose Milchmädchen und Liftboys, sind nicht die, die man liebt, selbst wenn es sich um dieselben Personen handelt. Swann muß Odette heiraten, Robert muß Rahel beinahe täglich neu erobern, während Marcel und sein Onkel die gleichen Frauen für eine kleine Summe besitzen können. Ähnlich verhält es sich mit Charlus Liebe zu Morel, der sich für 50 Franken in einem Bordell dem Prinzen von Guermantes hingibt, der Werbung des verliebten Barons aber lange widersteht. Wer liebt, will daran glauben, wiedergeliebt zu werden; Charlus und Saint-Loup reden und handeln, als ob Morel sie liebte. Wer dagegen sexuelle Handlungen gegen Geld einkauft, liebt nicht. Marcel hofft Albertine mit Geschenken zu überhäufen, weil er sie liebt und nicht damit sie ihn liebtSaint-Loup will Marcel überzeugen, Rahel verdiene das kostbare Collier, weil sie so reizend zu ihm ist und nicht, damit sie reizend zu ihm ist. Letzteres genießt „Latenzschutz“.

 

III

An Luhmanns Beschreibungen, die ausschließlich die Semantik betreffen, welche Kontaktanbahnungen wahrscheinlich macht und Paarbildungen stabilisiert, fällt auf, daß es jenseits aller wechselnden Moden seit drei oder vier Jahrhunderten in der Liebe vor allem darum geht, die Gründe für die Liebe im anderen zu finden und genau dies zu kommunizieren. Es kommt zur „Ausdifferenzierung einer gemeinsamen Privatwelt“, in der „jeder die Welt des anderen mittragen“ kann und die Fernwelt alters für ego relevant allein deshalb wird, weil er geliebt wird (S. 17). Geliebt wird der „Weltbezug des personalen Individuums“: die Weise, wie es die Welt sieht (S. 24). Wenn alter geliebt wird, dann ist er in egos Welt „immer schon untergebracht und damit unausweichlich vor die Alternative gestellt, den egozentrischen Weltentwurf des anderen zu bestätigen oder abzulehnen.“ (S. 25) So kommen Oriane, Gilberte und Albertine in Marcels und Odette in Swanns Welt vor. Luhmann beschreibt auch die „sexuell fundierte Intimität“ ohne Rücksicht auf Hetero- oder Homosexualität der Paare (S. 32). Die Theoriefiguren alter und ego haben kein bestimmtes Geschlecht. Nicht Mann und Frau, sondern alter und ego finden in der „geschlechtlichen Beziehung“ die „symbiotische Basis“ der Liebe; und auch sie wird nicht mit Blick auf „Außenstehende, nicht mit Rücksicht auf Zustimmung anderer“ geführt, sondern findet „ihren Sinn in sich selbst“ (S. 32). Die „Bilanzierung von Vorteilen und Nachteilen, eine Optimierung der eigenen Lage“ werde bei Liebe und Sex vermieden (S. 33) oder zumindest nicht thematisiert. Das Leben in der „Körperzone des anderen“ (Günter Dux) hält jene Interessen latent, die gleichsam die Fernwelt hinter der Nahwelt der Liebe betreffen. Die Intimkommunikation kollabiert, wenn bemerkt wird, daß man miteinander verkehrt, um Ziele zu verfolgen, die nicht durch die Liebe selbst motiviert sind. Man kann dann wahrlich von der Decodierung von Intimität sprechen: die Schematisierungsleistung des Kommunikationsmediums (Du und kein anderer) zerfällt, die Motivationsleistung der symbolischen Generalisierung (Liebe) versagt. Prousts Decodierung läßt keinen Zweifel daran, daß die Prinzessin des Laumes den Herzog von Guermantes nicht geheiratet hat, weil sie ihn liebt, sondern um eine Guermantes-Guermantes zu werden, das „Reinste vom Reinen“ im Faubourg Saint-Germain. Es ist auch nicht von Liebe die Rede, wenn der alte Charlus sich in einem Bordell von beliebigen jungen „Apachen“ auspeitschen läßt, denn letzteren interessieren allein die 50 Franken Lohn. Interessen und Liebe schließen sich also aus, und alles, was zur Decodierung von Intimität führen könnte, benötigt Latenzschutz.

Die Recherche thematisiert die vielfachen Interessen der Kontaktanbahnungen und Paarbindungen sowie, im Gegensatz zu Luhmann, auch ihr Scheitern und ihre Auflösung. Adorno hat in einem seiner Proust-Kommentare[5] darauf hingewiesen, daß etwa die „Verflochtenheit des Sexus mit dem Erwerb [...], welche die bürgerliche Gesellschaft zudeckt“, in der Recherche scharfsichtig aufgedeckt wird. Zugleich betont Adorno aber auch, daß „jede Liebe“ ihrer Subordination unter die „universale Nützlichkeit“ der „bürgerlichen Verhältnisse“ entkommen möchte (S. 210). Autonomie ist ihr Modell genau wie das der Kunst (vgl. auch Odettes Garderobe, Zu Proust, S. 671f). Er nennt „allen voran“ den „Baron Charlus“, der diese Liebe gesucht habe, aber gescheitert sei (S. 211). Worum es Proust gehe, so Adorno, sei die Rettung der „selbstvergessenen Liebe“ aus der „Totalität des Funktionierens“ (S. 211). Eine derart „selbstvergessene Liebe“ ist – mit Luhmanns Worten – eine Liebe ohne „Außenhalt“ (S. 198), die sich allein selbstbezüglich motiviert und innerhalb der Liebesbeziehung ihre Gründe für die Liebe (und gegen sie) findet (S. 199). Liebe als codierte Kommunikation besteht, so lautet eine andere schöne Formulierung aus Liebe als Passion, die geradezu perfekt auf Marcels Liebe paßt, im Absenken der „Relevanzschwelle mit der Folge, daß das, was für den einen relevant ist, fast immer auch für den anderen relevant ist.“ (S. 200) In der Liebe findet so auch die geliebte Person mehr Interesse als die Sache, die sie vertritt, und dies quasi grundlos, allein deshalb, weil sie so ist, wie sie ist (S. 30). Charlus liebt Morel nicht wegen seines Talents, sondern schätzt sein Talent, weil er ihn liebt. So stattet die Liebe die Geliebte aus, und die „Schönheit“ läßt sich „in einem Gesicht nieder“, das „andere häßlich finden würden“ (Wiedergefundene Zeit, S. 317). Im Verlauf der historischen Entwicklung von Liebe als Kommunikationsmedium läßt sich beobachten, wie „schließlich alle objektiven, generalisierten Indikatoren für Liebe im Sinne von Verdienst, Schönheit, Tugend abgeworfen werden und das Prinzip, das das Unwahrscheinliche ermöglichen soll, mehr und mehr personalisiert wird“ (Liebe als Passion, S. 28), bis man dann seit dem 18. Jahrhundert behaupten kann, die Einzigartigkeit des anderen sei das einzige Motiv der Liebe. Die romantische Liebe „richtet sich auf ein Ich und ein Du, sofern sie beide in der Beziehung der Liebe stehen, das heißt eine solche Beziehung sich wechselseitig ermöglichen – und nicht, weil sie gut sind, oder schön sind, oder edel sind, oder reich sind.“ (S. 175). Erst dann kann man von Höchstpersönlichkeit der Liebe in dem Sinne sprechen, daß sie dem anderen ermöglicht, „etwas zu geben dadurch, daß er so ist, wie er ist.“ (S. 30) Daß Rahel und Albertine nicht schön sind, bestätigt diese These. Ihrer eigenen Autonomie versichert sich die Liebe im Verzicht auf alles, was auch andere überzeugen könnte, auf alles, was generalisierbar wäre. 

Dieses von Luhmann am Vorbild der romantischen Liebe und der allein durch Liebe motivierten Ehe entworfene Modell intimer Kommunikation, das in der Soziologie der Liebe immer wieder zum Telos einer Entwicklung intimer Beziehungen gemacht worden ist oder als Maßstab dienen mußte, an dem man Abweichungen zu messen vermochte, wird von Proust seines Latenzschutzes beraubt. In der Recherche läßt sich beobachten, daß nicht nur die Heiraten, sondern auch die außerehelichen Liaisons dem sozialen Aufstiegswillen (Madame Verdurin), der Vermehrung des Vermögens (Saint-Loup) oder der Distinktion dienen (Herzogin von Guermantes, geb. Prinzessin des Laumes). Die Geliebten des Herzogs von Guermantes erhoffen sich Zugang zum Faubourg Saint-Germain, Odette läßt ihren Luxus von Liebhabern finanzieren. Adornos utopisches Modell „selbstvergessener Liebe“ und Luhmanns Postulat, „daß Liebe nur durch Liebe zu motivieren“ sei (S. 36), findet sich nun aber in der Recherche am ehesten in der homosexuellen Liebe. 

Wie verhält sich nun die Homosexualität zum Latenzschutz der Liebe? Die Überlegung ist einfach: Wenn die – wie Proust immer wieder schreibt – „normale“ Liebe zwischen Mann und Frau decodiert wird und Funktionen in den Blick kommen, die beispielsweise auf der biologischen Reproduktion aufruhen, dann erscheint im Vergleich mit der heterosexuellen Paarbildung die homosexuelle Beziehung allein als zweckfrei. Wenn die heterosexuelle Liebe ihren Latenzschutz verliert, weil ihre Semantik zur bloßen Maquillage für das allgemeine soziale oder staatliche Interesse an der Arterhaltung degradiert wird, wie Adam und Spaemann es tun und Bahners es beklagt, dann bleibt für die autonome Codierung von Intimkommunikation nur die Homosexualität übrig. Da sie weder der Reproduktion noch der Bildung von Allianzen dient, ist die homosexuelle Liebe die „wahre“ Liebe. Nachdem der Prinz von Guermantes, der Baron de Charlus, der Marquis von Saint-Loup und viele andere Angehörige des Faubourg Saint-Germain ihre Allianzen geschlossen haben, um ihr Vermögen zu konzentrieren und ihr uraltes Blut zu vererben, wenden sie sich von den Frauen ab, um Männer zu lieben. Im übrigen wird mehrfach behauptet, „Homosexuelle“ seien die „besten Ehemänner von der Welt“ (Entflohene, S. 372), die ihre Frauen „zumeist glücklich“ machten (Wiedergefundene Zeit, S. 27), solange sie nicht vorzuspielen suchten, sie interessierten sich für Frauen. Der Hochadel zeugt seinen Nachwuchs, um danach homosexuell zu werden, sie durchlaufen „eine physiologische Entwicklung“, die selbst bei Charlus „erst ziemlich spät sich vollzogen hatte“ (Entflohene, S. 377). Glaubt man Georges Batailles Behauptung, daß „Albertine in Wirklichkeit der Chauffeur Albert Agostinelli“ sei,[6] dann hat sich auch der Erzähler schließlich von den Frauen abgewendet. Dieser Wechsel beinahe aller Hauptfiguren des Romans zur Homosexualität wird im Roman selbst teils pathologisiert, teils auf genetische Ursachen zurückgeführt, teils mythologisiert. Darin ist Proust durchaus konventionell, so konventionell, daß mir eine andere Erklärung reizvoller erscheint: Homosexualität ist der Stand der Liebe in den Zeiten ihrer Decodierung. Auch die meisten Protagonistinnen verwirklichen ihre Liebe mit dem eigenen Geschlecht. Im Text wird immer wieder das hohe Risiko betont, daß Charlus, aber auch Albertine eingehen, um ihrer Form der Liebe nachzugehen, einer Liebe, die gleichsam „interesselos“ ist. Sowohl die grenzenlose „Güte“ des Barons, von der Marcel so oft spricht, als auch die lesbischen Orgien, an denen Albertine teilnimmt ohne Rücksicht auf ihre soziale Lage und die aus ihr resultierende Notwendigkeit, eine Versorgungsehe zu schließen, entziehen sich den Kalkülen, die Marcel nahezu überall dort beobachtet, wo von Intimbeziehungen die Rede sein könnte.
 

IV

Luhmanns Beschreibungen, die wir hier kurz skizziert haben, scheinen auf heterosexuelle wie homosexuelle Liebe gleichermaßen zuzutreffen, denn da es ihm um eine Semantik höchstpersönlicher Intimität geht und nicht um Körper, dürften geschlechtliche Differenzen eigentlich keine Rolle spielen. Dies ist aber nun keineswegs der Fall, vielmehr wird an den wenigen Stellen, wo die Homosexualität auch nur erwähnt wird, ihre Berücksichtigung ausgeschlossen. „Das schwierige Problem der Homosexualität [...] lassen wir hier außer Acht“ (S. 147, FN 33), heißt es an einer von zwei einschlägigen Stellen aus Liebe als Passion. Die zweite Anmerkung zur Homosexualität in Liebe als Passion ist interessanter. Sie fällt im Kontext einer Notiz zur modernen Liebe nach der „Freigabe sexueller Beziehungen“:

„Die Tragik liegt nicht mehr darin, daß die Liebenden nicht zueinander kommen; sie liegt darin, daß sexuelle Beziehungen Liebe erzeugen und daß man weder nach ihr leben noch von ihr loskommen kann. [...] Liebe als Zwangsbedingung zu Sexualität und umgekehrt. In dieser Konstellation werden dann auch homosexuelle Beziehungen literaturfähig.“ (S. 203)

Liebe sei eine „Zwangsbedingung“ für die Einleitung sexueller Beziehungen. Eine Fehlleistung: Sicherlich müßte es an dieser Stelle richtigerweise „Zugangsbedingung“ heißen statt „Zwangsbedingung“, denn Luhmanns These lautet, daß in der Moderne Sex der Liebe vorausgehen und Liebe motivieren kann. Wie steht es aber mit der These des Satzes, der dort tatsächlich steht? Liebe sei speziell im Fall der Homosexualität eine „Zwangsbedingung“, eine der Sexualität aufgezwungene Bedingung? Was Luhmann hier an den endlich „literaturfähigen homosexuellen Beziehungen“ beobachtet, ist ihre potentielle Abkopplung von der Liebe als codierter Intimität. Man denke etwa an den Charlus der Wiedergefundenen Zeit, der die Verdunklung im Paris des ersten Weltkriegs nutzt, um Metrostationen in Darkrooms zu verwandeln: Während im Normalfall der Sexualität immer „Präliminarien“ vorausgingen und „mindestens ein Vorspiel fällig“ sei, also dem „Sicheinlassen auf sexuelle Beziehungen“ eine „kommunikative Vorgeschichte“ vorangeht,[7] entkoppeln sich im Darkroom des Metroschachtes das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Liebe und sein symbiotischer Mechanismus Sexualität. Genau wie es im Ausnahmezustand zur Ausübung physischer Gewalt außerhalb des staatlichen Gewaltmonopols kommen kann oder zum Zugriff auf lebenswichtige Güter ohne den Einsatz des Geldmediums, sind auch sexuelle „Bedürfnisse“, wie Luhmann schreibt, „asozial zu befriedigen“, also jenseits aller Codierung.[8] Charlus gelingt dies im Ausnahmezustand des Weltkriegs: „In völliger Dunkelheit“ der U-Bahnschächte, die „schwarz waren wie Katakomben“, werden alle „Präliminarien“ dispensiert und das 

„ewig alte Spiel [der Kontaktanbahnung] überflüssig, die Hände, die Lippen, die Leiber können sich betätigen. Notfalls stehen immer noch als Entschuldigung die Dunkelheit selbst und die Irrtümer zur Verfügung, wofern der Vorstoß schlecht aufgenommen wird. Findet man aber Verständnis, so erweckt in uns die unmittelbare Antwort des Körpers, der sich nicht zurückzieht, sondern annähert, die Vorstellung, daß die, an die wir uns schweigend wenden, vorurteilsfrei und eher lasterhaften Neigungen unterworfen sind“ (Wiedergefundene Zeit, S. 211f). 

Diese Schilderung einer Annäherung der Körper diesseits codierter Kommunikation findet ihr Äquivalent in einer kuriosen Bemerkung Luhmanns zur Frage der „Aufnahme von Homosexuellen in die amerikanische Armee“.[9] Luhmann geht wie üblich der Frage nach, welche Beobachter mit der „Unterscheidung Heterosexualität / Homosexualität“ operieren (S. 10), Juristen, Politiker, Soldaten etc., um einen ungewöhnlichen Beobachter ins Spiel zu bringen, nämlich den Körper. Er schreibt:

Kann ein Soldat [...] wissen, wie sein Körper eine Situation beobachten würde, in der er Homosexuellen außerhalb der abgeschirmten Privatsphäre, etwa unter der Gemeinschaftsdusche, im Schlafsaal oder in zahlreichen ähnlichen Situationen, begegnet? Selbst wenn Gesellschaft und Militär Heterosexualität bevorzugen und selbst wenn ein Individuum diese Entscheidung für sich selber und seinen Körper akzeptiert: darf man sicher sein, daß der Körper immer mitspielt?

Die Fernsehinterviews bezeugen, daß die Soldaten, diese starken und gesunden, wohlgenährten jungen Männer mit überdimensionierten Armen, Beinen und Körpern bekennen, daß sie Angst vor Homosexuellen in ihrer unmittelbaren Umgebung haben. (S. 11)

Warum nur? Luhmann meint, „daß die eigentliche Sorge der Soldaten die ist, daß ihr Körper als eigenständiger Beobachter reagiert und andere dies sehen könnten“ (S. 11). Was Luhmann damit meint, ist sehr handgreiflich und wird deutlicher, wenn er demgegenüber betont, daß „weibliche Soldaten sich viel weniger Sorgen über mögliche lesbische Kameradinnen machen, da ihre Körperreaktionen weniger spezifisch und leichter zu verbergen sind“ (S. 11f). Unter der Gemeinschaftsdusche kann es also nur bei Männern zu Beobachtungen der Körper kommen, deren Eindeutigkeit jede Semantik unterlaufen, weil sie nicht zu verbergen sind. Der männliche Körper erhält hier, mit Proust zu sprechen, die „unmittelbare Antwort des Körpers“ des anderen. Frauen dagegen simulieren, so daß eine Intimsemantik nötig ist, die der Aufnahme sexueller Beziehungen voraus geht.[10]

Im Krieg und in der Armee kommt es heraus: Die Homosexuellen kommen auch ohne Liebe zur sexuellen Interaktion. Was in der Metro oder auch im Herrenumkleideraum allein zwischen den agierenden und reagierenden Körpern stattfindet, verstößt massiv gegen die sonst allenthalben wirksamen sogenannten „Selbstbefriedigungsverbote“ der „Medien-Codes“, die in den Funktionssystemen dafür sorgen, daß ihre Autopoiesis nicht deswegen aufhört, weil etwa Geld nur noch gehortet, statt auch ausgegeben wird, oder Gewalt nicht nur zur Durchsetzung legitimer Macht angewendet wird, sondern zur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung etc. So wird der Geizige genauso diskreditiert wie der Onanist. Die Homosexualität unterläuft diese „Selbstbefriedigungsverbote“ und kommt im Darkroom zum Ziel, ohne daß ein komplexer, binär schematisierter und symbolisch generalisierter „Umweg über soziale Kommunikation“ genommen werden müßte.[11] Was sonst nur im Exklusionsbereich der Gesellschaft möglich ist, nämlich ein systemisch unspezifiziertes Agieren von Körpern,[12] findet im Falle männlicher Homosexualität offensichtlich auch in Inklusionszonen statt. Homosexualität ist diesseits symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien möglich, und darüber hinaus entzieht sie sich der sozialen Funktion des Kommunikationssystems Liebe, die Luhmann auf die Gründung von Familien festlegt, also auf die Reproduktion.[13]

Homosexuelle, so ist deutlich geworden, neigen dazu, ohne Latenzschutz zu operieren, und zwar in zweifacher Hinsicht: sie lassen sich auf sexuelle Beziehungen ein, bevor Liebe die Intimbeziehung aufbaut und strukturiert; und sie tun dies ohne Reproduktionschance. Dadurch, daß diese Sexualität ihre „eigentliche“ soziale „Funktion“ (Adam) nicht erfüllt, machen die Homosexuellen sie aber so sichtbar, daß Konrad Adam und Robert Spaemann aussprechen können, worum es bei der Liebe im Kern geht: um das Zeugen und die Aufzucht der Nachkommenschaft. Diese Thematisierung sonst latent gehaltener Motive aber gefährdet die Liebe selbst. In der Recherche, die den Latenzschutz der modernen Liebe notorisch verletzt, fallen so nahezu alle Männer von der heterosexuellen Liebe ab und werden schwul – und nicht, weil dies schon ihren Genen eingeprägt ist als Erbe der Väter und Onkel oder weil die Genealogie ihres Archetypus bis nach Sodom zurückreicht, sondern womöglich deshalb, weil die homosexuelle Beziehung allein autonom ist. Die Homosexualität führt uns vor Augen, daß Lustgewinne möglich sind, die keinen gesellschaftlichen Mehrwert abwerfen. Dies muß marginalisiert werden, wenn die Autopoiesis der funktionsdifferenzierten Gesellschaft nicht gefährdet werden soll. Luhmann hat sich nahezu vollständig den Denkzwängen des Funktionalismus unterworfen und die Homosexualität im Dienste selbstgesetzter Selbstbefriedigungsverbote aus seinen Studien zur Intimität ausgeschlossen. Auf der Ebene der offiziellen Kommentierung des Phänomens hat Proust sich ähnlich verhalten: Homosexualität gilt als irregulär, pathologisch, anormal etc. Mit dieser konventionellen Sicht auf die Homosexualität befinden sich Textpassagen im Widerstreit, die in der homosexuellen Beziehung die Möglichkeit „selbstvergessener Liebe“ erkennen lassen. Die allem Nutzen enthobene sexuelle Interaktion der „starken und gesunden, wohlgenährten jungen Männer“ etabliert einen Ort, der auf Latenzschutz nicht angewiesen ist und zu dem man seinen Weg auch in der Epoche der Decodierung von Intimität finden kann. Je unverhüllter sich der Funktionalismus der heterosexuellen Paarbildung zeigt, um so eher darf sich die homosexuelle Liebe als letzter Erbe der autonomen Codierung von Intimität verstehen.



[1] Vgl. nur die Bezeichnung der Homosexualität als „widernatürliche Neigung“ (Sodom und Gomorra, S. 502) oder als physiologische „Störung“ des Nervensystems (S. 485).
[2] Bahners zitiert namentlich Hegel, unterschlägt aber, daß Hegel Liebe wie Ehe erst dann für vollendet hält, wenn das Paar (eigene) Kinder bekommt. Vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 173, Zusatz. Gegen Bahners, der in der Liebe ein Argument für die Homosexuellenehe sieht, ließe sich auch mit Hegel einwenden: „Leidenschaftliche Liebe und Ehe ist zweierlei“ (§ 162, Zusatz).
[3] Niklas Luhmann, Soziale Systeme, S. 456.
[4] Kleine Proust-Kommentare, in: Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, S. 203-215, S.
[5] In: Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, S. 203-215, S. 210.
[6] Georges Bataille, Die Literatur und das Böse, München 1987, S. 124.
[7] Niklas Luhmann, Symbiotische Mechanismen, in: Soziologische Aufklärung. Bd. 3, Opladen2 1991, S.228-244, S. 232.
[8] Luhmann, Symbiotische Mechanismen, S. 231.
[9] Niklas Luhmann, Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung, in: Henk de Berg / Matthias Prangel (Hrsg.), Differenzen, Tübingen und Basel 1995, S. 9-35, S. 9.
[10] Luhmann, Symbiotische Mechanismen, S. 232, 238.
[11] Niklas Luhmann, Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, in: Soziologische Aufklärung. Bd. 2, Opladen 41991, S. 170-192, S. 181.
[12] Vgl. Niels Werber, Von Feinden und Barbaren. Carl Schmitt und Niklas Luhmann, in: Merkur, Heft 9/10, September/Oktober 1995, S. 949-957.
[13] Luhmann, Symbiotische Mechanismen, S. 233f.