„Artikel
6 des Grundgesetzes stellt Ehe und Familie ja nicht deshalb unter den besonderen
Schutz der staatlichen Gemeinschaft, weil der Verfassungsgeber sentimental
veranlagt war und etwas für die Liebe tun wollte. Er handelte in Anerkennung
der Tatsache, daß ohne Nachwuchs kein Staat zu machen ist und daß
die besten Voraussetzungen für das Heranwachsen von Kindern nicht
in Kinderkrippen oder Kindergärten zu finden sind, sondern bei den
Eltern. Was da geschützt oder gefördert werden soll, ist also
nicht eine gefühlsbetonte Partnerschaft, sondern eine Funktion,
die so elementar ist, daß sie von allen schwarzen, roten oder grünen
Sozialpolitikern dieser Welt zwar nachhaltig beschädigt, aber weder
beseitigt noch ersetzt werden konnte. Die Natur läßt
sich eben nicht überlisten oder betrügen“.
Konrad
Adams Polemik gegen die „Gleichstellung“ gleichgeschlechtlich Liebender
führt die Paragraphen des Grundgesetzes – „(6.1.) Ehe und Familie
stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (6.2.) Pflege
und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und
die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ – auf die aus der Sicht
der Politik „elementare Funktion“ der Ehe zurück, die in der Natur
selbst wurzele. Der Staat setzt kein Recht, sondern schützt im Grundgesetz
die Natur – man könnte Adam fragen, wozu dieser Naturschutz nötig
sein soll, wenn sich die Natur doch selbst gegen Sozialpolitiker durchzusetzen
vermag. Neben dem Rekurs auf Natur, der sich häufig auch bei Proust
findet,[1]
ist an Adams Argument interessant, daß er all das, was man seit Fichte
und Hegel mit der Familie und der Ehe zu verbinden pflegt: nämlich
Liebe, Vertrautheit, Intimität, Zuneigung und Vertrauen als „romantische“
oder „sentimentale“ Phrasen bezeichnet, an die die Liebenden glauben mögen
und an die auch der junge Marcel glaubte: „Was ich als Kind mir als das
Süßeste an der Liebe vorgestellt hatte und was mir zu ihrem
innersten Wesen zu gehören schien, war, daß man bei der Geliebten
seine Zärtlichkeit, seine Dankbarkeit für ihre Güte, sein
Verlangen nach einem immerwährenden gemeinsamen Leben freimütig
verströmen könne.“ (Die Gefangene, S. 463) Dieser „naiven“
Vorstellung haftet er noch an, als er den Moment fürchtete, „eines
Tages Albertine nicht mehr zu lieben.“ (Wiedergefundene Zeit, S.
493) Diese Semantik einer auf Dauer gestellten Intensität, die einen
und nur einen beliebigen anonymen anderen in den significant
other
zu verwandeln vermag, ist aber eben nicht maßgeblich für den
Gesetzgeber, der allein die Vermehrung seines Staatsvolkes verfolgt. Der
naiven Binnensicht der Liebe auf sich selbst wird die nüchterne Außensicht
entgegengestellt, die den Kern der Sache zu enthüllen vermag. Robert
Spaemann hat in einem FAZ-Beitrag vom 14. 3. 2000 dieselbe Ansicht vertreten,
wenn er mit Sinn für Differenz und Arbeitsteilung schreibt: „Das Schlafzimmer
hat den liberalen Staat nur insoweit zu interessieren, als er der potentielle
Ort für die Weitergabe menschlichen Lebens und also der Reproduktion
des Menschengeschlechts ist.“ Dazu tragen aber Homosexuelle (beim aktuellen
Stand der Biotechnologie jedenfalls) nichts bei.
Mit
diesen Thesen gegen die Homosexuellenehe wird die Semantik, die gewöhnlich
die mit der Eheschließung gegründete Familie umgibt, durchbrochen
– freilich allein aus rechtsphilosophischer Sicht, doch wird diese Sicht
als einzig entscheidende angesehen, alles andere sei „sentimental“. Im
Rückblick des Erzählers der Recherche auf sein Leben aus
der Sicht dessen, der nicht mehr liebt, ergibt sich ein ähnliches
Bild. Die Liebe ist eine Konstruktion oder Projektion (Mädchenblüte,
S. 535f, Wiedergefundene Zeit, S. 317), für deren Konstruktionsbedingungen
man so lange blind ist, wie die Liebe währt: danach fallen die Interessen
ins Auge, die man selbst oder der Partner unter dem Schutz der Konstruktion
verfolgt haben. Bei Adam und Spaemann ist dieses Interesse das des Staates
und der Natur. Ihr Einwand gegen die Homosexuellenehe basiert auf der Freilegung
der auf der Natur selbst basierenden Funktion der Ehe von allem semantischen
Beiwerk. Damit wird aber der notorische „Latenzschutz“, mit denen die Sozialsysteme
ihre Funktionen tarnen, aufgehoben und ausgesprochen, worum es bei der
Ehe offenbar tatsächlich geht: nämlich neue Bürger zu gebären
und aufzuziehen. In diesem Sinne wird in der Recherche die Ehe des
homosexuellen Monsieur de Courvoisier „als die beste Ehe von ganz Paris
zitiert“, denn seitdem er seiner Neigung in „gewissen Häusern“ frönt,
„liebte er daraufhin seine Frau nur noch um so mehr“, was im Klartext bedeutet,
daß er „seinen Fortpflanzungseifer verdoppelte“ und Madame andauernd
schwanger ist (Wiedergefundene Zeit, S. 28). Schwule Ehemänner
machen ihre Frauen glücklich, generalisiert Marcel (S. 27), und auch
Saint-Loup läßt sich von seiner Neigung zu Morel und anderen
nicht daran hindern, „dafür zu sorgen, daß [Gilberte] Kinder
bekam“ (Entflohene, S. 369). Die Ehe ist das Institut der Reproduktion,
aber nicht unbedingt der Liebe. Und nur unter diesem Aspekt, so Spaemann,
habe sich der Staat für die Ehe zu interessieren. Da allein heterosexuelle
Paare zur Vermehrung befähigt sind, wird allein ihr Zusammenleben
institutionalisiert und verfassungsrechtlich geschützt. Freilich sehe
die Selbstbeschreibung der Ehen und Familien anders aus, man spricht dann
von „Liebe“ oder „Gefühlen“, doch sei dies eben ein naiver Blick,
der den Funktionalismus der Natur wie der staatlichen Gesetzgebung vollkommen
verkenne. Homosexuelle Paare, und seien sie wahrhaftig noch so ineinander
verliebt, müßten also, so Adam, keinesfalls „gleichgestellt“
werden, da sie dem Staat keinen „Nachwuchs“ schenken können. Ohne
Leistung, keine Gegenleistung. Das geplante Gesetz sei daher „überflüssig“,
Spaemann hält es sogar für „ungerecht“.
Patrick
Bahners Intervention (FAZ vom 22. 12. 1999) steht auf verlorenem Posten,
denn sie versucht gleichsam aus der Perspektive der Liebe das Recht zu
deuten. Unter dezidiertem Rückgriff auf die romantische Liebessemantik,
die in der Ehe die Verschmelzung einer Zweiheit in eine Einheit versteht,[2]
verteidigt Bahners den Begriff der Ehe gegen die Zumutung, allein als „Reproduktionsanstalt“
den Schutz des Grundgesetzes zu genießen. Gegen die funktionalistische
Vorstellung der Justizministerin Däubler-Gmelin, die Ehe sei eine
„Geschlechtsgemeinschaft zwischen Mann und Frau, an die sich [...] die
Erwartung gemeinsamer Kinder und ihre Erziehung knüpft“, wendet Bahners
ein, die „Liebe“, welche die Ehe stifte, sei nicht „biologisch“ zu definieren,
sondern „intellektuell, moralisch, erotisch“, also gerade nicht natürlich,
sondern semantisch. Da auf der semantischen Ebene der Codierung
von Intimität die Liebe zwischen „Mann und Mann“ sowie „Frau und Frau“
nicht von der zwischen Mann und Frau zu unterscheiden sei, habe der Gesetzgeber
auch diese Form der Ehe seinen „Schutz nicht länger zu versagen“.
Das Rechtsinstitut der registrierten Partnerschaft lehnt Bahners daher
als Diskriminierung ab. Alle, die sich lieben, sollen heiraten dürfen.
Auch
bei Proust wird derart die Semantik der Liebe gegen ihre Biologie ausgespielt:
Homosexuelle Liebe unterstehe einerseits „den allgemeinen Gesetzen der
Liebe“ (Wiedergefundene Zeit, S. 190), andererseits aber sei sie
eine „abnorme Veranlagung“ (Sodom, S. 28), eine „Krankheit“ (S.
94), eine „Erbanlage“, deren Entfaltung gleichgültig gegen jeden äußeren
Einfluß erfolgt. Man denke etwa an den jungen Prinz de Fois in Die
Wiedergefundene Zeit, der dem Schicksal seines Vaters nicht entgeht,
obwohl er von allen „schlechten Einflüssen von außen her geschützt“
wurde (S. 202). Nicht die Genetik, aber die Semantik der Liebe ist bei
Homo- und Heterosexuellen die gleiche, und daher vergleicht Marcel immer
wieder seine Liebe zu Albertine mit der des Baron Charlus zu Morel; ihre
Kopplung an den symbiotischen Mechanismus der Sexualität ist dagegen
grundverschieden. Wie das Beispiel der Orchidee und der sie befruchtenden
Hummel aus Sodom und Gomorra (S. 43ff) zeigt, liegt der Unterschied
in der folgenreichen oder folgenlosen Befruchtung, in der Reproduktion
also. Aus dieser biologischen Differenz zieht auch die normalistische Unterscheidung
regulärer und irregulärer Sexualität, die vor allem Sodom
und Gomorra prägt (S. 28), ihre überzeugende Wirksamkeit.
Die
Recherche thematisiert die vielfachen Interessen der Kontaktanbahnungen
und Paarbindungen sowie, im Gegensatz zu Luhmann, auch ihr Scheitern und
ihre Auflösung. Adorno hat in einem seiner Proust-Kommentare[5]
darauf hingewiesen, daß etwa die „Verflochtenheit des Sexus mit dem
Erwerb [...], welche die bürgerliche Gesellschaft zudeckt“, in der
Recherche scharfsichtig aufgedeckt wird. Zugleich betont Adorno
aber auch, daß „jede Liebe“ ihrer Subordination unter die „universale
Nützlichkeit“ der „bürgerlichen Verhältnisse“ entkommen
möchte (S. 210). Autonomie ist ihr Modell genau wie das der Kunst
(vgl. auch Odettes Garderobe, Zu Proust, S. 671f). Er nennt „allen
voran“ den „Baron Charlus“, der diese Liebe gesucht habe, aber gescheitert
sei (S. 211). Worum es Proust gehe, so Adorno, sei die Rettung der „selbstvergessenen
Liebe“ aus der „Totalität des Funktionierens“ (S. 211). Eine derart
„selbstvergessene Liebe“ ist – mit Luhmanns Worten – eine Liebe ohne „Außenhalt“
(S. 198), die sich allein selbstbezüglich motiviert und innerhalb
der Liebesbeziehung ihre Gründe für die Liebe (und gegen sie)
findet (S. 199). Liebe als codierte Kommunikation besteht, so lautet eine
andere schöne Formulierung aus Liebe als Passion, die geradezu
perfekt auf Marcels Liebe paßt, im Absenken der „Relevanzschwelle
mit der Folge, daß das, was für den einen relevant ist, fast
immer auch für den anderen relevant ist.“ (S. 200) In der Liebe findet
so auch die geliebte Person mehr Interesse als die Sache, die sie vertritt,
und dies quasi grundlos, allein deshalb, weil sie so ist, wie sie ist (S.
30). Charlus liebt Morel nicht wegen seines Talents, sondern schätzt
sein Talent, weil er ihn liebt. So stattet die Liebe die Geliebte aus,
und die „Schönheit“ läßt sich „in einem Gesicht nieder“,
das „andere häßlich finden würden“ (Wiedergefundene
Zeit, S. 317). Im Verlauf der historischen Entwicklung von Liebe als
Kommunikationsmedium läßt sich beobachten, wie „schließlich
alle objektiven, generalisierten Indikatoren für Liebe im Sinne von
Verdienst, Schönheit, Tugend abgeworfen werden und das Prinzip, das
das Unwahrscheinliche ermöglichen soll, mehr und mehr personalisiert
wird“ (Liebe als Passion, S. 28), bis man dann seit dem 18. Jahrhundert
behaupten kann, die Einzigartigkeit des anderen sei das einzige Motiv der
Liebe. Die romantische Liebe „richtet sich auf ein Ich und ein Du, sofern
sie beide in der Beziehung der Liebe stehen, das heißt eine solche
Beziehung sich wechselseitig ermöglichen – und nicht, weil sie gut
sind, oder schön sind, oder edel sind, oder reich sind.“ (S. 175).
Erst dann kann man von Höchstpersönlichkeit der Liebe in dem
Sinne sprechen, daß sie dem anderen ermöglicht, „etwas zu geben
dadurch, daß er so ist, wie er ist.“ (S. 30) Daß Rahel und
Albertine nicht schön sind, bestätigt diese These. Ihrer eigenen
Autonomie versichert sich die Liebe im Verzicht auf alles, was auch andere
überzeugen könnte, auf alles, was generalisierbar wäre.
Dieses
von Luhmann am Vorbild der romantischen Liebe und der allein durch Liebe
motivierten Ehe entworfene Modell intimer Kommunikation, das in der Soziologie
der Liebe immer wieder zum Telos einer Entwicklung intimer Beziehungen
gemacht worden ist oder als Maßstab dienen mußte, an dem man
Abweichungen zu messen vermochte, wird von Proust seines Latenzschutzes
beraubt. In der Recherche läßt sich beobachten, daß
nicht nur die Heiraten, sondern auch die außerehelichen Liaisons
dem sozialen Aufstiegswillen (Madame Verdurin), der Vermehrung des Vermögens
(Saint-Loup) oder der Distinktion dienen (Herzogin von Guermantes, geb.
Prinzessin des Laumes). Die Geliebten des Herzogs von Guermantes erhoffen
sich Zugang zum Faubourg
Saint-Germain,
Odette läßt ihren Luxus von Liebhabern finanzieren. Adornos
utopisches Modell „selbstvergessener Liebe“ und Luhmanns Postulat, „daß
Liebe nur durch Liebe zu motivieren“ sei (S. 36), findet sich nun aber
in der Recherche am ehesten in der homosexuellen Liebe.
Wie
verhält sich nun die Homosexualität zum Latenzschutz der Liebe?
Die Überlegung ist einfach: Wenn die – wie Proust immer wieder schreibt
– „normale“ Liebe zwischen Mann und Frau decodiert wird und Funktionen
in den Blick kommen, die beispielsweise auf der biologischen Reproduktion
aufruhen, dann erscheint im Vergleich mit der heterosexuellen Paarbildung
die homosexuelle Beziehung allein als zweckfrei. Wenn die heterosexuelle
Liebe ihren Latenzschutz verliert, weil ihre Semantik zur bloßen
Maquillage für das allgemeine soziale oder staatliche Interesse an
der Arterhaltung degradiert wird, wie Adam und Spaemann es tun und Bahners
es beklagt, dann bleibt für die autonome Codierung von Intimkommunikation
nur die Homosexualität übrig. Da sie weder der Reproduktion noch
der Bildung von Allianzen dient, ist die homosexuelle Liebe die „wahre“
Liebe. Nachdem der Prinz von Guermantes, der Baron de Charlus, der Marquis
von Saint-Loup und viele andere Angehörige des Faubourg Saint-Germain
ihre Allianzen geschlossen haben, um ihr Vermögen zu konzentrieren
und ihr uraltes Blut zu vererben, wenden sie sich von den Frauen ab, um
Männer zu lieben. Im übrigen wird mehrfach behauptet, „Homosexuelle“
seien die „besten Ehemänner von der Welt“ (Entflohene, S. 372),
die ihre Frauen „zumeist glücklich“ machten (Wiedergefundene Zeit,
S. 27), solange sie nicht vorzuspielen suchten, sie interessierten sich
für Frauen. Der Hochadel zeugt seinen Nachwuchs, um danach homosexuell
zu werden, sie durchlaufen „eine physiologische Entwicklung“, die selbst
bei Charlus „erst ziemlich spät sich vollzogen hatte“ (Entflohene,
S. 377). Glaubt man Georges Batailles Behauptung, daß „Albertine
in Wirklichkeit der Chauffeur Albert Agostinelli“ sei,[6]
dann hat sich auch der Erzähler schließlich von den Frauen abgewendet.
Dieser Wechsel beinahe aller Hauptfiguren des Romans zur Homosexualität
wird im Roman selbst teils pathologisiert, teils auf genetische Ursachen
zurückgeführt, teils mythologisiert. Darin ist Proust durchaus
konventionell, so konventionell, daß mir eine andere Erklärung
reizvoller erscheint: Homosexualität ist der Stand der Liebe in den
Zeiten ihrer Decodierung. Auch die meisten Protagonistinnen verwirklichen
ihre Liebe mit dem eigenen Geschlecht. Im Text wird immer wieder das hohe
Risiko betont, daß Charlus, aber auch Albertine eingehen, um ihrer
Form der Liebe nachzugehen, einer Liebe, die gleichsam „interesselos“ ist.
Sowohl die grenzenlose „Güte“ des Barons, von der Marcel so oft spricht,
als auch die lesbischen Orgien, an denen Albertine teilnimmt ohne Rücksicht
auf ihre soziale Lage und die aus ihr resultierende Notwendigkeit, eine
Versorgungsehe zu schließen, entziehen sich den Kalkülen, die
Marcel nahezu überall dort beobachtet, wo von Intimbeziehungen die
Rede sein könnte.
„Die
Tragik liegt nicht mehr darin, daß die Liebenden nicht zueinander
kommen; sie liegt darin, daß sexuelle Beziehungen Liebe erzeugen
und daß man weder nach ihr leben noch von ihr loskommen kann. [...]
Liebe als Zwangsbedingung zu Sexualität und umgekehrt.
In dieser Konstellation werden dann auch homosexuelle Beziehungen literaturfähig.“
(S. 203)
Liebe
sei eine „Zwangsbedingung“ für die Einleitung sexueller Beziehungen.
Eine Fehlleistung: Sicherlich müßte es an dieser Stelle richtigerweise
„Zugangsbedingung“ heißen statt „Zwangsbedingung“, denn Luhmanns
These lautet, daß in der Moderne Sex der Liebe vorausgehen und Liebe
motivieren kann. Wie steht es aber mit der These des Satzes, der dort tatsächlich
steht? Liebe sei speziell im Fall der Homosexualität eine „Zwangsbedingung“,
eine der Sexualität aufgezwungene Bedingung? Was Luhmann hier an den
endlich „literaturfähigen homosexuellen Beziehungen“ beobachtet,
ist ihre potentielle Abkopplung von der Liebe als codierter Intimität.
Man denke etwa an den Charlus der Wiedergefundenen Zeit, der die
Verdunklung im Paris des ersten Weltkriegs nutzt, um Metrostationen in
Darkrooms zu verwandeln: Während im Normalfall der Sexualität
immer „Präliminarien“ vorausgingen und „mindestens ein Vorspiel fällig“
sei, also dem „Sicheinlassen auf sexuelle Beziehungen“ eine „kommunikative
Vorgeschichte“ vorangeht,[7]
entkoppeln sich im Darkroom des Metroschachtes das symbolisch generalisierte
Kommunikationsmedium Liebe und sein symbiotischer Mechanismus Sexualität.
Genau wie es im Ausnahmezustand zur Ausübung physischer Gewalt außerhalb
des staatlichen Gewaltmonopols kommen kann oder zum Zugriff auf lebenswichtige
Güter ohne den Einsatz des Geldmediums, sind auch sexuelle „Bedürfnisse“,
wie Luhmann schreibt, „asozial zu befriedigen“, also jenseits aller
Codierung.[8]
Charlus gelingt dies im Ausnahmezustand des Weltkriegs: „In völliger
Dunkelheit“ der U-Bahnschächte, die „schwarz waren wie Katakomben“,
werden alle „Präliminarien“ dispensiert und das
„ewig
alte Spiel [der Kontaktanbahnung] überflüssig, die Hände,
die Lippen, die Leiber können sich betätigen. Notfalls stehen
immer noch als Entschuldigung die Dunkelheit selbst und die Irrtümer
zur Verfügung, wofern der Vorstoß schlecht aufgenommen wird.
Findet man aber Verständnis, so erweckt in uns die unmittelbare
Antwort des Körpers, der sich nicht zurückzieht, sondern
annähert, die Vorstellung, daß die, an die wir uns schweigend
wenden, vorurteilsfrei und eher lasterhaften Neigungen unterworfen sind“
(Wiedergefundene Zeit, S. 211f).
Diese
Schilderung einer Annäherung der Körper diesseits codierter Kommunikation
findet ihr Äquivalent in einer kuriosen Bemerkung Luhmanns zur Frage
der „Aufnahme von Homosexuellen in die amerikanische Armee“.[9]
Luhmann geht wie üblich der Frage nach, welche Beobachter mit der
„Unterscheidung Heterosexualität / Homosexualität“ operieren
(S. 10), Juristen, Politiker, Soldaten etc., um einen ungewöhnlichen
Beobachter ins Spiel zu bringen, nämlich den Körper. Er schreibt:
Kann
ein Soldat [...] wissen, wie sein Körper eine Situation beobachten
würde, in der er Homosexuellen außerhalb der abgeschirmten Privatsphäre,
etwa unter der Gemeinschaftsdusche, im Schlafsaal oder in zahlreichen ähnlichen
Situationen, begegnet? Selbst wenn Gesellschaft und Militär Heterosexualität
bevorzugen und selbst wenn ein Individuum diese Entscheidung für sich
selber und seinen Körper akzeptiert: darf man sicher sein, daß
der Körper immer mitspielt?
Die
Fernsehinterviews bezeugen, daß die Soldaten, diese starken und gesunden,
wohlgenährten jungen Männer mit überdimensionierten Armen,
Beinen und Körpern bekennen, daß sie Angst vor Homosexuellen
in ihrer unmittelbaren Umgebung haben. (S. 11)
Warum
nur? Luhmann meint, „daß die eigentliche Sorge der Soldaten die ist,
daß ihr Körper als eigenständiger Beobachter reagiert und
andere dies sehen könnten“ (S. 11). Was Luhmann damit meint, ist sehr
handgreiflich und wird deutlicher, wenn er demgegenüber betont, daß
„weibliche Soldaten sich viel weniger Sorgen über mögliche lesbische
Kameradinnen machen, da ihre Körperreaktionen weniger spezifisch und
leichter zu verbergen sind“ (S. 11f). Unter der Gemeinschaftsdusche kann
es also nur bei Männern zu Beobachtungen der Körper kommen, deren
Eindeutigkeit jede Semantik unterlaufen, weil sie nicht zu verbergen sind.
Der männliche Körper erhält hier, mit Proust zu sprechen,
die „unmittelbare Antwort des Körpers“ des anderen. Frauen
dagegen simulieren, so daß eine Intimsemantik nötig ist, die
der Aufnahme sexueller Beziehungen voraus geht.[10]
Im
Krieg und in der Armee kommt es heraus: Die Homosexuellen kommen auch ohne
Liebe zur sexuellen Interaktion. Was in der Metro oder auch im Herrenumkleideraum
allein zwischen den agierenden und reagierenden Körpern stattfindet,
verstößt massiv gegen die sonst allenthalben wirksamen sogenannten
„Selbstbefriedigungsverbote“ der „Medien-Codes“, die in den Funktionssystemen
dafür sorgen, daß ihre Autopoiesis nicht deswegen aufhört,
weil etwa Geld nur noch gehortet, statt auch ausgegeben wird, oder Gewalt
nicht nur zur Durchsetzung legitimer Macht angewendet wird, sondern zur
unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung etc. So wird der Geizige genauso
diskreditiert wie der Onanist. Die Homosexualität unterläuft
diese „Selbstbefriedigungsverbote“ und kommt im Darkroom zum Ziel, ohne
daß ein komplexer, binär schematisierter und symbolisch generalisierter
„Umweg über soziale Kommunikation“ genommen werden müßte.[11]
Was sonst nur im Exklusionsbereich der Gesellschaft möglich ist, nämlich
ein systemisch unspezifiziertes Agieren von Körpern,[12]
findet im Falle männlicher Homosexualität offensichtlich auch
in Inklusionszonen statt. Homosexualität ist diesseits symbolisch
generalisierter Kommunikationsmedien möglich, und darüber hinaus
entzieht sie sich der sozialen Funktion des Kommunikationssystems Liebe,
die Luhmann auf die Gründung von Familien festlegt, also auf die Reproduktion.[13]
Homosexuelle,
so ist deutlich geworden, neigen dazu, ohne Latenzschutz zu operieren,
und zwar in zweifacher Hinsicht: sie lassen sich auf sexuelle Beziehungen
ein, bevor Liebe die Intimbeziehung aufbaut und strukturiert; und sie tun
dies ohne Reproduktionschance. Dadurch, daß diese Sexualität
ihre „eigentliche“ soziale „Funktion“ (Adam) nicht erfüllt, machen
die Homosexuellen sie aber so sichtbar, daß Konrad Adam und Robert
Spaemann aussprechen können, worum es bei der Liebe im Kern geht:
um das Zeugen und die Aufzucht der Nachkommenschaft. Diese Thematisierung
sonst latent gehaltener Motive aber gefährdet die Liebe selbst. In
der Recherche, die den Latenzschutz der modernen Liebe notorisch
verletzt, fallen so nahezu alle Männer von der heterosexuellen Liebe
ab und werden schwul – und nicht, weil dies schon ihren Genen eingeprägt
ist als Erbe der Väter und Onkel oder weil die Genealogie ihres Archetypus
bis nach Sodom zurückreicht, sondern womöglich deshalb, weil
die homosexuelle Beziehung allein autonom ist. Die Homosexualität
führt uns vor Augen, daß Lustgewinne möglich sind, die
keinen gesellschaftlichen Mehrwert abwerfen. Dies muß marginalisiert
werden, wenn die Autopoiesis der funktionsdifferenzierten Gesellschaft
nicht gefährdet werden soll. Luhmann hat sich nahezu vollständig
den Denkzwängen des Funktionalismus unterworfen und die Homosexualität
im Dienste selbstgesetzter Selbstbefriedigungsverbote aus seinen Studien
zur Intimität ausgeschlossen. Auf der Ebene der offiziellen Kommentierung
des Phänomens hat Proust sich ähnlich verhalten: Homosexualität
gilt als irregulär, pathologisch, anormal etc. Mit dieser konventionellen
Sicht auf die Homosexualität befinden sich Textpassagen im Widerstreit,
die in der homosexuellen Beziehung die Möglichkeit „selbstvergessener
Liebe“ erkennen lassen. Die allem Nutzen enthobene sexuelle Interaktion
der „starken und gesunden, wohlgenährten jungen Männer“ etabliert
einen Ort, der auf Latenzschutz nicht angewiesen ist und zu dem man seinen
Weg auch in der Epoche der Decodierung von Intimität finden kann.
Je unverhüllter sich der Funktionalismus der heterosexuellen Paarbildung
zeigt, um so eher darf sich die homosexuelle Liebe als letzter Erbe der
autonomen Codierung von Intimität verstehen.