Kultur

Kartons, Kunst oder Altpapier

Einblicke in die Gedankenwelt des deutschen Soziologen Niklas Luhmann

Schrotthaufen oder Kunstwerk? Alles nur eine Frage der Perspektive, meint Niklas Luhmann. Der Soziologe beobachtet, wie beobachtet wird, und hält seine Beobachtungen schriftlich fest.

VON NIELS WERBER

Wer einem Film im Fernsehen zuschaut, hat es mit Massenmedien zu tun, wer ein Bild betrachtet, mit Kunst. So einfach wäre es, bediente sich nicht auch die Kunst aller Übertragungstechnologien und unterwürfen sich die Medien nicht so bereitwillig der Anforderung, "ästhetisch" zu sein. Einen Werbespot von einer Videoinstallation zu unterscheiden, ein Plakat von einem "Werk", fällt ohne Kontextwissen schwer. Meist nimmt uns der Rahmen (Firmenlogo oder Künstlersignatur) oder das Umfeld (Fernseher im Wohnzimmer oder Museum) die Entscheidung ab, aber selbst dies täuscht mitunter. Gerne kolportieren die Kunstkritiker die mythische Anekdote von der Ehefrau, die an der modernen Plastik ihren Mantel aufhängt oder vom avantgardistischen Werk das Fett herunterwäscht.

Blick auf den Blick

Selbst auf der Vernissage, wo die Wahrscheinlichkeit für Kunst hoch ist, trennt nur der informierte Kenner mit sicherem Blick zwischen Werk und Abfall. Tom Wolfe hat es in seinem Essay "The Painted Word" auf den Punkt gebracht: "Wenn ich heutzutage keine Theorie zu einem Gemälde habe, kann ich es auch nicht sehen." Ein Blick auf die "Sache" reicht zur Unterscheidung nicht aus. "Was man sieht, ist, was man sieht", lautet Frank Stellas wunderbare Tautologie, deren "Entfaltung" Deutschlands wohl bedeutendster Soziologe Niklas Luhmann betreibt.

Der Beobachter sieht zweifellos nur, was er sieht, handelt es sich nun um Kunst oder Medien. Luhmann fragt nun nicht danach, was der Beobachter denn nun sieht, wenn er etwas beobachtet, sondern wie er das tut. Für den gewöhnlichen Betrachter mag diese Unterscheidung gleichgültig sein; er ist von dem, was er sieht, fasziniert genug, und fragt nicht danach, wie er betrachtet, dass er derart gefesselt ist. Die Kunstkritikerin sieht Kunst, wenn sie auf den Haufen Kartons schaut, ihr Gatte sieht Altpapier - dieser Unterschied liegt nicht am Objekt, dass der Gatte nur gründlicher betrachten müsste, um endlich zu sehen, dass es Kunst ist, sondern an der Perspektive. Wie wird beobachtet, wenn ein Beobachter Kunst, der andere Müll sieht, lautet die entscheidende Frage. Der Soziologe beobachtet, wie beobachtet wird. Er beobachtet Beobachtungen, Luhmann spricht hier vom "Beobachten zweiter Ordnung".

Investoren und Gläubige

Nicht jeder, der ein Kunstwerk beobachtet, beobachtet Kunst. Wer z. B. ein Investitionsobjekt wahrnimmt, dessen Kauf Profit verspricht, oder vor einer Ikone zum Gebet niederkniet, nimmt nicht Teil an der "Kunstkommunikation" der Gesellschaft, sondern kommuniziert "über Kunstwerke" hier ökonomisch oder religiös. Investoren und Gläubige mögen zwar dasselbe materielle Substrat vor Augen, teilen aber nicht die Perspektive. Kunst ist daher nur dann Kunst, wenn eine besondere Art der Beobachtung stattfindet, die sich von allen anderen unterscheidet. Ihre Operationsweise folgt in Produktion wie Rezeption einem ganz spezifischen Code.

Carl Schmitt hat bereits vor über 60 Jahren bemerkt, dass die Gesellschaft aus autonomen Leistungsbezirken besteht, deren Eigensinn in "letzten Unterscheidungen" liegt: "Gut und Böse" im Falle der Moral, im Politischen "Freund und Feind" und im Ökonomischen "Rentabel und Nicht-Rentabel." Diese "Leitdifferenzen" codieren die Kommunikationen eines Systems so, dass ein Beobachter das System von allen anderen zu unterscheiden vermag. Ökonomisch codierte Kommunikationen wollen auch so beobachtet werden. Wer gerne einen Hundertmarkschein gegen einen Fünfziger eintauschte, weil er das Bild von Clara Schumann für misslungen hält, gälte zumindest als Exzentriker; und wer umgekehrt einen Vermeer allein darum schöner fände als einen Warhol, weil er teurer ist, als Barbar. Zweifellos ist der Preis eines Werks eine wichtige Information - aber nur für den, der mit Kunst handelt.

Die Frage nach dem "Wie" der Beobachtung lenkt den Blick auf die Unterscheidung (schön / hässlich, profitabel / unprofitabel), mit der ein Beobachter beobachtet, und an ihr ist zu erkennen, ob ein Produkt der Kunst oder der Massenmedien vorliegt. "Der Code des Systems der Massenmedien ist die Unterscheidung, die einen Unterschied macht. Information ändert also einen Systemzustand; wenn es vorher so wie nachher ist, hatte die Unterscheidung keinen Informationswert. Wer die Hauptnachrichten gesehen hat, dem bietet die spätere Wiederholung nichts Neues. Um nicht Gefahr zu laufen, dass niemand mehr informiert wird, stehen die Massenmedien unter enormem Druck, immer wieder Neues zu vermitteln. Dies ist um so schwieriger, als die Medien ständig Information in Nichtinformation verwandeln, denn eine Nachricht, "die ein zweites Mal gebracht wird, behält zwar ihren Sinn, verliert aber ihren Informationswert". Man kennt es schon, und will es nicht nochmal hören. "Das System veraltet sich selber." Es tritt daher die Flucht nach vorne an - und altert noch schneller.

Jagd nach Neuigkeiten

Die verzweifelte Suche der Massenmedien nach Information erinnert an das hohe Tempo der modernen Kunst, mit der sie ihre Materialien und Formen verschleisst. Kein Kunstwerk darf einem anderen zu stark ähneln, sonst wäre es ein Plagiat. Prämiert wird das Originelle, Innovative, Neue. Auch die Kunst "setzt Überraschung voraus", die "bei einer Wiederholung verloren" geht, weshalb sie ständig "Neues" anbieten muss. Jeder Stilo nuovo ist schon morgen veraltet. Doch im Unterschied zu den Massenmedien operiert das Kunstsystem mit einem anderen Code.

Dass eine bestimmte Formung eines gegebenen Materials neu ist, reicht nicht hin, um etwas als Kunst zu qualifizieren, sie muss sich messen lassen an dem, was mit den gegebenen Mitteln sonst noch möglich wäre; dass die Madonna mit Kind so gemalt wurde und nicht anders, das muss überzeugen. Vor dem Hintergrund unendlicher Variationsmöglichkeiten desselben Sujets muss das Kunstwerk stimmig oder "schön" sein anstatt "hässlich". Im Gegensatz zu den Medien, die die Selektivität ihrer Realitätskonstruktion nicht hinterfragen, lenkt jedes Kunstwerk "die Aufmerksamkeit des Beobachters auf die Unwahrscheinlichkeit seiner Entstehung". Es ist künstlich hergestellt, ein anderer hätte es also anders machen können - und daran will es gemessen werden.

Kunstwerke müssen ihre Beobachter finden, und auch die Medien können nicht einfach ins Blaue übertragen, ihre "Sendebereitschaft" muss auf das "Einschaltinteresse" eines anonymen Publikums stossen. Mit den Programmbereichen "Nachrichten und Berichte", "Werbung" und "Unterhaltung" bedienen sie je spezifische Interessen eines Publikumsteils intensiver. Eine ähnliche "Arbeitsteilung" findet in der Kunst statt, die in verschiedene Gattung zerfällt. Wer das Ballett verachtet, mag Romane lieben.

Was immer nun Nachrichten, Werbung und Unterhaltung unterscheidet, alle Sektoren sind neu-gierig. Nur neue News sind gute News, die Werbung erzeugt die "Illusion, dasselbe sei gar nicht dasselbe, sondern etwas Neues", und man "will immer neu unterhalten werden". Dies zwingt die Massenmedien dazu, Ereignisse so zu selektieren und zu arrangieren, dass immer wieder ein überraschender Unterschied zu dem Skandal, zum Exotischen, zur Enthüllung immer neuer Normbrüche und führt zugleich zu einem "Verschweigen der unaufgeregten Normalität", über die nicht berichtet wird. Man wird daher leicht die Gesellschaft für korrupter halten, als sie ist.

Während die kritische Theorie seit Adorno sich über Medien empört, betont Luhmann: "Es geht gar nicht anders." Was immer die Massenmedien sonst tun mögen, sie erzeugen Kommunikationsvoraussetzungen, die nicht mehr eigens mitkommuniziert werden müssen, da sie als bekannt vorausgesetzt werden dürfen. Jeder kann wissen, was BSE, wer Mr. Spock ist, oder wird sich hüten zuzugeben, er wüsste es nicht. So wird ein "Gedächtnis" für das Gesellschaftssystem erzeugt, das darin besteht, "dass man bei jeder Kommunikation bestimmte Realitätsannahmen als bekannt voraussetzen darf, ohne sie eigens in der Kommunikation einführen und begründen zu müssen". Die Medien stellen gleichsam eine "Hintergrundrealität" bereit, die Habermas "Lebenswelt" genannt hat, aber im Unterschied zu dessen Konzept nicht "auf normativ einforderbare Konsense" angewiesen ist. Die "Selbstverständlichkeiten" unseres Alltags verdanken wir den Medien.

Das Eigentümliche an Luhmanns Soziologie ist der Einsatz der Differenz. Alles bekommt seine Kontur durch ein Set von Unterscheidungen. Bei einer Differenztheorie überrascht es nicht, wenn manch ein Unterschied keinen Unterschied macht; gemeint ist die Trennung von Kunst und Unterhaltung. Warum sollten unterhaltsame Romane und Filme keine Kunst sein? Luhmann antwortet, weil sie im Gegensatz zur Kunst trivial sind. Nicht trivial sei es, wenn "die Selbstreferenz der Information mitbeobachtet wird" - also ihre Selektivität auf das "Formenspiel des Kunstwerks" bezogen wird und man sieht, dass sie dazu beiträgt. Trival dagegen wäre es, wenn "die Information nur als Überraschung, als angenehme Aufhebung noch offener Unbestimmtheiten erlebt" wird. Aber könnte man nicht genau so Kunst betrachten?

Freizeitverbrauch

Im "Kunst"-Buch wird dies mit dem Begriff der "Spannung im Sinne von selbsterzeugter Ungewissheit" zugestanden. Wie sonst könnte der Leser bei der Stange gehalten werden, als durch den Aufbau von Erwartungen, die dann überraschend bestätigt oder durchkreuzt werden. Und warum sollte man in einer Daily soap nicht auf "Ambiguität" oder "Ironie" stossen, die Luhmann exklusiv für die Kunst reservieren möchte. Was Unterhaltung und Kunst gemeinsam haben, ist, dass sie freie Zeit verbrauchen, was niemand freiwillig täte, wenn es arg langweilen würde. Auch die Kunst muss unterhalten, andernfalls legt man das Buch beiseite wie man sonst um- oder abschaltet.

Dass Luhmann so nicht beobachtet, liegt weniger an seiner Theorie als an seiner Vorliebe zur Spitzenkunst und Abneigung gegen das Populäre. Seine eigenen Bücher sind im übrigen spannend, ohne deshalb trivial zu sein.


Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Suhrkamp-Verlag. Frankfurt/Main 1995. 517 S., 58 Fr.

Ders.: Die Realität der Massenmedien. Westdeutscher Verlag. Opladen 1996. 219 S., 24 Fr.

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