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Linken und linken lassen

Wie kann man sich in den weiten Gefilden des Cyberspace Aufmerksamkeit verschaffen? Florian Rötzer, ein Altmeister auf dem Feld der neuen Medien, sucht im Netz nach Antworten

Jede Ware ist käuflich, es gilt aber auch: Nur Waren sind käuflich - verliebte Blicke etwa nicht. Nur in der Wirtschaft zählt das Geld, in der Politik aber der Einfluß, in der Schule die Zensur, in der Liebe die Gegenliebe, in der Wissenschaft die Erkenntnis. Jeder soziale Bereich der Gesellschaft verfügt so über seine eigene "Währung", die nur schwer in eine andere zu konvertieren ist: Nicht Liebe, sondern Sex ist käuflich, nicht die Wahrheit, sondern Macht verschafft Einfluß. Was geschieht aber mit dieser Pluralität spezifischer Codes, wenn die sozialen Sektoren, die sie ausmachen und voneinander differenzieren, zu einer übergeordneten Einheit integriert werden, wie dies seit der weltweiten Vernetzung der Computer der Fall zu sein scheint? Denn erstmals erhalten alle Diskurse ein gemeinsames Medium: das Internet. Was dort zählt, muß digitalisierbar sein. Die Frage liegt nahe, ob es in diesem neuen Supermedium auch eine gemeinsame Währung gibt.

Florian Rötzer hat in seiner Lagebeschreibung der aktuellen Netzkultur eine bejahende Antwort gegeben: "Aufmerksamkeit" sei die "harte Währung" des Cyberspace. Gewiß gibt es in den virtuellen Welten auch Äquivalente der alten Codes, etwa digitales Geld, doch setze im neuen Medium jede Codierung von Liebe, Wissen, Macht oder Waren voraus, daß jemand "im unendlich großen Angebot des Netzes" nicht einfach weitersurft, sondern eingefangen wird. Menschliche Aufmerksamkeit ist aus biologischen Gründen ein äußerst knappes Gut, das zwar fokussiert, aber nicht vermehrt werden kann, und dies macht sie so kostbar und unterscheidet sie von anderen Gütern wie Geld, Wahrheiten, Macht, von denen man immer noch mehr haben kann.

Rötzer weiß natürlich, daß es um die Erlesenheit dieses Guts auch in vortechnischen Zeiten schon so stand. Die Gründe dafür liegen im kognitiven System der Menschen, das strikt selektiv operiert und die große Mehrheit der Informationen, die simultan aus der Umwelt einströmen, erst gar nicht verarbeitet oder sofort vergißt, um statt dessen dem kleinen Rest größere Relevanz zu verleihen. Dies ist aus der Gestalttheorie oder Neurophysiologie bekannt, "kaum untersucht" sei jedoch Aufmerksamkeit als ein soziales Phänomen, das "die Menschen zusammenhält und sie als soziale Individuen konstituiert". Jeder Offerte von Waren oder Wahrheiten, Zuneigung oder Mißachtung, die beim anderen ankommen soll, geht das "Stimulieren und Einfangen von Aufmerksamkeit" voraus.

Bislang verfügte bei diesem Geschäft jeder soziale Sektor über bestimmte Symbole - von günstigen Preisen über bekannte Namen von Experten oder Produkten bis zu unerwarteten Gebinden aus Worten oder Blumen -, doch in den digitalen Welten unterwerfen sich erstmals alle Spieler denselben Mechanismen. Im Cyberspace ist niemand per se stärker, schöner oder berühmter, alle sind voneinander nur einen Mausklick entfernt. Je mehr unsere Gesellschaft zu einer vollkommen "medialisierten" wird, je mehr alle ihre Sektoren auf "Erfassung, Verarbeitung und Herausgabe von Information basieren", desto zentraler ist das Problem der Erzeugung und Bewahrung von Aufmerksamkeit, um die jede Information gegen andere zu buhlen hat.

Rötzer glaubt wie auch Friedrich Kittler, daß traditionelle Massenmedien wie "Zeitungen, Kino, Rundfunk und Fernsehen" im Medium des Computers zu einem Verbund zusammengeschlossen würden. Die spezifische Medienqualität - das Rascheln des Papiers, der Ton zum Bild oder auch ohne Bild, das Aufkreischen des Publikums im dunklen Kinosaal - wird im Cyberspace nivelliert, zugleich ist die Medien-Synthese im Netz nur sehr bedingt noch ein Massenmedium, in dem ein Sender viele Empfänger berieselt. Die "interaktiven" Komponenten machen es unwahrscheinlicher, daß viele dasselbe konsumieren. Dies könnte zur Folge haben, daß die in einer bestimmten Kultur relativ homogene Öffentlichkeit, die sich der Kanalisierung der Aufmerksamkeit durch broadcasting (alle sehen dasselbe) verdankt habe, "zerfleddert in eine Vielzahl zunehmend individueller Nischen".

Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Unterhaltung werden dann gegeneinander um die knappen "Marktsegmente der Aufmerksamkeit in der globalen Ökonomie" des Cyberspace konkurrieren. Einige Voraussetzungen, mögliche Regeln und Konsequenzen dieses Spiels in der Telepolis der Zukunft hat Rötzer auf seinen "Streifzügen", quasi als Cicerone kurrenter digitaler Weltentwürfe, skizziert.

Niels Werber

Florian Rötzer: "Digitale Weltentwürfe. Streifzüge durch die Netzkultur". Hanser, Edition Akzente, München 1998, 280 S., 34 DM

Bemerkung: Rezension

TAZ Nr. 5575 vom 07.07.1998 Seite 16 Kultur 144 Zeilen
Kommentar Niels Werber


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