Dr. Niels Werber

Strukturalismus – Diskursanalyse – Systemtheorie

Ringvorlesung „Grundkurs Neuere deutsche Literaturwissenschaft“

10. 12. 1999 / HGB 10 / 10 - 12

I. Theoretische Moden

Meine Damen und Herren,

die Wissenschaftsgeschichte kennt nicht nur das Streben nach der Wahrheit oder das Widerlegen von Falschheiten. Man kennt auch langweilige Wahrheiten und interessante Fehler. Theorien und Methoden in ihrer historischen Bedeutung bemessen sich nicht allein danach, ob sie dem Erkenntnisgewinn gedient haben, sondern auch nach ihrer Attraktivität. So wie es Designtheorien gibt, kennt man auch Theoriedesign – den schicken Zuschnitt der Theorien nach der neusten Mode. Die Theorien, um die es heute gehen soll, sind extrem modische Theorien – und sie sind allesamt Importe, vor allem aus Frankreich natürlich, aber auch aus den USA: Strukturalismus – Diskursanalyse – Systemtheorie. Als exemplarische Vertreter dieser Theorien werde ich Ihnen heute Roland Barthes, Michel Foucault und Niklas Luhmann vorstellen.

Nachdem es ihn bereits 40 Jahre als Forschungsrichtung gibt, wird der Strukturalismus „in den sechziger Jahren zu einem spektakulären Medienereignis, zu einer Mode“, ist im Historischen Wörterbuch der Philosophie zu diesem Stichwort zu erfahren. Roland Barthes, einer der wichtigsten Theoretiker des Strukturalismus, faszinierte in Paris der 60er Jahre ein erlesenes Publikum mit Themen und Thesen, die aus dem herausfielen, was von Universitätsprofessoren bislang zu erwarten war. Seinen Vorträgen über die „Sprachen“ der Mode oder Liebe und über die Mythen des Alltags der Autos oder Comics lauschten in Paris nicht nur Studenten, sondern High-Society Damen, intellektuelle Modedesigner und schicke Intellektuelle; natürlich fanden diese Seminare am späten Nachmittag statt, man war elegant gekleidet, Kostüm und Anzug, nach dem Event bei Monsieur Barthes ging es zum Aperitif ins Café. Barthes dozierte über Phänomene, deren Oberflächen sein Publikum längst kannte: über den neuen Citroen, über Greta Garbo, über Plastik oder über den Striptease.[1] Barthes zeigte ihnen, wie diese Oberflächen zustande kamen, indem er ihre Tiefenstrukturen freilegte. Die zeitgenössische Welt der Populärkultur wird für Barthes zu einem „Text“, das heißt zu einem „Gewebe“, das sein Publikum nur als schimmernde Hülle zur Kenntnis nimmt und dessen Verknüpfungseigenschaften Barthes zu untersuchen gedenkt.[2] Die einzelnen Texte bestehen, so eine Kernthese des Strukturalismus, aus einer Tiefenstruktur, deren Regeln die Oberfläche des Gewebes erzeugen. Diese Differenz macht für Barthes die Welt zur Lektüre, denn das ganz Leben sei in Texte gebettet, es sei unmöglich „außerhalb“ zu leben, „ob dieser Text nun Proust oder die Tageszeitung oder der Fernsehschirm ist“.[3] Überall gibt es Oberflächen- und Tiefenstrukturen. Noch in den Pelzen, Fächern, Handschuhen, Federn und Netzstrümpfen der Frau liest Barthes eine Textur,[4] welcher die mögliche Nacktheit der Frau erst akzentuiert und sie erotisiert. Kleidung und Luxusobjekte der Frau, so Barthes, stehen in Opposition zum Nackten, und erst diese strukturelle Beziehung des Nackten und Bekleideten verleihe dem Strip-tease einen erotischen Reiz. Nicht das Nackte, sondern der Gestus der Entkleidung suggeriert, „etwas Verborgenes ins Licht zu stoßen“.[5] Der Sinn dieses sozialen „Gewebes“, so könnte man sagen, entsteht aus dem Zusammenspiel von Gegensätzen, in diesem Fall „nackt“ und „bekleidet“ bzw. „luxuriös“. Barthes erklärt seinen faszinierten Zuhörern, daß die Art der Verknüpfungslinien zwischen diesen Gegensätzen: die Struktur also, dafür Sorge trägt, daß sich der Körper der Frau mit der „magischen Kraft“ ihrer Kleidung auflädt und so von ihnen die Aura der Kostbarkeit und des Luxus erbt. Auf die gleiche Weise wirken große, stromlinienförmige Autos oder Kosmetik. Kosmetikwerbung etwa setzt die Oppositionen von „alt und jung“ einerseits und „trocken“ und „flüssig“ andererseits voraus. Die Textur, die sie erzeugt, profitiert von der Unterstellung, daß, so Barthes, „eine alte Haut trocken ist und daß eine junge frisch und rein ist“. Was frisch sei, sei auch jung und sauber, statt alt, verschmutzt und verbraucht. Die Werbesprache der Liquide, Fluide, Öle, Lotionen, alle „von einer frischen Feuchtigkeit“, suggerieren aufgrund der in der Werbung aufgebauten Struktur, der aufgespannten Gegensätze und ihrer Verknüpfungsart also, daß die Verwendung des Produkts den Verbraucher ganz auf die Seite „der Reinheit, der Sauberkeit und Frische“ situiere und so auch – und das ist der Trick – auf der Seite des Jungen und Attraktiven. Die Verschmelzung der positiven Werte der Oppositionen: schön, jung, flüssig, sauber, frisch, rein in der Werbung zu einer Einheit, führt dazu, daß der Produktname mit einer zusätzlichen Bedeutung aufgeladen wird, der sogenannten Konnotation, die uns glauben läßt, daß die Verwendung des Produktes nicht nur sauber, sondern auch schön und jung mache. Durch seine Einbindung in die Struktur der Oppositionen hat sich das Liquide oder die Lotion mit neuen Bedeutungsmerkmalen aufgeladen. Was vorher nur „flüssig“ bedeutete, konnotiert nun Jugend, Schönheit, Frische.[6]

Man könnte also sagen, die Struktur einer Textur ist ein in sich abgeschlossener Kosmos, der seine Bedeutungen durch das tiefenstrukturelle Arrangement der Oppositionen erzeugt – genau wie ein Gewebe vollkommen bestimmt wird durch die verwendeten Garne und das Muster der Verknüpfung. Die strukturalistische Analyse der elementaren Gegensätze des Textes: „schön und häßlich“, „jung und alt“, „feucht und trocken“ und ihrer Relationierung (feucht = jung = schön etwa) führen zu einem vollem Verständnis seiner Bedeutung – genau wie der Blick auf Farbe und Form des Stoffes und sein Webmuster zu einem genaueren Urteil führt als die simple oder im Wortsinne oberflächliche Aussage, der Stoff sei schön oder modisch. Die Bedeutung eines Textes – und für Barthes sind alle kulturellen Gebilde als Gewebe zu verstehen – resultiert also aus den Beziehungen seiner Teile zu einander – und da diese Elemente alle im Text enthalten sind, ist eine rein textimmanente Analyse absolut ausreichend, um seine Bedeutung zu verstehen. Sie sehen, wir haben es hier mit einem krassen Gegensatz zur Hermeneutik, aber auch zur Sozialgeschichte der Literatur zu tun, weil dem Strukturalismus der Text selbst genug ist – die Intentionen des Autors, der Horizont des Lesers, der soziale Kontext der Produktion oder Rezeption spielen keine Rolle: der Text ist ein Universum, dessen Gesetze vollständig zu erfassen sind, wenn man nur seine Struktur beschreibt. An die Stelle des „Einfühlens“ in die Intentionen des Autors eines Werks, an die Stelle einer Horizontverschmelzung von Autor und Rezipient im Prozeß des „Verstehens“ tritt die kühle Strukturanalyse, die sich um den Autor nicht länger schert. „Der Autor ist tot“, hat Ronald Barthes verkündet.[7] Damit konnte man provozieren und auffallen in den 60er Jahren.[8]

Stellen Sie sich nun einen jungen Mann unter den Zuhörern Barthes’ vor, einen Literaturwissenschaftler, der zehn Jahre lang durch den Strukturalismus, wie man so sagt, akademisch sozialisiert worden ist und nun seine eigene Karriere antreten möchte. Um als Wissenschaftler aufzufallen, ist Profil nötig – man muß abweichen, anders sein als die anderen. Dieses Prinzip teilt die Wissenschaft mit der Mode. Der junge Mann, sein Name ist übrigens Schmittle,[9] profiliert sich mit Thesen, die den Strukturalismus aufgreifen – selbstverständlich, denn wer wird denn gleich mit seinen Wurzeln brechen – aber zugleich auch überbieten. Die Theorie, die ihn von seinem Lehrer unterscheiden und populär machen soll, wird denn auch als Poststrukturalismus bezeichnet.

Den Wechsel vom Strukturalismus zur Diskursanalyse vollzog der junge Gelehrte, nachdem er Michel Foucaults Inauguralvorlesung am Collège de France am 2. 12. 1970 gehört hat, 90 Minuten, die sein Leben veränderten. Foucault führte in die Analyse der Sprache die vom Strukturalismus ausgeschlossene Gesellschaft wieder ein. Er stellte dem Strukturalismus eine Frage, deren Beantwortung dieser schuldig bleiben mußte, nämlich: Woher kommen denn die Oppositionen und die Verknüpfungsmodi der Tiefenstruktur eines Textes? Müßte man danach nicht außerhalb des Textes suchen? Tzvetan Todorov, einer der berühmtesten Strukturalisten, hat in einem Aufsatz namens Poetik zwei Weisen unterschieden, sich dem literarischen Werk zu nähern. Die erste, strukturalistische, betrachtet das Werk als „verbale Konstruktion“, deren „Besonderheiten anhand der Beziehungen“ zu erklären sind, „die ihre konstitutiven Elemente miteinander unterhalten“. Die zweite Weise dagegen betrachtet das „literarische Werk als die Manifestation von »etwas anderem«“, das Werk sei also keine abgeschlossene Welt für sich, deren immanente Gesetze man beschreiben könne, sondern quasi eine Artikulation: etwas anderes drückt sich im Werk aus.[10] Früher hätte man hier den Autor eingeführt, der sich im Text ausdrückt: die Dichtung galt als Medium der Ichexpression; oder man hätte marxistisch vom Unterbau der Gesellschaft gesprochen, von den Klassengegensätzen, die sich im Werk ausdrücken. Beide Vorschläge hatte der Strukturalismus mit Argumenten abgelehnt, die unseren jungen Wissenschaftler vollkommen überzeugten: nach den Intentionen des Autors zu forschen, führe zu Mystifikationen und zu wissenschaftlich nicht zu kontrollierenden Annahmen, denn erstens könne niemand wissen, was ein Autor denkt, wenn er dichtet, und zweitens sei dies auch egal, denn der Text verdanke seinen Bedeutungsaufbau seiner Struktur – und nicht einem vom Autor hineingelegten Sinn; und der Sozialgeschichte hatte der Strukturalismus entgegengehalten, er reduziere die Literatur zu Objekten oder Effekten sozialer Prozesse und verkenne so völlig die kunstvolle, in sich abgeschlossene Bauart der Texte. Foucaults Vorlesung löst nun die Vorliebe des Strukturalismus für die Immanenz des Textes, für seine in sich abgeschlossene Konstruktion ab, ohne aber zu den alten Annahmen zurückzukehren, der Text sei Ausdruck des Autors oder Effekt materieller Prozesse im Unterbau der Gesellschaft. Foucault überbietet den Strukturalismus und beerbt ihn zugleich. Seine These ist folgende: „Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, organisiert und kanalisiert wird“.[11] Was bedeutet das nun genau?

Foucault geht davon aus, daß man in keiner Gesellschaft zu jeder Zeit alles sagen kann, sondern daß die Rede – so könnte man Diskurs übersetzen – daß die Rede immer verknappt wird. Warum kann man nicht alles sagen? Weil „Prozeduren der Ausschließung“ dies verhindern, etwa das „Verbot“, das „Tabu“ oder das „Ritual“.[12] Oder weil es Grenzen gibt, die nicht überschritten werden dürfen. Foucault nennt etwa die Grenze zwischen „Vernunft und Wahnsinn“, die dazu führt, daß der „Diskurs des Wahnsinnigen nicht ebenso zirkulieren kann wie der der andern. Sein Wort gilt für null und nichtig, es hat weder Wahrheit noch Bedeutung, kann vor Gericht nichts bezeugen, kein Rechtsgeschäft und keinen Vertrag beglaubigen“.[13] Die Rede des Wahnsinns wird nicht gehört – die Entstehung und Tradierung von Texten, die man dann strukturalistisch untersuchen könnte, wird gar nicht erst zugelassen. Foucault nennt des weiteren den „Willen zur Wahrheit“, der in „unserer Gesellschaft dazu tendiert, auf die anderen Diskurse Druck und Zwang auszuüben“. Als Beispiel nennt Foucault die Tatsache, daß sich die „abendländische Literatur seit Jahrhunderten ans Natürliche und Wahrscheinliche, an die Wahrhaftigkeit und sogar an die Wissenschaft – also an den wahren Diskurs – anlehnen muß“.[14] Statt ihre Texturen so zu entwerfen, wie sie will, stehe die Literatur unter dem Zwang, ihren Bedeutungsaufbau in eine ganz bestimmte Richtung zu treiben, den der Wahrheit. Schöne Falschheiten, Lügen, Simulationen, die Lust am Verrat und am Trug, der Triumph des Unwahrscheinlichen und die Darstellung des Phantastischen wurden lange Zeit aus der Literatur ausgeschlossen. Die Ordnung des Diskurses „kontrolliert, organisiert und kanalisiert“ was wo wann und von wem gesagt werden darf und was nicht. Wenn Roland Barthes vom Diskurs sprach, dann meinte er – abgeleitet vom lateinischen dis-cursus – das Hin- und Her der Analyse zwischen Oberfläche und Tiefenstruktur eines Textes;[15] wenn aber Foucault vom Diskurs spricht, dann meint er ein Bündel von Ausschlußmechanismen, die die Rede verknappen, indem sie manche Aussagen verhindern und andere fördern. Diskurse sind historische Ordnungen, es ist etwas anderes, im 15. Jahrhundert oder heute zu sagen: „sie bewegt sich doch“; es ist etwas anderes, heute von Nation, Volk oder Rasse zu sprechen als vor hundert Jahren.

In seiner Vorlesung resümiert Foucault:

„Es gibt offensichtlich viele [...] Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung des Diskurses.“ Es gibt die „Ausschließungssysteme“ und es gibt die „Prozeduren, die als Klassifikations-, Anordnungs-, Verteilungsprinzipien wirken“.[16]

Man könnte sagen, es gibt externe Prozeduren, wenn etwa bestimmte Möglichkeiten des Diskurses ganz und gar ausgeschlossen werden, etwa die Möglichkeit, im Mittelalter sich eine andere soziale Ordnung vorzustellen als eine ständische und hierarchische, und es gibt interne Regelungen des Diskurses, die etwa dafür sorgen, wie im Mittelalter über Hierarchien gesprochen wird, nämlich religiös, unter Bezug auf eine gottgewollte Ordnung, die von einem König von Gottes Gnaden angeführt wird. Diese diskursiven Prozeduren legen fest, was gesagt und wie es gesagt werden kann. Sie tragen etwa dafür Sorge, daß zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt ein Text, der von den Oppositionen „unten“ / „oben“, „viele“ / „wenige“ strukturiert wird, die Seite der Wenigen, die oben sind, favorisiert wird als die auserwählte, elitäre Seite der Anführer, die die viel zu vielen da unten mit Gottes Segen beherrschen. Durch die Verknüpfungsmodi der Oppositionen, durch die Tiefenstruktur des Textes ziehen sich also die Diskurse hindurch, die bestimmte Möglichkeiten der Verknüpfung ausschließen, andere aber fördern oder gar erzwingen. Die Diskurse verknappen die Rede, aber sie machen auch sprechen – man lese nur die unter dem Zeichen der Authentizität produzierte Literatur unserer Zeit, die vom „Anspruch“ besessen ist, „alles zu sagen“.[17] Die Mechanismen, die regeln, wie das Sagbare zu sagen ist und was als Unsagbares ausgeschlossen wird, hat Foucault in seinen großen, historisch weitausgreifenden Untersuchungen über die Wissenschaften vom Menschen, den Wahnsinn und die Sexualität erforscht.[18]

Man könnte sagen, Foucault habe seine Analysen der dunklen Seite der Macht gewidmet, der Seite die ausschließt und straft, Geständnisse erzwingt und die Rede überwacht, während Barthes sich den schillernden Oberflächen der Popkultur genähert hat. Interessierte sich Foucault im Umgang mit Literatur vor allem dafür, was nicht gesagt werden durfte und was gesagt werden mußte, so beschäftigten Barthes die heiteren Themen der Welt des Konsums. Unser junger Literaturwissenschaftler war nun aber fasziniert von Foucault, von der Schärfe, mit der der kahlrasierte Philosoph in schwarzem Rollkragenpullover in einer dunklen, poetischen Sprache verkündete, daß die Annahme, man selbst sei der Herr seiner Rede, ein naiver Irrtum sei, daß es eine in allen Diskursen präsente Macht gebe, die verstummen lasse und reden mache. Was immer der Mensch sei, wofür immer sich ein Individuum halte, die uns zur Verfügung stehenden Selbstbeschreibungen seien immer schon diskursive Effekte.[19] Was dem Literaturwissenschaftler nun aber an der Diskursanalyse besonders gut gefällt, ist, daß Foucault der Literatur eine besondere Rolle zuweist: die der Subversion nämlich.

Foucault spricht von der „beunruhigenden Sprache der Fiktion“.[20] Es sei der Diskurs des Autors, der diese „beunruhigende“ Potenz literarischer Texte beschneide, indem er die potentielle Sinnfülle des Werkes auf einen Sinn, auf den Sinn verkürzt und so domestiziert. Die Hermeneutik, die nach dem einen Sinn fahnde, denunziert Foucault als einen Diskurs totalitärer Verknappung, der mithelfe, die subversiven Kräfte der Literatur zu bannen, denn das ständige Betreiben „der Macht“ sei es, die bedrohlichen Kräfte und Gefahren des Diskurses einzugrenzen. „Die Macht“ hat anscheinend Angst vor „unverknappter“ oder „unzurechenbarer“ Sprache. Entsprechend behauptet Foucault, die Macht in den Diskursen unserer Gesellschaft sei geprägt von einer tiefen „Logophobie“, der Angst vor dem Wort. Gemeint ist, ich zitiere,

"eine stumme Angst vor jenen Ereignissen, vor jener Masse von gesagten Dingen, vor dem Auftauchen all jener Aussagen, vor allem, was es da Gewalttätiges, Plötzliches, Kämpferisches, Ordnungsloses und Gefährliches gibt, vor jenem großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses."[21]

Man versuche immer, das „große Wuchern des Diskurses zu bändigen“.[22] Die „Moderne Literatur“ jedoch, so Foucault, „entrinnt der Seinsweise des Diskurses“,[23] indem sie eine Sprache entfaltet, die sich kein Diskurs aneignen kann. Beide Annahmen haben eine gewisse Konsequenz, denn wenn man davon ausgehen will, die Diskurse verknappten mit aller Macht die Möglichkeiten des Sagbaren, dann muß an dem, was verknappt wird, doch etwas sein, das gefährlich, umstürzlerisch, subversiv ist; zum anderen läßt sich an gewissen Texten der Literatur der Versuch beobachten, bestimmten diskursiven Zugriffen zu entgehen. Foucault nennt die „Literatur“ eine „Sprache, die nichts sagt und nie schweigt“, Mallarmé wird genannt als einer ihrer Vertreter.[24] Mallarmés Texte hätten es aufgegeben, etwas bedeuten zu wollen, das man sich verstehend oder interpretierend aneignen oder aus dem man etwas lernen könnte. Seine Texte stellten nichts anderes aus als das sprachliche Material selbst. Mallarmés Schreiben sei nichts als die „schweigsame, vorsichtige Niederlegung eines Wortes auf das Weiße eines Papiers, wo es weder Laut noch Sprecher geben kann, wo sie nichts anderes mehr zu sagen hat als sich selbst, nichts anderes zu tun hat, als im Glanz ihres Seins zu glitzern.“ Ohne jeden „Inhalt“ sage diese Art von Literatur nichts anderes als ihre „Form“ aus – und dies sei von den hegemonialen Diskursen nicht anzueignen, und genau deshalb sei die Literatur subversiv, denn sie zeige, daß man den Prozeduren der Rede und den Geboten des Schweigens entkommen könne. Man könnte vermuten, daß diese Literatur, die keinen erkennbaren Sinn produziert, vom Strukturalismus gar nicht beschrieben werden kann, denn dieser bringt ja den Text auf ein Regelset von Oppositionen. Und in der Tat fällt die Strukturanalyse von Mallarmés berühmten Gedicht „Un coup de dés“, „Ein Würfelwurf“ aus dem Jahre 1895 bestimmt schwer, denn es besteht aus über die Seiten mäandernden Endlossätzen und ist halb graphische Kunst, halb Dichtung. Ich lese ihnen einmal einen Satz daraus vor, obwohl ich damit das Schweigen, von dem Foucault spricht, breche: „Nichts von der denkwürdigen Krise oder hätte sich das Ereignis vollzogen zwecks jedes Resultats gleich Null für Menschen wird stattgefunden haben eine übliche Emporhebung vergießt Absenz als die Stätte irgendein niederes Plätschern wie um den leeren Akt abrupt zu zerstreuen der sonst durch seine Lüge begründet hätte den Untergang in dieser Gegend des Vagen in als alle Wirklichkeit sich auflöst damit verschmilzt jenseits....“ Der Satz geht noch weiter, aber es mag bis hierhin reichen. Der modernen Literatur, nicht jedem Text, aber manchem, so Foucault, gelinge es, sich „von allen Werten“ zu lösen, vom „Geschmack“, vom „Vergnügen“, vom „Natürlichen“, vom „Wahren“, um in ihrem „Raum“ all jene „Verneinungen“ aufzunehmen, die sonst unsagbar sind: „das Skandalöse, das Häßliche, das Unmögliche“.[25] Ihre Subversion führt vor, daß es Möglichkeiten jenseits der diskursiven Ausschlußverfahren und Sprechverordnungen gibt.

Es muß schön sein, sich als Literaturwissenschaftler dieser Literatur zu widmen und so immer auf der guten Seite zu stehen, auf der Seite der Subversion, auf der Seite der Gegner der Macht. Dies dachte sich auch der Protagonist unserer kleinen Geschichte – und kehrte seinem Lehrer Barthes den Rücken, dem er nun vorhielt, die diskursiven Zwänge, die für die Ordnung der Strukturen verantwortlich zeichneten, immer verkannt zu haben. Er selbst kehrte nach Deutschland zurück und machte sich daran, gerade am Beispiel der geheiligsten kanonischen Texten der deutschen Literatur nachzuweisen, welche Zwänge sie geformt haben und welche Ausschlußverfahren diese Texte fortschreiben. Die Strukturen, die der Strukturalismus beschrieben hat, werden nun von der Diskursanalyse daraufhin untersucht, welche Verfahren der Verknappung dafür gesorgt haben, das sie sind, wie sie sind. Es versteht sich, daß der junge Mann mit dieser interessanten Abweichung von sich Reden machte und ihm gerade der Nachweis der düstersten Machenschaften der Macht in den Werken der Klassiker einen Lehrstuhl einbrachte. Jede Theorie hat ihre Zeit, und die Zeit der Diskursanalyse sind die 80er gewesen, in dem die diskursanalytische Textproduktion explodierte und Foucault zum meistzitierten Autor der geisteswissenschaftlichen Sekundärliteratur avancierte. Es gehört zu den Paradoxien seiner Theorie, daß Foucault so selbst zu einem Klassiker wurde, zu einer Autorität, auf die man verweisen konnte, um andere schweigen zu machen, daß Foucault so selbst zu einem „Diskursivitätbegründer“[26] wurde, zum Urheber eines Diskurses mit eigenen Regeln der Verknappung der Rede und des Ansporns zum Sprechen.

Auch wenn eine Theorie noch so überzeugend ist – wenn sie in die Jahre kommt, wird sie langweilig. Niemand ist mehr überrascht über die Pointen der Diskursanalyse, irgendwann hat jeder einmal gehört, daß die Literatur subversiv sei, daß ihre besten Eigenschaften die sind, die sie die Regeln des Diskurses unterwandern, verdrehen, parodieren oder trotzen läßt, daß die Macht daran arbeite, das Andere zum Konformen zu machen, das Fremde anzueignen, das Abweichende zu vernichten und alles andere zu normalisieren. Zwar gibt es immer noch Texte, die noch nicht diskursanalysiert worden sind, aber die Ergebnisse stehen gewissermaßen schon vor der Analyse fest – es werden Diskurse sein, die den Text strukturieren, es wird entweder ein konformer Text sein, der an den herrschenden Diskursen mitschreibt, oder ein subversiver, der die Ordnung der Diskurse unterläuft. Unser Literaturwissenschaftler ist noch nicht so alt und so borniert – und eine strukturale Analyse könnte an dieser Wortwahl zeigen, daß ich hier einen Zusammenhang zwischen Alter und Borniertheit suggeriere, der nicht von selbst existiert – , um sich nicht von einer neuen Theorie faszinieren zu lassen, die sich nun ihrerseits daran machte, die Diskursanalyse zu kritisieren und zu überholen. 1984 erscheint ein voluminöses Werk eines Soziologieprofessors, eines ehemaligen Verwaltungsjuristen und Lehrers an der Hochschule für Verwaltung in Speyer, das sofort als völlig unverdaulich und unverständlich gilt: Niklas Luhmanns Soziale Systeme, das im Untertitel den Anspruch verrät, Grundriß einer allgemeinen Theorie zu sein.[27] Die völlig kontra-intuitive und alle Humanisten erbitternde Behauptung dieses Buches lautet, die Gesellschaft bestehe nicht aus Menschen oder aus Individuen, sondern aus Kommunikationen, die in Systemen organisiert seien. Der Mensch gehöre in die Umwelt der Gesellschaft und stelle kein Objekt der Soziologie dar. Was keine Kommunikation sei, sondern Umwelt der Gesellschaft, das könne Soziologie nicht beobachten, alles andere aber, jede Art der Kommunikation, sei Gegenstand der Systemtheorie. Alles – von der Politik bis zur Wirtschaft, von der Religion bis zur Liebe, von der Literatur bis zur Wissenschaft, von der Kunst bis zu den Massenmedien. In solchen Formulierungen sah man in den 80ern noch einen üblen Geist am Werke, der alles Menschliche leugne und alles Kreative in Systeme einsperre, der in der Gesellschaft eine arbeitsteilige Maschine sehen wolle und die Effizienz dieser Maschine auch noch bewundere, statt kritisiere, der die Rationalität und Funktionalität der Systeme affirmiere, statt das Schalten und Walten der Macht in ihnen zu denunzieren. Jürgen Habermas, um einen der bekanntesten Kritiker Luhmanns zu nennen, warf schon 1985 der Systemtheorie vor, in ihren Systemen habe weder eine „intersubjektiv geteilte Lebenswelt“ oder eine „Öffentlichkeit“ Platz, noch eine von Menschen geteilte „Kultur“ oder eine sich sprachlich mit anderen eine gemeinsame Welt erschließende Individualität. Der Systemtheorie, die nur leidenschaftslos das Funktionieren der Codes und Programme der Kommunikationssysteme beschreibe, habe jeden „Bezugspunkt für eine Kritik an der Moderne“ verloren, sie sei affirmativ.[28] Dies waren harte Geschütze gegen eine noch junge Theorie, und zahllose Anhänger der Kritischen Theorie oder auch der Diskursanalyse schlugen in dieselbe Kerbe. Die Systemtheorie sei technokratisch, konservativ, ja reaktionär, sie verherrliche das Bestehende, das System, das es ja in Wahrheit zu kritisieren und zu subvertieren gelte. Es muß also überraschen, wenn bereits am Anfang der 90er von der Systemtheorie als der Winner-theorie gesprochen wurde, die vorläufig das Rennen in der Konkurrenz der Theoriemoden gewonnen haben sollte.

So wie der Strukturalismus sich gegen die Hermeneutik gewendet hatte mit dem Anspruch, mit der Analyse der Struktur der elementaren Sinnelemente eines Textes zu objektiveren Ergebnissen zu gelangen, als es die Versuche vermochten, den Autor zu verstehen, wandte sich später die poststrukturalistische Diskursanalyse gegen die Immanenz des Strukturalismus mit der Behauptung, sie, die Diskursanalyse, könne zeigen, warum ein Text genau die Struktur, genau die Oppositionen und die Verknüpfungsregeln aufwies, mit deren Beschreibung sich der Strukturalismus begnügt habe, die Struktur des Textes sei nämlich ein Diskurseffekt; dem Text äußerliche Mächte würden an seiner Struktur mitweben. Die Systemtheorie der Literatur profiliert sich nun gegenüber der Diskursanalyse ebenfalls mit einem Differenzierungsvorschlag: die moderne Gesellschaft sei nämlich sehr viel komplexer, als Foucaults Analysen dies annehmen ließen, und es sei daher unterkomplex oder naiv, so pauschal von Macht und Subversion zu sprechen, wie die Diskursanalyse es getan habe. Die Literatur lasse sich nicht in ihrer ganzen Kompliziertheit erfassen, wenn man sie nur auf die Macht in der Gesellschaft beziehe, zu der sie sich dann entweder subversiv oder angepaßt verhalten könnte. Es könne nicht das einzige Ziel der Literatur sein, sich mit inhaltlosen Klangkompositionen oder graphischen Arrangements jeder Bedeutungszuweisung zu verweigern, um so den Herrschaftsansprüchen der Diskurse zu entgehen.

Literarische Werke, so lautet die Annahme der Systemtheorie, bildeten einen kommunikativen Zusammenhang, ein System, das von allen anderen Arten der Kommunikation unterschieden werden müßte. Die Literatur sei ein autonomes System, das seine Kommunikationen allein nach eigenen Kriterien organisiert, Literatur sei ein autopoietisches System, ein System, das die Elemente, aus denen es besteht, selbst erzeugt. Genau wie Wirtschaft allein in der Wirtschaft stattfinde, Recht im Rechtssystem und Politik im System der Politik, gibt es Literatur allein im Literatursystem. Zwischen den einzelnen Systemen bestehen scharf definierte Grenzen, man kann Geld, Macht, Recht, Kunst oder auch religiösen Glauben oder wissenschaftliches Wissen klar unterscheiden, und nur wenn diese Kommunikationen nach den Spielregeln des Systems erzeugt worden sind, wenn also politische Entscheidungen demokratische Spielregeln einhalten, wenn Geld gedeckt ist durch Kaufkraft oder Glauben gedeckt durch Offenbarung, wenn wahre Erkenntnisse nach den Spielregeln der Forschung zustande kommen, dann werden diese Kommunikationen auch abgenommen – dann werden Güter gekauft, Urteile gefällt oder Forschungsergebnisse zitiert.

Diese strikte Grenzziehung zwischen den Systemen einer Gesellschaft erinnert an die Immanenz des Strukturalismus, der ja auch im Text ein geschlossenes Universum sehen wollte, ein System also, dessen Gesetze der Sinnerzeugung er freilegen wollte. Nun nimmt die Systemtheorie zwar an, daß das Literatursystem autonom sei, und das heißt übersetzt: daß es sich seine Gesetze selbst gibt und ein eigenes Grenzregime führt, doch läßt die Systemtheorie gleichsam auswärtige Beziehungen zu. Ein literarisches Werk wird von ihr nicht nur beschrieben als literarische Kommunikation, als Beitrag zum System der Literatur, sondern auch als Ware, die man verkaufen kann, als politische Kritik, die eine Partei provoziert, als jugendgefährdete Schrift oder Beleidigung, die das Rechtssystem herausfordert, oder auch als Bildungsgut, das in der Schule vermittelt wird. Allerdings unterstellt die Systemtheorie, daß trotz dieser vielen Rollen, die ein Werk spielen kann, die Regieanweisungen sehr gut differenziert werden können. Den Preis eines Buches ermittelt der Markt, ob es auf den Index gehört, wird in juristischen Verfahren festgestellt, ob es als politisch links oder rechts aufgefaßt wird, hängt von den Parteien ab, und ob es als Schullektüre taugt, stellen Pädagogen fest – nur ob es Literatur ist oder nicht und ob es gelungene Literatur ist oder schlechte, wird im Literatursystem entschieden. Kein Buch wird allein deshalb literarisch gewürdigt, weil es sich gut verkauft, kein Text gilt allein deshalb als gelungen oder mißlungen, weil es Politiker provoziert oder bestätigt oder weil es die Konfliktfähigkeit und das Ausdrucksniveau von Schülern fördert oder mindert. Was aber sind dann die angemessenen Kriterien für literarische Texte?

Die Systemtheorie hat anhand von Analysen sozialer Systeme wie der Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaft oder des Rechts die Überzeugung gewonnen, daß sogenannte binäre Codes und die flexiblen Programme dieser Codes die Systemkommunikation steuern. Was zum Rechtssystem gehört, ist durch die Opposition von Recht vs. Unrecht dauerhaft codiert, und dieser Code folgt wechselnden Gesetzen, die ihn immer wieder neu programmieren. Nur was aufgrund geltender Gesetze Recht oder Unrecht ist, kann überhaupt vor Gericht verhandelt werden – alles andere wird nicht zur Klage zugelassen. Und nur was mit der Verteilung knapper Güter zu tun hat, die man entweder hat – und verkaufen will – oder nicht hat – und kaufen will -, fällt in den Bereich ökonomischer Kommunikation. Jeder Erwerb führt woanders zur Knappheit, Haben vs. Nicht-Haben ist daher der Code der Wirtschaft; dagegen sieht man in der Wissenschaft leicht, daß dieser ökonomische Code hier überhaupt keine Bedeutung hat, denn Wahrheit ist kein knappes Gut, im Gegenteil, es gibt eigens Institutionen zur Verbreitung von gesichertem Wissen. Anderen eine Wahrheit mitzuteilen, bedeutet nicht, sie selbst abzugeben – wie Waren oder Geld. Systeme sind also unterschiedlich codiert und programmiert. Die Literatur nun, so wird angenommen, folgt gleichfalls einem eigenen Code und eigenen Programmen. Literatur sei, so die These, immer interessant oder langweilig – was immer sie sonst auch sein mag. Der Versuch, auf interessante Weise zu unterhalten, erklärt die hohe Entwicklungsgeschwindigkeit der Literatur seit dem 18. Jahrhundert. Seitdem werden immer neue Gattungen erprobt, immer neue literarische Techniken entwickelt, neue Themen erschlossen, neue Tabus durchbrochen, neue Handlungsführungen ausprobiert. Plagiate, Kopien, leicht zu erkennende Variationen des Altbekannten, leicht zu durchschauende Plots oder erwartbare Formen gelten als langweilig – jedes literarische Werk steht unter dem Anspruch, anders zu sein als alle andern. Während im Rechtssystem gleiche Fälle auch zu gleichen Urteilen führen und niemand sich darüber beschweren würde, dies sei langweilig, oder im Wissenschaftssystem gleiche experimentelle Bedingungen zu gleichen Ergebnissen führen sollten, steht die Literatur unter Abeichungsdruck. Dies nimmt man natürlich nicht unbedingt an einzelnen Texten wahr, sondern nur dann, wenn man die Texte in den Zusammenhang eines Prozesses stellt. Literarische Programme wie die Romantik, der Realismus, der Ästhetizismus oder die Avantgarde könnte man als Versuche lesen, die vorhergehenden Versuche, interessant zu sein, durch neue Lösungen dieser Aufgabe abzulösen, bis dann auch die Möglichkeiten des aktuellen Programms erschöpft sind und ein neues sich daran macht, das alte abzulösen. Die angemessene Frage an einen literarischen Text wäre für Systemtheoretiker also die, wie der Text das Problem löst, auf interessante Weise anders zu sein als Texte mit einer ähnlichen Programmierung. Wenn es im Sturm und Drang zahllose Dramen gibt, in denen unverheiratete Frauen ihre unehelich geborenen Kinder ermorden, was macht dann Goethes Faust so besonders; und wenn Fontanes Frauenschicksale von Effi Briest bis Jenny Treibel als Meisterwerke gelten dürfen, was unterscheidet diese Romane von zahllosen als minderwertig geltenden Romane vorher und nachher. Der Strukturalismus würde das Arrangement der Oppositionen beschreiben und vielleicht zu dem Urteil kommen, Fontanes Texte wiesen eine besonders komplexe oder raffinierte Struktur auf, die Systemtheorie dagegen sieht die Struktur eines Textes immer im Rahmen der literarischen Evolution, also mit Blick auf die Vorgänger und Nachfolger. Interessant ist ein Text nie an sich, sondern immer nur im Vergleich mit anderen Texten, interessant ist ein Text nie an sich, sondern immer nur für ein Publikum, das bereits andere Werke kennt und jedes neue mit den alten vergleicht. Wenn ein Text nun so zahlreiche Imitationsversuche auslöst wie Goethes Werther, dessen Thema in unzähligen Wertheriaden variiert und dessen Form in zahllosen Briefromanen wiederaufgegriffen worden ist, dann darf dieser Text wohl zurecht als besonders interessanter Beitrag zur Evolution der Literatur gelten; seine Bedeutung erweist sich nicht in seiner Struktur an sich, sondern in seiner Anschlußfähigkeit, in den literarischen Reaktionen, Auseinandersetzungen, Zitaten, Kopien und Übernahmen, die er bewirkt hat. – Das „Ideal“ der modernen Literatur, so Friedrich Schlegel in einem Aufsatz aus dem Jahre 1797, „ist das Interessante“. Dieser These zu folgen, sei „der kürzeste Weg, den eigentlichen Charakter der modernen Poesie zu entdecken“.[29] Den Grund dafür sieht Schlegel in der im Interessanten angelegten Eigendynamik der modernen Literatur: das Interessante ist nur kurze Zeit interessant, sobald man es genügend kennt, wirkt es langweilig. Mit Schlegels Worten: „Das Neue wird alt, das Seltene gemein, und die Stachel des Reizenden werden stumpf.“[30] Die Literatur, so könnte man Schlegel lesen, ist im 18. Jahrhundert nicht nur modern, sondern auch ‚modisch’ geworden. Und à la mode sind bestimmte Programme nur für gewisse Zeit, danach wirken sie altmodisch.

Ich hatte zu Beginn der Vorlesung behauptet, die Wissenschaftsgeschichte könne man auch als Geschichte theoretischer Moden schreiben, als hingen ihre Erkenntnisse nicht nur von ihrer Plausibilität ab, sondern auch von ihrer Attraktivität. Wäre dies nicht ein Beispiel gegen die systemtheoretische Annahme, Systeme im allgemeinen und auch die Wissenschaft seien autonom? Geht es nun um Wahrheit oder um Mode – worum geht es unserem Wissenschaftler, der sich vom Strukturalismus zur Diskursanalyse gewendet hat und nun erneut von einer neuen Theorie fasziniert zu sein scheint. Die Motive für seinen Wechsel könnten tatsächlich gleichsam modischer Natur sein. Er ist gelangweilt davon, immer wieder auf die gleiche Weise Texte zu lesen und zu analysieren, um immer wieder ähnliche Ergebnisse zu erhalten. Die Systemtheorie erscheint neu und interessant. Er könnte auch ökonomische Motive haben. Es fließen erhebliche Forschungsgelder und Drittmittel in systemtheoretische Projekte, es scheint opportun, sich auf die Systemtheorie einzulassen, um davon zu profitieren. Es könnte aber auch um einen Generationenkonflikt gehen, vielleicht will unser Held nach 30 Jahren wissenschaftlicher Laufbahn demonstrieren, immer noch innovativ und experimentierfreudig zu sein und noch nicht zum alten Eisen zu gehören. Das alles könnte sein – aber wir werden es nie genau wissen, denn in keinem wissenschaftlichen Text kann unser Literaturwissenschaftler diese Motive offenlegen und gleichzeitig hoffen, daß diese Texte noch als Wissenschaft gelten. Mit der Begründung, nach mehr Geld, weniger Langeweile oder neuem Ruhm zu streben, läßt sich die Diskursanalyse nicht verabschieden – dies geht allein mit wissenschaftlichen Argumenten. Der Wechsel von der Diskursanalysezur Systemtheorie kann also durchaus wissenschaftsextern motiviert sein – etwa finanziell oder ästhetisch -, aber in der Wissenschaft kann er nur wissenschaftlich begründet werden. Genauso kann man Literatur verfassen in der Absicht, damit Geld zu verdienen, seiner Geliebten zu imponieren, seinen Namen unsterblich zu machen, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern, Gott zu dienen oder herauszufordern – doch literarische Bedeutung erhalten diese Texte nicht, weil ein Autor in ihnen bekundet, damit Geld verdienen oder auffallen zu wollen, sondern nur im Vergleich mit anderen Texten. Externe Motive spielen eine große Rolle, doch müssen sie in interne Strategien umcodiert werden. Wer auffallen will, muß literarisch innovativ sein; wer die Gesellschaft verändern will, muß so schreiben, daß er auch von vielen gelesen wird – und keinen esoterischen Traktat verfassen. Man könnte metaphorisch sagen, in der Literatur ist die literarische Codierung stärker als alle anderen; ob wahr oder falsch, recht oder unrecht, kritisch oder affirmativ, profitabel oder verlustreich spielt in der Literatur keine entscheidende Rolle – es kommt primär darauf an,[31] interessant zu sein statt langweilig. Ein innovativer Text mag dann auch zum Bestseller werden – oder zum Ladenhüter. Das hängt von literaturexternen Umständen ab. Die Systemtheorie versucht beides zu beschreiben, die internen Codierungen und Programme sowie die externen Motive und Einflüsse. Sie beschreibt gleichsam die innere Verfassung eines Systems und seine auswärtigen Beziehungen zu seiner Umwelt.

II. Beispiel

Ich habe im ersten Teil dieser Einführungsvorlesung über Strukturalismus, Diskursanalyse und Systemtheorie versucht, Ihnen die drei Theorien in etwa vorzustellen, indem ich Ihnen die möglichen Motive aufgezeigt habe, die einen Wissenschaftler dazu bringen können, eine dieser Theorien zu seiner eigenen zu machen. Anders gesagt: es ging um die spezifischen Probleme der jeweiligen Theorie, die man mit der Wahl einer anderen Theorie vermeiden kann: die Immanenz des Strukturalismus, der kein Außen der Texte kennt, die Pauschalität der Diskursanalyse, mit der sie Literatur auf Subversion verpflichtet, die monadische Abgeschlossenheit der Systemtheorie, deren luftleeres Universum aus fensterlosen Systemen weder für Menschen noch für Kultur oder Lebenswelt Platz habe.

Ich möchte nun versuchen, an einem möglichst einfachen Beispiel die Arbeitsweise der drei Methoden zu skizzieren, um so noch einmal auf die gröbsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufmerksam zu machen. Ich folge hier nun meinem Skript, das Sie in ihrem Materialienheft zur Vorlesung finden. Als Beispiel dient mir eine der sogenannten Xenien, die Goethe und Schiller gemeinsam verfaßt und im Herbst 1796 im Musenalmanach für das Jahr 1797 veröffentlicht haben. Die Xenie heißt:

Pflicht für jeden

und geht so:

Immer strebe zum Ganzen, und kannst du selber kein Ganzes

Werden, als dienendes Glied schließ an ein Ganzes dich an.

(Goethe / Schiller: Xenien, in: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 1, München 1962, S. 305.)

Was bedeutet das nun? Wie können wir diesen Text beschreiben. Folgt man dem Gründervater des Strukturalismus, dem Linguisten Ferdinand de Saussure, dann existiert ein sprachliches Zeichen nicht „an sich“, sondern nur „im Zusammenhang mit anderen Zeichen, die seinen Wert im System ausmachen“. Die Menge der „Oppositionen“ und die Art der Relationen, in denen ein Zeichen steht, geben ihm Kontur. Nach einer Definition von Jacques Derrida geht der Strukturalismus davon aus, daß ein Text von einer internen Gesetzmäßigkeit organisiert wird, dessen Struktur nichts anders ist als die Opposition und Korrelation der Elemente des Textes. Auch Roland Barthes hatte diese klassische Definition des Zeichens auf den Text übertragen. Schauen wir uns nun einmal die Oppositionen der Xenie an: Was bedeutet „ganz“, das im Text dreimal vorkommt. „Ganz“ im Gegensatz zu „partiell“ bedeutet etwas anderes als „ganz“ im Gegensatz zu „kaputt“. Die Opposition entscheidet über die Bedeutung. Die Sätze „Das ist ein ganzer Kerl“ oder „Noch ist die Vase ganz“ nutzen „ganz“ jeweils ganz anders, wie an der Opposition des Wortes deutlich wird: „ganzer Kerl“ statt „halbe Portion“, und nicht etwa: statt „kaputter Kerl“; und: „ganze Vase“ statt „kaputte Vase“, nicht aber: statt „halbe Vase“. – Welches Geflecht von Oppositionen strukturiert nun den Text? Die Xenie wird von vier Oppositionen geprägt: am offensichtlichsten ist der Gegensatz Teil / Ganzes, weniger deutlich sind die Gegensätze Du / die Anderen, Dienen / Herrschen sowie Werden / Sein. Entscheidend ist der Zusammenhang dieser Oppositionen, ihre Korrelation. Das Ganze wird durch den Imperativ strebe als Ziel ausgewiesen für das Du, während das Kollektiv, dem sich das Du anschließen könnte, diesen Zustand bereits erreicht haben muß. Wer das Ganze allein nicht erreicht, schließt sich also als dienender Teil, als ein „Glied“, einem Ganzen an. Streben und Werden bezeichnen den Weg zum Ziel, wenn es erreicht ist, muß man nicht länger werden, sondern man kann sein. Wer nicht dienen muß, kann herrschen, wer selber vermag, ein Ganzes zu werden, der regiert sich selbst und muß sich eben nicht als „dienendes Glied an ein Ganzes anschließen“. Die Struktur des Zweizeilers weist deutlich eine zeitliche, soziale und hierarchische Dimension auf: Auf der Zeitachse führt sie vom Teil zum Ganzen, sozial wird ein Subjekt von einem Kollektiv unterschieden, die Alternative für das Du, selbst ein Ganzes sein zu können oder aber ein bloß dienender Teil eines Ganzen, hierachisiert den Text: die einen dienen, die anderen herrschen. Die Pflicht für jeden Einzelnen, dem Ganzen zuzustreben, schreibt also keinesfalls jedem den gleichen Weg vor, sondern unterscheidet den Weg in die dienende Einordnung in ein Kollektiv von der Möglichkeit, selbst ein unteilbares Ganzes zu werden. Unter denen, an die die Xenie sich wendet, gibt es zwei Gruppen: die eine findet die Totalität ihres Seins in sich selbst, die andere findet nur als Menge von Teilen zur Ganzheit, besteht also aus unvollkommenen, fragmentierten Einzelnen. In Schillers zeitgleichen philosophischen Abhandlungen begegnen uns all diese Unterscheidungen wieder, vor allem auch die Unterscheidung des modernen, entfremdeten, einseitigen Massenmenschen von einer Elite gebildeter Menschen, die das Potential der Gattung voll repräsentieren, also Ganzes sind, statt Teil. Aber mit diesem Verweis auf den Kontext des Textes überschreiten wir schon den Kosmos unserer Xenie und damit den Strukturalismus im engeren Sinn.

Die Beschreibung der internen Struktur des Textes allein läßt vollkommen offen, warum gerade diese Oppositionen den Text strukturieren und keine anderen und warum ihre Korrelationen gerade so ausfallen und nicht anders: warum etwa nicht der Teil dem Ganzen vorgezogen wird und das Fragment mehr zählt als die abgeschlossene Formation, wie es heute gerade Mode ist. Auf diese Fragen beansprucht die Diskursanalyse eine Antwort zu geben, denn sie untersucht nicht die interne Organisation einzelner Texte, sondern versucht sehr viel genereller die Regeln anzugeben, die in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt Redeweisen erzwingen, zulassen, unterdrücken oder marginalisieren. Der Diskurs ist also produktiv und prohibitiv zugleich: er ermöglicht es, in bestimmter Weise über bestimmte Themen zu sprechen, und schließt zugleich andere Möglichkeiten aus. Systemtheoretiker würden hier sagen, er sei selektiv. Der Diskurs, so Michel Foucault, macht Leute sprechen und verknappt zugleich die Möglichkeiten ihres Sprechens. Man müßte nun fragen, wie um 1800 über das „Ganze“ gesprochen werden kann. Welche „Regeln“ eröffnen und verknappen seinen Diskurs? Seit der Antike wird das Ganze privilegiert gegenüber den Teilen, aus denen es besteht. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß man annimmt, das Ganze sei mehr als die Summe der Teile. In der Ästhetik führt dies zu der Ansicht, daß „die einzelnen Theile an und für sich nicht schön sein“ müssen, aber „in ihrer Beziehung zum Ganzen bewirken, dass dieses [das Ganze] schön ist.“ (Plotin: Enneaden) Dem Ganzen verdanken wir die Schönheit einer Sache, nicht den Einzelteilen. Diese Relation findet auch politische Anwendung, wo das Ganze: der Staat mehr ist als die Summe seiner Untertanen, aus denen er besteht, weshalb zum Wohl des Ganzen Zwang auf den Einzelnen ausgeübt werden dürfe. Der Diskurs hilft also, eine bestimmte Macht auszuüben. Und die Hermeneutik lehrt, das Ganze eines Textes in den Teilen und die Teile im Ganzen zu verstehen – womit ausgeschlossen wird, daß man einfach Textteile so konsumiert, wie man lustvoll durchs Fernsehprogramm zappt – in einem Zusammenhang nämlich, den Sie als Rezipient selbst bestimmen und nicht von der Ganzheit des Werks übernehmen.[32] Daß im Gegenteil alles Vereinzelte dem höherwertigen Ganzen zustreben oder sich ihm unterordnen solle, ist jedenfalls die gängige Ansicht – Foucault würde sagen: der hegemoniale Diskurs – von Plotin bis Hegel, die bestimmte Formen der Herrschaft oder der Kunst oder der Rezeption bevorzugt. Dieser Diskurs des Ganzen zieht sich aber nicht nur durch alle relevanten gesellschaftlichen Bereiche von der Ästhetik bis zu politischen Philosophie, sondern geht auch einher mit bestimmten „Prozeduren der Ausschließung“. Ausgeschlossen wird etwa die Möglichkeit einer Umwertung, die das Teil dem Ganzen vorziehen würde, oder auch die Möglichkeit, über ein Kunstwerk, den Staat oder über eine Maschine anders zu sprechen als anhand des hierarchischen Modells Ganzes / Teile. Für die Diskursanalyse unserer Xenie ist es interessant zu wissen, daß dieser Diskurs des Ganzen jedoch gerade um diese Zeit seiner Entstehung herum, gegen Ende des 18. Jahrhunderts seine Selbstverständlichkeit verloren hat. In den Lyceums-Fragmenten Friedrich Schlegels von 1797 ließe sich eine Aufwertung pointiert partikularer Positionen nachweisen und eine Skepsis daran, daß jemand die Perspektive des Ganzen überhaupt einnehmen könnte. Mit dem Zweifel daran, daß jemand wahrhaftig für das Ganze sprechen könne (das Ganze überblickt, selbst ein Ganzes ist...), wird aber die Unterscheidung selbst torpediert: auf Erden gebe es tatsächlich nichts als Fragmente, die im Diesseits zu keiner integralen Ganzheit mehr zusammengefügt würden. Während die Romantik den Diskurs des Ganzen unterläuft und subvertiert, fügt sich die Xenie Schillers und Goethes der „Hegemonie des Diskurses“: sie läßt ihr Inneres von den Regeln des Diskurses strukturieren und schreibt ihn so fort. Man hat in diesem Sinne von „Diskursiver Textstrukturierung“ gesprochen. Der Text ist also kein von allen äußeren Faktoren unabhängiges Einzelwerk, dessen innere Form der Strukturalismus beschreibt, sondern gleichsam durchflossen von Diskursen. Da dies für jeden Text gilt und keinesfalls nur für die Poesie, stellt sich allerdings die Frage, was einen literarischen Text vor anderen auszeichnet.

Die Grundunterscheidung der Systemtheorie ist die von System und Umwelt. Systeme bestehen aus Kommunikationen, die aufgrund ihrer Codes und Programme bestimmten Sozialsystemen zugerechnet werden – Zahlungen etwa der Wirtschaft, kollektiv bindende Entscheidungen der Politik oder Urteile dem Rechtssystem. Auch die Literatur wird als System betrachtet, das sich von allen anderen Systemen unterscheiden läßt. Was heißt es für die Xenie, daß sie zum System der Literatur gehört und nicht zur Umwelt der Literatur? Als Beitrag zur Literatur müßte sie eine Differenz erkennen lassen, die sie als literarische Kommunikation im Gegensatz zu anderen markiert. Eine Kommunikation, das ist nach der maßgebenden Definition von Niklas Luhmann die Unterscheidung von Mitteilung und Information durch einen Beobachter. Auch die Xenie teilt eine Information mit, und zwar auf eine „kontingente“: immer anders mögliche Weise. Man könnte den Auftrag, jeder solle selbst nach dem Ganzen streben oder sich dem Ganzen unterordnen, auch anders formulieren, doch würden Modifikationen an der Art der Mitteilung zugleich auch den Informationsgehalt und damit die ganze Kommunikation verändern. Die Sentenzen: „Wenn Du nicht herrschen kannst, diene“ oder „Wenn Du es nicht packst, etwas Ganzes zu werden, dann hast Du gefälligst als Teil Deinen Beitrag zum Ganzen zu leisten“ artikulieren vielleicht in der Sache etwas ähnliches und weisen eine ähnliche Struktur auf wie die Xenie, doch wäre die Kommunikation eine ganz andere. Es kommt im Literatursystem nämlich nicht so sehr auf die Sachdimension an, auf die „Referenz“ (Todorov), den ‚Inhalt‘ oder die ‚Botschaft‘ (wie etwa in der Wissenschaft, wo auch schlecht formulierte Wahrheiten wahr sind), sondern auf die Form, die „Literalität“ (Todorov). „Die Aussage eines Gedichtes läßt sich nicht paraphrasieren, nicht in der Form eines Satzes zusammenfassen, der dann wahr oder falsch sein kann“, heißt es bei Luhmann in der Kunst der Gesellschaft (S. 45). Was die Xenie zur Literatur macht, ist die Form der Kommunikation, also nicht ihr „Was“, sondern ihr „Wie“ (S. 47). Man könnte die gebundene Form der Rede und die Umstellung des Satzbaus als Indizien dafür werten, daß die Xenie zur Literatur gehört, doch kennt man solche Verfahren z. B. auch in der Werbung, und nicht jedes Distichon muß gleich Literatur sein. Das Problem, dem einzelnen, isolierten Text nicht ansehen zu können, zu welchem Kommunikationssystem er primär gehört, löst die Systemtheorie (im Gegensatz zu den textintern orientierten Methoden des Strukturalismus oder Dekonstruktivismus, die den Texten ihre Literalität oder Literarizität ansehen), indem sie die von der einzelnen Kommunikation ausgelöste Anschlußkommunikation beobachtet. Man schaut darauf, wie an den Text angeschlossen wird. Dies entspricht auch der Definition der Kommunikation, die ja nicht besagt, daß Kommunikation die Unterscheidung von Information und Mitteilung ist, sondern daß dies eine Unterscheidung ist, die von einem Beobachter (also textextern) gemacht wird. Und wie unterscheiden die Beobachter? Es ist nicht nachweisbar, daß die Pflicht für jeden von irgendwem befolgt worden wäre oder gar zu politischen oder auch nur moralischen Versuchen geführt hätte, sie umzusetzen. Es fehlt auch die Gemeinde, die sich die Pflicht zum religiösen Gebot gemacht hätte. Was man aber beobachten kann, sind Anschlüsse im Literatursystem selbst, die darauf hinweisen, daß die Xenien nicht mit Geboten, Befehlen, Lehren oder Waren verglichen werden, sondern mit anderen Beiträgen zur Literatur und deshalb zur literarischen Kommunikation zu rechnen sind. Ich gebe ein Beispiel von vielen:

SOUFFLEUR. Versuchen Sie ein paar Verse zu machen, Herr Dichter; vielleicht bekommen sie dann mehr Respekt vor Ihnen.

DICHTER. Vielleicht fällt mir eine Xenie ein.

SOUFFLEUR. Was ist das?

DICHTER. Eine neuerfundene Dichtungsart, die sich besser fühlen als beschreiben läßt.

(Wilhelm Tieck: Der gestiefelte Kater, Berlin 1797)

Es ist ausgerechnet ein Romantiker, Wilhelm Tieck, der sich hier über die Xenien der Klassiker lustig macht – Sie erinnern sich, es war ja gerade die Romantik, welcher der Diskurs des Ganzen ganz und gar nicht behagte. Wenn die Systemtheorie von der Literatur als einem dynamischen Netzwerk von Operationen spricht, deren Anschlußfähigkeit nur im System und nach dessen Regeln hoch wahrscheinlich, außerhalb des Systems aber kontingent ist, dann bedeutet das für die Xenien, daß sie allein zur Literatur einen folgenreichen Beitrag geleistet haben, wie man den Anschlußkommunikationen – etwa auch Friedrich Nicolais Polemik und Friedrich Schlegels Verriß – entnehmen kann, während die Xenien in anderen Sozialsystemen aber nur zufällig Resonanz gefunden haben: im Wirtschaftssystem etwa in Gestalt der Frage, ob sich der Musenalmanach mit den Xenien verkauft hat oder nicht. Goethe jedenfalls wird noch viele Xenien publizieren – vom Streben und Dienen, von Ganzem und Teilen wird aber nicht mehr die Rede sein. Wie der romantische Spott zeigt, ist diese Variante literarischer Programmierung womöglich schlicht „out“, langweilig und uninteressant, so daß es für Goethe Zeit wurde, neue Themen und Motive zu erproben. Der Code der Literatur, interessant vs. langweilig, würde also der diskursanalytischen These vom hegemonialen Diskurs des Ganzen entgegenstehen, denn gerade der Erfolg dieses Diskurses in der Literatur würde für sein Ende sorgen, da die Formen, die er produziert, irgendwann erwartbar sind und folglich als langweilig, abgeschmackt oder altmodisch gelten. Der offenkundigen Dynamik der Literatur, die seit ca. drei Jahrhunderten stattfindende permanente Innovation der modernen Literatur – eine Epoche jagt die andere, ein Stil folgt auf den nächsten, eine Mode macht der anderen Platz – wird vielleicht vom Codierungsvorschlag der Systemtheorie besser erfaßt als von der Analyse diskursiver Textstrukturierung.

III. Probleme

Strukturalismus, Diskursanalyse und Systemtheorie zählen zu den Methoden der Literaturwissenschaft, doch sind sie keine spezifisch literaturwissenschaftliche Verfahrensweisen. Es handelt sich durchweg um Theorieimporte: der Strukturalismus stammt aus der Linguistik (Saussure, Hjelmslev, Jakobson) und der Ethnologie (Claude Lévi-Strauss), die Diskursanalyse (Michel Foucault) aus der Geschichtswissenschaft und die Systemtheorie (Niklas Luhmann) aus der Soziologie. Dies unterscheidet sie etwa von der Beschäftigung mit literarischen Epochen, literarischen Gattungen oder literarischen Verfahren, die es nur mit Sachverhalten innerhalb der Literatur zu tun hat: nur innerhalb der Literatur zählt die Kunst, Romane von Epen oder Tragödien von Trauerspielen zu unterscheiden, außerhalb ist sie sinnlos, denn was wollte man dort so unterscheiden.

Bevor man nun mit den Methoden des Strukturalismus, der Diskursanalyse und der Systemtheorie literarische Formen, Verfahren, Epochen, Texte oder Kontexte zu untersuchen begann, erklärte man bereits den Aufbau sprachlicher Bedeutung oder die Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen in archaischen Kulturen aus der Anordnung von Elementen zueinander, untersuchte man die historisch wechselnden Möglichkeiten, Aussagen zu machen oder zu unterdrücken, oder beobachtete man etwa die Entwicklung eines Wirtschaftssystems, das nach selbstgesetzten Regeln operiert und sich aufgrund dieser Operationsweise von allen anderen Systemen in seiner Umwelt unterscheidet. Weder Lévi-Strauss, noch Foucault oder Luhmann waren Literaturwissenschaftler. Warum also zählen ihre Methoden zum literaturwissenschaftlichen Instrumentarium?

Wir können davon ausgehen, daß sich Strukturen, Diskurse und Systeme nicht allein außerhalb der Literatur untersuchen lassen, sondern auch innerhalb. So spricht man davon, ein Roman, ein Gedicht oder eine Epoche weise eine bestimmte Struktur auf oder dieser oder jener Diskurs bestimme den Textverlauf oder sei für bestimmte Motivketten verantwortlich, und man spricht auch von der Literatur als einem System, das sich von allen anderen Systemen (Wirtschaft, Politik...) unterscheide. Aber was gewinnen wir an Erkenntnis über die Literatur, wenn wir ihre Struktur, ihren Diskurs oder ihr System beschreiben; diese Frage stellt sich vor allem, wenn man bedenkt, daß nicht nur ein Gedicht, sonder auch eine Großfamilie, eine archaische Siedlung oder ein Striptease eine Struktur aufweisen, daß nicht nur eine Erzählung, sondern jede Art von Redebeitrag von Diskursen determiniert ist, daß nicht nur die Literatur ein System ist, sondern auch Wirtschaft, Politik, Wissenschaft oder Recht. Ich habe versucht, Ihnen an allen drei um die Gunst der Literaturwissenschaft konkurrierenden Theorien vorzuführen, warum es sich lohnen kann, fachfremde Methoden und ihre generalisierende Terminologie in die Literaturwissenschaft zu übernehmen. Es sind Aussichten auf Problemlösungen, die dazu motiviert haben, Strukturen, Diskurse oder Systeme zu untersuchen. Der Strukturalismus offerierte die Chance, die Mystik der Hermeneutik mit ihrer binären Seziertechnik zu überwinden und die Bedeutung von Texten endlich wissenschaftlich zu erforschen; die Diskursanalyse bot sich als Verfahren an, die Immanenz der Strukturanalyse zu überwinden und Regeln zu finden, die das Vorkommen und Nichtvorkommen bestimmter Oppositionen sowie ihre Verknüpfungsart erklären sollten; und die Systemtheorie bot sich zur Differenzierung der von der Diskursanalyse beschriebenen Formation an, die nicht zwischen den einzelnen Systemen unterschieden habe und daher viel zu pauschal von Literatur spreche, statt ihre Eigengesetzlichkeit, ihre Autonomie zu beschreiben. Mit der wechselseitigen Kritik dieser Theorien sind zugleich die Risiken angedeutet, die darin liegen, daß die Analyse mit den Mitteln sehr allgemeiner Theorien das Spezifische der Literatur gerade verkennen könnte. Als Forderung formuliert: Strukturalismus, Diskursanalyse und Systemtheorie als Literaturwissenschaft müssen sich fragen lassen, was Struktur, Diskurs oder System der Literatur von anderen Strukturen, Diskursen oder Systemen unterscheidet. Anders gesagt: von diesen Theorien wird ein Wissen dessen verlangt, was Literatur ist – bleiben sie uns das schuldig, dann könnte man ihre Methoden allenfalls als Hilfswissenschaften benutzen – so wie wir uns etwa von Chemikern dabei helfen lassen, alte Texte zu datieren, oder wie wir Statistiker konsultieren, um die Verbreitung von Texten im Publikum ermessen zu lassen. Die Auseinandersetzung darum, worum es sich bei diesen Theorien denn nun handelt, um Theorien der Literatur oder um Theorien, denen gerade das Literarische an der Literatur entgeht, hält an. Diese Debatte wird sie wohl noch Ihr ganzes Studium begleiten.

Literaturhinweise:

Strukturalismus:Einführung in den Strukturalismus, hrsg. v. F. Wahl, Frankfurt/M 1981.

Roland Barthes, S / Z, Frankfurt/M 1976

Diskursanalyse

Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/M, Berlin, Wien 1977.

Jürgen Link, Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, München 1983.

Gerhard Plumpe, Diskursive Textstrukturierung. Versuch zu Adalbert Stifters 

‚Bergkristall‘, in: Literaturwissenschaft. Grundkurs 1, hrsg. v. Helmut Brackert und

Jörn Stückrath, Reinbeck 1981.

Systemtheorie

Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M 1995.

Gerhard Plumpe und Niels Werber, Literatur ist codierbar. Aspekte einer 

systemtheoretischen Literaturwissenschaft, in: Siegfried J. Schmidt, Literaturwissenschaft

und Systemtheorie, Opladen 1993, S. 9-43.

Gerhard Plumpe und Niels Werber,Systemtheorie in der Literaturwissenschaft oder

„Herr Meier wird Schriftsteller“, in: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hrsg.),

Systemtheorie der Literatur, München 1996, S. 173-208.

Niels Werber, Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation,

Opladen 1992



[1] Vgl. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt/M 1964.
[2] Roland Barthes, Die Lust am Text, Frankfurt/M 1986, S. 94.
[3] Barthes, Die Lust am Text, S. 54.
[4] Barthes, Mythen des Alltags, S. 69.
[5] Barthes, Mythen des Alltags, S. 69.
[6] Vgl. Barthes, Mythen des Alltags, S. 47-49.
[7] Barthes, Roland (1968): La mort de l’auteur, in: Manteia 5, S. 12-17.
[8] Heute nicht mehr. Der Autor ist längst „wiederauferstanden“. Vgl. Niels Werber und Ingo Stöckmann, Das ist ein Autor. Eine polykontexturale Wiederauferstehung, in: de Berg, Henk und Prangel, Matthias (Hrsg.), Systemtheorie und Hermeneutik, Tübingen und Basel 1997. S. 233-262.
[9] Zur weiteren Karriere Schmittles vgl. Plumpe, Gerhard und Werber, Niels, Systemtheorie in der Literaturwissenschaft oder „Herr Meier wird Schriftsteller“, in: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hrsg.), Systemtheorie der Literatur, München 1996, S. 173-208.
[10] Tzvetan Todorov, Poetik, in: Einführung in den Strukturalismus, hrsg. v. F. Wahl, Frankfurt/M 1981, S. 105-179, S. 105, 107.
[11] Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/M, Berlin, Wien 1977, S. 7.
[12] Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 7.
[13] Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 8.
[14] Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 13f.
[15] Vgl. Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/M 1988, S. 15f.
[16] Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 15f.
[17] Michel Foucault, Das unendliche Sprechen, in: Schriften zur Literatur, Frankfurt/M 1988, S. 90-103, S. 97.
[18] Die Ordnung der Dinge, Wahnsinn und Gesellschaft, Sexualität und Wahrheit, Überwachen und Strafen.
[19] Vgl. Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 21.
[20] Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 20.
[21] Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 35.
[22] Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 34.
[23] Michel Foucault, Das Denken des Außen, in: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/M 1987, S. 46-68, S. 47.
[24] Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M 1974, S. 370.
[25] Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 366.
[26] Michel Foucault, Was ist ein Autor?, in: Schriften zur Literatur, Frankfurt/M 1988, S. 7-31, S. 24.
[27] Zitiert nach der Ausgabe Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main 1987.
[28] Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M 1985, S. 436, 441, S. 432.
[29] Friedrich Schlegel, Über das Studium der griechischen Poesie, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (KFSA), hrsg. von Ernst Behler, München, Paderborn, Wien 1958 ff., 1. Abt. Bd. 1, S. 208.
[30] KFSA, 1. Abt. Bd. 1, S. 223.
[31] Sekundär können dann auch andere Codes zur Textstrukturierung genutzt werden. Zum Beispiel kann es interessant sein, Fragen von Recht oder Unrecht, konservativ oder progressiv zu Konflikten umzubauen und daraus eine Handlung zu kreieren. Dennoch liegt es auf der Hand, daß ein literarisches Werk eine Frage von Recht und Unrecht niemals wie ein Gericht entscheiden könnte – mit der Folge nämlich, daß beide Parteien den Urteilsspruch akzeptieren, der Rechtsfriede wiederhergestellt und gegebenenfalls Strafen angetreten werden.
[32] Vgl. dazu Thomas Hecken, Der Reiz des Trivialen, in: Thomas Hecken (Hrsg.), Der Reiz des Trivialen, Opladen 1997, S. 13-48, vor allem S. 34-43.