„Politik
als Theater“, so lautet die heuristische Definition von Thomas Meyer aus
einem im letzten Jahr erschienenen Band, „ereignet sich immer dann, wenn
ein politischer [...] Akteur A einem Publikum S ein X für ein U vormacht
und sich dabei der Inszenierungsmittel des Theaters bedient.“[4]
Meyer greift auf eine knappe Definition der Theaterwissenschaftlerin Fischer-Lichte
zurück, die lautet: „Theater ereignet sich, wenn es eine Person A
gibt, die X verkörpert, während S zuschaut“. (ebd.) An beiden
Begriffsbestimmungen fällt auf, daß sie Theater für ein
Ereignis halten, also in der Zeitdimension auf einen Moment abstellen,
statt auf einen Prozeß oder wie bei Goetz auf eine “Geschichte“,
wie dies ja auch die Tradition der Dramentheorie naheliegen würde,
denn ein Drama, so lesen wir in der Poetik des Aristoteles, besteht nicht
aus Ereignissen oder Tableau
vivants,
sondern aus „Handlungen“.[5]
„Episodische“ Handlungen ohne Einheit lehnt Aristoteles dagegen als ungeeignet
für das Drama ab. In einer Handlung soll vielmehr die Mitte aus dem
Anfang und das Ende aus dem Vorhergehenden resultieren – „entweder mit
Wahrscheinlichkeit oder mit Notwendigkeit“.[6]
Thomas Meyer jedoch betont an der Politik als Theater das „Ereignis“ (S.
78) oder genauer: das „Scheinereignis“ (S. 80) oder auch die Inszenierung
der „Entscheidung“ (S. 122). In der Poetik des Aristoteles gibt es nur
zwei Elemente, wo das Ereignis gegenüber der Handlungskette großes
Gewicht eingeräumt wird: zum einen bestimmt er den Charakter eines
Protagonisten nach Maßgabe der Entscheidung in einem bestimmten Moment:
„Charakter
ist nun das, was die Entscheidung offenbart, was nämlich einer
in einer unklaren Situation wählt oder meidet“ (S. 400f). Charakter
meint also kein Bündel von erworbenen und ererbten Eigenschaften noch
ein Temperament im Sinne der Humoralpathologie, sondern das, als was sich
der Handelnde im Moment der Dezision erweist. Zum zweiten kennt das Drama
die „Peripetie“, den „Umschlag der Handlung in ihr Gegenteil“ (§ 11).
Dieser Umschlag der Handlung fällt oft, und so ist es laut Aristoteles
„am schönsten“, mit der Offenbarung des Charakters zusammen. „Freundschaft
oder Feindschaft“ treten dann im doppelten Moment der Dezision und der
Peripetie ans Licht – und gereicht den Zuschauern zum kathartischen Schaudern
und Jammern. Wir werden noch sehen, inwieweit sich Goetz als Schüler
des Aristoteles erweisen wird.
Es
scheint jedenfalls zwei extreme Möglichkeiten der Theatralisierung
des Politischen zu geben: die eine meint das inszenierte Ereignis, mit
dem die Politik aus dem Verborgenen für einen Moment auf die Bühne
der Öffentlichkeit tritt, den Event, in dem sich Politik als Theater
„ereignet“; die zweite betont die Gesetzmäßigkeiten der Handlungsführung,
die Dramaturgie, die Ereignisse zu einer zusammenhängenden Kette verknüpft,
die sich, wie Aristoteles ausführt, von der Geschichte eines Historikers
nur modallogisch dadurch unterscheidet, daß sie möglich und
nicht wirklich ist (§ 9). Man könnte darüber spekulieren,
ob in der zeitgenössischen Rede von der „Politik als Theater“ die
Perspektive des Moments der Inszenierung, des in den Massenmedien zelebrierten
Ereignisses deshalb vorgezogen wird, weil sich der Glaube an eine stringente
Handlungsführung mit „Anfang, Mitte und Ende“ in den Debatten der
Postmoderne verloren hat: keine „großen Narrationen“ mehr – und keine
„großen Handlungen“; statt dessen Ereignisse. Ich möchte hier
diese beiden Pole möglicher Perspektiven auf die „Politik als Theater“
zunächst nur festhalten, um bei der Analyse der Dramatisierung des
sog. „Deutschen Herbstes“ im Jahre 1977 darauf zurückzukommen.
Ich
möchte nun auf eine weitere Möglichkeit zu sprechen kommen, in
der Politik ein theatralisches Ereignis zu sehen, eine Möglichkeit,
die in den Massenmedien selbst geläufig vertreten wird. Ich beziehe
mich auf einen exemplarischen Artikel aus der „ZEIT“.[7]
Unter dem Titel Als-ob-Politik auf der Mattscheibe[8]
beschreibt Günter Hofmann eine Art der Nachrichtenproduktion, die
den Unterschied zwischen politischer Hinterbühne und medialer Vorderbühne
nicht mehr erkennen läßt. Ich zitiere:
„Jürgen
Rüttgers (CDU/CSU) verkündet früh um halb acht etwas, was
in den Mittagsnachrichten Peter Struck (SPD) dementiert und woraus für
die ‚Tagesschau’ am Abend eine gewaltige Nachricht wird. Tatsächlich
wird das System auf diese Weise - und das ist keine news - selbstreferentiell.
Die Bonner politische Bühne ist zu einem
perpetuum mobile geworden.“
Die
politische Bühne ist keine Bühne mehr, auf der einem Publikum
ein x für ein u vorgemacht wird, denn dies würde einen souveränen
Akteur voraussetzen, der sich zunächst unabhängig von den Gesetzen
der Dramaturgie um x kümmert, um es dann der Öffentlichkeit mit
aller Kunst als u unterzujubeln. Hofmann meint vielmehr, daß die
Politik wahrhaftig selbst zum Theater werde: „Die Politik droht zur Sparte
der Unterhaltungsindustrie zu verkommen.“ Das System der Massenmedien habe
die Politik okkupiert und ersetze die demokratische „Öffentlichkeit“
durch „Talk-Shows“ (ebd.). In den Fängen aktualitätshungriger
Sender passe sich die Politik den Bedürfnissen der Medien vollkommen
an. „Der Prozeß“, so Hofmann, „führt so weit, daß im Parlament
Konflikte geradezu künstlich dramatisiert werden, weil sie nur dann
Aufmerksamkeit erregen. Aber nur, wenn sie Aufmerksamkeit erregen, sind
sie für die action news berichtenswert.“ Anders als die Demokratietheorie
hofft, opponiert die Opposition nur, um als Opposition durch Abweichung
Aufmerksamkeit zu erregen bzw. Profil, wie man lieber sagt. Die „Revolution
in der Kommunikationslandschaft“ habe die „politische Öffentlichkeit
verschwinden“ lassen (ebd.). Genauso sieht es auch Meyer: „Die Macht der
Darstellung läßt politische Öffentlichkeit weithin zur
Darstellung der Macht schrumpfen.“ (S. 121) Wenn die Politik aber mit ihrer
Bühne, den Massenmedien, verschmolzen ist, dann muß sie ihren
dramatischen Gesetzen folgen. Politik muß daher Aufmerksamkeit erregen
und aktuell scheinen, und dies gelinge nur, wenn ihre Inszenierung neu,
interessant, anders zu erscheinen vermag. Auch von dieser Perspektive wird
aus systematischen Gründen eher der Moment der Inszenierung betont,
nicht die Handlung. Die von den Politikern verlangte „Media Performance“
ist eine live oder real time Qualität.[9]
Die Politik, so die Sorge, ordnet sich damit ganz „dem Diktat der Medienaktualität“
unter.[10]
Denn weil keine Nachricht wiederholt werden kann, ohne daß um- oder
ausgeschaltet wird, weil die action news nur Neues anbieten können,
um ihr Publikum zu faszinieren und ihre Einschaltquoten zu erreichen, bleibt
der Politik nur ein gleichsam spontanistisches Agieren ad hoc als Versuch,
immer wieder neu den Geschmack zu treffen – und genau dieser den massenmedialen
Erfordernissen angemessene Politikstil wird der rot-grünen Regierung
ja quasi täglich in den Medien vorgeworfen.[11]
„Fliegende
Blätter“, so liest man in Kontrolliert, „die in jenen Tagen
für eisernes Geld an jedermann verkauft wurden, waren mit Massen unterschiedlich
großer Buchstaben bedruckt, die entziffert ganze Worte gaben. Wer
schon lesen konnte, konnte diese stummen Worte praktisch ausgesprochen
in sich klingen hören und sich derart neue Sachen sagen lassen,
die er noch nicht wußte.“ (K 187) Die modernen Massenmedien lieben
das neue Ereignis, den neusten Event – und deshalb auch das Vergessen
des Alten und Vergangenen. Die Politikwissenschaft dagegen hat die Metapher
des Theaters immer in einem anderen Sinne genutzt: hinter der Bühne,
so die Annahme, gebe es Dramaturgen oder Regisseure, die den Akteuren ihre
Rollen vorschreiben, um damit dem Publikum zunächst verborgene Ziele
zu verfolgen. Wer in diesem Sinne Politik als Theater auffaßt, operiert
mit der Unterstellung, es handele sich hierbei um eine durchdachte Aufführung,
die dramatischen Regelmäßigkeiten folge. „Der Abel hat den Kain
erschlagen“, geht das oben begonnene Zitat aus Kontrolliert weiter,
„meldete die Nachricht, dahinter stand ganz groß, warum“ (K 187).
Es folgt eine Schilderung der Entführung Schleiers als Familiendrama:
Kain mordet Abel als Aufstand gegen den Vater (K 187f).[12]
Die Abfolge politischer Ereignisse wird auf eine aristotelische Handlung,
auf den Plan einer Inszenierung zurückgeführt, deren Dramaturgie
eine gewisse Reihenfolge einhält; oder man deutet das Schauspiel als
Simulation, welche dem Zweck dient, hinter einer beeindruckenden oder jedenfalls
unterhaltsamen Oberfläche die Arkana der wirklich konsequenten politischen
Entscheidungen zu verbergen. Politik finde also gar nicht auf der medialen
Bühne statt, sondern nur ihre Verbergung. Diese Differenz von öffentlicher
Vorderbühne und geheimer Hinterbühne freilich ist seit Jahrhunderten
selbst ein Motiv des politischen Theaters von Shakespeare bis Schiller.
Ich
möchte ganz kurz an die daran anknüpfende Tradition in der politischen
Philosophie erinnern: Thomas Hobbes hat das bürgerliche Leben mit
dem Theater verglichen und den Begriff der Person, von lateinisch persona:
Rolle, für die politische Philosophie mit dem Argument fruchtbar gemacht,
die repräsentative Organisation der öffentlichen Angelegenheiten
sei ohne das Handeln in Rollen nicht denkbar: „Nicht weniger nötig
als im Theater sind solche Fiktionen im bürgerlichen Leben wegen der
Geschäfte und Abmachungen, die im Namen von Abwesenden abgeschlossen
werden.“[13]
Der Begriff der Person wird hier verwendet, weil jemand einen anderen vertritt,
ihn repräsentiert, wie ein „Schauspieler“, der „Agamemnon“ vertrete
und in seinem Namen spreche und handle. Dieses Prinzip der Stellvertretung,
das Hobbes mit der Repräsentation des Theaters vergleicht, sei unverzichtbar.
Im
Namen des Volkes zu handeln ist eine notwendige Fiktion. An dieser
Vorstellung der Politik als Rollenspiel wird seit dem 18. Jahrhundert kritisiert,
sie diene in Wahrheit der Simulation oder Persuasion. Carl Schmitt hat
darauf hingewiesen, daß etwa die „republikanisch-demokratischen“
Angriffe auf den Obrigkeitsstaat die „Repräsentation des Fürsten
als bloßes Theater zu entlarven“ suchte und dieser theatralischen
„Repräsentation des Fürsten und seines Hofes die demokratisch
mit sich selbst identische Präsenz des homogenen Volkes“ entgegensetzte,[14]
eine Präsenz, die zwischen dem Volk und der politischen Entscheidung
keinerlei Vermittlung zulassen wollte und die daher auch keinen Raum für
die theatralische Darstellung des Politischen aufkommen ließe, die
ja immer einen Zwischenraum der Repräsentation zwischen der Politik
und ihren Rezipienten voraussetzt. Rousseau hat daher alles Repräsentative
in der Demokratie kategorisch abgelehnt, es dürfe keine Raum geben
zwischen Volk und Staat – ein Gedanke, der sich in manchen Teilen der Schweiz
bis heute erhalten hat und heute unter dem Stichwort der Cyberdemokratie
wieder von sich Reden macht. Das Theater der Politik wird auch von Herder
als Strategie der Entmündigung denunziert. In die Vorstellung des
Staatstheaters wird das „Volk“ nach Herders Einsicht nur „hinzugelassen,
[um] sich an diesen prächtig gekleideten Hof- und Staatsrevolutionen,
die hinter den Lichtern vorgingen, als Pöbel zu erbauen“, wer dagegen
hinter der „Bühne“ Regie führt, vermag der Pöbel aber nicht
einmal zu erraten.[15]
Repräsentation heißt Betrug. Auch Nietzsche spricht 1893 in
seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen in einem noch umfassenderen,
die bürgerliche Welt schlechthin meinenden Sinn vom „politischen Theater“,
auf dem die Menschen „in hundert Masken, als Jünglinge, Männer,
Greise, Väter, Bürger, Priester, Beamte, Kaufleute einherstolzieren,
einzig auf ihre gemeinsame Komödie und gar nicht auf sich selbst bedacht.
Sie alle würden“, so heißt es weiter, „die Frage: wozu lebst
du? schnell und mit Stolz beantworten - »um ein guter Bürger,
oder Gelehrter, oder Staatsmann zu werden«“, doch beteiligten sie
sich tatsächlich an nichts anderem als einem „lügnerischen Puppenspiel“,[16]hinter
dem sich die entscheidenden Dinge und Motive verbergen. Wie auch immer
die kritische Pointe gesetzt wird: Politik als Theater funktioniert in
jedem Fall als eine Formel der Komplexitätsreduktion, denn sie ordnet
die kontingente Abfolge politischer Ereignisse zu einem Theaterstück
(Tragödie, Komödie, Marionettentheater...) oder verweist mit
paranoidem Ordnungssinn auf die vom bunten politischen Schauspiel verdeckten
Dramaturgen oder Drahtzieher. Wie immer man aber die Formel verwendet,
die Politik wird auf ein Spiel mit der Differenz von Sein und Schein bezogen
und erhält so eine ästhetische Gestalt - in Kontrolliert in
der klassischen repräsentativen Form des französischen Absolutismus.
„Der Sonnenstaat, in dem das Bundesverfassungsgericht das Bundeskriminalamt
anruft, wird derzeit in Wiesbaden eingerichtet, und aus dem Nest daneben
kommt, wie es singt und lacht, das ganze zweite deutsche Fernsehn.“ (K
85) Hinter der Inszenierung des ZDF stehen die Regisseure des BND und BKA.
Ich
glaube, daß Rainald Goetz’ Geschichte des Deutschen Herbstes sich
aus diesen verschiedenen Traditionen der Ästhetisierung oder genauer:
Dramatisierung des Politischen speist. Das Besondere an Kontrolliert
ist aber, daß der Roman sich damit nicht begnügt, sondern dieses
Schauspiel-Modell der Realität mit einer zweiten Deutung der Ereignisse
konfrontiert, welche auf die ungemeine Komplexität politischer Prozesse
hinter den schlichten Regeln der dramatischen Inszenierung zu verweisen
sucht – also auf die Komplexitätsreduktion der Theater-Metapher verzichtet
und gegen die Klassiker der kritischen Theorie annimmt, daß sich
hinter einer Bühne nicht unbedingt Marionettenspieler verbergen müssen.
Im Gegensatz zur politischen Theorie, die hinter der Bühne nach Akteuren
oder Drahtziehern suchen würde, und im Gegensatz zum oben zitierten
Thomas Meyer, der etwa die politischen Ereignisse um einen Plutonium-Schmuggel
des Jahres 1994 einer „Aufführungsanalyse“ (S. 10ff) nach Akten unterzieht,
um dann den BND als Regisseur zu entlarven (S. 16), versucht Goetz aber
etwas ganz anderes. Seine zweite Sicht auf das Jahr 1977, sein Blick hinter
die öffentliche Bühne also, vereinfacht nicht die Politik zum
Theater, sondern versucht anhand statistischer und kybernetischer Modelle
die Politik als autopoietisches, selbstreferentielles Sozialsystem zu fassen.
An Kontrolliert läßt sich, so meine These, nicht nur
zeigen, wie weit die Metapher der Politik als Theater tragen kann, sondern
auch, wo ihre Grenzen liegen. Ich werde in meinem Vortrag beide Perspektiven
auf Politik und Staat, die Goetz „Geschichte des Jahres 1977“ prägen,
zu rekonstruieren suchen.
Meine
Ausgangsfrage war, wie man aus Ereignissen eine Geschichte machen kann.
Darauf gibt es zwei Antworten: Benno Wagner hat in einem luziden Aufsatz[17]
über die zeitgenössischen Versuche, die Ereignisse des Jahres
1977 plausibel zu machen, zwei Alternativen ausgemacht, quasi eine dramatische
und eine undramatische: die eine entlehnt ihre Konstruktion Carl Schmitts
von der Ausnahme, der Dezision und der Freund-Feind-Unterscheidung her
gedachten Theorie des Politischen,[18]
eine Position, die vor allem in den Massenmedien vertreten worden ist,
die zu ihrer Inszenierung das einschlägige Skript des „schicksalhaften
Duells“ benutzt haben.[19]
Die Alternative dazu bezieht sich auf flexible, lernfähige, gleichsam
„weiche“ Verfahren der Normalisierung, wie etwa der Schmitt-Schüler
Ernst Forsthoff, Michel Foucault,[20]
aber auch Deleuze und Guattari[21]
sie beschrieben haben und deren gravierendster Unterschied zu Schmitt in
der Überzeugung liegt, daß man vom „Ende des Staates“ auszugehen
habe.[22]
Ohne die Vorstellung eines Staates als entschieden handelnden Akteurs läßt
sich an eine am Drama orientierte Geschichtsschreibung der „Entscheidungsschlacht“[23]
freilich kaum vorstellen. Im Gegensatz zu dieser „postsouveränen“
Perspektive sieht die Fraktion der Schmittianer 1977 den Staat als im Krieg
befindlichen Protagonisten – und will wie Dregger Terroristen vorbeugend
erschießen, wie Geißler die Armee einsetzen, sie will die RAF
lynchen lassen, wie es etwa Strauß vorschlägt (SZ 7. 10. 77),
oder, wie „FAZ“ (18. 10. 77) und „Welt“ (1. 4. 77) fordern, ein „Notrecht“
gegen Terroristen einführen, welches zu außerordentlichen Maßnahmen
berechtigt. In jedem Fall handelt es sich hier um Gesten der „klassischen“
Souveränität, die einen entscheidenden und handelnden Staat vorführen
und von den Protagonisten entsprechende Entschlossenheit, Entscheidungsfreude
und Härte verlangen. Die zweite, normalistische Fraktion, für
die Benno Wagner vor allem den BKA-Chef Horst Herold anführt, sieht
sich dagegen 1977 keineswegs im Krieg und will entsprechend der Lage auch
nicht mit außerordentlichen Maßnahmen begegnen, wie sie im
Ausnahmefall üblich sind, sondern – im Gegenteil – normalisierend,
also durch Überwachung, durch Prävention, durch Lernen, durch
Anpassung. Ihr dienten, so Wagner, „Ausnahmen lediglich als Rückkopplungsanlässe
zur Optimierung der laufenden Normalisierungsanläße.“[24]
Beide Selbstbeschreibungsmodelle, das der Ausnahme und das der Normalisierung,
nutzt Rainald Goetz, um in seinem Roman Kontrolliert die „Geschichte
des Jahres 1977“ zu erzählen. Auf den ersten Blick fällt allerdings
erst das Modell der Schmittianer ins Auge, deren Sicht auf die Dinge eine
Dramatisierung erlauben, weil sie, wie Brecht beschrieben hat, aus der
Fülle der Ereignisse einen eskalierenden Konflikt herauslesen.
Der
auffälligste Protagonist des Romans heißt Raspe. Er dient einmal
Goetz als alter ego und plaudert aus dessen Biographie, dann aber kann
er wieder nur Jan-Carl Raspe sein, dessen Sicht aus der Zelle auf die Ereignisse
er vorstellt. Kombiniert werden die Perspektiven eines Zeitgenossen, der
den Deutschen Herbst 1977 als mediale Inszenierung in den Zeitungen, am
Radio und im TV erlebt, und die Perspektive eines Terroristen in Haft,
der in der Isolation mit den Bordmitteln der Theorie Informationsbruchstücke
zu Lagebeschreibungen generalisiert. Der Text, den wir lesen, so erfahren
wir im Text, verstand sich ursprünglich als historisches Unternehmen,
das mit der Differenz von „Freunden und Feinden“ befaßt war und „insgeheim“
„am Schluß der Staat heißen“ sollte. (K 95) Der Roman,
der den Staat derart anhand der berühmt-berüchtigten Unterscheidung
von Freund und Feind angeht, erscheint 1988, also pünktlich zum 100.
Geburtstag von Carl Schmitt. Ich werde zunächst Kontrolliert
mit Schmitt lesen und zeigen, daß sich diese dezisionistische Perspektive
vorzüglich dazu eignet, dem Herbst 1977 die Struktur eines Dramas
zu unterlegen. Anschließend werde ich diese staatstheoretische oder
dramatische Lektüre aus einer „postsouveränen“ Perspektive beobachten
und versuchen, eine zweite Schicht des Romans freizulegen, die sich der
Dramatisierung entzieht. Der Roman beginnt mit der zunächst vergeblich
scheinenden Suche nach Protagonisten und Antagonisten, nach Freund und
Feind. Goetz‘ Protagonist Raspe erzählt:
„Ich
saß also am Tisch, um mich die Materialien, Akten, Karten, Notnotizen,
und das ganze ordnete sich mir und war augenblicklich klar. [...] Ursprünglich
sollte hier der Staat verhandelt werden. Gut ein Jahr lang habe ich die
Vorarbeiten in diese Richtung hin getrieben, vergeblich. Der Anspruch war
vermessen, falsch“. (S. 15)
Wir
erfahren auch, warum Raspe sein Vorhaben, den Staat abzuhandeln,
als vermessen aufgibt, um sich statt dessen der „Geschichte des Jahres
neunzehnhundert siebenundsiebzig“ zuzuwenden. Es liegt nicht am Theoretiker,
sondern an seinem Objekt, dessen Dimension jeden Versuch einer Vermessung
zum Scheitern verurteilt. Das Geburtstagsgeschenk an den Theoretiker des
Politischen beginnt denn auch mit einer Hommage an das Hobbes’sche Ungeheuer
Leviathan,
den großem Wal, dessen Bändigung Carl Schmitt sein Werk gewidmet
hat.
„Der
Staat ist ungeheuerlich, die Ungeheuerlichkeit, die ein einer, wie ich
hier, nicht fassen kann. Schließlich schießt der Staat aus
den Gewehren echte Menschen tot, nichttote Menschen werden staatsbefehlsgemäß
in Staatskerkern gefoltert, Staatstheater spielen echte Stücke, siehe
Stammheim, Stichwort Krieg, die Staatsorchester musizieren dazu musikalisch
Symphonien, Bilderherrlichkeiten zeigen sie in Staatsmuseen her, das Staatsfernsehn
ist wirklich die Hochschule des Glücks der Unterhaltung [...], den
Staatsschulen verdanken viele vieles, ich zum Beispiel alles, Staatszeitungen,
Staatsstrom, Staatsgeld, Staatslicht nachts in großen Städten,
Staatsbibliotheken...“ (K 15f)
Nichts
zwischen Wirtschaft und Kunst, Medien und Recht vermag dem Staat zu entgehen,
und was Raspe hier von seiner Gestalt erkennt, ist das, was Carl Schmitt
schon 1931 den „potentiell totalen Staat“ genannt hat, einen „zum
Kontrollsystem“ der „Gesellschaft“ gewandelten totalen Staat, der regulierend
in jeden Bereich des Sozialen interveniert, so daß „Staat und Gesellschaft“
zusammenfallen, bis sie schließlich „identisch“ sind. Der totale
Staat umfaßt schlechthin „ALLES“. Raspe sieht die Lage im Jahre 77
genauso wie Schmitt im Jahre 31: Bonn ist also Weimar, wie man 1977 ja
auch ständig wiederholt. Raspe sieht in der BRD einen Staatsapparat,
der kein Außen mehr kennt, „weil der Schmidtstaat der totalste Staat
ist, den man als Deutscher je gesehen hat, Jahrgang vierundfünfzig.“
(K 42) Raspe, der in einer Pariser chambre bonne, unterbrochen durch
den Besuch von Foucault-Vorlesungen, an seine Abhandlung geht, erkennt
die Vermessenheit seines Plans einer „Rekonstruktion der Konstruktion des
staatlichen Gesamtgebäudes“ (K 16), denn welche Perspektive gäbe
es auf den Staat, der kein Außen kennt? Jeder Versuch einer
Konstruktion kollabiert und begräbt den Beobachter unter sich (K 96).
Ihm, der den Staat gleichsam klassisch mit Platon und Hegel denken wollte,
ist die Transzendenz der Beobachterposition verloren gegangen; er vermag
es nicht, eine Außenperspektive zu gewinnen, und glaubt daher, scheitern
zu müssen. Ohne souveräne Außenperspektive sei die Rekonstruktion
des Staates unmöglich – auf den Gedanken, die Gesellschaft aus der
Immanenz heraus zu beschreiben, wie etwa Luhmanns Systemtheorie es tut,
kommt Raspe nicht.
Der
„tragische Konflikt“, so Thomas Meyer über das beliebte massenmediale
„Inszenierungsmodell“ des „Dramas“, „spitzt sich schicksalhaft zu und kennt
am Ende nur Sieger und Besiegte.“[25]
Dies Modell folgt ganz dem dezisionistischen Denken Carl Schmitts, der
etwa in seiner Theorie des Partisanen betont hat, daß sich
die „Kernfrage für die Situation“ immer „sehr präzise als ein
absolutes Entweder-Oder“ stelle.[26]
Der Theoretiker der Entscheidung spitzt die Lage zu auf die Frage „Alles
oder Nichts“: was 1977 etwa heißen kann: entweder Niederlage oder
Sieg, entweder Anarchie oder Geiselerschießung, entweder die Ohnmacht
des Staates oder die außergewöhnliche Maßnahme – tertium
non datur.
In
dieser Lage, die Raspe noch nicht zu fassen vermag, träumt
er einen allegorischen Traum:
„Günstige
Zeiten sind da, oder nicht da, wie die Winde, gehorchen sie keinem Kommando.
Auf Deck steht frühmorgens auch der weitgereiste alte Kapitän,
das Gesicht in richtung Wetter, Mächten ausgeliefert, die er nicht
befehlen kann, jedoch benützen. Kommt der Wind von vorne, kann man
kreuzen gegen ihn“...
So
rauscht die „Seestern“ dahin: „hoch oben in der Spitze ihrer stolzen Takelage
vom roten fünfzackigen Stern geschmückt und vom piratenschwarzen
nackten Schädel in der Flagge“ (K 212). Die Beute, die er anvisiert,
sind die „Silberflotten“ (K 212), von denen sich der spanische Staatsapparat
nährt. Die Seestern ist also genau genommen kein Piratenschiff, sondern
ein „Korsar“, der „Kriegsbeute zur See“ macht.[27]
Es muß ein Seeschäumer sein, der Jagd auf die Südamerika-Flotte
Spaniens macht. Der Korsar ist das Emblem des Partisanen im Sinne Schmitts,
dessen Theorie des Partisanen aus dem Jahre 1963 im
Kontext des außerparlamentarischen Widerstandes auf erhebliches Interesse
gestoßen ist.[28]
Im Falle des Romans Kontrolliert repräsentiert der Kaperfahrer
und sein Emblem natürlich die RAF, deren irreguläre Kombattanten
gewissermaßen „Korsaren des Landkrieges“ sind: deshalb roter Stern
und Totenkopf.
Auf
dieses Meer, auf dieses Schiff sieht Raspe sich geworfen, als er einsieht,
daß er keine Perspektive auf den Staat zu gewinnen imstande
ist. Ungeheuerlich schien ihm der Staat zu sein, dem nichts entgeht,
der sich aber umgekehrt niemals vermessen läßt. Nur in einem
Augenblick
wird ihm doch einen „momentlang alles klar“, an einem Moment des Jahres
1977, an einem Moment der Verrückung, an dem er „den ganzen Bau von
innen und von außen“ sieht (K 28).[29]
Diese geradezu epiphanische Erscheinung der Wahrheit[30]
wird vorbereitet durch eine systematische Ausschaltung der Selbstkontrolle
und des Beobachtungsvermögens:
„So
weit so gut, sagte ich und lehnte mich zurück, als kurz ein Schein
die Wand vor mir blitzartig warm, nicht fahl, ein Widersinn, erleuchtete.
Hungerstreik und Schlafentzug schärfen zwar die Sinne, doch die Erinnerung
im Kürzestspeicher in dem Hirn verflüchtigt sich vermutlich um
so schneller, je überreizter der Beobachter seine Beobachtung, wie
sie sich selbst beobachtet, beobachtet.“ (K 27)
Folgt
man den Thesen von Deleuze und Guattari, dann setzen die Wissenschaften
des Staates immer „die Beständigkeit eines Blickpunkts voraus“,[31]
der hier Raspe aber gerade abhanden gekommen ist. Der Versuch mit einem
kybernetischen Kalkül zweiter Ordnung, nämlich Beobachtungen
bei der Beobachtung zu beobachten, führt erst zu Raspes Paralyse und
dann aber zu seiner blitzartigen und elementaren Erleuchtung. Der Zeitmodus
ist der Moment: „Nur was jetzt stimmt, stimmt, weil der Augenblick der
Wahrheit einen höchstens jetzt erlösen kann, unmöglich nicht
jetzt.“ (K 155) Die gleiche epiphanische Erfahrung des Augenblicks macht
Raspe im Theater: „Erst abends im Theater explodierte auf der Bühne
wirklich augenblicklich jeder Augenblick im jetzt.“ (K 174) Dieses „Blitzartige“
der Erkenntnis, die alle „Schleier“ durchschlägt und den Kern der
Dinge enthüllt, ist wiederum typisch für das Denken Carl
Schmitts.[32]
Sie kommt Raspe im Herbst 1977 just in dem Moment, an dem die Entführung
der Lufthansa-Maschine Landshut und die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten
Schleier den Schmidt- oder Schmitt-Staat dazu zwingen, im Ausnahmezustand
sein wahres Gesicht zu zeigen und „dem Alltag die Fratze der Lüge
abzureißen“ (K 261), so daß man also einmal hinter jenes Theater
zu schauen vermag, auf dessen Bühne im Auftrag der faschistischen
Akteure tagtäglich Demokratie gegeben wird. Jan-Carl Raspe, der offenbar
weniger bekennender Marxist, als heimlicher Schmittianer ist, glaubt den
Souverän hinter der Bühne in einem Moment äußerster
Intensität zu sehen, zu einem Zeitpunkt, an dem eine einzige Differenz
die gesamte Gesellschaft zu codieren scheint, nämlich die Unterscheidung
von Freund und Feind. Dieser Zeitpunkt ist kein Zufall:
„Der
Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus“, postulierte
Carl Schmitt 1932 in seiner berühmten Studie. Das Politische wird
von Schmitt differenztheoretisch als Unterscheidung von Freund und Feind
eingeführt.[33]
Der moderne Staat wird als jene Einrichtung definiert, die im Normalfall
den inneren Frieden garantiert und den Brecher dieses Rechtsfriedens nicht
als Feind behandelt, sondern als Verbrecher. „Innerhalb des Staates“ können
daher „Rechtsnormen überhaupt gelten“ (BP 46). Im Inneren des Staates
gibt es also keine Feinde, über den Gesetzesbrecher wird Recht gesprochen,
er wird nicht bekriegt.[34]
Längst nicht jeder Konflikt, so Schmitt, führt zur Differenzierung
von Freund und Feind, es kommt auf den „Intensitätsgrad“ (BP
38) an. Erst wenn innerhalb eines Staates ein Gegensatz „stark genug ist,
die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren“ (BP 37), dann
läuft die Politik auf den „Bürgerkrieg“ zu (BP 32) – wenn etwa
Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich nicht als Tarifparteien gegenüberstehen,
sondern als Klassenfeinde, oder wenn eine politische Partei der anderen
vorwirft, mit Staatsfeinden zu paktieren, wenn alles auf eine „innerstaatliche
Feinderklärung“ hinausläuft, die eine Partei mit einer anderen
im „Krieg“ auf Leben und Tod sieht und bereit ist, auch die Freunde der
Feinde, 1977 die sog. „Sympathisanten“,[35]
mit gleicher Intensität zu bekämpfen.[36]
Es ist diese Intensität, die Konkurrenten, Gegner, Kontrahenten
und Antagonisten, mit denen man innerhalb eines Rechtsstaates friedlich,
jedenfalls ohne Blutvergießen umgeht, in Feinde verwandelt, die zu
bekriegen sind. Es ist diese Intensität, die im aristotelischen Drama
die Protagonisten in die Entscheidung treibt, Freund oder Feind zu sein,
und so ihre wahren Charaktere enthüllt und die Peripetie des Dramas
einleitet, die für die eine oder die andere Partei unweigerlich zur
Katastrophe führt. Der Katechon, der Aufhalter im Denken Schmitts,
der in der Weltgeschichte wie als retardierendes Moment auf dem Theater
den Endkampf zwischen Gut und Böse immer wieder hinauszögert
und so die Katastrophe verschiebt, tritt hier endlich einmal beiseite,
so daß es zur Katastrophe und damit zur Entscheidung kommen kann.
Peripetie und Katastrophe, so Aristoteles, sorgen für einen „Umschlag
aus Unwissenheit in Erkenntnis, zur Freundschaft oder Feindschaft, je nachdem
die Handelnden zu Glück oder Unglück bestimmt sind.“ (§
11) Raspe erlebt diesen einen Moment der Erkenntnis, in dem sich die Lage
klar abzeichnet, weil sie alles, was überhaupt nur relevant ist in
einer Gesellschaft, trennscharf gruppiert in Freunde und Feinde.
Voraussetzung
dafür ist eine Feinderklärung, die den Normalzustand überschreitet
und keine politischen Gegner oder Konkurrenten mehr kennt, sondern Feinde.
Dieser Feind wird im Falle des Partisanen zum absoluten Feind. Im Unterschied
zum Soldaten einer regulären Truppe riskiert der Partisan nicht nur
sein Leben, sondern er läßt es „darauf ankommen [...], daß
ihn der Feind außerhalb von Recht, Gesetz und Ehre stellt“.[37]
Und so geschieht es: Die RAF-Terroristen sind „Feinde jeder menschlichen
Ordnung“, „sie sind Feinde jeder Zivilisation“, definiert Bundespräsident
Scheel am 25. 10. 1977, womit unausgesprochen gerechtfertigt wird, daß
Terroristen als Unmenschen jenseits von Gesetz und Ordnung bekämpft
werden dürfen, da sie selbst weder Gesetz noch Ordnung anerkennen.
Der Partisan wird nicht als gefangener Soldat, sondern als Terrorist behandelt,
als Feind der Menschheit, für den Menschrechte nicht gelten. Dies
verschärft den Kampf ungemein, da der Partisan umgekehrt in jedem
Vertreter der Ordnung, die er bekämpft, ein Ziel sieht nach dem Motto:
„Jede Uniform soll sich bedroht fühlen, und damit alles, was sie als
Devise vertritt.“[38]
Geiseln werden genommen. Es entfaltet sich, wie Schmitt schreibt, eine
„Logik von Terror und Gegenterror“[39],
der Feind wird zum absoluten Feind, der ungehegt von Recht, Sitte und Ehre
zur Strecke gebracht werden muß. Zivilisten werden erschossen, Bombenanschläge
werden verübt. Der Partisan „vollstreckt das Todesurteil gegen den
Verbrecher und riskiert seinerseits, als Verbrecher oder Schädling
behandelt zu werden“.[40]
Dieser Schmittianischen Dramatik der Zuspitzung, die ihre Struktur wiederum
der „größten Partisanendichtung aller Zeiten“, der Hermannsschlacht
Heinrichs von Kleist verdankt,[41]
folgt 1977 ein großer Teil der Massenmedien und mit ihnen der gierige
Konsument von Tageszeitungen, Radiosendungen und Fernsehnachrichten Raspe.
Wie die Römer für die Germanen sind auch für die RAF und
ihre Freunde die Feinde Tiere. Diejenigen, die den Staat und seine Devisen
oder Dividenden vertreten, gelten nicht als Menschen, sondern als „dicker
Haufen Fleisch“ (K 51), als „Nichtgesicht“ (K 40), als „Schweine“ (K 41).
Der Erzähler übrigens stellt – anders als Raspe – diese Behandlung
der Gegner als Unmenschen ihr Leben als Menschen gegenüber und zeichnet
die Biographien der ermordeten Polizisten nach. „Der Held hat offensichtlich
einen Helden totgeschlachtet, nicht eine Uniform, der Feind war offensichtlich
auch ein echter Mensch. Das steht im Widerspruch zu den bisherigen Befunden,
die in Uniformen Schweine vorgefunden haben oder Bullen.“ (K 259)
Die
„Begriffe Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, daß
sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung
Bezug haben und behalten“, definiert Carl Schmitt. Die Entscheidungsmacht
eines Staates, von den „Menschen im Ernst zu fordern, daß sie Menschen
töten und bereit sind, zu sterben“ (BP 49), ist nun zwar keinesfalls
etwas „Alltägliches“, wohl aber als Sonderfall eine „reale Möglichkeit“
(BP 33) und Ausweis staatlicher Souveränität. Die Disposition
darüber heißt „Ernstfall“ (BP 39), der darin besteht, „von
Angehörigen des eigenen Volkes Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft
zu verlangen, und auf Feindesseite stehende Menschen zu töten.“ (BP
46) Der „Staat ist ungeheuerlich [...] ein Mörder, ein Menschenvernichter“,
schreibt Raspe (K 15f); „Der Staat als die maßgebende politische
Einheit hat eine ungeheure Befugnis bei sich konzentriert: die Möglichkeit
Krieg zu führen und damit offen über das Leben von Menschen zu
verfügen“, schreibt Schmitt (BP 46). Die interessante
staatstheoretische Frage ist daher, wer „Souverän in
dem Sinne [ist], daß die Entscheidung über den maßgebenden
Fall, auch wenn er der Ausnahmefall ist“, bei ihm steht (BP 39). In seiner
Politischen
Theologie aus dem Jahre 1922 hat Schmitt sie beantwortet: „Souverän
ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Diese Souveränität
sei der „entscheidende Punkt des Politischen“ (BP 39). Dieser locus
decisionis ist bei Goetz der Kanzlerbungalow im Zentrum des totalen
„Sonnenstaates, in dem das Bundesverfassungsgericht das Bundeskriminalamt
anruft“ (K 85). Sichtbar wird er nur im Ausnahmefall.
Man
könnte einwenden, daß ein derartiges Freund/Feind-Denken den
militaristischen Männerphantasien reaktionärer Theoretiker der
Zwischenkriegszeit entsprungen sei, daß es nach 1933 eine fatale
wie konsequente Karriere durchlaufen habe und schließlich in der
Bundesrepublik nichts mehr zu suchen habe. Aber die Weigerung, das Politische
mit den als „reaktionär“ oder „bellizistisch“ verschrienen Schmittschen
Kategorien zu beobachten, macht die Wirklichkeit unserer Gesellschaft weder
„friedlicher“ noch „demokratischer“. Goetz‘ Roman zeigt die Wirkungsmächtigkeit
der Differenz von Freund und Feind für die Selbstbeschreibung der
Gesellschaft sowohl durch den Staat selbst als auch durch die außerparlamentarische
Opposition und die Massenmedien. Auch die RAF folgt vollkommen dem Schmittschen
Szenario, da sie als „Gegner im bewaffneten Kampf ein für alle
als solches erkennbares Schweinesystem benötigt“, und die Medien
bedürfen wiederum der RAF, die ihnen jene „Evidenzen“ liefert, ohne
die die „existenzialisierende Symbolik“ des Entweder-Oder, der Notstandsgesetze
und der außerordentlichen Maßnahmen „leer laufen“ müßte.[42]
Die RAF, so versteht Raspe das Stück, das er in den Medien sieht,
zwingt mit ihrer Kampfansage den Staat in den Ausnahmefall, ihr Motiv war
durch und durch „staatsfeindliche Feindschaft“ (K 41), und ihr „Haß“
(K 149) erreichte die für die „Tötungs- und Todesbereitschaft“
notwendige Intensität. „Die Wut macht alles möglich, das ist
das wunderbare an der Wut“ (K 169). Goetz beschreibt, wie der bewaffnete
Kampf der RAF im Jahre 1977 einen kritischen Punkt erreicht habe, an dem
der Staat in den Notstand gezwungen worden sei und sich so endlich zwei
Parteien zum Duell formierten. Ausgangspunkt des „bewaffneten Kampfes“
ist die Setzung eines Feindes gewesen, der mit dem Risiko des eigenen Lebens
zu töten war, ja mit dem noch größeren Risiko, als absoluter
Feind zu gelten, dessen Freunde und Familie gleichfalls zum Feind des Feindes
werden. Goetz schreibt, ganz Schmittianisch: „Auch der schönste Anfang,
fängt sich nicht aus dem nichts heraus von selbst an, sondern wird
gemacht, gesetzt gegen den Feind. Einen einmal als Feind erkannten
Feind so lange zu verfolgen, wie die Kraft reicht, ist richtiger, als sich
mit ihm abzufinden oder zu versöhnen.“ (K 247) Der Versuch des Bundeskanzlers
Helmut Schmidt, den Rechtsstaat „ohne wenn und aber zu verteidigen“ (K
138), setzt den Ausnahmefall in Kraft, der – genau wie von der RAF erwartet
– zwangsläufig mit den Regeln des Rechtsstaates bricht. Die effektivsten
Mittel zur Verteidigung des Rechts- und Verfassungsstaates widersprechen
paradoxerweise dem Grundgesetz, deren „Väter“ nach der Auskunft Norbert
Bolz’ den „Ausnahmefall“ nicht vorhergesehen haben, in dem „der Staat das
Recht, um es zu retten, außer Kraft“ setzt.[43]
„Der Staat“, so Goetz, „macht sich dazu ein in drei Tagen über seine
Staatstheaterbühne hin gehudeltes Gesetz, um dem Notstand, daß
der Staat dauernd Gesetze bricht, in diesem einmaligen Fall rechtsstaatlich
diktatorisch einwandfrei schnell abzuhelfen“ (K 98f). Das Gesetz des politischen
Handelns erreicht ein Tempo,[44]
das dem Rechtssystem bei weitem zu schnell ist: Im Ausnahmefall, so Goetz
in Kontrolliert, „wird alles, was legal oder nicht legal ist, umgehend
legalisiert. Vorgestern hat das Bundesverfassungsgericht die wochenlange
Illegalität der Kontaktsperre aufgehoben und so für verfassungsgemäß
erklärt.“ (K 254) Der Staatsapparat muß die „Stadt-Guerilla“
vernichten, die ja – ich zitiere die RAF – „darauf zielt, den staatlichen
Herrschaftsapparat an einzelnen Punkten zu destruieren, stellenweise außer
Kraft zu setzen, den Mythos der Allgegenwärtigkeit des Systems und
seiner Unverletzbarkeit zu zerstören“, um den Staat schließlich
ganz in einer internationalen und revolutionären Bewegung aufzulösen.[45]
Deshalb erklärt der Staat den Ausnahmezustand. Goetz‘ Figur Raspe
in Kontrolliert beschreibt ihn so:
„Der
Staatsnotstand braucht kein Gesetz einer Ermächtigung, keine Änderung
des Grundgesetzes, kein Gericht, keine Verfassung, kein Gewehr, er errichtet
sich, wenn er sich gegeben sieht. Der Staatsnotstand sieht sich gegeben,
wenn er den Staat gefährdet sieht. Der demokratische Staat organisiert
die Diktatur der Demokratie im Fall des Staatsnotstands demokratisch um
zur Staatsdiktatur. [...]
Der
Nachfolgestaat des faschistischen Staates agiert in der selbst definierten
Krise so totalitär, wie die antifaschistische Staatskritik den Kern
des Staates, der die Diktatur der bürgerlichen Demokratie organisiert,
immer bezeichnet hat. Die Macht totalisiert sich, indem sie sich auf sich
zuspitzt. Vom effektiven Machtzentrum des Führerbunkers Kanzleramt
aus werden die kontrollierenden Gewalten effektiv ausgeschaltet, indem
dort die entscheidende Rechtsgüterabwägung vorgenommen wird,
egal
was die Gerichte entscheiden, und indem dort alle politischen Parteien
zur großen demokratischen Einheitspartei des großen politischen
Beratungskreises zusammengeschmolzen werden. Herr Kohl, ich muß sie
mal unter vier Augen sprechen. Und am Tisch der Entscheidungsfindung sitzen
natürlich auch die Polizei und der Generalbundesanwalt Rebmann, führende
Gangster der Wirtschaft lassen sich von Brauchitsch vertreten, und natürlich
bejaht der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland den Staat, in dem
wir leben, in seiner Erklärung zum Terror.“ (K 249f)
Der
„Ausnahmefall“, so Carl Schmitt, enthülle – blitzartig – „den Kern
der Dinge“ (BP 35). Im „sog. Ausnahmezustand tritt dann das jeweilige
Zentrum des Staates offen zutage.“ Der „Justizstaat“ bediene sich dabei
des „Standrechts“, der „Gesetzgebungsstaat der Notstands- und Ausnahmezustandsverordnungen“[46],
während drittens der „Militär- und Polizeistaat den Übergang
der vollziehenden Gewalt als typisches Mittel seines Ausnahmezustandes“
entwickle.[47]
Bei Goetz fällt alles drei zusammen: Raspe zeichnet die Gleichschaltung
von Exekutive, Judikative und Legislative im „großen
Beratungskreis“, der Staat ist im Kern also weder primär
Justizstaat, noch Gesetzgebungsstaat oder Polizeistaat, sondern ein totaler
Staat. „Wehrhafte Demokratie“ wurde dies 1977 genannt, für Raspe aber
ist es eine „wirkliche Diktatur der Spitze der staatlichen Macht“, freilich
„auf Zeit“, sichtbar nur im Moment, wegen des „von innen her operierenden
militärischen Angriffs gegen den Staat“ (K 251). Nur im Augenblick
des zugespitzten Konflikts zwischen dem angreifenden Korsaren und der zurückschlagenden
Republik kann Raspe die wahre Gestalt des Staates sehen, die sich im Ausnahmezustand
unverhüllt zeigt. Sein Charakter, so könnte man mit Aristoteles
sagen, offenbart sich im Moment der Entscheidung; und dieser Zeitpunkt
ist zugleich der Moment der Peripetie und der Katastrophe. Im 5. Akt des
Dramas geht dann alles sehr schnell dem Ende entgegen: die Landshut wird
vom GSG 9 gestürmt, die Terroristen der PLO erschossen, die Gefangenen
in Stammheim sterben, Schleier wird ermordet. Im Modus der „Gleichzeitigkeit“,
so Kontrolliert, berichten die Medien darüber (K 122): „Im
Radio kam diese unsre Welt, und alle hörten zu.“ (K 214) Die mediale
Synchronizität von Ereignis und Rezeption in der Live-Sendung
ersetzen die Simultanpräsenz von Akteuren und Publikum im Theater.
Soviel
zum Schmittianischen Modell der Ausnahme. Daß diese Beschreibung
der Ereignisse keinesfalls notwendig, sondern eine kontingente Dramatisierung
ist, läßt sich von einer zweiten Selbstbeschreibungsposition
des Textes beobachten, die Benno Wagner als „weichen“ Normalismus bezeichnet
hat. Diese Position denkt nicht mit Schmitt den Normalfall vom Ausnahmefall
her, der sich aristotelisch inszenieren läßt am Gerüst
einer Handlung, die von der Schürzung des Knotens über die Peripetie
zur Katastrophe führt; vielmehr denkt sie die Ausnahme eher so, wie
die Statistiker und Techniker sie beschreiben – als erwartbare Abweichung,
auf die mit neuer Justierung reagiert wird, um wiederum nachzumessen und
gegebenenfalls nachzujustieren usw. „Neuvermessung, Eichung, Bestimmung
des Meßfehlers der Apparatur, Bilanz“, dann Wiederholung, „hochsensibel“,
irritationsbereit, so beschreibt der Referent Stein in Kontrolliert
seine tägliche Arbeitsroutine im BKA (K 242f, 223, 225). Diese Art
von Ausnahme entdramatisiert den Konflikt, die Behörde arbeitet an
der Deeskalation der Lage – und ihre Sicht auf die Dinge entzieht sich
den medialen Bedürfnissen der Inszenierung, weil sie keine Protagonisten
im Entscheidungskampf vorführt, sondern Statistiker, die Durchschnitte
und Standardabweichungen, Wahrscheinlichkeiten und Risiken berechnen.
Raspe
erzählt die Geschichte so zuende: Nachdem ein Großteil der RAF
erschossen oder in Stammheim interniert ist, endet der Ausnahmefall und
beginnt erneut die demokratische Konkurrenz von Regierung und Opposition
um Wählerstimmen. Die Intensität des Politischen wird reterritorialisiert.
Deshalb ist Bonn nicht Weimar, könnte man als Historiker sagen, denn
am Ende des Ausnahmezustands steht erneut der Normalfall von Recht und
Gesetz, Sicherheit und Ordnung (vgl. BP 46). Goetz dagegen behauptet: „Der
Staat erkennt die Revolution als Feindin an, die zu ihm gehört, und
vernichtet
sie so in sich hinein“ (K 277). Während man mit Carl Schmitt annehmen
müßte, daß am Ende des siegreich entschiedenen Krieges
„gegen einen wirklichen Feind“ (BP 51) wiederum die „normale Situation“
(BP 46) geschaffen wird und der Staat aller „Unordnung und Bürgerkriege
[...] ein Ende macht“,[48]
behauptet Goetz‘ Roman, daß zwar die Guerilla zerschlagen wird, dieser
ein Effekt auf den Staat aber nicht abgesprochen werden könne. Über
den Staatsapparat heißt es in Kontrolliert, daß er jeden
„Widerspruch als Impfung nützt, sich flexibel zu stabilisieren“ (K
165). Dies ist nicht die Art von Staat, den Raspe im Ausnahmefall gesehen
hat. Raspe hat den Normalfall von massenmedialen Inszenierung der Ausnahme
her verstanden und konnte daher sagen: „Nach siebenundsiebzig war nichts
mehr wie vorher“ (K 271). Die Schlacht war geschlagen und verloren. „Jan
Hofer“ wünscht in „der Tagesschau“ eine „gute Nacht“ (K 276), die
„Geschichte hatte sich erzählt“ (K 281). Anders als mit den Medien
kann Raspe es nicht sehen: mit Rückkopplungen, die zur flexiblen Stabilisierung
zu nutzen wären, kann er nichts anfangen:
„Was
[...] Ortung seiner selbst war, wird ihm [...] sofort zurückgeworfen
rückgekoppelt und erneut vervielfacht an die Wände hin und von
dort noch einmal um Potenzen potenziert zurück gejagt, bis derart
rasend schnell das eine Wort und diese Wände eines sind im Schmerz
von pfeifend hochfrequenten Lärm“ (K 219).
Hier
wird aus Rückkopplung nur Lärm. Seine Orientierung oder mit der
Vokabel Schmitts: seine „Ortung“ gewinnt Raspe erst zurück in der
blitzartigen Enthüllung des Ausnahmezustands, deren Schmittianische
Deutung er übernimmt. Kontrolliert bietet jedoch noch eine
andere Sicht auf den Staatsapparat. Für einen unauffälligen Protagonisten
zumindest, den Referenten Stein, ergibt sich aus den komplizierten feed-backs
zwischen der Situation und ihrer Beobachtung kein Rauschen, sondern die
„Normalität“ der Lage (K 221). Während die Dezisionisten der
„kleinen Lage“ im Kanzleramt auf Vorschläge für außerordentliche
Maßnahmen warten (K 224), teilt ihnen das „Bundesamt für Verfassungsschutz“
im Oktober mit, daß die „Ausweglosigkeit“ der „Situation“ eben das
„beste der im Augenblick gegebenen Lage“ sei (K 223). Über diese Lagebeschreibung
„empört“ sich die „kleine Lage“ und kanzelt die Dienste ab, während
Referent Stein über die „derart debile Reaktion“ des Kanzleramtes
staunt (K 224). Denn für Stein gibt es keinen Ausnahmefall, sondern
nur Abweichungen und Feinjustierungen. Er resümiert:
„Fortlaufend
ist in dieser Zeit Zeit abgelaufen, und es ist tatsächlich gelungen
zu
verhindern, daß etwas anderes als Zeit passiert, etwa ein
Ereignis. Dennoch hat sich dadurch, daß nichts geschehen ist,
nicht nichts geändert, sondern alle haben sich daran gewöhnt,
daß es ist, wie es ist. Nichts, heißt die Antwort gleichlautend
jeden Morgen aus ungezählten Telefonhörern auf die erste Frage,
was es neues gibt.“ (K 221)
Nichts
ereignet sich, und dafür, daß das so bleibt, möchte das
BKA Sorge tragen, indem es verhandelt, Zeit gewinnt, Entscheidungen verhindert,
für Gewöhnung sorgt. Während die Dezisionisten auf den „richtigen
Moment“ warten, die „richtige Entscheidung, napoleonisch, ein Blick, ein
Griff, Entscheidungsschlacht und Sieg“ (K 232) und von einer souveränen
Beherrschung der Lage träumen, die jeden „Zufall“ „vollkommen ausgeschaltet“
hätte (K 232), weiß Stein, daß der „Zufall seinen Ort
in der Wirklichkeit hatte, wo er ununterbrochen derart massenhaft anfiel,
daß die Kapazität kaum eines Rechners reichte, selbst wenn der
nahezu simultan mit den neu angefallenen Daten bespeichert wurde, die jeweils
augenblicklich neu gegebenen neue Lage korrekt zu erfassen.“ (K 226) Da
alles so ist, wie es ist, aber zufällig auch anders sein könnte,
will BKA-Chef Herold nichts ausschließen, sondern hält „nichts“
und „alles“ für „möglich, sogar die neue Lage“ (K 204). Die Dramatiker
des Staatstheaters verlangen dagegen nach einem Entweder-Oder. Kontrolliert
schildert eine gewaltige Tragödie – und beschreibt zugleich die Lagebeschreibung
des BKA, für das sich eine Situation ergibt, „in der tag für
tag die Lage so ruhig in sich pendelte, als wäre ihre unwahrscheinliche
Balance natürlichster Normalzustand“ (K 235). Es ist verständlich,
daß diese Art der Erfassung der „Lage“ dem „Politiker nicht begreiflich
[zu] machen“ ist, wie Hort Herold in Kontrolliert beklagt. Über
die Inszenierung der Lage im Fernsehn – „Das Fernsehn war, wie immer, groß
in Schwung, die letzte Woche sowieso und doppelt“ – „lacht“ die versammelte
Mannschaft des BKA „Tränen“ (K 202), so ‚steinzeitlich’ mutet sie
an.
Die
Situation wird, man kennt die Ereignisse, dennoch beendet. Die sogenannte
„kleine Lage“ im Kanzleramt reagiert „empört“ auf die Analysen des
BKA, „und schnell war man zu den handfesteren exotischen Lösungen
gekommen. Während im Amt die Breitseite, die man abbekommen hatte,
je nach Fraktion belächelt oder mit zynischen Bemerkungen richtung
Bonn und Politik quittiert wurde, saß [Stein] am Tisch, um die Niederlage
in die Rechnung einzugeben. Eine derartig debile Reaktion war nicht zu
erwarten gewesen, und welche Vernunft eben diese Debilität enthielt,
galt es folglich zu klären.“ (K 225) Die Vernunft, die diese Debilität
enthält, ist natürlich die dezisionistische Logik Carl Schmitts:
„handfestere Lösungen“ sind gefragt. Das GSG 9 Kommando stürmt
die „Landshut“ (K 276f), die Gefangenen von Stammheim begehen, so Goetz,
Selbstmord in der Erwartung, daß der Staat dann so „mörderisch
als Mörder“ dastehe, daß die „Revolution“ ausbreche. Doch dieses
„Kalkül“ mit dem eigenen Tod habe die RAF „völlig falsch eingeschätzt“
(K 256). Die „Machtfrage“ sei in keiner Weise gestellt worden (K 258),
und den Souverän: das „Volk, den König, den Kaiser“ habe nie
jemand „von Angesicht zu Angesicht“ zu sehen bekommen (K 259). Es gab
keinen Ausnahmefall. Als Effekt ergab sich laut Goetz „für den
Staat die Impfung mit dem Feind, Selbstschutz, Propagandamaterial und Waisenrente
im Ernstfall“ (K 262). Der Staat lernt. Er läßt sich, so Deleuze
und Guattari, „vielleicht einmal, aber nie zweimal überraschen“.[49]
Während die Medien die Männer der GSG 9 als ‚Helden von Mogadischu’
und die Gesten bundesrepublikanischer Souveränität feiern, setzt
sich auf der operativen Ebene der Normalismus durch. Bundesjustizminister
Vogel will künftig „Umstände und Entwicklungen“ vermeiden, die
der Bereitschaft zum Terror vorausgehen (Bundestagsdebatte am 28. 10 1977),
Gerneralbundesanwalt Rebmann (9 / 1979, Rede vor dem Deutschen Richtertag)
setzt auf „präventive“ Maßnahmen, etwa auf ein neues „Recht
des Meldewesens“ oder auf „Bestrebungen, fälschungssichere Kraftfahrzeugkennzeichen
und fälschungssichere Ausweisdokumente einzuführen“. Dregger
fordert eine „Umkehr in der Bildungspolitik“ (Bundestagsdebatte am 28.
10 1977). Überwachung, Infiltration, Prävention. Schritte in
Richtung Kontrollgesellschaft. Der Staat, der sich selbst impft, lernt.
Dies klingt ganz anders als die Verlautbarungen der RAF, die sich vornimmt,
„die Konflikte auf die Spitze zu treiben, um die Klassenkämpfe zu
entfalten“ (K 247). Die RAF stilisiert sich in ihrem Kommuniqué
aus dem Mai 1982, in dem sie zu den Vorgängen von 77 Stellung nimmt,
erneut zum Akteur der existentialen „Auseinandersetzung Guerilla - Staat“
und sieht in der BRD nach wie vor den grob getarnten, totalitären
„Maßnahmestaat“. Die RAF erweist sich so als „Trivialmaschine“, in
der dieselbe Eingabe immer dieselbe Ausgabe erzielt, der Staat dagegen
als lernfähige „historische Maschine“ (K 268), die weiß, wie
„flexibel“ das Verhältnis von Lage und Lagebeschreibung ist, weil
jede „Beschreibung natürlich die Lage der Lage sofort verändert“
(K 236). Der Staat, der auf die Herausforderung nicht statisch reagiert,
sondern flexibel, der die Reibungen nicht bekämpft, sondern resorbiert,
der die Revolution nicht nihiliert, sondern in sich aufnimmt und nutzt,
stützt die Vermutung, daß dem ganzen Schmittschen Eskalationszenario
von Freund und Feind, von Krieg und Ausnahmefall, von Terror und Gegenterror
in Kontrolliert eine zweite Geschichte des Jahres 1977 an die Seite
gestellt werden müßte, die davon auszugehen hätte, daß
gar kein Ausnahmezustand vorlag, sondern – gleichsam in Deckung hinter
der dramatischen Oberfläche der Ereignisse – nur ein weiterer Schritt
in die Kontrollgesellschaft gemacht worden ist. Hinter der Kulisse „der
Regierungspressekonferenz“, auf der „Propagandaminister Böllings“
mit den gleichgeschalteten Medienvertretern der „Presserats“ Informationen
zurückhält und desinformiert, wird nur auf den erste Blick eine
Handvoll „Altfaschisten“ (K 252f) als Akteure entlarvt. Und auch die Annahme,
man könne „den Staat [...] als dicken toten Haufen Fleisch im engen
Hemd im Kofferraum im Auto tot erschossen ablegen“, erweist sich als naiv
(K 51). Der zweite Blick zeigt: diese Geschichte läßt sich nicht
auf Akteure und Skripte reduzieren, sie ist zu komplex dafür. „Alles
ist endlich nicht eines, sondern viel hoch vieles.“ (K 252) Die Geschichte
des Jahres 1977 ist deshalb kein Theaterstück.
Bei
der Kontrollgesellschaft, die Goetz beschreibt, handelt es sich womöglich
um einen Staatsapparat, der nicht in den souveränen Formen von Dezision
und Entscheidung zu beschreiben wäre, sondern mit postsouveränen
Modellen der Selbstorganisation. Ihr Muster lieferten, wie Deleuze in den
Unterhandlungen
ausführt, „Kybernetik und Computer“.[50]
In Kontrolliert heißt es: „Elektronenhirne tasten laufend
prüfend alle Kabel und Verbindungen auf alten Lötplatinen ab,
und in neueren sehr kleinen mikroskopisch produzierten Chips befinden sich
Programme, die sich selber überwachen, natürlich kontrolliert
von Überwacherwächtern und so weiter“ (K 210). Die Kontrollgesellschaft
ist nicht zu beschreiben anhand der Unterscheidung eines Subjekts, das
kontrolliert, und eines Objekts, das kontrolliert wird, wie Raspe anfangs
noch annimmt (K 19). Die Kontrollgesellschaft operiert vielmehr selbstorganisiert,
sie ist eine lernfähige, sich selbst immer wieder neu justierende
„historische Maschine“ (K 268), an deren Zustände man sich, wie Referent
Stein mit Foucault ausführt, gewöhnt. Die Macht hat kein Gesicht,
es gibt keinen Souverän, der als Feind zu bekämpfen wäre,
der „Staat ist kein einziger wirklicher Mensch“, er besteht aus „Untersuchungsausschußprotokollen,
Aktenkilometern, Bandabschriften“ und „Staatsdruckereidrucksachen“ (K 255f)
– die Macht in der „funktional geordneten Gesellschaft“, so Goetz, kennt
keine „Herrscherrichtung“ von oben“ nach „unten“ (K 204), sondern ist eine
ohne jedes Telos und ohne jede Transzendenz operierende Maschine, deren
Effekt in der Normalisierung besteht, einer „Maschine“, welche die „Kraft
der Normalität [hat] das Unwahrscheinlichste [laufend] zu Normalem
zu normalisieren“ (K 221f) und der die prekäre „Balance“
als „natürlichster Normalzustand“ erscheint (K 235). Die
Gestalt der Macht hat sich verändert. Sie hat nicht mehr die klassische
Kontur des Souveräns, der zumindest noch im Ausnahmezustand seine
Gestalt offenbart und der Akteure kennt, deren Taten bühnenfähig
sind: „das Volk, den König, den Kaiser“ (K 259).
Die postsouveräne Macht denkt Goetz als ein unauffälliges, flexibles,
anpassungsfähiges „Schwerefeld“ der Normalität (K 235). In Goetz‘
Theaterstück Heiliger Krieg heißt es:
„Früher
ist man wenigstens noch erschossen worden, oder öffentlich guillotiniert.
Heute hört man gar nichts mehr, das ist das komische, diese Stille,
eigentlich angenehm, aber so spurlos, das ist das unangenehme. Man fängt
sogar schon an zu flüstern, im grunde ohne Grund.“[51]
Dieser
unauffälligen Form der Macht könnte die Zukunft gehören.
Die dramaturgischen Regeln des politischen Theaters hat sie hinter sich
gelassen. Das „Theater der Politik“ spielt Politik so, wie sie früher
aufgetreten sein mag,[52]
als eine Politik handelnder Akteure – mit der postsouveränen Form
des Politischen hat es nichts zu tun. Die Macht ist zu lautlos, zu unauffällig,
zu anonym, um inszeniert zu werden. Mit der althergebrachten „Affinität“
von „Politik und Theater“ wäre es dann vorbei.[53]
Und keine Menschen!
HERMANN:Menschen! Ja, mein Thuschen,
Was ist der Deutsche in der Römer Augen?
THUSNELDA: Nun, doch kein Tier, hoff ich -?
HERMANN:Was? - Eine Bestie,
Die auf vier Füßen in den Wäldern läuft!
Ein Tier, das, wo der Jäger es erschaut,
Just einen Pfeilschuß wert, mehr nicht,
Und ausgeweidet und gepelzt dann wird!
(Heinrich von Kleist, Die Hermannsschlacht, 3. Akt, 3. Auftritt)