Vom „grauenden Wohlbehagen“

Selbstbeobachtungen der Literatur bei Ludwig Tieck

von Niels Werber, Vortrag Berlin, 9-11. April 2003

Es ist nämlich der Eindruck, welchen die Zuschauer an sich verspüren, ob sie sich wohl, ob sie sich übel befinden, wie stark sie erschrecken, weinen, oder lachen, gespannt sind und sich verwundern; alles dies, was in der Seele des Zuschauers und Hörers so durcheinander vorgeht, nennen wir Gelehrten die Effekte.

(Ludwig Tieck: Der junge Tischlermeister, Werke, Bd. 4, S. 384)

 

Ein „mea culpa“ gehöre „zum guten Ton einer jeden neueren Tieckstudie“, leitet Roger Paulin seinen Überblick über die Tieckforschung ein.[1] Ich möchte diesen guten Ton mit dem Hinweis variieren, daß ich nicht für mich in Anspruch nehmen kann, zur Gemeinde der Tieck-Forscher zu zählen. Einige Romane und Novellen Tiecks hatte ich bislang nur einmal, vor 11 Jahren, bei dem Versuch berücksichtigt, die Literatur als System in ihrer sozialen Umwelt zu rekonstruieren und die Geschichte ihrer Ausdifferenzierung für einige Jahrzehnte der „Epochenschwelle“ zu skizzieren. Es ging in diesem Beitrag zur systemtheoretischen Literaturwissenschaft darum, auf der Ebene literarischer Kommunikation und ihrer Reflexion nachzuweisen, daß im Zuge der Ausdifferenzierung eines literarischen Funktionssystems bestimmte Formen der Codierung etabliert werden. Dazu war zu zeigen, daß das semantische Repertoire der Umwelt der Literatur, sei es religiös, moralisch, philosophisch oder didaktisch codiert, im literarischen Text einer Umcodierung unterzogen wurde, so daß das Verwerfliche, Böse, Falsche, Häßliche oder Schädliche der Literatur durchaus als interessant und das Gute, Wahre oder Erbauliche als banal erscheinen konnte. Der Vorschlag für die Formel für diese selektive und, wie Luhmann sagen würde, „nicht-identische Reproduktion“ der Umwelt im System lautete „interessant versus langweilig“. Im Gegensatz zu den Gepflogenheiten alteuropäischer Kommunikation, deren Stratifikation auf einem religiös abgesicherten Gleichklang des Guten, Schönen und Wahren basierte, gehörte es zu den Lizenzen moderner, funktionsspezifizierter Kommunikation, daß Selektionsofferten oder Kompaktkommunikationen nun allein in Bezug auf Code und Programm bestimmter Systeme auf ihre Anschlußfähigkeit hin überprüft wurden – und nicht mehr auf Übereinstimmung mit der gesamten ordo rerum. Man begann strikt zu differenzieren, ob ein Text einen Beitrag zur Literatur, zur Philosophie, zur Moral oder zur Religion leistete. Ihre Leser auch noch zu erbauen oder zu belehren, war der Literatur zwar weiterhin durchaus möglich, aber es war nicht mehr notwendig, im Gegenteil, die Literatur der Epochenschwelle schien sich ihrer Ausdifferenzierung gerade dadurch zu versichern, daß sie mögliche Leistungen in Bezug auf Systeme in ihrer Umwelt wie Wissenschaft, Erziehung, Religion oder Recht bewußt sabotierte, indem literarische Texte Positionen oder Ereignisse als interessant erscheinen ließen, die aus der Sicht von Gelehrten, Erziehern, Priestern oder Juristen nur als falsch, gefährlich, obszön, verwerflich oder böse gewertet werden konnten. Zumal romantische Textstrategien scheinen diese Differenzierung besonders prägnant vorzuführen, man denke etwa an die Aufwertung von Astrologie oder Alchemie bei August Wilhelm Schlegel. Selbstverständlich setzte diese Literatur dezidiert die Existenz alternativer Beobachtungspositionen in ihrer Umwelt voraus, denn nur so konnte sie den Bruch externer Erwartungen inszenieren. Eine Stellenkunde von Autoren aus fünf oder sechs Jahrzehnten sollte erweisen, was nur moderner Literatur möglich war – nämlich das eigene Funktionsprimat über externe Ansprüche und Interessen zu stellen.

Vittoria Accorombona I

In diesem Zusammenhang hatte ich versucht, Ludwig Tiecks späten Roman „Vittoria Accorombona“ aus dem Jahre 1840[2] als Beleg für eine erfolgreiche Ausdifferenzierung der literarischen Kommunikation zu lesen. Tieck beschreibt dort einen Mord, der voller erotischer Konnotationen steckt, und damit eine gewisse Unabhängigkeit von moralischen oder sittlichen Ansprüchen demonstriert. Nachdem ihre Familie schon getötet worden ist, wird am Ende des Romans Vittoria vom Anführer eines nächtlichen Kommandos folgendermaßen bedroht:

»Du stirbst!« sagte die große, finstre Gestalt mit dumpfem Ton zur geängstigten Vittoria. - »Ich ergebe mich«, klagte sie, denn sie sah und hoffte keine Rettung, da ringsum die blanken Degen und Dolche ihr drohten, und einige, niederknieend, noch ihren Stahl in den zerhauenen Leichnam des Bruders, wie aus Übermut bohrten. »Also heut, diese Nacht, jetzt, erfüllt sich mein Schicksal«, sagte sie zu sich selbst. –

Ihr Schicksal zögert ihren Tod allerdings erst noch eine Weile hinaus, um gewissermaßen ihr Sterben besser genießen zu können, denn Vittorias Mörder begnügt sich nicht mit der Umsetzung seiner Feststellung „Du stirbst!“ in die Tat, sondern eröffnet einen seltsamen Dialog:

»Wirf das Kleid, diese Gewänder und Tücher von der Brust zurück, wenn du eines leichten Todes sterben willst« - sagte die dunkle Gestalt. Folgsam wie ein gehorsames Kind, warf sie das Nachtleibchen ab, denn sie hatte sich schon zum Schlafen aus- und angekleidet. - »Auch das Busentuch!« - rief jener; - sie tat es - er zog hierauf selbst das letzte Leinengewand von der Brust zurück und die herrliche Gestalt stand in ihrer glänzenden Schönheit, nackt bis zu den Hüften hinab, wie das herrlichste Marmorbildnis da, die festen, getrennten Brüste im Dämmer des wenigen Kerzenlichtes schimmernd. So sank sie auf den Betschemel knieend nieder. Man hätte denken sollen, der roheste Barbar, der Kannibal müßte sich bei diesem Anblick erweichen lassen. Da stieß er den scharfen Dolch zielend neben der Brust in den Leib. Sie sank zu Boden.

Aber nicht genug mit diesem Striptease zum Tode. Die erotische Komponente der Szene wird von Vittoria noch sterbend eigens betont, wenn sie nun ihren Mörder, der ihre „festen getrennten Brüste“ für den tödlichen Stoß freigelegt hat, bittet:

 - »Oh, wenn ich tot bin«, so klagte sie, »habt die Barmherzigkeit und kleidet mich wieder an.« - »Vielleicht«, sagte jener und stieß das Eisen wieder in die Wunde, indem er es wie prüfend, zwei-, dreimal drin bewegte. - »Wie ist dir?« fragte er. - »Kühl ist die Schneide«, sprach sie lallend, »- o laß jetzt - ich fühle, das Herz ist getroffen.« - »Noch nicht«, sprach der Schreckliche mit entsetzlicher Kälte - »noch einmal«: und wieder an einer andern Stelle stach er in den edlen, marmorweißen Körper. Da sank sie ganz zu Boden, das Haar löste sich und schwamm in dem Blutstrom, der sich auf dem steinernen Fußboden hingoß. (S. 356f)

Das mehrfache Stechen des Dolches in den weißen Körper einer halbentkleideten Frau ist frivol; die Frage, des Täters, wie es dem Opfer denn gefalle, die Bewegungen seines Messers in ihr zu spüren, ist es wohl noch mehr. Die Antwort des Mörders, des „abscheulichen“ Grafen Pignatello, der „sich zu dieser Exekution gedrängt“ hatte, lautet nun, er würde sie nur „vielleicht“ auch wieder anziehen; dieses „vielleicht“ macht den voyeuristisch-sadistischen Eindruck der Szene komplett. Mord und Lust, Grausamkeit und Schönheit sind in diesem Text kompatibel gemacht und interessant geworden. „Wie aus Übermut“ wird gemordet (S. 356), wie zum Vergnügen. Und nach vollbrachter Tat wird ein Publikum die „Greuelszene“ besichtigen, „die hohe Schönheit des entseelten Körpers mit Bewunderung betrachten“ und die Szenerie goutieren (S. 357). Erst einige hinzukommende „Damen erbarmten sich der Leiche und bekleideten sie“ (S. 357). Gewiß, ihr Mörder wird wenig später öffentlich gefoltert und hingerichtet (S. 367), und diese Bestrafung mag auf den ersten Blick einer moralischen Betrachtung der Episode genüge tun, aber diese moralische Rahmung nimmt der Szene keineswegs ihre provozierende Brisanz.

„Der Tugend ist genüge getan, jetzt kommen Liebhaberei und Kunstsinn an die Reihe“, könnte man mit Thomas de Quincey kommentieren, der 1827 in seinem Essay „On Murder as one of the Fine Arts“ darauf hingewiesen hat, daß eine „Tat, die, unter moralischem Gesichtswinkel betrachtet, empörend und durch nichts zu rechtfertigen ist, für die Anforderungen des guten Geschmacks dennoch äußerst verdienstvoll sein kann.“[3] Aus einem Mord mit all seinen moralischen, rechtlichen, religiösen und philosophischen Implikationen wird in de Quincey’s Perspektive ein „interessantes Schauspiel“ (S. 48f). Gerhard Plumpe hat in seiner systemtheoretischen Epochengeschichte diese Perspektivität als Gipfelpunkt der „Logik der Ausdifferenzierung“ literarischer Kommunikation bezeichnet und als Muster für die Autonomie moderner Literatur genommen.[4] Plumpe folgert: „wenn Kunst und Moral, künstlerische und moralische Kommunikation für einander Umwelt sind, dann steht nichts im Wege, das moralisch Verwerfliche, das Gräßliche zum Sujet einer moralisch desinteressierten literarischen Behandlung zu machen.“ (S. 151) Dem steht nichts im Wege, da stimme ich zu. Tieck, der die Fähigkeit zum Code-Switching in seinen Texten allenthalben reflektiert, scheint dies auch hier zu bestätigen, wenn er den Mord mit der Temporalstruktur eines Striptease ausstattet und für entsprechende Beleuchtung, starke Kontraste und ansprechendes Setting sorgt. Erst fällt das „Nachtleibchen“, dann das „Busentuch“, und schließlich greift der „finstere“ Schurke nach dem Leben der blendendweißen Demi-nude (S. 356). Gewiß, autonome Literatur kann auch das moralisch Verwerfliche interessant erscheinen lassen. Die Frage wäre nur, warum bestimmte literarische Texte dies tun sollten.

Das „epochale Ereignis der Differenzierung“ literarischer Kommunikation und ihre Reflexion als Autonomie ist, so Plumpe, um 1800 abgeschlossen (S. 73). Die lange „Epochenschwelle“ zur Moderne ist 1840 sicherlich längst genommen. Warum sollte ein Text aus dem Jahre 1840 sich seiner Zugehörigkeit zur Literatur und seiner Differenz zu seiner moralischen, religiösen oder rechtlichen Umwelt nochmals versichern müssen? Wozu nochmals in Szene setzen, was bereits zum Betriebssystem der Literatur gehört: ihre Ausdifferenzierung, die Autonomie ihrer Operationen? Sollte der einzige Grund für Tiecks skandalöse Inszenierung der sein, nochmals gesellschaftsweite Systemdifferenzierung literaturintern vorzuführen? Diese Erklärung schiene mir heute allzu pauschal anzusetzen. Zwar kann Tiecks „Greuelszene“ zweifellos als Beleg für die „vollständige Differenzierung von Kunst und Moral“ aufgefaßt werden,[5] und eine systemtheoretisch orientierte Literaturwissenschaft hat dazu beigetragen, den Blick für diese Differenzierung und ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen zu schärfen, doch erreicht man mit derlei selbst polykontextural ansetzenden „Beobachtungen“[6] wohl nur das Globalprogramm der Literatur als System, jedoch nicht die Literatur in der Form einzelner Texte und ihrer spezifischen Programmierung. Oliver Jahraus und Benjamin Marius Schmidt haben in ihrem Forschungsbericht zur systemtheoretischen Literaturwissenschaft, der 1998 im „Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur“ erschienen ist (IASL, 23. Bd. 1998, 1. Heft), an unseren Arbeiten moniert, ihre Tiefenschärfe und Auflösung seien zu schwach. Es sei fraglich, wie weit die Rekonstruktion der Literatur als System „tatsächlich in die Textstrukturen hinein verfolgt werden kann, wenn man bedenkt, daß neben Funktion und Code immer auch die entsprechenden Programme spezifiziert werden müßten, was hier zu kurz kommt.“ (S. 83) Es ist glücklicherweise gar nicht nötig, alte Positionen zu räumen, um den Autoren hier zuzustimmen. Es wäre aber zu prüfen, ob es nicht gelingen könnte, die „Textstrukturen“ einzelner Werke und ihre „entsprechenden Programme“ in den Blick zu bekommen. Ich möchte dies nun mit einer weiteren Lektüre des Romans versuchen.

Vittoria Accorombona II

Kommen wir noch einmal zurück zu „Vittoria Accorombona“. Ernst Ribbat hat in seiner „Ludwig Tieck“-Studie von 1978[7] das „Strukturprinzip des Umschlags“ als „kompositorisches Verfahren“ des Romans benannt (S. 231) und dafür insbesondere „zeitlich dicht aufeinander folgende [...] extreme Gegensätze“ als Belege angeführt. So sei etwa im 5. Buch die „Darstellung schlimmsten Terrors [...] in ein kurzes Liebesidyll eingelagert“ (S. 231). Vor diesem Hintergrund deutet Ribbat auch die oben zitierte, auch aus seiner Sicht „provokative“ Szene: Vittorias wahre Schönheit nämlich habe sich erst im „Schatten des Todes offenbart“ (S. 234). Allerdings wird das voyeuristisch-sadistische Potential der Szene verkannt, wenn in der Vittoria nichts als „die Manifestation wahrer Humanität im Schönen der Kunst“ gesehen wird (S. 234). Sicher ist aber richtig, daß Tieck „extreme Gegensätze“ in einem Tableau vereint hat, wie ich meine, in einem Tableau aus Sexualität und Gewalt, Sittlichkeit und Sadismus, doch bleibt die Frage noch offen, wozu er dies tut. Wir fragen nach der Funktion dieses Verfahrens, nicht nach der Funktion der Literatur als System, denn sicherlich wäre „Unterhaltung freier Zeit“ eine Antwort,[8] aber eben eine sehr allgemeine. Es dürfte aber auch nicht viel weiter helfen, in einer sogenannten „Diätetik der Seele“ die Funktion des Verfahrens zu sehen und die späten Texte Tiecks in den „therapeutischen Dienst“ einer „Darstellung untergründiger Konflikte und deren Heilung“ zu stellen (S. 229). Selbstverständlich wird diese Frage auch nicht beantwortet, wenn man die Textstelle allein als Symptom ausdifferenzierter literarischer Kommunikation deutet.

Die Sterbeszene wird im 1. Kapitel des Romans von einer Episode vorweggenommen, deren Kommentierung uns bei ihrer Deutung helfen könnte. Camillo, nachdem er Vittoria vor dem Ertrinken gerettet und sich dafür ungehindert einige Freiheiten nehmen durfte, „träumte die Begebenheit immer wieder von neuem.“ (S. 18) Welche Begebenheit? Er hatte die aus einem reißenden Strudel des Flusses gerettete Vittoria geküßt (S. 15), und sie, so meint er, habe ihn „wiedergeküßt“, Camillo begeistert sich über den „Augenblick – wo sich das Gewand weghob im Emporringen und Bein und Knie sich entblößten“. (S. 18) Das „nasse Gewand“, präzisiert der Erzähler, habe sich ohnehin fest an „Leib und Hüfte“ angeschmiegt und nichts Camillos überaus interessierten Blicken verbergen können (S. 15).

„Wie matt ist Licht und Schimmer und Farbe und glänzendes Weiß gegen den Glanz und die Herrlichkeit, die uns der Körper eines schönen Weibes offenbart! Und diesen Himmel, einmal geschaut, will das Auge immer wieder sehn. – Wozu noch leben? Die Momente kehren niemals, niemals wieder“ (S. 18).

Camillo kann nun sagen: „Ich habe gelebt“, und das heißt, er könnte in diesem Augenblick ohne Reue sterben. Camillo findet nun im „Tod“ nicht nur „Grauen“, sondern auch „Wollust“ (S. 19). Eine interessante Kombination. Insgesamt nimmt Tieck hier offenbar das ästhetische Arrangement der Sterbeszene Vittorias vorweg, sogar das „Busentuch“ wird erwähnt, das sie diesmal im Wasser eingebüßt hat und „dessen Verlust sie [...] mit einer kleinen Beschämung gewahr wurde“ (S. 16). Und nicht nur sie ist derart aufmerksam. „Der Busen! O was kann Marmor“ (S. 18), ruft Camillo begeistert aus.

Camillos Einschätzung dieser Szene könnte auf Lenz’ Deutung des „Werther“ anspielen, die Tieck als Herausgeber der Schriften von Jakob Michael Reinhold Lenz kennt. In Lenz’ Novelle „Zerbin oder die neuere Philosophie“ wird die Ansicht vertreten, Werthers Freitod sei eine „schöne Tat“ gewesen, die „das höchste Glück des Liebhabers beförderte“[9], weil dieser Tod dank Werthers „Einbildungskraft“ die Vollkommenheit eines Moments der Liebe mit Lotte,[10] der im Diesseits nie wiederholbar wäre, im Jenseits konserviert habe. Werther stirbt freudig, nachdem er die „Himmelswonnen“ schon in Lottes irdischen Armen gekostet hat. Dieser Moment, an dem ihnen die Welt verging, würde „niemals, niemals wiederkehren“. Der Tod nach einem solchen „Augenblick“, bedeutete „Wollust, Himmel, Seligkeit“, behauptet Camillo mit Worten, die aus Werthers allerletzten Briefen stammen. „Es hätte der letzte Augenblick meines Lebens sein sollen.“ Werther wird zitiert, doch folgt Camillo ihm nicht nach.

Vittorias Gemahl Bracciano wird vor der Hochzeitsnacht auf dem Weg zu seiner Braut sagen: „wer bin ich, daß die Unsterblichen mir diese Wonne haben auferblühen lassen? Mit heiligem Schauer nur, mit erhabener Furcht, mit wollüstigem Zagen kann ich euch danken. Das ist meines Lebens wichtigster Moment. Und hätte ich nur für diesen einen Augenblick gelebt, so wäre mein Leben ein reiches gewesen.“ (S. 319) Wenig später wird er aus politischen Gründen vergiftet. Uns aber interessiert die Verbindung von Intimkommunikation und Tod: „Ja, morden könnte ich dich, du Gottlose, liebste Liebe, in diesen höchsten Momenten der Liebe“, gestand der begeisterte Bracciano seiner Gattin, die ihm antwortete: „Und warum nicht gern sterben? [...] und mit Freudentränen im Auge?“ Die „Wonne“ ihrer Liebe werde im Jenseits „vielleicht noch größer sein“. (S. 335) Der Tod, ja der Mord erhält einen Platz in einer Liebessemantik, die dem Moment verpflichtet ist und im Falle Werthers daran zweifelt, den erfüllten Augenblick etwa in einer Ehe je auf Dauer stellen zu können.

Doch weder Braccianos Tod, noch Vittorias „Exekution“ (S. 357) vermögen mit irgendeinem Indiz die transzendenten Hoffnungen dieser Semantik zu stützen. Von Werthers „Glück momenthaft erfüllter Liebe“[11] bleibt Schlag Zwölf nur noch verspritztes Blut und Gehirn, der Selbstmörder stirbt langsam, fürchterlich röchelnd, in schrecklichen Konvulsionen. Die harder! Es gibt aber keinen Hinweis darauf, daß nun Lotte „auf ewig“ sein sei.[12] Ebensowenig vermag Vittorias langsames Sterben ihre These zu bestätigen, sie würde gern und mit Freudentränen sterben, um sich mit Bracciano in einem „unbekannten Land“ mit gesteigerter „Wonne“ wieder zu vereinen (S. 335). Von der Transzendenz der Werther’schen Liebessemantik bleibt nichts übrig, sie erweist sich als beliebig zitierbare Rhetorik, dagegen kann Tieck von Werthers Ende lernen, wie man mit Detailfreude und Temporalisierung das Sterben inszenieren kann: „Als der Medikus zu dem Unglücklichen kam, fand er ihn an der Erde ohne Rettung, der Puls schlug, die Glieder waren alle gelähmt. Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. Man ließ ihm zum Überfluß eine Ader am Arme, das Blut lief, er holte noch immer Atem.“ (HA Bd. 6, S. 124) Die zwölf Stunden bis zum Tod bleiben nicht ohne Wirkung: „Das Haus, die Nachbarschaft, die Stadt kam in Aufruhr.“ (S. 124) Während Werthers Tod „Bestürzung“ und „Jammer“ auslöst (S. 124), bereitet Vittorias Tod dem voyeuristischen Täter jenes ganz irdische Vergnügen, das bereits Camillo genießen durfte. Camillo hatte sich ja trotz aller Wertheriaden nicht getötet, lieber erinnerte er sich „immer wieder“ an das, was er gesehen hatte, die halbnackte, wunderschöne Vittoria.

Vittorias Sterbeszene wiederholt alle erotischen Pointen der Wet-t-shirt-Szene en détail, und Pignatello übernimmt gewissermaßen die Perspektive Camillos auf ihre körperlichen Reize: Erst wird ihr Körper vom männlichen Blick in erogene Zonen parzelliert, dann von geübter Hand mit dem Messer filetiert. Was ihr Tod für Vittoria selbst bedeuten mag, religiös, philosophisch, wie auch immer, ist hier nicht von Interesse, wichtig ist allein die Perspektive auf ihr Sterben. Und diese Perspektive wird von zahlreichen Beobachtern eingenommen, die „Furcht und Schrecken“ oder auch „Entsetzen“ empfinden, zugleich aber „die hohe Schönheit des entseelten Körpers mit Bewunderung betrachten.“ (S. 357) Wenn diese Beobachtungen Vittorias innerhalb der Romanwelt Vorgaben für die Rezeption des Textes durch sein Publikum gäben, dann müßte man wohl von einer ausgesprochenen Wirkungs- oder Sensationspoetik sprechen. „Schauder und Entsetzen“, aber auch „Freude“, „Taumel“, „Lust“ (S. 289) bereiten Tiecks Tableaus seinen Betrachtern innerhalb des Romans, all den Camillos und Pignatellos, all den überall und immer hinzulaufenden oder zuschauenden Bürgern und Damen. „Furcht und Schrecken“, „Bewunderung“ und „Schauder“ empfinden diese textinternen Beobachter der erotisch aufgeladenen Massaker.

Wirkung(spoetik) oder Autonomie(ästhetik)

„Schrecken und Bewunderung“[13], „Schauder“[14], „Entsetzen“[15], “Lust“[16] und sogar „Wollust“[17] sind allesamt zentrale Begriffe der Dramentheorie Lessings, die sich gerade nicht auf die Affekte der Protagonisten beschränken lassen, sondern Wirkungen meinen, die im Publikum ausgelöst werden.[18] Das Theater dient, so Lessing, der „Erregung“ von „Gemütsbewegungen“.[19] Dies gilt auch für Tiecks Roman, der die gesamte Liste der Lessing’schen Gemütsbewegungen übernommen hat, sein textinternes Publikum der Bürger und Voyeure damit ausstattet und so, das wäre meine Vermutung, auch innerhalb dieses Romans vorführt, wie seine Leser den Text lesen könnten. Das Verfahren erinnert an seine Theaterstücke „Der gestiefelte Kater“ (1797) und „Die verkehrte Welt“ (1800), die dem Publikum des Stücks ein Publikum im Stück vorsetzen und im Theater vorspielen, wie Theater zu spielen und zu rezipieren sei.[20] Aber einen weiteren, expliziten Beleg für diese Wirkungspoetik Tiecks gibt Vittoria selbst in einer poetischen Diskussion:

»Nein, Mutter«, rief Vittoria: »scheltet mir nicht auf meine lieben Gespenster und das poetische Grauen, das bei Anhören dieser Geschichten unsern Geist gefangennimmt. Das ist wie kühler Morgenwind, der durch den Eichenwald braust und alle Blätter in zitternde Bewegung setzt. So erfrischend und wundersam sind auch die Legenden von wiederkehrenden Gestorbenen, von den dunkeln Dämonen, die an einsamen Seen ihr Wesen treiben, jener seltsamen Kobolden, die uns in gefährliche Sümpfe, oder im Gebirge an Abstürze locken sollen« (S. 44f).

Vittoria bekennt sich zu Märchen voller Zauber und Geschichten von Gespenstern, sie liebt ein Genre, das Tieck seit seinen frühesten Texten immer wieder bedient hat und deren Wirkungsästhetik womöglich in seiner Auseinandersetzung mit dem Wunderbaren bei Shakespeare am deutlichsten reflektiert wird. Vittoria fährt fort:

Käme so ein großes oder kleines Gespenst in mein einsames Zimmer, so würde ich freilich erschrecken, aber mich auch dieses Erschreckens freuen, und es recht bis in meine innersten Kräfte hinein mit meinem Bewußtsein durchgenießen. (S. 45)

Das Erschrecken wird genossen. Delightful terror nennen dies die Schottischen Experten. Als der Dichter Cesare um Erläuterung bittet, gibt Vittoria ein Beispiel, erzählt aus der Ich-Perspektive:

Ich bin allein in der tiefen Nacht, meine Familie ist schlafen gegangen, meine Dienerin ist verabschiedet, ich will mein Lager besteigen und die Lampe löschen, als plötzlich vor mir schreckliche Bösewichter mit geschwärzten Gesichtern und dräuenden Waffen stehn: ich wende mich um, Hülfe rufend, und auch von dort treten mir scheußliche, unbekannte Figuren entgegen. Nirgend Rettung, Hülfe; das Wort stockt mir im Munde, der Atem versagt, die Brust klopft zum Zerspringen; ganz ohnmächtig und doch klar alles sehend, rücken die Verruchten und der Mord mir näher und näher. - Seht, indem ich davon spreche, bin ich halb wahnsinnig vor Entsetzen. - Hinweg du abscheuliches Bildnis! - Und könnt Ihr leugnen, daß nicht dergleichen schon hie und da vorgefallen ist? Wir alle haben von solchen Überfällen gelesen! Und kann dergleichen sich nicht wiederholen? (S. 45f)

Vittoria beschreibt hier die Szene ihrer Ermordung, die wir bisher nur aus der Außenperspektive kennengelernt haben, und sie beschreibt exakt die Gemütserregung der Rezipienten, die von „solchen Überfällen gelesen“ haben: Sprachlosigkeit, Herzklopfen, Entsetzen. Genau so reagiert auch Cesare auf ihre Erzählung: er ruft aus: „Ihr ängstigt mich über die Maßen“, und er fügt hinzu, ihre „Darstellung“ erwecke in seinem „Innern“ ein unwiderstehliches „Grausen“. Auch die „Mutter schauderte“ und staunt über die „ungeheure Kraft“ der Phantasie. Cesare warnt Vittoria vor diesen „fatalen Spielen der Imagination“ (S. 46). Keine der drei jedoch zweifelt an der Wirkung, welche „durch die Vermittlung der Imagination“ in „Geist“ und „Seele“ daher entstehe, weil die „Darstellung [...] wie durch unbewußte Magie“ in „Wirklichkeit“ verwandelt würde (S. 46). Genau diese Magie hat schon der junge Tieck an Shakespeare bewundert, der den „Zuschauer in die Geheimnisse der Nacht einweiht, und ihn in einen Kreis von Hexen und Gespenstern versetzt“, ohne daß „die spielende Phantasie [...] aus ihren Träumen geweckt wird.“[21] Während Shakespeare den „richtenden Verstand“ des Publikums „einzuschläfern“ weiß, so weiter Tieck, „erschüttert“ er sie „bis zum Erschrecken“ (S. 686). Innerhalb einer „Illusion“ auf Zeit (S. 699), deren „täuschende Kraft“ dem Publikum „den Maßstab“ raubt, mit dem es „sonst die Wahrheit zu messen pflegt“ (S. 692), entfaltet Shakespeare das „Furchtbare“, das „Dunkle, Rätselhafte und Unbegreifliche“, den „Schreck“ oder das „Schreckliche“. Tieck zählt all dies zur „Wirkung“ seiner Stücke (S. 713), und man hat hier zurecht von einem „wirkungsästhetischem Ansatz“ gesprochen.[22]

Bereits Jean Clark Field hat in einer 1939 publizierten Dissertation über „Das Wunderbare bei Ludwig Tieck“ mehrfach auf die wirkungspoetischen Elemente des literarischen Oeuvre hingewiesen.[23] Auch Tiecks Überlegungen zur Dramatik Shakespeares und zur Novelle konnte Field zum Beleg ihrer These anführen. An Shakespeare lobt Tieck in der Tat, er halte „die Aufmerksamkeit [...] bis zum Schluß in Spannung, und erschüttert durch kühne Schläge seines Genie’s innig, und bis zum Erschrecken.“[24] Diese Wirkungspoetik Tiecks beruft sich auf den Geist aus dem „Hamlet“, der mit den geradezu metapoetologischen Versen zitiert wird:

Ich könnte eine Schilderung beginnen,

Die mit dem kleinsten Worte deine Seele,

Zermalte, daß dein junges Blut erstarrte;

Daß deine beiden Augen, Sternen ähnlich,

Aus ihren Höhlen sprängen, daß sich trennten

Die dichten, krausen Locken, jedes Haar

Sich aufwärts sträubte, wie die Stacheln des

Ergrimmten Igels. (S. 711, Hamlet I 5)

Die Seele wird gemartert, das Gemüt erschreckt, Blut gefriert, Haare stehen zu Berge, die Augen gehen über. Darüber, welche Motive diese Wirkung zeitigten, schweigt sich der Geist aus, Tieck dagegen führt beispielsweise „das Unschöne, Häßliche, Greuelvolle und Unmenschliche“ an.[25] Der interessante Zwischenfall im Fluß und erst recht der Tod Vittorias und ihre Ausführungen über Gespenstererscheinungen könnten als exemplarische Anwendungen dieser Poetologie gelesen werden. In seiner kurzen Abhandlung über die „Geschichte der Novelle“ von 1834 zählt Tieck diese Motive: „das Unschöne, Häßliche, Greuelvolle und Unmenschliche“ nicht nur ausdrücklich in den Themenkreis der Literatur und bestätigt so wiederum die Kraft nicht-identischer Reproduktion, sondern er hält ihre Bearbeitung sogar für das Zeichen besonderer Begabung: „Nur wahre Talente können so ihre Zeit beleben und hinreißen, daß ihre Zeitgenossen das Widerliche, was allem Behaglichen und Schönen durchaus gegenübersteht, nicht nur erträglich, sondern selbst interessant finden“ (S. 384f). Der Rezipient gilt ausdrücklich nicht als interesselos, sondern als interessiert. Die sich im 18. Jahrhundert entschieden durchsetzende „Wirkungsästhetik“,[26] verlangt einen Rezipienten, dessen „Verlangen nach Spannungserlebnissen“, so Karl Ludwig Pfeiffer, „gleichsam ständig auf der Pirsch ist“.[27] Selbst der Kronzeuge der Autonomieästhetik: Immanuel Kant geht in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht[28] von einem erregungs- und erlebnishungrigen Menschen aus, dessen unwiderstehliches Bedürfnis nach „accelerirenden“ Zustandswechseln (S. 233) einer Kunst entspricht, die durch Neuigkeiten und Wechsel von „Anspannung“ und „Abspannung“ (S. 165) für „Aufmerksamkeit“ sorgt und die „Sinnenempfindungen“ der Rezipienten mit „Abwechslung“ unterhält und so „das Leben interessant macht“ (S. 164). Interessante Literatur ist in anthropologischer Perspektive eine pragmatische Literatur, die sich nicht nur an die Urteilskraft wendet, sondern Körper und Bewußtsein reizt und stimuliert.

Genau dies findet Tieck im Werk Heinrich von Kleists. Er lobt das „Ungeheure und Gräßliche“ seiner Texte nebst seiner Art, „Schrecken zu erregen“.[29] Auch Kleists Novellen und Dramen wenden sich, könnte man mit Hans von Trotha sagen, an den „Körper des Lesers“.[30] Tiecks literaturtheoretischen Überlegungen zur Novelle, zum Erhabenen und zu Shakespeare erwähnen alle Elemente jener „pointierten Wirkungsästhetik“ (S. 31, 217), der auch Kant in „pragmatischer Hinsicht“ aufgeschlossen gegenüber steht. Die Unterschiede zur Kantischen Konzeption autonomer Kunst und ihrer interesselosen Rezeption liegen allerdings auf der Hand. Auf „bloßen Empfindungen eines Gegenstandes (Vergnügen oder Schmerz) gründende“ Urteile sind für Kant keine „ästhetischen“.[31] Insbesondere eine Adressierung des Körpers wird in Kants „Analytik des Erhabenen“ aus der Kunstkommunikation ausgeschlossen: „Wer sich fürchtet, kann über das Erhabene der Natur gar nicht urteilen, so wenig als der, welcher durch Neigung und Appetit eingenommen ist, über das Schöne.“ (S. 185) Tieck dagegen ist an dieser Furcht interessiert, und deshalb gehört für ihn die „Täuschung“ des Rezipienten zu den zentralen Voraussetzungen gelungener Kunst,[32] denn nur der getäuschte Rezipient vergißt seine persönliche Sicherheit und öffnet Körper und Geist der Gemütserregungskunst Shakespeares oder Kleists oder eben Tiecks. Gerade das Erhabene spielt sozusagen in vorgetäuschter Unmittelbarkeit auf der Klaviatur der nervösen Grundausstattung des Menschen. „Der Leser aber ist zufrieden“, läßt Tieck 1795 Peter Lebrecht augenzwinkernd feststellen, „wenn es ihm nur recht schauerlich und grauerlich zumute wird.“[33] Und weiter heißt es: „keine Erzählung darf jetzt mehr Anspruch machen, gelesen zu werden, wenn der Leser nicht vorhersieht, daß ihm wenigstens die Haare dabei bergan stehen werden.“ (S. 76) Genau diese Forderung hatte Tieck zwei Jahre zuvor ganz ernsthaft erhoben und mit seinem Hamlet-Zitat untermauert.

Kant hielt es für legitim, unter dem Zeichen einer „empirischen Anthropologie“ (S. 205) sich mit der Wirkung der Kunst auf die „Fiebern des Körpers“ zu beschäftigen, doch habe dies eben wenig mit dem Kunstwerk und nichts mit Ästhetik zu tun. Denn wenn „man aber das Wohlgefallen am Gegenstande ganz und gar darin [setzt], daß dieser durch Reiz oder durch Rührung vergnügt: so muß man auch keinem andern zumuten, zu dem ästhetischen Urteile, was wir fällen, beizustimmen; denn darüber befragt ein jeder mit Recht nur seinen Privatsinn.“ (S. 206) Jede Reiz- oder Wirkungspoetik führt für Kant in das Verstummen der Kommunikation über Kunst, denn statt Urteile zu fällen, würde man nur noch Empfindungen ausstellen oder sich gegenseitig auf die zu Berge stehenden Haare oder die Gänsehaut aufmerksam machen. Tieck hat sich von dieser überaus prominenten Position nicht abhalten lassen, sein Werk genau dieser Reiz- oder Wirkungspoetik zu verschreiben. In seiner aufschlußreichen „Vorrede zur Ausgabe von 1828“ der „Insel Felsenburg“ von Johann Gottfried Schnabel,[34] die als moderate Apologie der „Romanleserei“ verstanden werden kann, rechtfertigt Tieck ausdrücklich die Eigenschaft vieler „Bücher großer Autoren“, die „Gemühter der Menschen [...] auf mannigfaltige Weise, durch vielerlei Triebe und Bedürfnisse aufzureizen“ (S. 554). Es gehe ihm um die „Aufpeitschung der Nerven“, hat Jean Clark Field dieses Interesse Tiecks benannt (und dann kritisiert, S. 10).

Als literarisches Programm, das sich diesen Reizen verschreibt,[35] nutzt Tieck vor allem das Wunderbare. Die Wirkung des Wunderbaren auf die Rezipienten: nämlich „Erstaunen, Schaudern und Zittern“, „Erschüttern“, „Schrecken und Grauen“,[36] wird von ihm an eine bestimmte Struktur des Textes gebunden. Schauer und Schrecken, Erregung und Erschütterung entfalten ihre quasi „körperliche“ (S. 712) Wirkung nur, wenn der Text seinen eigenen Status vergessen läßt. Und dies gelingt dann, wenn „Rekursionen, Rückgriffe und Vorgriffe“ innerhalb des Werks möglich sind, aber kein Weg aus ihm herausführt.[37] Tieck vergleicht diese Immersion des Beobachters in die fiktive Wirklichkeit der Kunst mit dem Verirrten im Labyrinth. „Der Faden hinter uns ist abgerissen, der uns durch das rätselhafte Labyrinth leitete; und wir geben uns am Ende völlig dem Unbegreiflichen preis“ (S. 692). Kein Faden führt den ins Werk eingetauchten Betrachter hinaus. Mit der Analogie des „Labyrinths“ wird einerseits die „pointierte Wirkungsästhetik“ des Landschaftsgartens zitiert,[38] zum anderen entspricht sie genau dem Konzept des autonomen „Kunstwerks“, das mit Georg Simmels Worten als „ein Ganzes für sich“ aufzufassen sei, das „keiner Beziehung zu einem Draußen bedürftig“ ist, weil es „jeden seiner Fäden wieder in seinen Mittelpunkt zurückspinnt“.[39] Während für Simmel dieses Abkappen der Fäden zwischen Werk und Umwelt einen Grund für die unterstellte Interesselosigkeit und Distanz des Rezipienten darstellt, argumentiert Tieck gerade umgekehrt: weil „der Faden hinter uns abgerissen ist“ und, wie bei einem Labyrinth, jeder Versuch, einem Faden zu folgen, nur noch tiefer hineinführt, verliert sich der Rezipient auf eine Art im Werk, die ihn allen Ennervationen und Erregungen aussetzt. „Das Wunderbare wird uns itzt gewöhnlich und natürlich: weil wir von der wirklichen Welt gänzlich abgeschnitten sind, so verliert sich das Mißtrauen gegen die fremdartigen Wesen, und nur erst beim Erwachen werden wir überzeugt, daß sie Täuschung waren.“ (S. 692) Vom Werk fordert Tieck daher strikteste Kohärenz der Simulation. Nichts darf die Illusion durchbrechen:

„Die vorzüglichste Täuschung entsteht dadurch, daß wir uns durch das ganze Stück nicht wieder aus der wundervollen Welt verlieren, in welche wir einmal hineingeführt sind, daß kein Umstand den Bedingungen widerspricht, unter welchen wir uns einmal der Illusion überlassen haben.“ (S. 692)

In seiner Monographie über „Das Wunderbare als Problem und Gegenstand der deutschen Poetik“ hat Karl-Heinz Stahl[40] diese Position Tiecks gewürdigt und ihre Pointe ebenfalls darin gesehen, daß in der Illusion alle Vergleichsmaßstäbe mit der „Naturwirklichkeit“ verloren gehen und wir daher „geradezu zwangsläufig alles Wunderbare für ‚gewöhnlich und natürlich’ halten müssen“ (S. 213). Zugleich gehört das Wunderbare gerade auch bei Tieck zu den Elementen einer „ars popularis“, für die laut Horch und Schulz eine hohe „affektive Wirkkraft“ selbstverständlich sei.[41] Tiecks originelle Position, die man mit allen realistischen Programmen oder Poetologien der Repräsentation getrost vergleichen darf, ist nun, daß diese hohe „affektive Wirkkraft“ überhaupt nicht von dem Repräsentationsgrad einer irgendwie dargestellten „Naturwirklichkeit“ abhängt, sondern allein von der internen Kohärenz der Simulation, in die der Rezipient eintritt, um seine Umwelt zu vergessen. Und dieses Programm literarischer Kommunikation widerspricht nicht im Geringsten der Annahme einer scharfen operativen Differenz von Literatursystem und Umwelt. Bereits Peter Lebrecht weiß: „die Kunst muß am Ende von der Natur abweichen, um Kunst zu sein.“ (S. 177) Dies schließt nicht aus, daß sich die Kunst an die Natur wendet, von der sie sich unterscheiden muß: an den Körper des Rezipienten.[42]



[1] Roger Paulin, Ludwig Tieck, Stuttgart 1987, S. 1.

[2] Stuttgart 1973.

[3] Thomas de Quincey, Der Mord; als eine schöne Kunst betrachtet, Frankfurt/M 1984, S. 51.

[4] Gerhard Plumpe, Epochen moderner Literatur, Opladen 1995, S. 151.

[5] Vgl. Niels Werber, Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation, Opladen 1992, S. 156.

[6] Vgl. Gerhard Plumpe / Niels Werber (Hrsg.), Beobachtungen der Literatur, Opladen 1995.

[7] Ernst Ribbat, Ludwig Tieck. Studien zur Konzeption und Praxis romantischer Poesie, Kronberg/Taunus 1978.

[8] Vgl. dazu grundlegend Gerhard Plumpe und Niels Werber, Literatur ist codierbar. Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft, in: S.J. Schmidt, Literaturwissenschaft und Systemtheorie, Opladen 1993, S. 9-43.

 

[9] Werke, hrsg. von Sigrid Damm, München, Wien 1987, Bd. 2, S. 378.

[10] Nach Werthers Ossian-Lesung: „Die Welt verging ihnen. Er schlang seine Arme um sie her, preßte sie an seine Brust und deckte ihre zitternden, stammelnden Lippen mit wütenden Küssen. –“ (Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther, in: HA Bd. 6, S. 115.) Und weiter: „O vergib mir! vergib mir! Gestern! Es hätte der letzte Augenblick meines Lebens sein sollen. O du Engel! Zum ersten Male, zum ersten Male ganz ohne Zweifel durch mein innig Innerstes durchglühte mich das Wonnegefühl: Sie liebt mich! Sie liebt mich! Es brennt noch auf meinen Lippen das heilige Feuer, das von den deinigen strömte, neue, warme Wonne ist in meinem Herzen. Vergib mir! vergib mir!“ (S. 116f)

[11] Gerhard Plumpe, Kein Mitleid mit Werther, in: de Berg, Henk und Prangel, Matthias (Hrsg.), Systemtheorie und Hermeneutik, Tübingen und Basel 1997, S. 215-231, S. 222.

[12] HA Bd. 6, S. 117.

[13] Gotthold Ephraim Lessing, Briefwechsel über das Trauerspiel, in: Werke, hrsg. von Herbert G. Göpfert et. al., München 1970 ff., Bd. 4, S. 162.

[14] Lessing, Hamburgische Dramaturgie, Werke Bd. 4, S. 285.

[15] Lessing, Briefwechsel über das Trauerspiel, S. 192.

[16] Lessing, Briefwechsel über das Trauerspiel, S. 163.

[17] Gotthold Ephraim Lessing, Abhandlungen von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiele, Werke Bd. 4, S. 53.

[18] Vgl. etwa Lessing, Hamburgische Dramaturgie, Werke Bd. 4, S. 599: „Wenn nun aber der Personen des Richards keine einzige, die erforderlichen Eigenschaften hat, die sie haben müßten. Falls er wirklich das sein sollte, was er heißt: wodurch ist er gleichwohl ein so interessantes Stück geworden, wofür ihn unser Publikum hält? Wenn er nicht Mitleid und Furcht erregt: was ist denn seine Wirkung? Wirkung muß er doch haben, und hat sie.“

[19] Lessing: Abhandlungen von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiele, Werke Bd. 4, FN 18.

[20] Dort findet sich die gleiche Liste der Gemütswirkungen: „Teilnahme, Angst, Furcht und Lust“ sowie „Erstaunen und Erschrecken“. (Ludwig Tieck, Die verkehrte Welt, Werke Bd. 2, S. 273)

[21] Über Shakspear’s (sic!) Behandlung des Wunderbaren, in: Ludwig Tieck, Schriften. Bd. 1, Frankfurt/Main 1991, S. 685-722, S. 685.

[22] Ribbat, Tieck, S. 78.

[23] Jean Clark Field, Das Wunderbare bei Ludwig Tieck, Zürich 1939, S. 20, 28, 38, 51, 75.

[24] Über Shakspear’s (sic!) Behandlung des Wunderbaren, S. 686.

[25] Zur Geschichte der Novelle (1834), in: Ludwig Tieck, Kritische Schriften. 2. Bd., Leipzig 1848, S. 377-388, S. 384. Der begeisterte Hamlet-Leser Balder schreibt an William Lovell, er „betrachtete in meiner innersten Phantasie mit grauendem Wohlbehagen die Erscheinung, aus der umgebenden Welt verloren.“ (Tieck, William Lovell, Werke, Bd. 1, S. 350)

[26] Trotha, Angenehme Empfindungen, S. 171, 216f.

[27] Pfeiffer, Das Mediale und das Imaginäre, S. 101.

[28] Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Berlin 1968, Bd. VII.

[29] „Heinrich von Kleist“ (1826), in: Ludwig Tieck, Kritische Schriften. 2. Bd., Leipzig 1848, S. 3-58, S. 53f.

[30] Hans von Trotha, Angenehme Empfindungen. Medien einer populären Wirkungsästhetik, München 1999, S. 264.

[31] Kant, Kritik der Urteilskraft, Werke Bd. 10, S. 196.

[32] Vgl. Über Shakspear’s Behandlung der Wunderbaren, S. 686 sowie Field, Das Wunderbare, S. 37.

[33] Ludwig Tieck, Peter Lebrecht, in: Werke in vier Bänden, hrsg. v. Marianne Thalmann, Bd. 1-4, München 1963, Bd. 1, S. 75.

[34] In: Johann Gottfried Schnabel, Wunderliche Fata einiger See-Fahrer (Insel Felsenburg), Stuttgart 1994, S. 533-564.

[35] Vgl. Thomas Hecken (Hrsg.), Der Reiz des Trivialen, Opladen 1997.

[36] Tieck, Über Shakspear’s Behandlung der Wunderbaren, S. 712.

[37] Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1995, S. 194.

[38] Vgl. von Trotha, Angenehme Empfindungen, Kap. 2, insbesondere S. 162 und Kontext.

[39] Georg Simmel, Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch [1902], in: Soziologische Ästhetik, hrsg. von Klaus Lichtblau, Darmstadt 1998, S. 11-117, S. 111.

[40] Frankfurt/Main 1975.

[41] Hans Otto Horch / Georg-Michael Schulz, Das Wunderbare und die Poetik der Frühaufklärung, Darmstadt 1988, S. 122f.

[42] Vgl. dazu Dirk Baecker, „Die Adresse der Kunst“, in: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hrsg.), Systemtheorie der Literatur, München 1996, S. 82-105, S. 97ff.