Diese Art der Kunst im öffentlichen Raum hat eine intensive Diskussion über den Werkbegriff, die Autonomie der Kunst und die Frage der systemspezifischen Zurechenbarkeit derartiger Projekte ausgelöst, aber auch darum geht es mir (noch) nicht. An dem was man vielleicht „Archiv-Kunst“ nennen könnte, interessieren mich vielmehr Formen des „Sozialen Vergessens“, die in Sicht kommen, wenn man die Entwicklung des Genres eine Weile verfolgt. „Soziales Vergessen“ hat die italienische Soziologin und Systemtheoretikerin Elena Esposito ihre soeben erschienene, umfassende Studie über „Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft“ genannt,[3] in der sie vorschlägt, vier historische Epochen dieses Vergessens zu unterscheiden, deren spezifische Form jeweils von der entsprechenden Konzeption des Gedächtnisses abhängt. Diese vier Epochen hat Esposito mit den Metaphern der Wachstafel, des Speichers, des Archivs und des Netzes bezeichnet (S. 42) und mit bestimmten Formen sozialer Differenzierung, dem Stand verfügbarer Medientechnik und dem Reflexionsgrad der möglichen Beobachterperspektiven korreliert. Ich hoffe, hier einige Anregungen zu erhalten, um über den Umweg einer Beobachtung der künstlerischen Beobachtung der Modalitäten des sozialen Gedächtnisses Aufschluss über das Vergessen als andere Seite der Gedächtniskunst zu erhalten.
Man kann am Beispiel der „Open Public Library“ von Clegg & Guttmann bereits zwei Formen des Nicht-Erinnerns unterscheiden: nämlich Gedächtnisverlust und Vergessen.[4] Gedächtnisverlust liegt dann vor, wenn das Archiv beschädigt wird, sei es, dass Katalog oder Register Mängel aufweisen und bestimmte an sich vorhandene Dinge gleichsam adressenlos verloren gehen, sei es, dass die archivierten Dinge selbst in Mitleidenschaft geraten. In Hamburg-Kirchdorf (Dia 9) wurde ein Bibliotheksschrank zerstört und folglich Kapazität wie soziale Reichweite des Archivs reduziert. Vergessen wurde hier buchstäblich nichts. Von Vergessen könnte man im Anschluss an Luhmann und seine Schülerin Esposito erst dann sprechen, wenn im sozialen Umgang mit einem gegebenen Archiv bestimmte Möglichkeiten nicht genutzt werden – in Hamburg etwa wurde ein gewisser Prozentsatz von Büchern nicht ein einziges Mal entnommen (Dia 10). Was immer in ihnen stehen mag – es spielt in der kommunikativen Realitätskonstruktion derjenigen, die mit diesen Archiv arbeiten, keine Rolle. Das gesamte kommunikative Potential dieser Bücher bleibt ungenutzt, obschon ihre materiellen Träger nach wie vor existieren – die Texte also, nicht die Bücher, sind vergessen worden.
Die Archivkunst scheint in besonderem Maße die Annahme zu fördern, dass ein soziales oder kollektives Gedächtnis der Erinnerung diene, nicht aber dem Vergessen. „Um Speicherplatz für neue Bücher, neues Wissen, neue Programme zu schaffen, müssen Informationen löschbar gemacht werden“, hat Friedrich Kittler in einem Aufsatz namens „Vergessen“ festgestellt.[10] Dass jedes Gedächtnis also allein aus Kapazitätsgründen nur erinnern kann, indem es zugleich vergisst, wird aus der Debatte um Boltanski ausgeschlossen. Die Kunsthistorikerin Sabine Kampmann hat dagegen in ihrer präzisen Arbeit über das „Missing House“ betont, dass die Installation trotz aller Archivalien nicht nur der Erinnerung diene, sondern auch dem Vergessen, weil unvermeidlich „das, was nicht gesammelt und ausgestellt wird, desto gründlicher vergessen“ werde. Diese These deckt sich in etwa mit Boris Groys Unterscheidung zwischen dem, was in ein Archiv hineingelange, und dem, was nicht archiviert würde.[11] Vergessen hieße also Exklusion aus dem Archiv. Dies trifft sicher zu – doch wird hier nicht beachtet, dass auch das Archiv selber vergisst. Und zwar vergisst es gerade dadurch, dass es benutzt wird – und nicht dadurch, dass manches den Eingang ins Archiv nicht gefunden habe, und es vergisst keineswegs in der Form, dass es unbenutzt bliebe und gleichsam zerfalle wie die Vitrinen und Archivalien in „The Museum“. Exklusion, Gedächtnisverlust und Vergessen ist nicht dasselbe!
Bereits der Archiv-Begriff Foucaults legt die Annahme nahe, dass nicht nur nicht alles gesagt, sondern auch keineswegs alles erinnert werden kann.[12] Das Archiv kombiniert vielmehr „Tradition“ und „Vergessen“, Redundanz und Varietät. Es ist auch für Foucault ein System, dass allein in actu, in der Operation existiert, und jede Operation erinnert und vergisst zugleich (S. 188). Man könnte den gleichen Sachverhalt systemtheoretisch auch so formulieren: „was als Gedächtnis bezeichnet wird, gibt es nur für einen Beobachter“.[13]
Für das „Missing House“ lautet also die Frage, die uns zum Vergessen führen soll, wie Beobachter mit diesem Archiv operieren. Mein Antwortversuch macht es zunächst nötig, sich von der Vorstellung zu lösen, ein Archiv „enthalte“ Informationen, die dort abgelegt worden wären, um dann wieder entnommen werden zu können.[14] Das Archiv besteht vielmehr aus „Materialien“ und einer „im Katalog verkörperten Ordnung“ (S. 338), die informativ erst dann wird, wenn ein Beobachter Material und Ordnung (Medium und Form) als Differenz behandelt, das heißt: wenn er das Archiv mit der Unterscheidung von Information und Mitteilung aufschließt, wenn also kommuniziert wird. Nur in der jeweils laufenden Kommunikation wird das Archiv aktualisiert – und produziert unweigerlich mit jeder Operation Erinnern und Vergessen zugleich. Dies liegt daran, dass Kommunikation allein in der Gegenwart operiert, sie „hat“ keine Zeit. Alles, was passiert, passiert für die Gesellschaft gleichzeitig, weder vergangene noch zukünftige Operationen sind für ein Kommunikationssystem jetzt verfügbar. Auch ein Archiv speichert daher nicht einfach vergangene Operationen, um sie dann im Bedarfsfall zu erinnern. Keine Archiv macht irgendwie Vergangenheit zugänglich – die Vergangenheit steht in der Gegenwart grundsätzlich nicht zur Verfügung. Jede kommunikative Operation, die das Archiv aktualisiert, trifft nun eine ganz bestimmte Unterscheidung von Information und Mitteilung, die sich dann als anschlußfähig erweisen mag oder nicht. Luhmann hat die Selektivität dieses Vorgangs immer wieder betont.[15] Etwas wird in der Kommunikation zur Information – und anderes nicht. Betrachtet man die Materialien des Archivs als Medium und die konkrete Nutzung als Form, dann könnte man sagen, dass jede feste Koppelung der lose gekoppelten Elemente des Medium immer einen Möglichkeitsüberschuss voraussetzen – diese auch möglichen Formen werden jedoch nicht aktualisiert, an sie wird nicht angeschlossen, sie werden vergessen. Diese Selektivität wird in unserem Kontext besonders deutlich, wenn in Bezug auf das „Missing House“ behauptet wird, dass es sich ausschließlich um „Texttafeln jüdischer Bewohner“ handelt, „deren Lebensweg spätestens 1945 tödlich endete“,[16] oder wenn jemand betont, es seien die Todesdaten der ehemaligen Bewohner, die auf den Tafeln verzeichnet seien.[17] Beides ist falsch, da es auch „deutsche“ Bewohner im Sinne der Nürnberger Gesetze gab und weil auf den Tafeln tatsächlich nur die Zeit verzeichnet ist, während der die Bewohner in dem Haus gewohnt haben. In der „taz“ liest man anlässlich einer Preisverleihung für Boltanski über das „Missing House“ folgende teils ungenaue, teils falsche Werkbeschreibung: „Der Versuch des Künstlers, die von 1930 bis 1945 im Haus lebenden Menschen zu rekonstruieren, ähnelt einer Spurensuche, die meist im Tod endet. Die jüdischen Bewohner sind deportiert und vernichtet worden, jene, die deren beschlagnahmte Wohnungen belegten, wurden unter den Bomben begraben. Ihre Geschichte passt in ein paar dünne Mappen.“[18] Boltanski führe, heißt es in einem Zeitungsartikel, ein „künstlerisches Ringen um Formen der Erinnerung an die Shoah“.[19] Die Erinnerung an sämtliche zwischen 1930 und 1945 in dem Haus Große Hamburger Straße 15/16 wohnenden 100 Bewohner wird so erheblich, sagen wir: fokussiert.
Die Kombination jüdischer Bewohner mit vermeintlichen Todesdaten hat im Diskurs der Erinnerungskultur offenbar dazu geführt, dass in der Aktualisierung des Archivs unspektakuläre Daten wie die der Klavierlehrerin T. Gaworzewska, die das Haus laut Tafel von 1932-1934 bewohnt hat, vergessen werden, obwohl diese Daten und Materialien im Archiv akkurat verzeichnet sind. Wir haben es hier offenbar mit einer Form des sozialen Vergessens zu tun, die Auskunft gibt über die Funktion des Gedächtnisses unserer Gesellschaft.
Boltanski hat gelegentlich betont, seine Kunst leiste „Gedächtnisarbeit“,[20] doch ist er notorisch allein als „Erinnerungskünstler“[21] und seine Werke als „Erinnerungsprojekte“[22] wahrgenommen worden. Gelegentlich mag ein Gedächtnis sich erinnern, doch die „Hauptfunktion des Gedächtnisses“, so betont Luhmann, „liegt im Vergessen“, alles andere würde zur „Selbstblockierung des Systems“ führen.[23] Man könnte auch sagen, dass das ungeheure Sinnpotential eines komplexen Archivs strukturiert wird. „Strukturen“, so schreibt Luhmann in Soziale Systeme, „fassen die offene Komplexität der Möglichkeit, jedes Element mit jedem anderen zu verbinden, in ein engeres Muster [...] erwartbarer, wiederholbarer oder wie immer bevorzugter Relationen.“ (S. 74). Während die Ereignisse eines Prozesses einmalig und irreversibel sind, kann man Strukturen „aufheben oder ändern“ (S. 73). „Will man Strukturänderungen evolutionistisch begreifen“, und das will ich durchaus, „muss man“, so Luhmann, „freilich die Vorstellung aufgeben, Strukturen seien etwas »Festes« im Unterschied zu etwas »Fließendem«. Strukturen sind Bedingungen der Einschränkung des Bereichs anschlussfähiger Operationen, sind also Bedingungen der Autopoiesis des Systems. Sie existieren nicht abstrakt, nicht unabhängig von der Zeit. Sie werden im Vollzug des Fortgangs von Operation zu Operation verwendet – oder nicht verwendet. Sie kondensieren und konfirmieren durch Wiederholung in verschiedenen Situationen einen Sinnreichtum, der sich exakter Definition entzieht; oder sie werden vergessen.“[24] Genau dies entspricht der systemtheoretischen Definition des Gedächtnisses. Redundanz und Strukturbildung erzeugen den Effekt der Erinnerung – aber nur in der Gegenwart, während zuvor geänderte oder aufgehobene Strukturen bereits vergessen worden sind. Um noch einmal Luhmann zusammenfassend zu Wort kommen zu lassen: „Von Gedächtnis soll hier nicht im Sinne einer möglichen Rückkehr in die Vergangenheit, aber auch nicht im Sinne eines Speichers von Daten oder Informationen die Rede sein, auf die man bei Bedarf zurückgreifen kann. Vielmehr geht es um eine stets, aber immer nur gegenwärtig benutzte Funktion, die alle anlaufenden Operationen testet im Hinblick auf Konsistenz mit dem, was das System als Realität konstruiert.“ (S. 578f) In die Realitätskonstruktion des Systems, dass sich anhand des Archivs „Missing House“ erinnert, passen nur ganz bestimmte Operationen – der an sich mögliche, sozusagen virtuelle Sinnreichtum wird eingeschränkt auf die ‚Erinnerung an die Shoah’.[25] Das betroffene System, das derart erinnert und vergisst, Strukturen bildet und auflöst, ist das System der Massenmedien. Die „Funktion der Massenmedien“ liegt in der Erzeugung eines Gedächtnisses „für das Gesellschaftssystem“, das dafür sorgt, „dass man bei jeder Kommunikation bestimmte Realitätsannahmen als bekannt voraussetzen kann, ohne sie eigens in die Kommunikation einführen oder begründen zu müssen.“[26] Zu den – jedenfalls der Feuilleton-Rezipienten – Realitätsannahmen gehört etwa, dass das „Missing House“ an den Holocaust erinnert – in diese Richtung kann dann weiterkommuniziert werden. Die Feststellung, dass die Bewohner des Hauses sehr heterogen gewesen und sie zum Teil in der Folge eines Bombenangriffs umgekommen sind, sucht man vergebens. Die Anschlussfähigkeit dieses Werks der Archivkunst erschöpft sich in den Massenmedien jedenfalls in Richtung Shoah.[27] Die Massenmedien, so Luhmann, schaffen „Voraussetzungen für weitere Kommunikation [...], die nicht eigens mitkommuniziert werden müssen.“ (S. 120) Was nicht mehr mitkommuniziert werden muss, sondern vorausgesetzt werden kann, wird erinnert – der Rest wird vergessen. Es hängt aber von der Nutzung des Archivs ab, was erinnert und was vergessen wird. An der Diskussion um den aus der deutschen Literatur verdrängten Luftkrieg und der gegenwärtigen Medienhausse der Vertreibung oder Flucht aus dem Osten kann man sehen, dass neue Formen der Aktualisierung der Datenbestände möglich sind. Das Medium wird neu geformt, die Ereignisse werden neu strukturiert – und die Formeln des laufenden „Diskriminierens zwischen Vergessen und Erinnern“ (S. 75f) werden neu programmiert. Und wenn der Spiegel anlässlich Günter Grass neustem Werk die Wilhelm Gutzlow auf die Titelseite bringt und überschreibt: „Die deutsche Titanic“, dann wird wiederum erinnert und vergessen zugleich. Erinnert wird die ‚humanitäre Katastrophe’ zweier untergegangener Schiffe, deren Passagiere im Eiswasser ertranken; vergessen wird der Unterschied zwischen einem Eisberg und einem russischen U-Boot. Dieser Unterschied kann freilich jederzeit erinnert werden – wenn er informativ wird, wenn er „einen Unterschied macht“, wenn also Kommunikation stattfindet.
Ich möchte nun versuchen, den möglichen Ertrag dieser Überlegungen an weiteren Werken moderner Kunst zu überprüfen, die vom diesem Modell des Archivs abzuweichen scheinen.
Ich möchte nun ein letztes Mal das Paradigma der Erinnerungskunst mit Werken konfrontieren, die auf den ersten Blick genauso arbeiten, aber den vorausgesetzten Gedächtnisbegriff offenbar ausgetauscht haben. Sehen wir uns kurz einige Photos der Installation „inventarisiert“ von Arno Gisinger an.[32] (Dias 19–25). Der Kontext der Gegenstände wurde genauestens erforscht und von der Installation mitpräsentiert (Dias 26, 27). Sie gehörten jüdischen Familien, die enteignet wurden, und sie gingen danach an Privatleute wie NS-Organisationen, um zum kleinen Teil am Ende der 90er Jahre an die Erben der ursprünglichen Eigentümer zurückerstattet zu werden. Selbst die Adressen der jüdischen Familien werden ausgestellt. Die Installation repräsentiert geradezu idealtypisch den Zusammenhang von Spurensicherung und Archiv in der Kunst.
Es scheint fast unvermeidlich, die „Interieur“-Fotografien von Ricarda Roggan in diesen Zusammenhang zu stellen (Dias 28, 29). Gleichfalls Teil der Ausstellung „zurückgelassen“, werden sie vom Direktor des Museums auf die „Aufgabe“ verpflichtet, „das Vergangene und Verlassene im Bild zu bewahren“.[33] Die Kuratorin spricht von einer „reflexartige Unterstellung“ einer „archivarischen Organisationsform“ (S. 27). Das, was vielleicht einmal ein Haustand war, erinnert an das Gedächtnis als Thesaurus oder Lagerhalle.[34] Augustinus spricht von den „weiten Palästen meines Gedächtnisses, wo der Schatz unzähliger Bilder aufgehäuft liegt“.[35] Auch hier fehlt jener Katalog, den die Archivkunst stets aufweist. Dies ist, laut Esposito, auch beim Speicher-Modell des Gedächtnisses der Fall, das sich das Gedächtnis als möblierten Raum vorstellt, den der Redner durchschreitet – aber eben nicht als Archiv, das sich allein durch einen Katalog erschließen lässt. Zeigt uns Roggan womöglich das Mobiliar eines Gedächtnisraumes? Für diese mnemotechnische Lesart, für die sich die Kuratorin entschieden hat, spräche auch der Titel dieses Werkteils: „Interieur“. In der klassischen Interieur-Malerei des 17. Jahrhunderts verweisen die Gegenstände über den Bildraum hinaus – es handelt sich gleichsam um gemalte Topoi. Der Betrachter findet in ihnen einen Anlass wieder zu erinnern, was er ohnehin bereits weiß. Diese Bilder informieren nicht, sondern speichern Gegenstände im Raum. „Das Alles“, so wieder Augustinus über das Erinnern einzelner Gegenstände, „nimmt der große Sammelort des Gedächtnisses in Wohnung und zum Herausholen“ (S. 242). Natürlich werden in den Hallen des Gedächtnisses nicht die Dinge selbst gespeichert, sondern ihre „Bilder“.[36]
Metken, Günter: Die Kunst des Verschwindens. Unsichtbare Denkmäler - ein Situationsbericht. In: Merkur 48, H.6, 1994, S. 478-490.
Spurensicherung. Archäologie und Erinnerung, Ausst. Kat., Kunstverein in Hamburg, 1974
Christian Boltanski „Inventare“, ab 1973
Hans Peter Feldmann, „Alle Kleider einer Frau“, 1974
Clegg / Guttmann