Niels Werber

Globalisierte Kunst und Regionalkultur

Eine Einleitung zur Tagung Globalisierte Kunst? Zur Kommunikation von "Kunst" und "Literatur" in unterschiedlichen Gesellschaftstypen

Die Idee zu dieser Tagung, die Frage nach einer möglichen Globalisierung der Kunst und den unterschiedlichen regionalen Bedingungen dieser Globalisierung zu stellen, entstand in einem Seminar, das Dirk Kretzschmar und ich im Wintersemester 97/98 hier in Bochum gemeinsam für Slawisten und Germanisten veranstaltet haben. Darin ging es unter dem Titel Von der Romantik zum Realismus darum, was diese Begriffe, sei es als Epoche, als Stil oder als literarisches Verfahren, in der deutschen, russischen oder auch französischen Literatur bedeuten. An manchen Narrationen, die wir untersucht haben, ist uns aufgefallen, daß trotz einmütiger Selbsteinordnung der verschiedenen Autoren in denselben Epochenstil der Romantik oder des Realismus, trotz frappierender Übereinstimmung in der Verwendung literarischer Formen und Verfahren und trotz großer zeitlicher Nähe zwischen den Werken eine gravierende Differenz auszumachen ist, die sich dem unterschiedlichen gesellschaftsstrukurellen Kontext verdankt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wird etwa die Verwendung einer religiösen Semantik in der französischen und deutschen Literatur vom Lesepublikum nicht als Anweisung zum Glauben rezipiert, sondern ästhetisch als Einsatz der Religion zu literarischen Zwecken, so gilt der russische Autor äußerlich völlig gleichartiger Passagen dagegen entweder als Autorität in theologischen Fragen, dem der Leser folgt wie ein Lamm dem Pastor, oder aber als gefährlicher Abweichler von der Orthodoxie, der nicht etwa nur mit Literaturkritik, sondern mit allen Mitteln zu bekämpfen ist. Was – sehr pauschal gesagt, und ich kann hier für alle Details auf Gerhard Plumpes eindrucksvolles Buch über die Epochen moderner Literatur verweisen – was also in der Literatur der westeuropäischen Moderne als Medium für Formen Verwendung gefunden hat, als deren Ergebnis literarische Werke entstanden sind, deren kommunikativer Beitrag zur Gesellschaft primär ein Beitrag zum Literatursystem ist, kann in der russischen Kultur nicht ausschließlich als Element autonomer Literatur gelesen werden, sondern ebenso als Beitrag zur Religion oder zur Politik, zur Erziehung oder zur Wissenschaft. Die Ästhetisierung der Umwelt der Literatur durch die Literatur bleibt eine westeuropäische, höchst unwahrscheinliche Errungenschaft der soziokulturellen Evolution, an die wir uns freilich längst gewöhnt haben; ich erinnere nur an den Bourgois, der zu einer Brecht-Aufführung freundlich applaudieren kann, weil alle möglichen politischen Intentionen des Autors sich den ästhetischen Eigenheiten des Kunstwerks unterzuordnen haben; und umgekehrt gilt: wer ein Werk ausschließlich politisch rezipiert, der nimmt das Werk eigentlich gar nicht wahr. So sehr nun die Werke so unterschiedlicher Verfasser wie Flaubert oder Fontane, Schlegel oder Brentano immer wieder darauf hinweisen, daß wir bei diesen Texten mit Literatur zu schaffen haben und mit nichts sonst, so sehr entsprach es dem Selbstverständnis der russischen Autoren, eine Art volkspädagogisches Verhältnis zu ihren Lesern zu unterhalten. So schreibt etwa Leo N. Tolstoj am 24. April 1890 – also exakt 100 Jahre nachdem Immanuel Kant in seiner dritten Kritik die Autonomie der Kunst begründet hat – in seinem Nachwort zur Kreutzersonate, daß er mit dieser Erzählung primär sittliche und religiöse Ziele verfolgt habe. Die zynischen und erschreckenden, frivolen und erotischen Elemente seines Textes, die ihm in zahlreichen Briefen vorgehalten worden sind, rechtfertigt Tolstoj nicht ästhetisch, sondern mit einem moralisch-religiösen Fünfpunkte-Programm, das eine neue Keuschheit (S. 116f) im Verhältnis der Geschlechter einklagt und sogar jede "poetische Verklärung" der "Liebe" als "unwürdig" ablehnt (S. 110).

So groß die Ähnlichkeiten auf der Oberfläche der Texte auch sein mögen, so tief geht die Differenz des kommunikativen Einsatzes der Texte in einer bestimmten Kultur und so gravierend unterscheiden sich die Anschlußkommunikationen, die die Texte dort jeweils anregen. Diese entscheidenden Unterschiede in der Anschlußfähigkeit der Texte läßt uns einen Großteil der russischen Autoren gegen alle Intuition eines heutigen Lesers der Vor- oder einer Art "Neben"-moderne zuschlagen. Möglicherweise trügt also der moderne Eindruck einer Weltkunst oder Weltliteratur, wenn damit Werke gemeint sind, die weltweit für Anschlußfähigkeit vor allem in der Kunst- und Literaturkommunikation sorgen, der Eindruck trügt jedenfalls dann, wenn man mit Kunst und Literatur etwas sehr Spezifisches meint und keinen "erweiterten Kunstbegriff" vertritt, der sich um solche Unterschiede keine Sorgen machen muß. Dirk Kretzschmar wird morgen noch einmal viel genauer auf die kurz erwähnten russischen Verhältnisse eingehen, ich wollte Ihnen hier nur darüber berichten, aus welchem Kontext unsere Frage nach der Kommunikation von "Kunst" und "Literatur" in unterschiedlichen Gesellschaftstypen hervorgegangen ist. Ich komme zurück zum Thema:

Ein- und dasselbe materielle Substrat wurde im 19. Jahrhundert offenbar in einem Kommunikationszusammenhang als Kunst angesehen, als Kunst im Sinne eines ausdifferenzierten, autonomen sozialen Bereichs, der von anderen, externen Zumutungen entlastet ist, und in einem anderen Kommunikationszusammenhang dagegen nicht als Kunst aufgefaßt, sondern beispielsweise als Beitrag zur Religion, zur Aufklärung, zur Erziehung oder zur Politik. Sichtbar wird dies nicht unbedingt am Werk selbst, sondern an der Art und Weise der ausgelösten Folgekommunikationen. Diese Beobachtung ist für Philologen natürlich nichts Neues, denn man kennt diese Unterschiede als Resultat der Differenz von Alteuropa und Moderne, die literarisch etwa als Diskrepanz zwischen der Regelpoetik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts einerseits und der Autonomieästhetik des späten 18. Jahrhunderts besonders ins Auge fällt. Für die Kunstgeschichte hat Hans Belting deutlich gemacht, daß es eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst gibt.

Diese historische Schwelle zwischen vormodernen Künsten und moderner Kunst vermag allerdings nicht zu begründen, warum noch im 20. Jahrhundert, warum heute nach allem Gerede von der Weltgesellschaft, vom global village, von der Globalisierung oder von Globalkultur zum Trotz von Weltkunst im Sinne eines global operierenden Funktionssystems für Kunst kaum die Rede sein kann. Während Medien wie Macht, Wahrheit, Geld oder Gesundheit mittlerweile weltweit für Vergleichbarkeit und Kompatibilität sorgen und beispielsweise militärische, wissenschafliche, finanzielle oder medizinische Operationen weder hier noch woanders miteinander verwechselt werden, ist es dagegen oft zweifelhaft, welchen Status Artefakte, die hierzulande als Kunstwerk gelten, in anderen Regionen der Welt einnehmen. Das russische Beispiel nährt die Zweifel des Betrachters, wann und wo man es mit einiger Wahrscheinlichkeit mit Kunstwerken zu tun hat und nicht etwa mit Kultgegenständen, Mnemotechnik oder Propaganda. Die temporale Unterscheidung von Alteuropa und Moderne benötigt deshalb ein räumliches Pendant: eine Unterscheidung von Regionen. Denn wer von moderner Kunst und Literatur spricht, spricht offensichtlich nicht nur aus der Perspektive unserer Epoche, sondern immer auch als Westeuropäer, bzw. als weißer Australier oder Nordamerikaner.

Gerade diese räumlichen Differenzen werden aber von einem Großteil der Globalisierungsdebatte unterschlagen. Hinter den Stichworten wie "McDonaldisierung", "Disneyworld" oder "MTV-Kultur" steht vielmehr die "These von der Konvergenz der globalen Kultur". Prognostiziert wird etwa von Richard Münch eine Entwicklung, welche "eines Tages die ganze Welt mit einer einheitlichen Kultur überziehen wird", während "Widerstände" gegen diesen "Siegeszug des kulturellen Universalismus" in die Folklore abgeschoben und so entschärft würden. Wenn von einer weltumspannenden "gleichförmigen Alltagskultur" die Rede ist, dann scheint man immer die Kultur des Westens, speziell der USA vor Augen zu haben, deren rationale Prinzipien und indifferente Formen sich gegenüber all jenen anderen Kulturen durchsetzen, deren soziale Ordnung noch auf naturalen Differenzen wie "Alter, Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit" aufbauen. Verantwortlich für diese Weltherrschaft einer uniformen Allerweltskultur zeichnen selbstverständlich die Telekommunikationstechniken und Massenmedien. Schon in dem 1990 erschienenen Band Kultur. Bestimmungen im 20. Jahrhundert liest man vom "telematischen Zeitalter", das mit der weltweiten Verkabelung anhebt, die jedem zur ‚Echtzeitkommunikation‘ mit jedem anderen an jedem Ort der Welt verhelfe (S. 454). Diese Globalisierung der Telekommunikation werde aber im wesentlichen von den USA betrieben, deren "Medien- und Kulturimperialismus" die weltweite "Medienhegemonie der Vereinigten Staaten" zum Ziel habe (S. 455). Weltkultur und Hollywood fielen also im Medium der weltumspannenden Massenmedien zusammen. Im global village sei eben, wie in jedem Dorf, nur Platz für eine Kultur. Ein Verlust an Differenz wird befürchtet, und diese Sorge bezieht ihre Evidenz aus der kurrenten Klage über die weltweit unterschiedslose Gestalt der Hotels und Flughäfen, der Malls und Hochhäuser. Es kann denn nicht verwundern, wenn der Herausgeber des Kunstforum-Bandes über Weltkunst – Globalkultur aus dem Jahre 1992, der Schweizer Kurator und Kunstpublizist Paolo Bianchi, sich seinem Thema über das Kolonialismus-Paradigma nähert. Der Kolonialismus habe all das "ausgegrenzt" oder "ausgemerzt", was in die westeuropäische Vorstellung von Kultur nicht hineingepaßt habe, und nun sei zu befürchten, daß die medial in den USA hergestellte "Weltkultur, Globalkultur oder Megakultur" zu einer neuen "Vereinheitlichung der Welt" führe (S. 77), gegen die sich die Kulturen der "Dritten Welt" so verzweifelt wehrten wie einst die Indianer (S. 77f), also letztlich vergeblich. Im gleichen Band spricht der Jesuit und Philosophiedozent Franz Wimmer vom Menschen in einer global sich vereinheitlichen Kultur (S. 108-121). Er schreibt es der "Aggressivität jener in Europa zuerst entstehenden Herrschaftsformen" zu, daß "eine Vereinheitlichung wichtiger Lebensbereiche und der Techniken ihrer Bewältigung bei den meisten Menschen der Erde stattfindet" (S. 109). Die neuen Verkehrs- und Kommunikationsmittel, die keinesfalls als "inhaltlich neutrale" Techniken aufzufassen seien, sondern "Vehikel" der europäischen Kultur darstellten (S. 110), führten "gegenwärtig" zu einer "globalen Menschheitskultur", die "etwas grundsätzlich Neues gegenüber allen bisherigen Kulturen darstellt, insofern diese jeweils regional beschränkt waren." (S. 115) Diese Globalkultur verliere zwar an Differenz, kenne aber, so Wimmers Hoffnung, "keine Barbaren mehr", die "außerhalb" der eigenen Ordnung lebten, sondern nur noch Menschen. In einer Globalkultur, deren Einzelelemente Menschen wären, herrschte dann "ein Ordnungsprinzip der Gleichheit" (S. 120), das zwar keine Exklusion mehr vorsähe, aber auch keine Unterschiede mehr. Von Kunst in verschiedenen Gesellschaftstypen oder Regionalkulturen könnte dann nicht länger die Rede sein, sondern nur noch von der Kunst der Gesellschaft.

Für Germanisten wird diese Diskussion vertraut klingen, denn die Argumente gehören zu den Klassikern des Fachs. Goethe hat in einer 1828 notierten Bemerkung über die Die Zusammenkunft der Naturforscher in Berlin festgehalten, was er unter Weltliteratur versteht. Ich zitiere:

Wenn wir eine europäische, ja eine allgemeine Weltliteratur zu verkündigen gewagt haben, so heißt dieses nicht, daß die verschiedenen Nationen von einander und ihren Erzeugnissen Kenntnis nehmen, denn in diesem Sinne existiert sie schon lange, setzt sich fort und erneuert sich mehr oder weniger. Nein! hier ist vielmehr davon die Rede, daß die lebendigen und strebenden Literatoren einander kennenlernen und durch Neigung und Gemeinsinn sich veranlaßt finden, gesellschaftlich zu wirken. Die gemeinsam forschende scientific community der Naturwissenschaftler wird für Goethe zum Vorbild einer Assoziation der Autoren der Welt, die gemeinsam der Literatur den richtigen Weg weisen und Hindernisse beiseite räumen könnten. Die persönliche Zusammenkunft, die Goethe vorschwebt, sei heute – wir haben es schon gehört – dank der Telematik und virtueller Begegnungen im Cyberspace Realität geworden. Der kurze Text Goethes läßt offen, welche Richtung die Weltliteratur dann einschlagen werde, aber man kann schon 1857 bei Eichendorff, in seiner Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, nachlesen, daß jedes denkbare Ergebnis den Nationalliteraturen jedenfalls schaden werde. Eichendorff schreibt: Und so ist es unter anderem auch in die Mode gekommen, anstatt der nationalen eine Weltliteratur herzustellen die in ihrer notwendigen Rückwirkung alle echte Vaterlandsliebe zur bloßen altväterischen Grille macht. So wird namentlich die Poesie eine ganz allgemeine Phraseologie, und die Gestaltung im Drama, dem nationalsten aller Dichtungsarten, zum konventionellen Begriffsskelett. Eichendorff befürchtet von der Weltliteratur also einen Verlust an Differenz und Distinktion zugunsten einer "eine ganz allgemeinen Phraseologie". Genau diese Sorge ist heute wieder Mode: Globalisierung führe zur kulturellen McDonaldisierung.

Ich möchte nun meine eigene Auffassung von Globalisierung vorstellen. Ich bezweifle, daß die unbezweifelbare weltweite und beinahe nahtlose Installation von Coca-Cola-Automaten, McDonalds-Filialen, Benneton-Franchises, Kebab-Buden, Supermärkten und Biennalen schon ein Phänomen der Globalisierung sein soll, obgleich sie sicher global operierende Unternehmen, gewiß auch einen weltweit handelnden Kunstmarkt voraussetzt. Die Durchsetzung von Gütern und Marken auf den Märkten des gesamten Erdballs unterscheidet sich aber nur quantitativ von der Einrichtung portugiesischer oder britischer Flottenstützpunkte im 16. und 17. Jahrhundert. Diese kontraintuitive Position, daß gerade die vielbeschworene "McDonaldisierung" der Welt nichts mit Globalisierung zu tun hat, möchte ich jetzt begründen. Ich muß dazu etwas ausholen – und den europäischen Kulturbegriff ins Feld führen. Da Dirk Baecker, der darüber schon einmal an diesem Ort gesprochen hat, heute leider nicht hier zu sein vermag, kann ich auf seine Überlegungen zurückgreifen, ohne ihm dabei ins Gehege zu kommen. An einer kleinen Geschichte aus der Frühzeit der Gutenberg-Galaxis möchte ich Ihnen zunächst einige Eigenschaften des Kulturbegriffs vorführen.

In der Schönen Newen zeytung so kayserliche Mayestet auß India yetz nemlich zukommen seind, einem achtseitigen Druckwerk, erhält der Leser Nachrichten aus der Neuen Welt. Kolumbus landete 1492 an der amerikanischen Küste, Cortez begann seinen Eroberungszug 1519, die Neue Zeitung datiert vom Jahre 1522. Erzählt wird von der Entdeckung der "terra firma", des amerikanischen Festlands, durch die Expedition von 1498. Von Telematik und Echtzeitkommunikation noch keine Spur in dieser Zeitung, die der bereits 1516 verstorbene König Ferdinand von Spanien "yetz" und eigentlich post mortem erhält und die der Leser der Newen Zeytung mit ihm teilen darf. Unbekümmert um seine Verspätung verspricht der Bericht über den neuentdeckten Kontinent, daß er "hüpsch" und "gar kurtzweylig züleesen" sei – wenn diese ‚zeytung‘ auch nicht aktuell ist, dann doch frisch aus der Presse, und wenn das Mitgeteilte nicht ‚jetzig‘ ist, dann doch bislang unbekannt. Zu den erstaunlichen Nachrichten gehören etwa die Beschreibung eines Tempels, aus lauter Gold und Silber erbaut, der so groß sei, daß in einem Kreuzgang "fünff tausent heüsern platz haben" (S. 42), oder der Bericht vom Opfer, das dem Götzen der Sonne in Gestalt des Blutes frisch geschlachteter "junger knaben" täglich dargebracht werde (S. 43). Von Ungeheuerlichem und Unheimlichen ist die Rede, doch nicht alles ist so spektakulär. So lebten etwa die Mexikaner "als wir die ordnung mit ainem weib" (S. 46), also in der monogamen Ehe, und machen wie wir "wein" aus gegorenen "trauben" (S. 44f), Richter sorgen für Recht und Ordnung (S. 46) und die Verwandten und Freunde klagen und weinen, wenn jemand aus ihrer Mitte stirbt (S. 46). Anerkennung finden ihre "seltzame gwerckten dücher", die der Verfasser der Zeytung, das "ich" des Berichts, selbst "gesehen" habe, und die aller heimischen Kunst weit überlegen seien: "kain maler noch schnitzer kann ejne sollich proporcion vnd gstalt nit geben, das alles das wir zierlichs erdencken vnd arbaiten künden, das machen sy von federn vil besser vnd künstlicher." (S. 45) Diese frühe Zeitung unterhält ihr Publikum mit einem Potpourri von Themen über "India", die von Berichten über grauenvolle Kulthandlungen bis zu Beschreibungen des lokalen Kunsthandwerks reichen. Neu kann sich dieser achtseitige Druck deshalb mit Recht nennen, weil er aus der Neuen Welt berichtet und im alten Europa selbst die Information, daß auch dort die Ehen monogam seien, einen Neuigkeitswert hat, da man darüber erstaunt sein darf, daß menschenopfernde Heiden immerhin in diesem Punkt als zivilisiert gelten dürfen. Der Bericht arbeitet mit der Unterscheidung von Identität und Differenz, die den sachlichen Kern des neuzeitlichen europäischen Kulturbegriffs ausmacht im Unterschied zur antiken Bedeutung der Kultur als "Pflege von...". In unserem Bericht ist es der darin implizierte Vergleich der eigenen Kultur mit der Kultur einer anderen Region, die alle Nachrichten "interessant" werden lassen, gleichgültig ob Ähnlichkeiten oder Unterschiede pointiert werden, da in beiden Fällen Nachrichten produziert werden: die deutschen Leser und Zuhörer können sich entweder darüber wundern, wie anders es doch in Mexiko ist, oder aber auch darüber, daß es im fernen Mexiko in gewisser Hinsicht so wie in Österreich zugeht, wo diese Zeitung Verbreitung fand. Die Gemeinsamkeiten wird man später auf anthropologische Gründe zurückführen, die kulturellen Unterschiede dagegen auf geographische oder klimatische Differenzen, also auf die Umwelt der Gesellschaft. So gibt etwa Francis Bacon 1620 im Organon zu bedenken:

Man erwäge auch den grossen Unterschied, der zwischen der Lebensweise in einem gebildeten Lande Europa‘s und dem in einer wilden und barbarischen Gegend des neuen Indiens besteht. Den Unterschied der Kulturen sieht Bacon begründet in den Differenzen der "Lebenszustände" vor Ort, Klima, Fauna, Flora. Und diese Unterschiede werden wiederum vom Menschen allein durch den Einsatz der Künste ausgehalten, mit deren Hilfe sie sich in den unterschiedlichen Regionen einrichten. Dahinter steht der Gedanke, daß der Unterschied der Kulturen sich letztlich den Unterschieden ihrer Umwelt verdankt. Die Konstante hinter diesen Differenzen ist der Mensch als Mensch. Herder spricht – freilich zwei Jahrhunderte später – von den "sogenannten kultivierten Amerikanern in Mexiko, Peru, Paraguay, Brasilien", auch die Azteken hatten also Kultur, aber eben keine europäische.

Ohne die selbstverständliche Voraussetzung aber, daß auch in Westindien Menschen zu finden sind und nicht Ungeheuer oder Monster, könnten diese Vergleiche der Newen Zeytung gar nicht angestellt werden, denn es fehlte an einem tertium comparationis. Und diese Voraussetzung, auf Menschen zu treffen, konnten nur die Entdecker machen, die ihr Geschäft schließlich mit einer gewissen Routine betrieben, die Entdeckten aber nicht, für die ihre Entdeckung immer ein singuläres Geschehen war.

Zweifellos haben auch die Mexikaner ihre spanischen Eroberer genau beobachtet, und Herder behauptet, "jene Mexikaner" hätten "sogar die ihnen unerhörteste Sache, die Ankunft der Spanier, in Hieroglyphen [zu] melden" verstanden. Doch jeder mögliche Bericht über die Spanier würde sich in einem erheblichen Punkt von der spanischen Beobachtung der Azteken unterscheiden: die Spanier konnten ihre Beobachtungen mit einer Vielzahl von anderen Beobachtungen vergleichen, welche die unternehmungslustigen Europäer in allen Teilen der Welt anstellten, zurück nach Europa brachten und dort drucken ließen. Im 16. Jahrhundert verfügten die christlichen Nationen über genügend Informationen, um nicht nur sich selbst zu einer neuentdeckten, fremden Kultur in ein Verhältnis zu setzen, sondern mehrere außer-europäische Gesellschaftsformen auch untereinander zu vergleichen. Marco Polos Berichte (1298/99) über China etwa waren längst in alle gängigen europäischen Sprachen übersetzt. Man wußte, daß die Erde keine Scheibe war, an deren Rändern Ungeheuer lauerten. Aus vielen Gründen gab es bis in unser Jahrhundert hinein also weltweit einen einzigen privilegierten Standort zur Beobachtung von Kultur: Europa. Aufgrund ihrer technischen Möglichkeiten, vor allem aufgrund ihrer Fähigkeiten in der Seefahrt, der Kartographie und der Drucktechnik, waren die Europäer in der Lage, von Grönland bis Peru, von China bis Schwarzafrika die Art und Weise zu vergleichen, mit der die lokalen Kulturen Vorsorge für das Alter treffen, Speisen würzen, die angemessene Bekleidung für den Anlaß, die richtige Grußformel für Vorgesetzte oder Untergebene oder den passenden Partner für die Liebe oder Ehe wählen oder auch "Kunst" und "Literatur" herstellen. "Die Eskimos in Amerika sind, wie an Sitten und Sprache, so auch an Gestalt der Grönländer Brüder", schreibt Herder, und obwohl das raue Klima diese Nordvölker bisweilen zu barbarischen Mitteln der Ernährung greifen lasse, sei auch an ihnen "Humanität sichtbar" (S. 205). Mit Herder liefere ich hier ein beliebig ausgewähltes Beispiel für die europäische Fähigkeit zum Vergleich von Regionalkulturen. Derselbe Herder beklagt auch, daß den beobachteten Nationen selbst diese Fähigkeit abgehe:

Überhaupt ist‘s schade, daß die sinesische Geschichte, der Verfassung ihres Landes nach, so sinesisch hat bearbeitet werden müssen. Alle Erfindungen schreibt sie ihren Königen zu; sie vergißt die Welt über ihrem Lande. – Die derart von Europäern beobachteten "Eingeborenen" schließlich konnten zwar zurückschauen, aber das Gesehene nur in Bezug zu ihren eigenen Überlieferungen setzen, was – wie Todorov beschrieben hat – zu merkwürdigen Realitätskonstruktionen führte, nicht aber in Beziehung zu dritten Fremdkulturen. Darin liegt wohlmöglich ein Grund dafür, daß die überraschend wie aus dem Jenseits auftauchenden Konquistadoren und Kolonisatoren von den Einheimischen als Götter betrachtet wurden, da die Europäer in der entsprechenden Weltanschaung nicht vorkamen und weder der eigenen Kultur noch den Feinden oder "Barbaren" an der Peripherie zugeordnet werden konnten. Die Europäer erwarteten dagegen nirgendwo, auf Götter zu treffen, sondern auf "Wilde", die des Menschseins grundsätzlich fähig sind. Ich darf Sie hier auf einen Aufsatz von Rudolf Stichweh über Fremde, Barbaren und Menschen hinweisen, der diesen Unterscheidungen weiter nachgeht.

Ich komme zurück zu meiner Ausgangsüberlegung: Daß also überall auf der Welt Europäer oder Errungenschaften der europäischen Kultur anzutreffen sind, sei noch kein hinreichender Grund dafür, von Globalisierung zu sprechen. Als Begründung bietet sich nun an: Wenn die Regionalkultur nicht über die Möglichkeit verfügt, sich außer mit den eindringenden Europäern hinaus mit dritten Kulturen zu vergleichen, befindet man sich wohl noch im Paradigma des Kolonialismus, da nur in der Perspektive Europas Unterschiede auf Kultur zurückgeführt wurden und nicht auf Natürliches oder Übernatürliches. Dieses Vorrecht galt bis vor kurzem gerade auch auf dem Feld der Kunst, denn das moderne Europa allein war dazu in der Lage, schöpferische Werke hinsichtlich ihrer Funktion zu differenzieren und entsprechend autonome Kunstwerke von heteronomen Objekten zu trennen. Die noch so komplexe Tätowierung eines südseeischen Seemanns war für Kant kein Kunstwerk, da sie nicht um ihrer selbst willen geschaffen worden sei.

Wo dieser Blick für Funktion und Kontext ausblieb, nahmen indessen wiederum allein gebildete Europäer auch Kunstwerke dort wahr, "wo weder Hersteller noch Betrachter wußten, daß es um Kunst, geschweige denn um Kultur ging." Aufgrund der Ähnlichkeit der Oberflächen wurden Kultgegenstände, Rituale, Götzenbilder usw. der Kunst unter der universalistischen Voraussetzung zugeschlagen, daß Menschen sowas benötigen oder über einen eingeborenen ‘Sinn für Schönheit’ verfügen. So werden Artefakte zu "Kunstwerken", die vor Ort einen ganz anderen Sinn hatten und die vor allem – im Gegensatz zur Kunst seit der Epochenschwelle zur Moderne – ohne die Möglichkeit für andere Möglichkeiten, die ohne das Wissen um Kontingenz hergestellt worden sind. Obschon in dieser Perspektive weltweit Artefakte hinsichtlich ihrer kulturellen Dimension relationiert worden sind, läßt sich hier noch nicht von Globalisierung sprechen, sondern eher von "transkultureller Kommunikation", da die Reziprozität der Beobachtung kaum gewährleistet war. Der Einfluß etwa afrikanischer Plastiken vor beinahe 100 Jahren auf die Kunst vor allem der französischen Moderne, der Einzug koreanischer Gottheiten in die Bilder Emil Noldes, die Rolle südseeinsularischen Hausschmucks und Zierrats in den Arbeiten Kirchners oder der Masken von den Eingeborenen der Nornoinseln in die Gemälde Jawlenskys haben mit globalisierter Kunst nicht das Geringste zu tun. All das sind zwar interessante Adaptionen, die uns mit Gestalten und Ornamenten der Ferne bekannt machen, doch sind diese Übernahmen einseitig. Europa beobachtet und vergleicht, der Rest der Welt wird beobachtet und verglichen. Es gibt keine vergleichbare Rezeption der europäischen Kunstgeschichte, die in die Maskenfabrikation der Nornoinseln oder die Fetischfertigung Schwarzafrikas einfließen würde. Genau dies impliziert aber – und in der Wirtschaft ist es deutlicher zu sehen – Globalsierung im Gegensatz zum kolonialistischen Umgang mit Fremdkulturen. Das Beispiel der Ökonomie macht allerdings auch deutlich, daß jene Beiträge einer Regionalkultur die größten kommunikativen Chancen haben, die sich friktionsarm in die Grundarchitektur eines ausdifferenzierten Funktionssystems einpassen lassen: so konnten zwar ohne weiteres die robotisierte Fabrik, das Beliefern just-in-time, flache Hierarchien und lean production importiert werden, nicht aber etwa die japanische Integration der Arbeiter und Angestellten in ihr Unternehmen, obwohl dies so oft angestrebt wurde. Für diese Veränderung wäre allerdings ein Umbau nicht nur der Unternehmenskultur, sondern der gesamten Gesellschaftsstruktur nötig gewesen, etwa der Differenzierungen von Arbeit und Freizeit, Wirtschaft und Familie – eine zu hohe Hürde. In Anbetracht des Standes der funktionalen Ausdifferenzierung in der westlichen Welt ist es ebenso unwahrscheinlich, daß sich eine Auffassung von ‘Kunst’ importieren und durchsetzen ließe, die zu ihrer Rezeption zwingend eine bestimmte religiöse, moralische oder auch politische Perspektive erforderlich machte. Kunst ist Kunst – zumindest in Europa.

Die skizzierte Sonderstellung Europas, dieses Produkt aus moderner Funktionsdifferenzierung, jahrhunderte währender Expansion und überragender Speicher- und Verkehrstechniken, ist unterdessen Geschichte geworden. Viele Regionen des Erdballs, werden nicht nur von Europa aus verglichen, sondern sind heutzutage in der Lage, selbst Vergleiche anzustellen – und wenn nicht in einem Feldversuch vor Ort, wie etwa in dem von Umberto Eco notierten wunderbaren ethnologischen Betrachtungen einer tasmanischen Forscherin über Bologna, dann doch anhand der Massenmedien oder des Internets.

Die Systemtheorie, der die Veranstalter dieser Tagung ja sehr verpflichtet sind, spricht weniger von Globalisierung, als vielmehr von Weltgesellschaft. Damit ist gemeint, daß die Funktionsdifferenzierung, bis vor kurzem noch ein europäischer Sonderfall, nun zum globalen Regelfall geworden ist. Entsprechend gibt es nun keine Gesellschaft mehr außer der einen Weltgesellschaft, während die europäische Moderne noch im letzten Jahrhundert auf andere Gesellschaftstypen treffen konnte, etwa auf religiös geprägte Kastengesellschaften, moralisch integrierte Kriegergesellschaften, auf stratifizierte und selbst auf segmetär differenzierte Gesellschaften. Nunmehr gelten aber jenseits aller Unterschiede weltweit die gleichen, allerdings sehr abstrakten Spielregeln für Wirtschaft, Recht, Macht oder Wissenschaft, insofern man wirtschaftliche, rechtliche, politische oder wissenschaftliche Operationen deutlich voneinander trennen können muß, wenn sie anschlußfähig sein sollen. Die für andere Gesellschaftstypen symptomatischen kommunikativen Gemengelage sind chancenlos, oder aber etwaige indifferente Beiträge werden in der Rezeption so gefiltert, daß die Anschlußkommunikationen dann einem und nur einem Sozialsystem zuzuordnen sind. Eine wissenschaftliche Arbeit kann nicht auf religiösen Überzeugungen aufbauen, ein Vertrag zwischen Firmen in Moskau, Hongkong und Chicago kann sich nicht damit begnügen, auf die Ehre der Partner zu vertrauen, ein Geschäftsabschluß muß sich finanziell rentieren und nicht im Jenseits. Die so verstandene Weltgesellschaft meint – ich wiederhole es – nichts weniger als die Hegemonie einer Globalkultur, sondern die weltweite Existenz eines festen Parameters, nämlich der funktionalen Ausdifferenzierung, zu dem sich jede Regionalkultur verhalten kann. Jede Kommunikation kann sich daraufhin befragen lassen, ob sie einen Funktionsprimat besitzt und so ihre Wahrscheinlichkeit für Anschlußkommunikationen auch in anderen Regionen der Weltgesellschaft erhöht, oder ob sie darauf verzichtet. Wer Geld benutzt, Verträge nach internationalem Recht schließt, Erkenntnisgewinn auf Methoden stützt statt auf Inspiration erhöht seine Chancen auf kommunikativen Erfolg. Der Begriff Weltgesellschaft zeigt an, daß aufgrund der verkehrs- und nachrichtentechnischen Vernetzung der Regionen dazu potentiell jeder in der Lage ist – jeder mit der bekannten Ausnahme jener, die in den "schwarzen Löchern" (Stichweh) unserer Gesellschaft hausen und an ihren Operationen nicht mehr teilnehmen. In diesen Exklusionsbereichen gibt es keine Weltgesellschaft, allerdings auch keine Kunst, keine Kommunikationssysteme, sondern bloß: Körper.

In seinem Großwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft hat Niklas Luhmann die These vertreten, daß in der Weltgesellschaft global realisierte Strukturvorgaben der funktionalen Differenzierung auf regionale und kulturelle Sonderbedingungen treffen (S. 168). Luhmann, der bekanntlich den Kulturbegriff nicht liebt und ihn einmal als "einen der schlimmsten Begriffe, die je gebildet worden sind", bezeichnet hat, führt mit seiner Auffassung der Weltgesellschaft den belasteten Begriff wieder ein, weil man mit der Zurechnung von Kommunikationen auf Sozialsysteme allein offenbar nicht auskommt. Wirtschaft ist zwar in Süditalien genauso Wirtschaft wie im Norden, aber eben unter den bewußten "regionalen und kulturellen Sonderbedingungen", also mafiös statt nicht mafiös. Süditalien ist aber eben weder eine Gesellschaft, noch eine Organisation, kein Funktionssystem noch eine Person, und doch prägt die Region alle Kommunikationen in ihrem Bereich. Diese Sonderbedingungen kommen dann in den Blick, wenn man die globalen Strukturvorgaben der funktionsdifferenzierten Weltgesellschaft vergleicht mit den vielen Varianten der regionalen Umsetzung und dann feststellt: es ist anders und es ist ähnlich. Es gibt also keine Weltkunst, die in jeder Region dieselbe wäre. Was Kunst ist, hängt ab von der jeweiligen Differenz von Globalstruktur und Regionalkultur. Die Aufgabe der Kunst- und Literatursoziologie wäre es, die kommunikative Rolle der Kunst in den verschiedenen Regionalkulturen zu erkunden, die heute – und das ist das epochal Neue daran – im Medium der Globalisierung ihr tertium comparationis gefunden haben.

Die Erfahrung weltumspannender Massenmedien, in denen sich die Globalisierung wesentlich vollzieht, hatte mich ursprünglich zu der Hypothese gebracht, daß Weltkunst populäre Kunst sein müßte. Ich vermutete, daß Kunst, die sich weltweiter Medien zu bedienen verstünde, populäre Kunst wäre, denn nur populäre Kunst würde die Leistung vollbringen, die enormen kulturellen Differenzen der lokalen Rezipienten global so zu integrieren, daß ihre spezifische Funktion tatsächlich Region für Region durchgreift und wirklich in jedem dieser Fälle von Kunstkommunikation im strengen Sinn der Systemsoziologie gesprochen werden könnte. Globale Kunst, die in jeder Regionalkultur als Kunst kommuniziert würde, würde den Erfolgsmedien folgen müssen und in die Fußstapfen von Sendungen wie Derrick und Dallas, Videospielen wie Tomb Raider oder Musiksendern wie MTV treten, da derartige Formate der Popkultur weltweit ein Terrain für eine Kunst bereitet haben, die darauf aufbauen würde. Es wäre für Weltkunst eben ein evolutionärer Vorteil erster Güte, Kunstwerke für ein Publikum zu schaffen, die bereits in die globalen Massenmedien integriert sind. Der Beoachter hätte dann eine weltweit rezipierte Pop Art von einer nur lokal und marginal berücksichtigten Nischenkunst zu unterscheiden. Die bewährten Differenzierung von populärer und elitärer Kunst, von high und low, die Kriterien der Verbreitung und des Niveaus könnten dann revitalisiert werden. Globalisierte Kunst wäre dann eine von Heerscharen rezipierte Massenkunst niedrigen Niveaus, deren Werke von einer solchen Indifferenz wären, daß sie die kulturellen Differenzen der lokalen Rezipienten zu unterbieten verstünden, während anspruchsvollere Kunst nur in einzelnen Regionalkulturen anschlußfähig wäre. So könnte es sein, doch ziehe ich eine andere These vor, die stärker dem vorgeführten Kulturbegriff verpflichtet ist.

Von globalisierter Kunst ist meiner Ansicht nach dann zu sprechen, wenn gemeint ist, daß weltweit ein Vergleichsmedium für alle in Frage kommenden Werke zur Verfügung steht. Globalisierung meint dann nicht den Einheitsbrei einer Art Trivialkunst für alle, sondern muß als Formel für den Vergleich von einer wie auch immer typisch lokalen Form der Kommunikation mit einer anderen verstanden werden. Ich vermute, daß in einem gewissen Sinn die Postmoderne Kunst eine Reaktion auf die hier vorgestellte Form der Globalisierung gewesen ist, also weniger mit dem Ende der Moderne und der Epoche danach zu tun hat, sondern eher mit dem Aufkommen einer weltweiten Vergleichbarkeit der Regionalkulturen. Veranschaulichen läßt sich diese Hypothese auf dem Feld der Architektur, auf welchem der International Style, der überall auf der Welt seine funktionalen und geometrischen Bauten in einer Weise errichtet hat, daß man ihren Plänen kaum ansehen konnte, ob in Chicago, in Stuttgart, in Tel Aviv oder in Brasilia gebaut werden sollte, wo dieser internationale Stil in den Siebziger Jahren abgelöst wurde von einem postmodernen Architekturprogramm, prominent vertreten von Charles Jencks, einem Programm, das sich vor allem den Bezug auf den Bauort auf seine Fahnen geschrieben hat, den Bezug auf die den Bau umgebende Regionalkultur, auf sein Milieu. In Le Corbusiers Ausblick auf eine Architektur von 1922 ist dagegen zu lesen: "Alle Menschen haben den gleichen Organismus mit den gleichen Funktionen. Alle Menschen haben die gleichen Bedürfnisse." Alle "Standardbedürfnisse" zeitigen folglich "Standardlösungen". Wenn die Architekten den "wirklichen, grundlegenden architektonischen Gesetzen" folgen, dann führt dies zwingend zu einem einheitlichen internationalen Stil. Material, Technik und Baukunst haben zu einer verbindlichen Synthese gefunden. Le Corbusier verkündet: "Die Zeit der Stile ist vorbei. Stile haben keinen Raum mehr in unserem Leben." Der International Style ist daher global, zeitlos und rücksichtslos. Wenn die Form einer Sache allein aus seiner Funktion folgt, dann kann dies auch gar nicht anders sein, da jede Rücksichtnahme auf zeitliche und räumliche Kontexte entfällt.

Die Sensibilität für das Milieu und damit: Vielfalt hat die Postmoderne der Architektur zurückgewonnen. Charles Jencks hat auf die "lokale" Dimension der postmodernen Architektur nachdrücklich aufmerksam gemacht. Die gelungenen Bauten der Postmoderne bezögen ihre Impulse aus der "lokalen Geschmackskultur", aus der "lokalen Territorialität", aus dem lokalen "Jargon", aus ihrem Kontext. Heinrich Klotz hat es schon 1985 programmatisch formuliert: "An die Stelle eines Internationalismus der Moderne ist der Regionalismus der Postmoderne getreten." Doch haben weder die Postmoderne- noch die Globalisierungs-Debatte aus diesen Einsichten Konsequenzen gezogen. So blieben etwa die Familienähnlichkeit beider Konzepte, die gemeinsame Herkunft aus der telekommunikativen Erschließung der Welt sowie die überragende Bedeutung der Raumdimension für Postmoderne wie Globalisierung unentdeckt. Offensichtlich vollkommen begeistert von Metaphern wie der ‚zusammengeschrumpften Welt‘, der ‚Telematik‘, der ‚Instantanität‘, der ‚Echtzeitkommunikation‘ oder des ‚Internet‘ haben Soziologie und Medientheorie auf breiter Front jedes Nachdenken über den Raum eingestellt mit der Folge, daß man sich unter der Globalisierung kaum etwas anderes als die zeitgleiche Präsenz von Hamburgerketten oder Automobilfabriken in aller Welt vorstellen konnte, nicht hingegen die räumlich bedingte Differenz der Regionalkulturen untereinander und zur Weltgesellschaft. Der Raum zwischen den Regionen ist aber eine Differenz, die einen Unterschied macht, trotz lichtschneller Telekommunikation. – Der Aspekt des Lokalen oder Regionalen, den ich hier an der Postmoderne betont habe, meint nun aber keinesfalls eine provinzielle Abschließung, eine splendid isolation der Regionen; das Regionale ist vielmehr auch für die Postmoderne nichts anderes als eine Seite der Form der Globalisierung. Das Regionale ist eine Funktion des Globalen und vice versa. Die Differenz von International Style und Postmodern Style ließe sich reformulieren als Unterscheidung von Globalisierung und Regionalisierung. Globale Standards etwa der Statik, der Sicherheit, der Qualität oder der Hygiene werden regional eingebettet. So verstanden ist die postmoderne Architektur auch kein neuaufgelegter Historismus, denn dieser hat sich allein aus dem Formenschatz der europäischen Baugeschichte versorgt, sondern ein epochemachendes Phänomen, denn die Integration regionaler Stile in einem Bauwerk ist nun erstmals ein globales Spiel, kein europäisches. Und der Unterschied zu britischen Kolonialbauten in Indien oder holländischen Grachten auf Indonesien besteht wiederum darin, sofern sie überhaupt auf regionale Stile eingegangen sind, daß in der Postmoderne gleichsam hybride Werke möglich sind, die der europäischen Architektur nicht mehr verdanken als der aztekischen, ägyptischen oder koeranischen. Es geht nun ohne Europa. Die Zeit, in der man einen Artikel überschreiben kann, Wer Paris erobert, regiert die Weltkunst, wie Eduard Beaucamp jüngst in der FAZ (17. 10. 1998), sollte also vorbei sein, wenn es denn Weltkunst gäbe, die sich zur Tradition der europäischen Moderne in gar kein Verhältnis setzen ließe und dennoch Kunst wäre.

Aber gibt es das denn? Autonome Kunst, die als Kunst produziert und rezipiert wird, die von anderen Beiträgen zur Kommunikation trennscharf zu differenzieren ist und die dennoch nicht der europäischen Moderne verpflichtet wäre? Existieren irgendwo, woanders, Kunstwerke, die tatsächlich kontingente und dennoch formal zwingende Schöpfungen sind, Werke, die sich nicht in den Dienst anderer Diskurse einspannen lassen, die aber zugleich der westlichen Kunstgeschichte nichts zu verdanken haben sollten? Dies wären Werke, die sich zu denen der europäischen Kunst etwa so verhalten wie asiatische Eßstäbchen zu Messer und Gabel oder wie eine südamerikanische Knotenschnur zum Alphabet, also äquifunktional. Gibt es also womöglich eine Kunst, deren Werke vom eurozentrischen, kolonialistischen Blick verkannt werden, obgleich sie aufgrund ihrer Funktion und ihrer Codierung zur Kunst der Weltgesellschaft gehören müßten? Gibt es globalisierte Kunst, die wir nicht als Kunst beobachten, weil wir die Globalisierung mit einer weltweiten Expansion Europas verwechseln, weil immer noch gleichsam im Kolonialstil beobachtet wird und die neue Möglichkeit keine Beachtung findet, daß die Regionalkulturen sich global in ein Verhältnis setzen können, ohne daß Europa daran beteiligt sein müßte?

Auf allen relevanten Feldern der Gesellschaft ließ sich in den letzten Jahren studieren, wie schwierig es für Europa ist, sich mit der Globalisierung abzufinden und den eigenen Stil als Regionalstil zu relativieren im Verhältnis etwa zu anderen Weltreligionen oder zu anderen Formen des Wirtschaftens und Herrschens. Es wäre daher nicht verwunderlich, daß die Globalisierungfolge für die Kunst der europäischen Moderne den Rang einer narzißtischen Kränkung erhalten könnte, da sie einsehen müßte, nicht die Weltkunst zu sein, die man von Paris aus erobert, sondern nur ein Regionalstil von vielen.

Ich kann Ihnen auf die hier angedeuteten Probleme keine definitive Antwort geben, aber ich hoffe, daß die Frage interessant genug gestellt ist, um sich ihr weiterhin zu widmen. Überzeugt bin ich jedenfalls davon, daß die kommenden Vorträge an diesem Wochende uns Antworten näher bringen oder aber das Problem der globalisierten Kunst schärfer konturieren werden, als es mir hier möglich war.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.