Bis ihn die Cholera hinwegraffte, hatte einst Hegel im Hörsaal 6 der Humboldt-Universität seine Vorlesungen gehalten. Als sein später Nachfolger Friedrich Kittler sich nach "diesem philosophischen Heiligtum erkundigte", erhielt er "die amtliche wie traurige Auskunft", dass es Nr. 6 nicht mehr gibt. Der Raum wurde parzelliert und der Finanzverwaltung der Uni zugewiesen. Seine "von Hegel vergiftete Vorlesung" über die "Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft", die jetzt als Buch vorliegt, musste Kittler im Sommersemester 1998 daher leider woanders halten. Schade, vielleicht hätte der Genius Loci den Wettkampf um Hegels leeren Thron, den das Yale Journal of Criticism (vol. 13, no. 2) zwischen Luhmann und Kittler toben sieht, zur Entscheidung geführt. Bis auf weiteres muss sich Kittler damit begnügen, als einer von zwei "alpha males" German Media Theory zu vertreten. Er selbst wirft Luhmann - dem "größten Erben" Hegels - jedoch einmal mehr den Fehdehandschuh hin: "Dass das Wort Gesellschaft im Folgenden nicht fällt, ist Methode." Allenfalls von einer "Theorie einer so genannten Gesellschaft" ist in Kittlers Kulturgeschichte gelegentlich und abschätzig die Rede.
Bis dahin, zum Professor für Mediengeschichte und Ästhetik an der Humboldt-Universität Berlin, war es ein langer Weg. Als Germanist in Freiburg, als er seinen Namen noch Friedrich A. Kittler schrieb, hatte er die strukturale Psychoanalyse Jacques Lacans für die Literaturwissenschaft erschlossen und die Texte kanonischer Autoren wie Lessing, Novalis oder E. T. A. Hoffmann auf familiäre Sozialisationsspiele zwischen Dichter, Mutter und Kind zurückgeführt. Aus der Lektüre "klassischer und romantischer Epen", deren "Helden" in jener Epoche gemeinsam ist, "eine einzigartige und geheime Bedeutung ihres Lebens in der Kindheit zu suchen", folgert Kittler 1980, dass dann ja wohl die "Kleinfamilie" selbst ein "privilegiertes ,Aufschreibesystem' geworden sein" muss, denn vorher gab es weder Kindheit noch eine Suche nach ihr. Fünf Jahre später liegt die große, diskursanalytische Monografie gleichen Namens vor, die der deutschen Dichtung einen ungewöhnlichen Platz in einer Rückkopplungsschleife zwischen mütterlicher Alphabetisierung, Gymnasialunterricht und Beamtenrekrutierung zuweist.
Nur ein Jahr später wird Lacan auf den medientechnischen Stand gebracht. Die technischen Errungenschaften Grammofon, Film, Typewriter reißen die dichterische Einheit des Hörens, Sehens und Lesens auseinander, und Lacans "methodische Distinktion" zwischen Realem, Imaginärem und Symbolischem wird als "Effekt" dieser medialen Ausdifferenzierung erkennbar. Seitdem "Optik, Akustik und Schrift" technisch auseinander treten und "um 1880 Gutenbergs Speichermonopol" sprengen, bestimmen "Medien unsere Lage", die gute Literatur bestenfalls aufschreiben kann wie etwa Bram Stoker oder Thomas Pynchon. Das "A." in Kittlers Namen, das vielleicht an Lacans großen Anderen erinnerte, im Falle des 1943 Geborenen aber noch ganz andere Vermutungen zu wecken vermag, wird nun weggelassen.
Seit Computer alle Medien aufgehoben haben und nur noch ihren Konsumenten verschiedene Oberflächeneffekte vorgaukeln, wendet sich Kittler, mittlerweile Professor für Literaturwissenschaft in Bochum, Technischen Schriften (1993) zu, "die nicht alphabetisch, sondern numerisch oder algebraisch verfasst sind". Die Macht, die Foucaults Diskursanalyse immer nur in Büchern gesucht hat, haust fortan in Schaltkreisen, die ihre Tarnung in Software oder Alltagssprachen finden. Nachdem sich der von Silicon Valley abgehängte Osten freiwillig zum Untertan des Microsoft-Imperiums gemacht hatte, war allein noch ein Ruf an den Hegel-Lehrstuhl der berühmtesten Berliner Universität nötig, um mit der zurzeit faszinierendsten Theorie technischer Autoevolution den leeren Thron zu besetzten.
Mit Hegel teilt Kittler nicht nur die kontingente Eigenschaft, nach Imperatoren benannt zu sein. Wichtiger sind die Gemeinschaften, die Kittler in seiner Hegel-Lektüre selbst entdeckt. Etwa die Bemerkung zur Entstehung der Moderne aus "Buchdruckerkunst" und "Schießpulver", also aus Pulver und Blei, Krieg und Medien, die auch Kittler für Zwillinge hält. Hegel habe zuallererst "beide Techniken positiv und gleich bewertet". Eine weitere Verwandtschaft liegt in der Verdopplung der Welt in "historische Zeit" und "Systemzeit": "Wie der Schluss der Phänomenologie ganz ausdrücklich erklärt, existiert die Welt einmal als Geschichte, und das heißt als ,Schädelstätte des [absoluten] Geistes', ein zweites Mal aber auch noch als Hegels eigene Philosophie dieser Geschichte. Wobei die zweite Version des Seins den unbezahlbaren Vorzug aufweist, schneller durchlaufen werden zu können." Hegel, der "mehr Bücher gelesen und mehr Zettelkästen gefüllt hat als Sie und ich zusammen" (Kittler) und sich in seinem Hauptwerk alles Zitieren ziemlich erspart hat, rafft so die Jahrtausende und die Unmenge von Büchern zu ein paar Texten zusammen, die in "schlimmstenfalls einem Semester" zu erlesen sind. Allein Kittler ist noch viel schneller, er vermag "Hegels zeitlupenartige Weltgeschichte noch einmal zu beschleunigen". Dazu benötigt man wahrlich unaufhaltbaren "Drive", der bei Hegel Weltgeist heißt und bei Kittler schlicht Technik. Für die letzten 200 Jahre - von der napoleonischen Optotelegrafie bis zum Infowar des Pentagons - brauchte er in der FAZ am 25. 11. nur eine Seite. Die vom Krieg vorangetriebene Evolution der Technik entpuppt sich auch als geheimes Agens der "Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft".
Zum Beispiel bei Freud. Dessen berühmte Theorie menschlicher Enkulturation erzählt die Geschichte einer Urhorde, in der ein "gewalttätiger, eifersüchtiger Vater" alle "Weibchen für sich behält und die heranwachsenden Söhne vertreibt". Diese Söhne taten sich dann "eines Tages" zusammen, "erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende". Diese "Totemmahlzeit", bei der man sich den Vater einverleibt und als Totem zugleich auf Distanz bringt, nennt Freud "das erste Fest der Menschheit". Kittler nennt diese Theorie zu Recht "blühenden Blödsinn", denn bevor die Söhne den Vater erschlugen, haben sie sich ja schon erfolgreich "vereint", also organisiert. Die Kultur, die aus dem Vatermord hervorgegangen sein soll, muss dieser Tat also schon vorausgesetzt werden können. So weit, so gut, das alles interessiert Kittler ohnehin nicht angesichts einer Parenthese Freuds, die da lautet: "Vielleicht hatte ein Kulturfortschritt, die Handhabung einer neuen Waffe, ihnen das Gefühl der Überlegenheit gegeben."
Natürlich ist es dieser "Hinweis Freuds", der "Kulturfortschritt" auf "neue Waffe" reimt, den Kittler "ernst" nimmt, weil er allen Theorien der Intersubjektivität, allen "Psychoanalysen und Soziologien" demonstriert, dass sich die "Beziehungen zwischen Menschen und Menschen" offenbar von den "Beziehungen zwischen Menschen und Dingen nicht leichtfertig trennen" lassen. Im Klartext: Wo zweie beieinander stehen, da herrscht nicht reine Intersubjektivität oder doppelte Kontingenz, sondern dort treffen "Waffen, Werkzeuge, Medien" aufeinander. Da "neue Waffen kulturhistorisch" alles andere sind als "zeitlose Konstanten", muss sich die Kulturgeschichte fragen, wo diese eigentlich herkommen. Dies führt Kittler zu einem seiner interessantesten Kapitel, das Ernst Kapps "Philosophie der Technik" von 1877 als Stammvater der Medienevolution vorführt. Zunächst nimmt Kapp an, Werkzeuge und Waffen seien "Organprojektionen". Die geballte Faust wird zum Faustkeil verbessert. Nachdem Kapp so Freuds "Prothesengott" und McLuhans Deutung der Medien als extensions of man vorweggenommen hat, überbietet er seine eigene These mit einer weiteren, die besagt, "dass ein Werkzeug das andere erzeugt". Mit diesem re-entry greift er der Kybernetik, Spencer Brown und somit auch Luhmann voraus. "Seitdem wir wissen", kommentiert Kittler, "dass Computer gar nicht von Menschen, sondern von anderen Computern gebaut werden können, leuchtet diese zweite Rückkopplungsschleife immer mehr ein."
Wenn aber so eine Technologie die nächste gebiert und Medien allemal unsere Lage bestimmen, dann ist Kulturgeschichte nichts anderes als eine Funktion technischer Evolution. Das hat kein anderer so klar gesehen und undeutlich formuliert wie Heidegger, dessen "Kehre" Kittler als das "Eingeständnis" bestimmt, "dass kein wie immer geschichtliches Dasein den Rundfunk hat erfinden können, sondern dass gerade umgekehrt technische Medien wie etwa der Rundfunk über geschichtliche Weisen dazusein bestimmen". Dies gilt auch für Heideggers Denken, das Kittler aus der "radikal neuen Angriffstaktik von Infanterie und Artillerie" der "Ludendorff-Offensive von 1918" herleitet. Es ist die Technik, die das ihr angemessene Denken hervorbringt - wie bei Hegel die Geschichte die ihr angemessene Philosophie. So schließt sich der Kreis. "Medien sind eine historische Eskalation von Gewalt, die die Betroffenen zu totaler Mobilmachung zwingt." Auf die Mobilmachung folgt ihre Theorie: "Nicht zufällig verglich Heidegger seine Philosophie mit einem Stoßtruppunternehmen des ersten Weltkriegs." Der Weltgeist sitzt bei Hegel zu Pferde, besichtigt in Heideggers Zeit Kampfpanzer und wird bei Turing, der darum auch den WK II gewonnen hat, zum Computer, der die Enigma entschlüsselte und den ewigen "Krieg im Schaltkreis" eröffnete.
Seitdem Kriege "um neue Waffen für neue Kriege" geführt werden, ist jede Nachkriegszeit eine Vorkriegszeit. Kittler spricht schon seit langem lakonisch vom WK n+1. Für die Kultur folgt daraus, dass sie in Krieg und Frieden vom Krieg bestimmt wird. Seit dem Einzug der Computer und der Geburt des Electronic Warfare fällt die Unterscheidung ohnehin schwer. Das Jus Belli machte bei Hegel den Kern der völkerrechtlichen Souveränität eines Staates aus. Nun liegt es in der Hand von Computerfirmen, die eben auch nicht viel anderes machen als früher Nationalstaaten, nämlich mit allen Mitteln um neue Technologien zu kämpfen. Diese Wahrheit der "Kriegsmediengeschichte" bekommen die in Minoritäten und politische Korrektheit verliebten Cultural Studies nicht in den Blick, weil sie die für diese Perspektive nötigen "kanonischen Texte" geflissentlich ignorieren. "Legen Sie dieses abendländische Wissen bitte nicht weg", ruft Kittler seine Studenten auf, denn ohne ließe sich die "Kulturgeschichte" des "alten eurasischen Kontinents" nicht schreiben. Noch sorgt ein uraltes Programm namens Universität dafür, dass dieser Befehl Gehör findet.
Friedrich Kittler: "Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft". Wilhelm
Fink Verlag, München 2000, 260 S., 38 DM
taz Nr. 6325 vom 18.12.2000, Seite 13, 360 Zeilen, Kommentar NIELS
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