Identitätssuche
beim 3. studentischen Theaterfest
Knietief im Westen
bsz
645, 01. Dezember 2004
Das
Ruhrgebiet ist ein seltsamer Ort: Es ist aufgeladen mit dem Pathos
angeblich goldener Tage, als der Bergbau die Identität einer
ganzen Region stiftete. Gleichzeitig sind die BewohnerInnen heute
konfrontiert mit aussterbenden Innenstädten, 1-Euro-Läden,
Arbeitslosigkeit – kurz: dem, was die PolitikerIn-nen euphemistisch
Strukturwandel nennen.
Mit dieser
Mischung aus Arbeiterkult und verwüsteten Innenstädten
konfrontiert, haben sich 22 StudentInnen der Theaterwissenschaft
die Frage gestellt, was es eigentlich bedeutet, hier „Tief
im Westen“ zu leben. Herausgekommen ist die beeindruckende
Inszenierung „Westend“, mit der das 3. studentische
Theaterfest am heutigen Mittwoch auf der Studiobühne des Musischen
Zentrums eröffnet wird. Schon der Produktionsprozess von „Westend“
ist ein ganz besonderer: Am Anfang stand ein Fragebogen über
das Leben im Ruhrgebiet. Aus den 200 Rückläufen haben
die Studierenden einen höchst intensiven Text montiert, der
sowohl durch seine Komik als auch durch eine immanente Tragik überzeugt.
Das rhythmisierte chorische Sprechen ist dabei nicht nur eine körperliche
Höchstleistung der 22 AkteurInnen, sondern verleiht dem Text
auch neue unverhoffte Bedeutungsebenen. Dabei wird jedes Wort ernst
genommen, selbst wenn es ironisiert wird.
Wo
ist das Revier?
„Westend“
ist zwar die aufwendigste Produktion des Theaterfestes, aber nicht
der einzige Höhepunkt. „Wir sind stolz darauf, dass wir
dieses Jahr Gastgruppen aus dem ganzen Bundesgebiet gewinnen konnten“,
sagt AStA-Kulturreferentin Karin Bellmann. Am Donnerstag geht es
weiter mit „take a bow“ des Duos „big NOTWENDIGKEIT“
aus Gießen. Sowohl formal als auch inhaltlich orientiert sich
die Inszenierung an hysterischen Symptomen. Denn diese sind, so
die Theatermacherinnen, mit Theater-Inszenierungen vergleichbar:
Nur in Anwesenheit von Publikum treten sie hervor und fordern auf,
das Geschehen zu dechiffrieren. Dabei geht die Performance weit
über die Beschreibung des Hysterie-Phänomens hinaus und
überlässt es den ZuschauerInnen, die Szenen zu verknüpfen.
Junges
Theater in Bochum
Ebenfalls
aus Gießen kommt die szenische Lesung „Das Gespräch
des Einzelnen über Vieles“ des Autors Malte Scholz. Ab
21 Uhr sprechen am Donnerstag im Kulturcafé drei Figuren
– der Herr, der Diener und eine Leiche – in einer Wohnküche
über verschiedene Dinge. Die einzige Konstante des Stücks
ist die Unfähigkeit zur Kommunikation. Daraus entsteht Verwirrung,
denn keiner der Anwesenden ist bereit, die Aussage des anderen zu
bestätigen. Am Freitag geht das Verwirrspiel weiter: „Identity
Shuffle“ ist ein Spiel mit anderer Sprache und fremden Identitäten,
mit vorgesagten Texten. Die vier Performer-Innen sind Bochumer StudentInnen
der Theaterwissenschaft. Unter der Leitung der Berliner Live-Art
Künstlerin Tanja Knauf entstand ein Stück, dass sich besonders
durch das Verhältnis zwischen Text und SprecherInnen auszeichnet:
Die Vier erzählen nicht nur für und von sich, sondern
übernehmen auch die Identität des anderen. Ihre eigenen
Texte haben sie auf Kassette gesprochen, hören sie über
die Kopfhörer eines Walkmans live mit, tauschen ihre Kassetten
untereinander aus, sprechen die Aufnahmen der Anderen.
Opern
und Puppen
Am Samstag
gibt es noch zwei ganz andere Theaterformen zu sehen: Der Abend
beginnt mit dem Opern-Remix „Tosca“. Basis ist ein 25-minütiges
Hörstück: Karoline Reinke spricht den Text „Kleinwüchsige
Frau mit hochhackigen Schuhen“ von Alexander Kluge, der mit
Material aus Maria Callas‘ Tosca-Interpretation kombiniert
wurde. Der Text tritt auf der Bühne eine Kettenreaktion aus
Bewegung, Text und Licht sowie Video los. Den Abschluss des Festivals
bildet das Puppentheater „Kasper tot. Schluss mit lustig?“.
Es ist die Diplomarbeit von Lutz Großmann, der an der Ernst-Busch-Hochschule
in Berlin Puppenspielkunst studierte. Im Stück wird ein Knäuel
schlimmster Intrigen gesponnen, denen Kasper nur entgehen kann,
wenn er den Fluch des vorgeschriebenen Textes bricht. Denn wenn
der Tod das Textbuch schreibt, dann wird das Leben schwierig. Das
Stück projiziert alltägliche Lebensprobleme auf die Kasperfigur
und seine klassischen MitstreiterInnen Gretchen, Großmutter,
König und Teufel. Wie bei allen Inzenierungen des Theaterfestes
liegen Humor und Tragik auch hier nur um Haaresbreite voneinander
entfernt.
rvr |