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Pfarrer i.R. Dr. Dr. Michael Lütge

Das evangelikale Gebet als Einübung der Schizophrenie

 

Die Manie des Glaubens an eine Zukunft in Gerechtigkeit und Frieden ist so unvernünftig und gegen jede Erfahrung mit der Akkumulation der gewissenlosen Machtkartelle des modernen Kapitalismus, daß sie bereits Züge des klinischen Befundes bipolarer Störungen trägt. Die Hoffnung über den eigenen Tod hinaus auf ein göttliches Friedensreich hat wenig Anhalt an realen Entwicklungen. Zwar nimmt das Bewußtsein weltweit zu, daß Unterdrückung und Armut nicht unabänderlich sind, sondern dem Handeln mächtiger Konzerne und abhängiger Staatsapparate zu verdanken sind. Jedoch sind deren Machtmittel gegen Aufstände gleichzeitig gewachsen zusammen mit der Schere von Arm und Reich. Die Globalisierung hat diese Entwicklung rasant beschleunigt und die Globalisierung des Kampfes der Weltdörfer gegen die Metropolen ist nicht mitgewachsen. Die Einsicht in die Struktur der Akkumulation des Kapitals ist vielen verwehrt und so wählen sie oft gerade die Parteien, die mit großen Versprechen und Hoffnungsmache betrügen und an die Macht gekommen die Exekutive des Kapitals werden – oft aus Bestechlichkeit und eigener Gier.

Es sieht böse aus auf der Welt. Darum haben die christlichen Hoffnungen auf den Frieden Gottes etwas politisch sehr naives und weltfremdes, vergleichbar mit dem Wahn des Schizophrenen. Für nüchterne Politikwissenschaftler nehmen sich christliche Zukunftsträume aus wie eine psychotische Verzerrung der Realwahrnehmungen. Ob ein Christ auf eine spätere himmliche Heimat oder einen Umbau der Welt zur Heimat hofft – es ist beides gegen das Realitätsprinzip Freuds. Es ist wahnhafte Verkennung der realen Möglichkeiten. Von daher erinnert schon der Satz des Paulus, das Wort vom Kreuz sei Juden Ärgernis und Griechen Torheit (1 Kor 1,18ff), an die damalige Ausgrenzung der Christen und ihrer Gedankenwelten. Die Christen wurden vom Beginn ihrer Ostervisionen und Pfingstbegeisterungen an für Verrückte gehalten. Man versuchte ihre Erzählungen als Märchen oder Lügen zu überführen, zu widerlegen oder machte sich lustig über sie. Der Streit um die Wirklichkeit war ein Streit konkurrierender Sektengruppen des Römerreiches um die richtige Deutung der Welt. Dieser Streit ist ein Diskurs der Macht und das Christentum hat erstaunlicherweise genügend mächtige Verbündete gewinnen können, um ihn für sich zu entscheiden. Die Mythen der Religiösen Gruppen hatten allesamt irre Züge, Anschauungen, die wir heute nur noch als Märchen ohne Anhalt an der Realität bezeichnen können. Selbst Wundergläubigkeit war verbreitet in der späten Antike. Und doch galten die christlichen Vorstellungen als Torheit. `O lÒgoj g¦r Ð toà stauroà to‹j mn ¢pollumšnoij mwr…a ™st…n, to‹j d sJzomšnoij ¹m‹n dÚnamij qeoà ™stin. Und mwr…a ist Wahnsinn, Verblödung. Das gleiche kann diametral verschieden bewertet werden - Wahn oder Wahrheit. Es ist eine Frage des Konsenses der Kommunikationsgemeinschaft, ob eine Aussage so oder so bewertet wird. Damit liegt die Entscheidung über Wahn oder Wirklichkeit zu einem großen Teil in der Kommensurabilität mit dem Wissensstand einer bestimmten Kultur bzw. Subkultur. 

Nun gibt es die selffulfilling prophety, die wie Fluch und Segen biologische Regelkreise stimulieren oder als Gerücht Börsenkurse stürzen lassen kann. Hier wirken irreale Glaubensvorstellungen innerhalb von Stunden genau so, daß das Befürchtete dann auch eintritt. Dies gilt genauso für Lob und positive Attributierungen, die das Gelobte oder die Geliebte so verändern können, daß das allererst sich entwickelt, was man als schon vorhanden im Lobe dargestellt hat. Solche Sätze können sehr machtvoll positiv verstärken, obwohl sie als Schilderung der momentanen Situation oder Situiertheit nicht exakt sind. Hier wirkt das Idealbild, die Idealisierung, als Motor einer Entwicklung zum Ideal hin. Die Hoffnung hat eine Dynamik in sich, die Kräfte zur Veränderung der Realität freisetzt. Nur wer glauben kann an eine Abschaffung der Knechtschaft, kann in sich Kraft und Mut mobilisieren, selbst etwas dagegen zu tun. Insofern kann Glaube Berge versetzen.

Zur Dialektik des Wahnsinns gehört, daß eine von vielen geteilte Wahnvorstellung sich allmählich verbreiten kann und dann die Dynamik ins Werk setzt, die zur Realisierung des Wahns nötig ist. Hierbei ist „Wahn“ wertneutral verstanden als Entwicklung einer Idee, die als Möglichkeit noch keine empirische Wirklichkeit hat. Diesen Innovationscharakter einer von vielen geteilten „Wahnvorstellung“ könnte man bei Utopien (Jules Verne träumte vom U-Boot) aller Art, auch bei der Entwicklung der erneuerbaren Energien aufzeigen (vor 20 Jahren hätte kein Mensch geglaubt, daß Wind und Sonne Atomkraftwerke voll ersetzen können), aber auch bei paranoiden Xenophobien wie dem Ausländerhaß der Faschisten. (Max Frisch, Andorra)  Die meisten politischen Wahlentscheidungen basieren auf Glauben an Wahlversprechen, nicht auf Analyse dessen, was eine Partei tatsächlich politsch erreicht hat. Hier wird bewußt und gezielt Werbung gemacht, die Sehnsüchte aufgreift und instrumentalisiert wie in der Zigarrettenreklame. Je mehr man die Mechanismen des Kapitalismus überprüft, desto mehr wird deutlich, daß hier massiv mit der Vortäuschung falscher Tatsachen gearbeitet wird. Es werden bewußt kontrafaktische Wahnvorstellungen verbreitet, um die Umsatzzahlen zu erhöhen, Konkurrenten in die Insolvenz zu treiben und dann aufzukaufen usw.

So wird es immer schwerer, im Alltagsbewußtsein solche Elemente ausfindig zu machen, die keine wahnhaften, irrealen Beschreibungen sind. Schließlich erlaubt die Religionsfreiheit jeder Sekte ausdrücklich, ihre zum Alltagsbewußtsein fundamental verqueren Wahnvorstellungen zu kultivieren. Der Werbung ist es freigestellt, falsche Angaben zu machen ohne strafrechtlich belangbar zu sein.

Gleichzeitig hat die globalisierte Weltgemeinschaft der wissenschaftlichen Forscher einen internationalen und interdisziplinären Diskurs entwickelt, in dem es eine erhebliche Konsensbildung über das gibt, was allgemein als gültiges Paradigma anerkannt wird. Hier gibt es zwar immer wieder Neuentdeckungen, die alte Modelle ablösen, aber auch den Konsens darüber, daß diese Entwicklung des wissenschaftlichen Erkundens der Welt nicht beliebig viele Erklärungsmodelle alternativ duldet, sondern daß sich das jeweils plausibelste Paradigma als gültig durchsetzt und solange gilt, bis ein Paradigma mit höherer Evidenz verfügbar ist. Dies hat in der Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Vereinten Nationen zur Aufstellung von Diagnoseglossaren und Einigungen über Krankheitsbilder geführt. ICD 10 schildert darin unter F20 - F29 Schizophrenie in verschiedensten Formen. Dabei kommt der "Folie à deux" oder die in F24 als "Induzierte wahnhafte Störung" der christlichen Produktion von Schizophrenie am nächsten. "Es handelt sich um eine wahnhafte Störung, die von zwei Personen mit einer engen emotionalen Bindung geteilt wird. Nur eine von beiden leidet unter einer echten psychotischen Störung; die Wahnvorstellungen bei der anderen Person sind induziert und werdenbei der Trennung des Paares meist aufgegeben."  Die christliche Wahnbildung allerdings ist nicht auf ein Paar beschränkt, sondern ergreift eine ganze Gruppe. Ansonsten gilt das gleiche: Es ist eine erworbene Wahnbildung, die sozial verstärkt wird dadurch, daß mehrere Personen die gleiche Vorstellung weitergeben und rituell ausagieren.

Der Heidelberger Psychiater Kraepelin beschrieb 1889 die unter dementia praecox internierten Patienten seiner Klinik mit der Akribie des Zoologen. Allgemein attestiert er den Schizophrenen überdurchschnittliche Sensibilität und Auffassungsgabe. "Die Kranken nehmen im allgemeinen ganz gut wahr, was um sie her vorgeht, oft weit besser, als man nach ihrem Verhalten erwarten sollte. Man ist überrascht, dass anscheinend völlig stumpfe Kranke alle möglichen Einzelheiten in ihrer Umgebung richtig aufgefasst haben, plötzlich die Namen ihrer Leidensgefährten kennen, Aenderungen in der Kleidung des Arztes bemerken. In Folge dessen ist auch die Orientierung der Kranken meist ungestört." (Emil Kraepelin, Psychiatrie Bd. II, 1889,138) Die Wahrnehmung der Außenwelt ist zunächst intakt und ungetrübt. Es sind gewissenmaßen innere Wahrnehmungen, aus den mnestischen Archiven gespeiste Engramme, die nicht im Modus der Erinnerung wahrgenommen werden, sondern als gegenwärtiges Geschehen. "Am häufigsten sind Gehörstäuschungen, nächstdem Gesichtstäuschungen und Gefühlstäuschungen, die Empfindung von Durchströmungen, Berührungen, Beeinflussungen. Im Beginne der Krankheit pflegen die Täuschungen unangenehmen Inhalts zu sein und den Kranken lebhaft zu beunruhigen. Später werden sie meist gleichmüthiger hingenommen, wenn wir von vorübergehenden Erregungszuständen absehen. Manche Kranke betrachten die Täuschungen als künstliche Erzeugnisse, als eine Art Theater, das ihnen vorgeführt wird, belustigen sich auch wol darüber; noch andere kümmern sich gar nicht darum und machen überhaupt erst auf eindringliches Befragen einige spärliche Angaben über den Inhalt ihrer Täuschungen. Oefters ist derselbe ein ganz unsinniger und zusammenhangsloser."(Kraepelin aaO 139) Der Defekt liegt in einer Dysinhibition der mnestischen Archive, in der Unfähigkeit, die Erinnerungsspuren unter Kontrolle zu behalten und ihre Aktivitäten einzudämmen. Sie beginnen, ein Eigenleben zu führen. Das kann große Angst bereiten, man ist dem so hilflos ausgeliefert wie einem Tinnitus, der pfeift, wann er will, aber man kann auch mit unaufgeregtem Humor solche mnestischen Selbstläufer betrachten, was offenbar manchen Schizophrenen gut gelingt. Im katatonen Stupor nimmt allerdings die Freude an der Welt ab. Die Außenwelt wird zunehmend uninteressanter und bedeutungsloser bis hin zur völligen Verwahrlosung und Kappung der Kommunikation. "Fast immer begegnen uns übrigens im Gedankengange der Kranken die Anzeichen der Stereotypie, des Haftens einzelner Vorstellungen, welches zeitweise sogar das ganze Denken der Kranken derart beherrschen kann, dass Wochen und Monate lang immer dieselben dürftigen Wendungen wiederkehren. Häufig beobachten wir auch die Neigung zum Reimen, zu sinnlosen Klangwiederholungen, zu gewaltsamen Wortspielereien."(Kraepelin aaO 141) Der Fokus der schizophrenen Logik ist gebündelt auf ein zentrales Feld. Die Weltkomplexität wird extrem reduziert.(Niklas Luhmann) Da kann sich z.B. alles darum drehen, Satan und seine Engel aufzuspüren im Ensemble der inneren Regungen.
"Schwer geschädigt wird ferner ausnahmslos die Urtheilsfähigkeit der Kranken. So sicher sie sich bisweilen noch in eingelernten Bahnen bewegen, so pflegen sie doch zu versagen, sobald es sich darum handelt, neue Erfahrungen geistig zu verarbeiten. Sie verstehen nicht mehr recht, was um sie herum vorgeht, überblicken die Sachlage nicht, denken nicht nach, verfallen nicht auf die nächstliegenden Schlüsse und machen sich keine Einwände. In Folge dessen haben sie von ihrer Lage, ihrem Zustande meist eine ganz falsche Vorstellung. Wenn auch nicht selten ein gewisses Bewusstsein der krankhaften Veränderung vorhanden ist, die sich mit ihnen vollzogen hat, fehlt ihnen doch regelmässig das tiefere Verständniss für die Schwere der Störung und die weitreichenden Folgen, welche dieselbe für die ganze Zukunft nach sich zieht. Ungemein häufig entwickeln sich auf diesem Boden vorübergehend oder dauernd Wahnvorstellungen. In der ersten Zeit der Krankheit pflegen sie vorzugsweise traurigen Inhalts zu sein, hypochondrische, Versündigungs-, Verfolgungsideen. Späterhin gesellen sich oft Grössenideen hinzu oder treten auch wol ganz in den Vordergrund."(Kraepelin aaO 141) Die Einschränkung in der Rezeption der Weltkomplexität durch einfach Kindheitsmuster wie Strafsituation, Verfolgung, Angst vor dem Körper und dessen vorzugsweise als krankhaft gedeuteten Äußerungen zeigen als Szenario immer wieder das ängstliche Kind, was der Situation hilflos ausgeliefert ist - genau wie es der Klinik nun hilflos ausgeliefert ist. Infantil ist ebenfalls die Grandiositätsphantasmagorie. Man könnte fast folgern, die Realitätskontrolle ist auf einem infantilen Stadium stehengeblieben oder wieder darauf regrediert.
Die christliche Vorstellung eines Gottes, der vorzugsweise Sünden bestraft und die dafür vorgesehene Todesstrafe an seinem Sohn zelebriert hat, kommt diesem kindlichen Szenario außerordentlich entgegen. Hier soll man sogar ausdrücklich Kind des Vaters im Himmel sein, der alles sieht und mit Argusaugen über meine Sünden wacht, die ich mir im Gebet nach kompletter Beichte vergeben lassen muß. Die gesamte Geschichte der Kirche des Mittelalters war geprägt vom Thema Sünde und Buße, von Unterwerfung unter den unerforschlichen göttlichen Willen. Es war eine flächendeckende Infantilität des Volkes, die quasi verwaltet wurde von feudalistischer Aristokratie und Klerus. In diesem Zeitgeist waren die Wahnideen Schizophrener vollkommen normal, d.h. kommensurabel mit dem Alltagsbewußtsein der Mehrheit der Bevölkerung.
Erst mit der Aufklärung hat sich eine Diastase von Vernunft und Wahn und die Internierung der besonders Wahnsinnigen herausgebildet.(Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft) Der technologische Fortschritt zeigt die Effizienz der aufgeklärten Vernunft gegenüber dem mittelalterlichen Stagnationsprozeß auf materieller und kultureller Ebene. Die lebenserleichternden Möglichkeiten haben auch neue Horizonte des Humanen eröffnet. Daß der Kapitalismus eine globalisierte Ausbeutung statt der lokal begrenzten Feudalherren mit ihren Leibeigenen geschaffen hat, spricht nicht gegen den Fortschritt der Vernunft in den Wissenschaften und den Wandel des neuzeitlichen Weltbildes. Dieses hat eine wachsende Plausibilität gewonnen und löst damit das mittelalterliche Strafgottklischee ab. Erst mit der Aufklärung kann es überhaupt zu der Diastase von Glaube und Naturwissenschaften kommen, deren Konsequenz ist, daß die Fortsetzung eines mittelalterlich-infantilen Gottesbildes heute den gleichen Status erlangt wie der Wahn der Schizophrenen in Kraepelins Klinik. Kurzum: ein Weltbild, in dem Satans Engelmächte im Kampf mit dem Heiligen Geist um jede Seele ringen, ist nicht imstande, den technologischen Fuhrpark zu erzeugen, aus dem das Handy des Evangelikalen stammt, den PKW, mit dem er zur Kirche fährt, die Gospelsongs im mp3-Player auf seinem I-Phone. Ohne die Vernunft Konrad Zuses hätte der Evangelikale keine Chance, seine mittelalterlichen Gottesvorstellungen weltweit im Internet zu verbreiten. Er lebt von der Vernunft, die er innerhalb seines Glaubenssystems vollständig ignoriert.

Die Nagelprobe könnte die Praxis des Gebets als unmittelbarster individueller Ausgestaltung des religiösen Lebens und Erlebens bilden. Als idealtypische Ausführungen mit repräsentativem Charakter seien im Folgenden die Ausführungen der Internetseite: www.evangelikal.de über das Gebet betrachtet. Dabei geht es zunächst rein phänomenal um Analyse der Missionsausführungen und ihre psychiatrische Beurteilung im Hinblick auf die Förderung und Herausbildung einer multiplen Persönlichkeit. 

Daß man innerhalb der Psychotherapie gelegentlich ebenfalls innere Konflikte mit Morenos Psychodramatechnik als den mnestisch engrammierten Spiegel des sozialisatorischen Netzwerkes als Szenario verschiedener Personen darstellt, geschieht immer im klaren Bewußtsein, daß diese Personen nicht mehr real vorhanden sind, sondern in Form von internalisierten Rollenstrukturen nachwirken. Es geht dann darum, ihre Über-Ich-hafte Macht zu reflektieren und ermäßigend (Cremerius) abzuarbeiten. Daß auch Evangelikale gelegentlich vorbildliche Arbeiter im Weinberg sein können, sei unbestritten und hoch geachtet. Es bleibt aber die Frage, ob man dazu durch Mission Menschen in eine völlig neben dem Wissenskonsens der Weltgemeinschaft stehenden Bewußtseinswelt entführen muß und ihnen Angst vor ihren eigenen Bedürfnissen, Sehnsüchten und Strebungen machen muß. Ich halte dies für eine Verführung minderjähriger Menschen, die nicht mehr dem entspricht, was vernünftig im Einklang mit dem fortgeschrittensten Stand des Wissens von Gott zu sagen möglich wäre. Daß Fundamentalismus in allen gesellschaftlichen Bereichen und Religionen Hochkonjunktur hat, macht ihn indes nicht wahrer, sondern zeigt nur das große Bedürfnis nach Halt, nach einfachen Welterklärungen, nach Paradigmen, die auch bei niedrigstem Bildungsniveau noch verständlich sind, daß die kulturelle Vernunft mit der technischen Vernunft nicht mitgewachsen ist, ja angesichts der wachsenden technischen Möglichkeiten im Verkümmern begriffen ist.

Das evangelikale Gebet als induzierte Derealisation

Das Gebet im stillen Kämmerlein ist ein Sprechen mit Gott als Person. Hören wir auf die Ausführungen eines Evangelikalen: „Dort, wo eine lebendige Beziehung zu Gott fehlt, kann Gebet im Grunde nur Ritual und äußerliche Handlung sein. Das Ritual äußert sich dann wohl meist im Einnehmen einer bestimmten Pose oder dem Aufsagen eines vorformulierten Gebets, ohne daß der Geist in Kontakt mit Gott tritt. Hier besteht ein fließender Übergang zum “magischen” Denken des unbekehrten Menschen, der meint, er könne durch das äußere Vollziehen von bestimmten Handlungen, Beschwörungen oder das Aufsagen von Formeln eine übernatürliche Wirkung erzielen. Zu diesem magischen Denken gehört auch, daß man bestimmte Äußerlichkeiten als Voraussetzung für die Wirksamkeit der Handlung ansieht. So habe ich zum Beispiel aufgrund meiner landeskirchlichen Prägung als Kind gedacht, daß ein Gebet nur dann wirklich gültig ist, wenn ich den Kopf gesenkt halte und dazu die Hände falte. So ist es mir zwar nicht gesagt worden, doch hatte ich dies gefühlsmäßig so empfunden, weil jeder auf diese Weise betete und die Freiheit einer lebendigen Beziehung nicht gelebt wurde. Wir dürfen Gott unser Herz im Gebet offen ausschütten. Gott möchte unser lieber Vater sein und wir dürfen mit allem, was uns bewegt, zu Ihm kommen. Dabei geht es nicht um große Worte oder schöne Formulierungen, sondern darum, daß wir Gott gegenüber ehrlich und echt sind. Gott müssen wir nichts vormachen - Er kennt uns ohnehin besser als jeder andere. Wir dürfen mit Gott vertraut sein wie ein kleines Kind mit seinem Vater, weil wir in Jesus Gnade gefunden haben vor Seinen Augen. Dadurch, daß wir Jesus angenommen haben, dürfen wir Kind Gottes sein, vgl. Johannes 1,12 Andererseits ist Gott aber nicht etwa unser Kumpel. Zu unserem Gebet sollte deshalb auch immer Respekt gehören - “Gottesfurcht” nennt die Bibel das. Gott ist heilig und wir sind bestenfalls Begnadigte. Er ist Herr, wir sind nur Mägde und Knechte.“ (http://www.evangelikal.de/gebet.html)

Diese Vorstellungen sehen Gott als einen himmlischen Herrscher, der uns begnadigt hat durch Jesu Liebe, zu dem wir jederzeit sprechen können und sollen und nicht lügen dürfen. Beten ist Christenpflicht: „Wer nicht betet, dessen Glaube ist eigentlich nur abstrakte Philosophie, nicht lebendige, gelebte Gottesbeziehung. Die Bibel fordert uns auch an vielen Stellen ausdrücklich zum Beten auf, z.B. in Markus 14,38, Matthäus 26,41; Epheser 6,18; 1.Thessalonicher 5,17; 1.Timotheus 2,1-2, Jakobus 5,16. Als Christen sind wir zu Priestern Gottes berufen, vgl. 1.Petrus 2,5. Priesterschaft bedeutet, Gott zu dienen. Dazu gehört auch das Gebet, mit dem wir Gott ehren, Ihm danken und Ihn loben.“(aaO)

Die Erfahrung, daß die Bitten eines Gebetes in der Regel nicht in Erfüllung gehen, wenn sie nicht sowieso schon als Trend absehbar gewesen sind, wird damit begründet, daß der Allmächtige besser weiß, was für den Beter gut ist – und sei es auch ein Tod am Kreuz. „Wenn wir unseren Vater im Himmel um etwas bitten, dann wird Gott unsere Gebete vielleicht nicht so erfüllen, wie wir meinen. Aber wenn wir um ein Brot bitten, werden wir keinen Stein bekommen - Gott erhört unser Gebet vielleicht anders als erwartet, doch was immer geschieht, Gott möchte das Gute für uns. Wir dürfen deshalb vertrauen, daß Gott unser Gebet hört und das tun wird, was das beste für uns ist. Oft werden wir nicht verstehen, warum Gott ein Gebet nicht so erhört, wie wir es uns wünschen würden. Doch auch menschliche Eltern erfüllen ihren Kindern nicht immer alle Wünsche. Täten sie dies, wäre es den Kindern nicht zum Vorteil.“(ebd)

Für alle, die sich ein Handy von Gott wünschen oder einen Sechser im Lotto, mag dieser Satz gelten, aber normale Beter sind nicht ganz so egoistisch und beten um Gerechtigkeit und Frieden für die Welt. Hier zu sagen, Gott weiß schon, weshalb er Fukushima und Syrienkrieg über uns hat kommen lassen, entbehrt nicht einer gewissen Brisanz. Man soll Gott danken, immer und für alles, auch das amputierte Bein. „Und auch wenn es für uns furchtbar erscheint - Gott wird gewußt haben, warum Er dies geschehen ließ. Und da Gott gut ist, will ich Ihm bedingungslos vertrauen, daß auch in unserem Leid das geschieht, was für uns gut ist. Oftmals wird man in diesem Leben nie erfahren, warum Gott dieses oder jenes Leid zuläßt. Doch hier ist Vertrauen und Glaube gefragt. Ich weiß, daß Gott da ist. Und ich weiß, daß Gott gut ist. Und deshalb weiß ich auch, daß in allem Gottes großer Plan liegt.“(ebd) Das Furchtbare ist also Gottes großer Plan und in diesem Leben werden wir nicht erfahren, warum er unschuldige Kinder quält. Das ist die perfekte Entschuldigung eines sinnlosen Schicksals, die Umdeutung von Kontingenzen der Vernichtung in göttliche Vorhersehung. Der Allmächtige hört in seiner Gnade zwar mein Gebet für den Weltfrieden, er hat aber in seiner Gnade etwas anderes mit der Welt vor. Sie soll vermutlich von Hunger und Kriegen übersät bleiben, damit wir uns auf den Himmel besser freuen können. Gott quält seine Schöpfung, um uns zum Zölibat zu treiben, zur Vorbereitung auf den Himmel. Kurzum: Die Rede von Prädestination führt angesichts dieses unvorstellbaren Leidens auf unserem Erdball zu blankem Zynismus. Es gibt keine Logik, nach der ein allmächtiger Gott der Liebe seine Geschöpfe willkürlich der Vernichtung anheimgibt, während die unmoralischsten Mächtigen und Reichen ein Luxusleben führen können. Aber auf dieser Ebene denkt der evangelikale Beter überhaupt nicht. Seine Welt ist der engste Kreis von Familie und Kerngemeinde. Und das beständige Zwiegespräch mit Gott.

Ein Grund für die Nichterhörung von Gebeten ist die fehlende Beichte von Sünden: „Wenn Du das Gefühl hast, daß Gott Deine Gebete nicht hört, prüfe Dich, ob es Schuld in Deinem Leben gibt, die Du noch vor Gott bringen mußt. Es ist wichtig, mit Gott voll und ganz ins Reine zu kommen. Andererseits wäre es verkehrt, vergangene Sünden wieder hervorzuholen, die bereits mit dem Blut Jesu bedeckt worden sind. Der Herr hat sie vergessen und vollständig vergeben.“(ebd) Die Sünden werden vom Blut Christi bedeckt und weggewaschen.

Diese Vorstellung ist in Verbindung mit dem Abendmahl als Sündenwaschanlage genau das, was man auf den Gesichtern vieler lutherischer Abendmahlsteilnehmer sehen kann: Für ihre Sünden wird Blut vergossen und ihnen wird davon fast plümerant, weil dies noch schrecklicher ist als die dummen Sachen, die sie tatsächlich angestellt haben. Das Abendmahl ist ein Demütigungszeremonial, ein Erinnerungsmahl an die eigene Schlechtigkeit und Unvollkommenheit. Es ist keine Erinnerung mehr an den Mut Jesu oder die Aufbruchsstimmung des Exodus. Es erinnert an die ägyptischen Totengerichte mit Herzwägung über der großen Fresserin in Osiris Hallen, an die griechischen Totenrichter Minos und Rhadamanthys und Aiakos oder die persische Cinvatbrücke Hadōxt-Nask 3. Die Kombination von Abendmahl und vorheriger Beichte macht es möglich, hier ein vorweggenommenes Totengericht im Monatszyklus zu veranstalten. Die evangelikale Beichtpraxis steht der lutherischen in nichts nach.

Gott führt penibel Buch über jede meiner Sünden. Es ist daher nötig, sie komplett zu bekennen, jede einzelne für sich, aber niemals die gleiche Sünde zweimal: „Es gilt, im Gebet zu bekennen, was wir bisher nicht als Schuld bekannt haben. Dabei ist es falsch, in unseren Gefühlen zu forschen, ob wir denn auch ausreichend zerknirscht sind. Es geht nicht um die Stärke unserer Gefühlsregung, sondern wir dürfen Gottes Verheißung glauben, daß Er vergibt, wenn wir unsere Schuld bekennen. Bitte Gott um Vergebung und nimm im Glauben an Gottes Wort an, daß Er genauso verfahren wird, wie Er gesagt hat - daß er treu und gerecht ist und Dir vergibt.“(ebd) Nicht die Zerknirschungsstärke zählt, sondern die Vollständigkeit der Sündenliste. Der Christ ist ein guter Sündenbuchhalter, der an jeder Sünde abhaken kann: Gebeichtet und erledigt. Das ist Leben aus Gnade. Die Gnade kommt nur dann, wenn man ordentlich Buch führt. Und wenn man glaubt, daß Gott vergibt. Treu und gerecht – in dieser Kombination liegt die Zwickmühle. Das Gerechte in Gott ist die Unerbittlichkeit, mit der er unsere Sünden gebeichtet haben will. Wehe, es fehlt eine Sünde. Diese wird nicht vergeben. Wer vergeßlich ist, bekommt also Schwierigkeiten mit Gott. Warnung an alle Demenzkranken: Laßt euch von eurer Pflegekraft die Sündenliste führen. Es gibt keine billige Gnade im Komplettpaket, sondern nur nach gewissenhafter Herzwägung. Fast möchte man diese Vorstellung für die Mächtigen und Reichen verpflichtend machen. Doch diese stehen über solcher Kleinmütigkeit und bauen auf eine Vergebung Gottes, die der eigenen Großzügigkeit im Verschleudern ihres Privatvermögens für die eigene Lebensführung entspricht.

Schizoide Spaltung in diverse innere Stimmen während des Gebets

Die Verletzungen der Anderen werden zum Thema der Vergebung im Gebet: „Vergebung, wie auch das Bekennen unserer Schuld, muß nicht unbedingt von Gefühlsregungen begleitet sein. Vergeben ist einfach ein Willensakt, den der Heilige Geist gemäß dem Wort Gottes in uns veranlaßt. Sprich es aus, stell Dich darauf, daß Du vergibst. Wenn Dich der Feind trotz Deines Gebets immer wieder dazu bringt, negative Gedanken über diejenigen zu haben, denen wir eigentlich vergeben wollten oder wenn der Feind Dir frühere Sünden vor Augen hält, die Du Gott längst bekannt hast, dann befiehl dem Feind im Namen Jesu, still zu sein. In Jesus dürfen wir Sieger sein und auch Satan und seinen Engeln gebieten.“(ebd) Das reine ungeglaubte Aussprechen der Vergebung von dem, was mir andere angetan haben, reicht aus, um der Verletzungen und Aggressionen Herr zu werden, die das Opfer gegen den Täter hegt. Falls doch wieder Wut hochkocht, ist es der Teufel in mir, der negative Gedanken weckt. Der Teufel ist der Feind in mir. Ich kann mit ihm reden, obwohl er doch in mir wohnt und mich wütend macht auf meine Peiniger. Hier wird die eigene Person als durchwaltet von bösen Mächten, vom Feind und seinen Engeln beschrieben. Wenn jemand einer solchen Beschreibung seines Inneren glaubt, beginnt er, seine berechtigten Regungen für etwas ichfremdes zu halten und als eine fremde, feindliche Person im eigenen Körperding zu erleben und alle innere Wut auf diese als „Satan und seine Engel“ bezeichnete Personengruppe zu projizieren. Das Ich wird zur Spaltung in mehrere Personen angeleitet und die Vorstellung erweckt, man könne diese bösen Personen zurechtweisen, beschwören und bedrohen. Diese Abspaltung ist schizoid und kann sensible Menschen schizophren machen. Sie sollen lernen, mit sich ins Unreine zu gelangen, indem sie allen eigenen inneren Protest gegen etwas, was ihnen angetan wurde, als Stimme Satans attributieren und ihr eigenes Ich dem entgegenstellen.

Das Deutungsraster für die Wahrnehmung der eigenen Gefühlswelten heißt hier: Es sind nicht etwa verschiedene Strebungen, Ambivalenzen oder Bedürfniskollisionen in meinem Erleben, sondern dies sind verschiedene Personen, die in mir mit mir kommunizieren. In mir gibt es mehrere Personen, die mich beherrschen wollen. Ich muß den einen widerstehen und den anderen gehorchen, damit Gott mich liebt. Das evangelikale Gebet ist die Einübung einer multiplen Persönlichkeit, in der nicht nur zwei Rollen bzw. Personen einander abwechseln, sondern eine Personengruppe als Deckszenario für bestimmte Gefühle instauriert wird: Satan und seine Engel, wie sie in den gnostischen Archontenmythen auftauchen. Die fundamentalistische Tradition wird zur Quelle der Rollenverteilung der multiplen Persönlichkeit. Ihr Aufbau wird systematisch gefördert durch die Behauptung, Satan und seine Engel seien existent in mir und wollten mich verführen. Aus diesem Wahnsystem gibt es kein Entrinnen durch Metakommunikation mehr, denn diese wäre eindeutiges Zeichen des Unglaubens und der Durchdrungenheit von Satan und seinem teuflischen Zweifel. Zur Theorie der double-bind.

Die psychoanalytische Arbeit, sich mit allen seinen Regungen, mit aller Fülle seiner Lust und Wut anzunehmen und sie beim Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten zu verstehen, zuzulassen und auf sozialverträgliche Weise dort zu artikulieren, wo die Verletzungen zugefügt wurden, versucht genau umgekehrt die Integration der Gefühle und ihrer Versöhnung, nicht ihre Ausgrenzung.

Der derzeitige (10.10.2013, es kann sich nur noch um Tage bis zum Rauswurf handeln) Bischof von Limburg Tebartz van Elst habe in einer Fernsehsendung einmal gesagt, "dass er manchmal erfährt, wie Gott direkt durch ihn spricht und er als sein Werkzeug dient." Erfolg: 31 Millionen Euro für den neuen Bischofssitz neben dem Dom mit Bischofsbadewanne für 15000 Euro. Die Stimme Gottes war großzügig. Allerdings nicht in den Sparauflagen, die der gleiche Bischof seinen Gemeinden machte. Falsche Eidesstattliche Versicherungen, Kündigungen kritischer Mitarbeiter, autoritärer Führungsstil, - dagegen war Honnecker noch harmlos. Der jüngste katholische deutsche Bischof trieb es wie die Borgia-Familie. Und er konnte dies ohne Widerstände über Jahre hinweg treiben. Und keiner als Papast Franziskus darf in entlassen. Das ist nur ein extremer Einzelfall, der zeigt, wie sehr ein Christ von Gottes Stimme getrieben sein kann, einer Stimme, die sich bei genauerer Prüfung als Stimme Satans erweisen dürfte, wären nicht alle Stimmen in diesem Bischof nur hausgemachte Hallizinationen.
Immerhin kann der Evangelikale sogar der Fürbitte etwas abgewinnen: „Wer seinen Nächsten wirklich lieb hat und zugleich weiß, daß Gott ein Helfer in der Not ist, wird schon von selbst auch die Not des Nächsten vor Gott bringen. Fürbitte kann aus konkretem Anlaß geschehen oder auch allgemein für diejenigen, an die wir gerade denken. Fürbitte sollten wir insbesondere für unsere Kinder und unsere Familie tun, daß sie Gott finden.“(ebd) Bezeichnender Weise ist der hungernde Afrikaner, Inder oder Papua nicht im Fokus der Überlegungen. Die Gedanken des Frommen kreisen um seine Familie und Gemeindebrüder. Wenn man ihnen gelegentlich auch mitteilt, daß man jeden Abend dafür betet, daß auch sie bald zum Glauben kommen, erhalten sie ihren „Familienauftrag“, diesem Gebet zu entsprechen. Als „Realität der Eltern“ beginnen die Phantasmagorien im Familienkreis zu wirken und ein Eigenleben zu entwickeln. Dadurch, daß sie von mehreren Familienangehörigen ähnlich entwickelt werden, bekommen sie eine Quasi-Realität, verbreitern sich, werden zum festen Bezugsrahmen innerhalb dessen die Familie miteinander kommuniziert. Die jungen Christen hoffen ihren Eltern eine Freude zu bereiten, indem sie die Mythen für Realität halten, die diese suggerieren. Genau diesen Wahnsinn zu zweit oder fünft meint ICD 10 F 24. Ähnlich geht auch die Einübung faschistischer Weltanschauung vonstatten. Indem man die Behauptungen der erstrebten Gruppe teilt, mitspricht, nachplappert oder missioniert, bekommt man zur Belohnung seiner Linientreue Zuwendung und Anerkennung durch die anderen Gruppenmitglieder gezollt. „Gott legt auch Anliegen auf unser Herz, von denen wir in einer Begebenheit des Tages gehört oder die wir gesehen haben. Später im Gebet erinnern wir uns an das Ereignis oder an die Not des anderen. Da ist dann Gelegenheit zur Fürbitte.“(ebd)  Solch Tagesreste könnten theoretisch durch die Television sogar die Kriege in armen Ländern sein. Das würde aber die Ruhe des Gebets stören. Der Afrikaner ist vorzugsweise potentieller Bibelleser, für den man sich viele Bibeln in seiner Muttersprache wünscht, denn diese sind das wahre Brot des Lebens.

Besonders extrem ist das Forcieren der alten postdelphischen Zungenrede: „Es handelt sich dabei um ein Gebet zu Gott, welches der Heilige Geist dem Sprechenden eingibt. Der Sprecher selbst versteht die Worte nicht, die er betet - er gibt sozusagen lediglich dem Heiligen Geist Raum und Möglichkeit, seine Zunge zu gebrauchen. Die Zungenrede in neuen Sprachen ist eines der Wunderzeichen, welche den Gläubigen verheißen sind.“(ebd) Solche induzierte psychotische Dekompensation wird kultiviert als ein besonders intensives Wirken des „heiligen Geistes“, der wiederum als Person im Körper des Dekompensierten eingekehrt ist. Das Grundmuster ist die Besessenheit: Es können bestimmte Mächte in einen Körper eindringen und sich dort einnisten. Das kann Satan oder der heilige Geist sein. Jedesmal wird diese Kraft als eine dem Ich fremde erlebt und behandelt. Die Zungenrede wird als Phänomen bis zum Eintreffen des Gottesreiches behauptet und eine Auslegung von 1 Kor 13,8ff als Verlängerung der Zungenrede bis zu diesem Zeitpunkt favorisiert. „Innerhalb und außerhalb der Pfingstbewegung haben viele Gläubige durch alle Jahrhunderte die Erfahrung der Zungenrede gemacht - u.a. ist dies auch von Bernhard von Clairvaux (1150) und John Wesley (1739) bezeugt. In verschiedenen Erweckungsbewegungen früherer Jahrhunderte kam ebenfalls die Zungenrede vor - so unter den Waldensern (12. Jhdt.) und der Camisarden-Bewegung (um 1700). Insgesamt ist das Auftreten der Zungenrede allerdings zwischen der Zeit der Apostel und dem Aufbruch der Pfingstbewegung um 1900 zu einem schmales Rinnsal geworden, ohne daß es jedoch jemals ganz versiegt wäre.“(ebd) Je härter der Beter in die Welt der Dämonen eintaucht und sich von den Geistern seiner inneren Welt zu verbalen Exzessen anleiten läßt, desto größer die Evidenz seines Glaubenssystems insgesamt. Das Abgedrehtsein wird Indiz des Wahren. Eine der beliebtesten Trancetechniken zur Zungenrede ist die Hyperventilation.

Exkurs I: Bewußtseinserforschung halluzinatorischer Erlebnisse

In der Bewußtseinsforschung hat man Korrelationen zwischen Hallizinationsbereitschaft und Disinhibition der Sehrinde im Occipitallappen festgestellt. Henry David Abraham und Frank H. Duffy fanden, daß aktiv halluzinierende Exuser von LSD eine verstärkte Kohärenz in benachbarten Elektroden bei geschlossenen Augen aufwiesen, wenn Halluzinationen verstärkt auftraten. Es zeigte sich eine verringerte Kohärenz in benachbarten Elektroden bei offenen Augen. Die topographische Verteilung der erhöhten kortikalen Kohärenz umfasste die occipitalen und die nichtdominanten temporoparietalen Regionen. Der Rückgang der Kohärenz bei geöffneten Augen wurde als generelles Muster im ganzen Cortex gefunden. Zerebrale Kohärenz korreliert bei Halluzinierenden mit verkürzter Latenzzeit in visuell evozierten Potentialen und einer erhöhten alpha-Frequenz im Hinterkopf, zwei Indikatoren kortikaler Enthemmung. Schließlich wurde eine starke Korrelation zwischen occipitaler Kohärenz und kortikaler Enthemmung gemessen.(Henry David Abraham/ Frank H. Duffy, Spectral EEG coherence in visual hallucinations. Possible "binding" of visual information, in: Antti Revonsuo/ Matti Kamppinen (Ed), Consciousness in philosophy and cognitive neuroscience, based on the International Symposium of Consciousness held at the University of Turku, June 4-6 1992, Hillsdale, N.J. (L. Erlbaum) 1994, A 1014) 

Der Züricher Adolf Dittrich entwickelte 1975 den elfsprachigen Fragebogen APZ (Abnorme Psychische Zustände) mit über 1800 Befragungen und 1989 dessen verbesserte Neuauflage OAV zur Evaluation endogener Psychosen und qualitativ verändertem Wachbewußtsein ABZ. Halluzinogene I. und II. Ordnung sowie Reizentzug und -Überflutung sind die 4 Auslösefaktoren. Es gibt drei meßbare Effekte: 1. Ozeanische Selbstentgrenzung (OSE), 2. Angstvolle Ich-Auflösung (AIA), 3. Visionäre Umstrukturierung (VUS). 4. Bewußtseinstrübung und 5. akustisch halluzinatorische Phänomene müssen ebenfalls ermittelt werden, um die ganze Bandbreite Außergewöhnlicher Bewußtseinszustände (ABZ) zu evaluieren, dazu neu der Fragebogen BETA. Wenn in allen dieser 5 Bereiche hohe Werte sind, wäre ABZ nachweisbar als quantitative Taxonomie in einem fünfdimensionalen Raum. (Adolf Dittrich, Himmel, Hölle und Visionen - Empirische Dimensionen veränderter Wachbewußtseinszustände, in: Schlichting (Hg) 1996) Das Ozeanische Gefühl korreliert mit einem hyperfrontalen Glucoseutilisationsmuster und verstärkter Durchblutung des Vorderlappens; die Visionäre Umstrukturierung hingegen mit der des Occipitallappens. Solche Untersuchungen zur neurologischen Disposition bei Experimenten mit veränderten Bewußtseinszuständen zeigen, daß Trancetechniken bei eher neurotischen Charakteren die Kontrollfunktionen des ventralen Hirnlappens verstärken, während die für mediale Erlebnisse Prädisponierten eine Verstärkung der Funktionen der Sehrinde im dorsalen Hirnbereich aufweisen und zudem eine ausgeprägtere Phantasie und Kreativität besitzen.

Bei einer Halluzination wird etwas als real empfunden, obwohl kein entsprechender äußerer Sinnesreiz vorliegt. Das Wahrgenommene gilt deshalb als Sinnestäuschung. Zu allen Sinnesorganen gibt es auch Sinnestäuschungen. Es gibt komplexe Halluzinationen, die gegenständlich sind und komplexeren Informationsverarbeitungsprozessen zugeschrieben werden. Nicht jeder also hat die gleichen zerebralen Möglichkeiten zum psychotischen Erlebnis. Manche erleben einfach gar nichts. Der für das Selbstbewußtsein und die Realitätskontrolle wichtige frontale Hirnlappen ist bei männlichen Schizophrenen beidseitig kürzer als bei Hirnen Gesunder. Insofern gibt es eine Reihe genetischer Prädispositionen für religiöses Erleben und psychotische Dekompensation. Je dicker der Frontallappen, je kontrollierter ein Mensch also ist, desto schwerer hat er es, Stimmen zu hören und Halluzinationen zu erleben. Er ist quasi ein minderbemittelter homo religiosus.

Deus absconditus plappert nicht

Als besonderes Problem erscheint dem evangelikalen Beter dann, daß Gott nichts antwortet, weil Gott wesensmäßig kein deutsch sprechendes Väterchen ist, sondern eine Kraft in den Schwachen. „Wer spricht, möchte auch Antworten. Gerade im Gebet ist es oft schmerzlich, wenn wir das Gefühl haben, keine Antwort zu erhalten. Es kommt zwar vor, daß Gott hörbar spricht (vgl. Apg 9,3-8) - und schon manche Männer und Frauen Gottes hatten solche außergewöhnlichen Erlebnisse - aber dies ist nicht die Regel. Gott ist sanft und vorsichtig damit, uns unmittelbar mit Seiner Gegenwart zu konfrontieren. Derart drastisch wie bei der Bekehrung des Paulus greift Gott daher nur äußerst selten ein. Umso wichtiger ist es, daß wir lernen, die Stimme Gottes im Geist zu hören. Gott spricht zu uns durch die Person des Heiligen Geistes (Hesekiel 36,27; Johannes 14,26). Im Leben derer, die bereit sind, Zeit mit Gott zu verbringen, wird das Hören der Stimme Gottes etwas ganz Normales, Alltägliches sein. Wenn wir dann Seine Stimme in uns hören, werden wir sie erkennen, weil sie mit Gottes Wort übereinstimmt. Je mehr wir Sein Wort kennen, desto mehr werden wir Sein Wesen und Seine Wege verstehen. Um zu prüfen, ob es der Heilige Geist ist, den Du hörst, stelle Dir folgende Frage: Leitet Dich die Stimme sanft in eine Richtung oder ist sie befehlend und fordernd? Gottes Stimme gibt uns Hoffnung, sie ermutigt und leitet uns sanft wie die Stimme des Hirten, der seine Schafe führt (Jesaja 40,11; Jakobus 3,17). Gott leitet, Satan treibt. Gott überführt, Satan verurteilt. Gott wirbt, Satan zerrt.“(ebd) Die berüchtigte Scheidung der inneren Stimmen hat als wesentliches Kriterium die Aggressionsfreiheit. Gott benimmt sich wie ein Politiker, der es gelernt hat, seine Positionen exzellent zu verkaufen. Er wirbt, schlägt vor, macht keinen Druck. Er ist entspannt und unaufgeregt. Er weiß seine Position auf der Siegerseite. Satan ist aggressiv, zerrt, verurteilt. Hier wird ein wundervolles Bild eines sanften Gottes gezeichnet. Wie aber paßt dies zum Gott, der doch seinen Sohn für uns hinrichten ließ, auf daß wir Frieden haben? Wie paßt der sanft säuselnde Horeb-Gott zur Feuersäule von Fukushima? Er ist wie der Tepko-Chef, sanft und beschwichtigend? Alles nicht so tragisch, locker bleiben.

Aber zurück zum Text. Er trainiert das Stimmenhören im Gebet. Er gibt das Erkennungsraster für innere Stimmen bekannt: Gottes Stimme ist sanft. Und genau mit dieser sanften Stimmlage sprechen dann die Evangelikalen auch untereinander. Sie schimpfen nicht herum, sondern sie sorgen sich um irrige Brüder, die freizügiger leben als es der strenge Codex ihrer Gemeinderegeln gestattet. Sie finden stets euphemistische Formulierungen, um schlimmes über andere zu sagen. Sie lernen das sanfte Wort als Waffe zu nutzen. Damit unterscheiden sie sich von Rockerbanden und solchen Personen, die klar und ohne Umschweife ihre Meinung denken und sagen und damit leichter angreifbar werden.

Vom rechten Beten

Um Gottes Stimme zu hören, müssen wir uns Zeit nehmen, um einfach still zu werden. Dabei müssen wir Gott unsere ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Unser eigener Wille und unser Hang zur Argumentation stehen oft dem im Wege, was der Geist des Herrn uns mitteilen oder wissen lassen will. Wir sollten uns von ganzem Herzen auf Gott verlassen und uns nicht auf unseren Verständnishorizizont verlassen.“(ebd) Gegen die tägliche Praxis der Stille gibt es gar nichts einzuwenden. Der Hang zur Argumentation und der Verständnishorizont wird völlig richtig als Problem erkannt, die das Gebet erschweren. Der eigene Wille erscheint hier stets von übel. Gott und eigener Wille sind immer Kontrahenten. Jesus betet in Gethsemane: "Nicht wie ich will, sondern wie du willst." Es wird hier eine permanente Diastase von Eigenwille und Gotteswille eingeführt, von Vernunft und Glaube. Für die bisherigen Ausführungen und Vernünfteleien über Gottes Stimme im Gebet mag dies zutreffen: Das evangelikale Gottesbild ist Produkt einer gebrochenen Vernunft, die an den Problembereichen ihrer hausgemachten aporetischen Wald-und-Wiesen-Dogmatik stets auf ihre (offensichtliche) Unfähigkeit rekurriert und niemals wie Hiob die Theodizeefrage zu stellen wagt.

Daß selbst den Heiden das Gesetz ins Herz geschrieben ist, daß ich und jedes Kind mit mir ein natürliches Gefühl für Unrecht habe und erst durch äußere Manipulationen dieses verliere, ist für den erbsündigen Evangelikalen schwer vorstellbar. Daß mithin mein Wille und Gottes Wille zur Bewahrung der Schöpfung, zu Gerechtigkeit in der Güterverteilung und Frieden unter den Völkern konvergieren, paßt nicht in die klassische Rollenaufteilung des Gebets, in dem ich immer unrecht habe und Gott immer Recht, in dem ich immer der Trottel bin und Gott immer weiß, wie es mir am besten gehen soll.

Dennoch hat das letzte evangelikale Zitat einen Wahrheitsgehalt: Gebet ist ein Ort der kritischen Selbstüberprüfung. Dies möchte ich gerne gelten lassen in genau dieser Allgemeinheit, aber nicht im Modus einer Sündenbuchhaltung, sondern als ein Innehalten in der Geschäftigkeit des Alltags, als Atmen der Seele, als Reflexion auf das, was ich bin und will und was mir die Stimmen der Anderen einreden, ganz besonders die frommen Stimmen mit ihrem verführerischen sanften Tonfall.

Das ganze Leben als Zwiesprache mit der göttlichen Liebe erleben

Luthers Satz, das ganze Leben sei ein Gebet, hat eine großartige Entdeckung gemacht. Wo immer ich bin, bin ich in der Zwiesprache mit Gott. Der Dialog, der ursprünglich im stillen Kämmerlein beheimatet war, wird aufgeweitet auf das ganze Leben, so wie der Tempel in Röm 12 aufgeweitet wird auf die Gesamtheit der von Gott bewegten Menschen. Damit kommt Gott heraus aus dem stillen Kämmerlein in die Gesamtheit der menschlichen Interaktion. Martin Buber hat dies als das dialogische Prinzip der göttlichen Existenz beschrieben, als den Geist, der alles Leben durchwaltet mit seiner Präsenz, der aber nicht Dirigent eines leidensfreien Lebens ist. Die Stille ist eine Sonderform des Gebets. Sie ist das Atemholen der Seele, der Ort der Tränen, der Ort der Verzweiflung, der Ort des Kampfes der konfligierenden Strebungen, die erstmal alle weder Heiliger Geist noch Satansengel sind, sondern tiefe Sehnsüchte und tiefe Ängste, die allesamt entfaltet werden dürfen und sollen wie bei Jesus in Gethsemane oder Bonhoeffer vor seiner Hinrichtung in Flossenbürg. Wir wissen nicht, was wir beten sollen. Das ist der Beginn des Betens. Eigentlich darf man gar nicht mehr verraten und schon gar nicht Tips geben, Reklame machen und mögliche Interessierte dressieren wollen. Es gibt nicht das rechte Gebet. Es gibt nur die Neugier und das Nichtwissen. Den Rest soll jeder selbst erfahren. Denn der Geist hilft unserer Schwachheit auf. 

Welche Kraft uns dann trägt und welche guten Mächte uns dann wundervoll umgeben, das sei ganz der Erfahrung der Beter ins Wissen gestellt. Es ist mit Sicherheit keine Narkose und Entschmerzung der Welt, in dem Dialog mit Gott zu leben. Es macht nichts einfacher. Es ist kein Schutz vor irgendetwas. Es ist die Fähigkeit, ohne die alten Schutzmechanismen und Schutzbehauptungen sich der Welt zu öffnen, die um uns herum tobt und ringt. Dabei mag insgeheim ein mythisches Ahnen mitschwingen: Gott ist mein Schild. Diese Erfahrung hat selbst einen Selbsterfüllungscharakter. Wer sich so abgrundtief getragen weiß, kann mit einer größeren Selbstverständlichkeit in den Stürmen der Welt-See operieren. Das mag nicht viel sein, aber nach Kabbalamystik und Chaostheorie braucht es nur ein kleines, um die ganze Welt zu verwandeln.

Gebet in diesem Weltverantwortungs-Kontext ist die permanente Vergewisserung, daß ich nicht aus der Liebe Gottes herausfallen kann, sogar dann nicht, wenn es katastrophal ist. Dies klingt ganz ähnlich wie die evangelikale Gebetstheorie. Und doch ist der Unterschied zwischen einer künstlich andressierten multiplen Persönlichkeit mit Satan, Engeln und Heiligem Geist dort und einem Zuwarten Gottes auf mich in jedem Blick, jeder Geste, jeder Träne hier ein gewaltiger. Dort wird die Persönlichkeit unter ein Beichtregister gestellt, hier wird ein Mensch in all seiner Verschrobenheit oder Vollkommenheit gleichermaßen anerkannt. Nicht das Abarbeiten von Sündenlisten bringt Besserung, sondern die Reflexion darauf, was schief gelaufen ist, und wie man daraus neue Problemlösungen entwickeln kann. So wird Gebet eine Arbeit des Hoffens, tätiger Hoffnung im gemeinsamem Umbau der Welt zum himmlischen Jerusalem, zur Heimat, in der Gott Tränen abwischen wird.