Simulation akustischer Räume

Während die Kunst der Mikrofonauswahl und -aufstellung weiterentwickelt wurde, kam der Wunsch auf, den Raumanteil des Klanges kontrollierbarer zu machen. Aus dieser Zielsetzung heraus, begann man, Verfahren zur künstlichen Nachhallerzeugung zu entwickeln. Als "Nachhall" oder "Hall" bezeichnet man den Teil eines Signals, der erst im Raum entsteht, im Gegensatz zum "Direktschall", der den Klang ohne Raumanteil bezeichnet. Erst war diese Unterscheidung nur modellhaft gewesen, mit der künstlichen Raumerzeugung begann der Versuch, Direktschall und Hallanteil zu isolieren. Während Polymikrofonverfahren es ermöglichten, jedes einzelne Instrument aus geringer Entfernung aufzunehmen und auf diese Weise seinen Klang von der Umgebung loszulösen, ermöglichte der künstliche Nachhall das Hinzufügen eines als passend erscheinenden Raumanteils. Ein Parameter, der zuvor auf das engste mit den akustischen Gegebenheiten am Ort der Performance verknüpft war, wurde unabhängig regelbar.

Hallräume

Während es üblich war, den Raumklang einer Aufnahme durch eine ausgeklügelte Aufstellung von Mikrofonen im Aufnahmeraum selbst zu beeinflussen, setzte die früheste Technik zur kontrollierten Hallerzeugung bei einer örtliche Trennung von Schall- und Hallquelle an: Die Entstehung des Raumanteils wurde vom Aufnahme- in den Hallraum verlagert. Dieser war stark schallreflektierend gebaut und mit Lautsprechern und Mikrofonen ausgestattet. Man konnte nun das Signal eines Instrumentes vom Mischpult aus in die Lautsprecher schicken und es von den Mikrofonen verhallt zurückführen. Die Balance zwischen dem "trockenen" und dem verhallten Signal konnte so am Mischpult geregelt werden, ebenso war es möglich, in Grenzen den Klangcharakter des Raumes zu beeinflussen. Filterte man z.B. den Höhenanteil des Mikrofonsignals heraus, so entstand der Eindruck eines bedämpften Raumes, obgleich die Wände des Hallraums oft gekachelt waren und sein akustischer Hall deshalb sehr höhenreich war. Ansonsten konnte man im Hallraum prinzipiell alle Mikrofontechniken anwenden, die schon von der Liveaufnahme bekannt waren, mit dem Unterschied, daß die Schallquelle diesmal ein Lautsprecher war. Auch reflektierende bzw. absorbierende Stellwände, wie sie bereits zur akustischen Trennung der Instrumente üblich waren, konnten den Klang anpassen helfen. Unveränderbar war aber grundsätzlich die Raumgröße. Einige Studios bauten deshalb mehrere unterschiedliche Hallräume. Das Verfahren hat aufgrund seiner Qualität, schließlich wird ein Raumanteil nicht simuliert, sondern akustisch erzeugt, bis heute Anhänger. Der Aufwand ist allerdings so hoch, daß sich nur noch wenige Studios diesen Luxus leisten.

Platten, Folien, Federn

Vor allem aus diesen wirtschaftlichen Erwägungen heraus wurden elektromechanische Hallgeräte entwickelt. Dieses Prinzip wurde in drei Abwandlungen umgesetzt: Die seit Ende der 50er Jahre gebaute Hallplatte, ein Patent der Firma EMT, bestand aus einer großen Stahlplatte, welche in einem Rahmenelastisch aufgehängt ist. Diese wird, ähnlich einer Lautsprechermembran, elektromagnetisch in Schwingung versetzt. Während das Nachschwingen nach einem Impuls bei einem Lautsprecher unerwünscht ist und man deshalb meist leichte Membranen mit starken Antrieb verwendet, macht man sich hier die Trägheit der schweren Metallplatte zunutze. Mittels mehrerer Tonabnehmer werden die mechanischen Schwingungen der Platte wieder in elektrische umgeformt und können als Hallsignal dem Klang hinzugemischt werden. Die Nachhallzeit läßt sich durch mehr oder weniger starke mechanische Bedämpfung regeln. Wie zu erwarten unterscheidet sich der mechanisch erzeugte Hall klanglich stark von seinem natürlichen Vorbild, er konnte aber offensichtlich dessen Funktion einnehmen. Bis weit in die 70er Jahre hinein gehörte dieses Hallgerät zur Grundausstattung eines jeden Tonstudios. Auch in Konkurrenz zu Hallräumen wurde der eigenständige, etwas metallische Plattenklang oft bevorzugt. Besonders perkussive Instrumente und Solostimmen profitierten von ihrem Charakter. Daß auch nach Verfügbarkeit realistischerer Raumsimulationen jedes moderne Hallgerät ein "Plate"-Programm besitzt, zeigt, wie "Sound" oft höher bewertet wird als Realismus. Weiterentwickelt wurde die Hallplatte in der sog. Goldfolie (offizielle Bezeichnung: EMT 240). Die metergroße, dicke Stahlplatte wird hier durch eine dünne, kleine goldene Folie ersetzt, die Technologie miniaturisiert. Sie wird nach 1970 zum Standard für Vokalaufnahmen. Um ein Vielfaches billiger und damit weit verbreitet ist der Federhall (auch Hallspirale genannt). Statt riesigen Stahlplatten oder goldenen Folien wird hier eine Metallfeder in Schwingung versetzt. Federhall benutzen vor allem Musiker. Eingebaut in Gitarren- und Gesangsverstärker, E-Orgeln etc. war und ist dieser selbstverständlicher Teil ihres Livesounds.[22]

Digitalhall

Die heute verbreitetste Art der Nachhallerzeugung ist die digitale.[23] Digital haben sich hier Techniken durchgesetzt, die prinzipiell sogar schon viel länger verfügbar waren als der erste Plattenhall. Wie oben erläutert kann man Hall als eine Serie von Reflektionen, also kurzen Echos verstehen, die ihrerseits wiederum Echos werfen. Die früheste Technik elektronisch ein Echo zu erzeugen war es, eine endlose Bandschleife in ein Tonbandgerät mit getrenntem Aufnahme- und Wiedergabekopf zu legen. Das Signal wurde aufgenommen und zeitverzögert wieder abgespielt. Die Länge der Bandschleife sowie die Geschwindigkeit des Bandes bestimmten die Verzögerungszeit. Um Mehrfachechos zu erzeugen konnte man einen Teil des verzögerten Signals sofort wieder aufnehmen. In spezialisierten Echogeräten wurde diese Technik verfeinert, indem man mehr ere mischbare Wiedergabeköpfe verwendete. Verglichen man dies mit den akustischen Verhältnissen im Raum, entsprach bei entsprechender Einstellung das Echo eines jeden Kopfes dem Auftreffen der Schallwelle auf einen Reflektor, durch Rückkopplung wurde auch dieses Echo wieder reflektiert. So entstand statt zyklischen, einzeln wahrnehmbaren Echos ein recht diffuses raumähnliches Klangbild.[24] Daß diese Technik der Hallerzeugung kaum angewandt wurde hatte praktische Gründe. Durch das kontinuierliche Abspielen und Wiederaufnehmen in der Rückkopplungsschleife wurde das Signal stark beeinträchtigt, alles wurde in kürzester Zeit zu dröhnendem Rauschen. Andererseits ist die mechanisch mögliche Komplexität des Gerätes begrenzt, man kann nur eine endliche Menge Tonköpfe an einem endlich langen Band anbringen, seine Geschwindigkeit läßt sich nicht unendlich steigern. Hier bot sich Mitte der 70er Jahre die Digitaltechnik an, da sie für genau diese Probleme eine Lösung versprach. Eine digitale Rückkopplungsschleife konnte prinzipiell verlustfrei arbeiten, eine Binärzahl, die einmal gespeichert war, änderte sich idealerweise nicht.[25] Vor allem aber ermöglichte das von der Datenverarbeitung bevorzugte Konzept, einfache Operationen mit hoher Geschwindigkeit wiederholt abzuarbeiten, die nötige Komplexität.

In der Praxis nahm man größtenteils vom naheliegenden Ansatz Abstand, die physikalische Akustik eines Raumes nachzubilden. Aufgrund der beschränkten Rechenleistung, aber auch aus geschmacklichen Erwägungen, folgte man größtenteils einem Modell, das den Raumeindruck mit einigen kurzen Erstreflektionen vermittelt, an welche sich eine möglichst "weiche", d.h. diffuse Hallfahne anschließt. Die Algorithmen werden nicht am natürlichen Vorbild, sondern nach ihrem subjektiven "Sound" optimiert. Die Hallgeräte des Herstellers Lexicon, seit fast 20 Jahren eine Art Industriestandard in den Studios, sind gerade dafür beliebt, daß sie für viele Anwendungen "besser" klingen als ein natürlicher Raum. Da kaum eine Platte bzw. CD ohne deren Anwendung gemischt wird, könnte man folgern, daß sich Popmusik in anderen Räumen abspielt, als der Rest der Welt. Im Zuge der rechnergestützten Audiobearbeitung[26] findet in letzter Zeit verstärkt auch eine andere Methode der Raumsimulation Anwendung: Ein definierter -sehr kurzer- Schallimpuls wird in einem Raum erzeugt, das klangliche Ergebnis mit einem Mikrofon aufgenommen. Da auch digitalisierte Klänge eine Folge von Impulsen mit einem bestimmten Zahlenwert für die Lautstärke darstellen, kann zu jedem dieser Impulse ein passend verstärktes oder abgeschwächtes Ergebnis errechnet werden. Die Technik wird bisher aber eher im Sounddesign angewandt, als in der Musikproduktion, da sie für diese einige Nachteile aufweist: so ist aufgrund der Vielzahl der nötigen Rechenoperationen eine Echtzeitanwendung bisher nicht möglich, der Raum wird in der Praxis langsam in eine Audiodatei "eingerechnet". Das Verfahren ermöglicht außerdem keinerlei Veränderung des einmal gemessenen Raumklangs, dieser wurde ja nur aufgezeichnet, nicht analysiert. So werden einige wichtige Anforderungen der "kreativen" Produktionsweise nicht erfüllt: der intuitive, sofort hörbare, Zugriff auf die Klangparameter, die Möglichkeit den Raum zu "spielen". Um andererseits das Ideal eines naturidentischen Konzertsaals zu erfüllen, müßte, da sich ja nicht alle Instrumente an einem Punkt befinden, für jede Position im Raum eine Messung erfolgen, ein Profil zur Verfügung stehen. Weiterhin kommen alle Probleme zum Tragen, die auch bei der Liveaufnahme auftreten, sie werden lediglich zeitlich von der Aufnahme zum Abmischen verlagert.

Künstlich erzeugte Richtungs- und Entfernungswahrnehmung

Die Größe und Beschaffenheit eines Raumes kann ein Hörer vor allem anhand der diffusen "Hallfahne" nachvollziehen. Richtung und Entfernung einer Schallquelle erschließen sich dagegen eher aus Lautstärke- und Klangunterschieden, sowie sehr kurzen Verzögerungen zwischen den Ohren. Die einfachste Art, eine Schallquelle im Stereobild zu positionieren ist, ihre Lautstärke ungleichmäßig auf die Stereokanäle zu verteilen. Jedes Stereomischpult verfügt dazu über Panoramaregler (meist Pan abgekürzt). Steht der Regler links, wird das Signal nur auf dem linken Kanal ausgegeben, steht er in der Mitte, werden beide Kanäle gleich stark beschickt usw. . Je nach dem Lautstärkeverhältnis der beiden Kanäle entstehen an den entsprechenden Stellen zwischen den Lautsprechern sog. Phantomschallquellen, der Klang scheint nicht mehr den Lautsprechern, sondern dem Feld zwischen ihnen zugeordnet. Diese Technik kann man als ideale Intensitätsstereophonie verstehen, da hier jede Zeitverzögerung wegfällt.

Weitaus plastischer wird der Richtungseindruck, wenn man das Instrument auf einem der Kanäle um wenige Millisekunden (ms) verzögert. Dieses Vorgehen hat sein Vorbild in der Laufzeitstereophonie und ist mittels digitaler Verzögerungsgeräte problemlos zu realisieren.

Klangliche Aspekte

Entfernung kann man, der Hörphysiologie entsprechend, besonders gut mit klanglichen Mitteln andeuten. Nahes klingt kräftig, ist baßbetonter. Entferntes verliert seinen Höhenanteil. Ein Sonderfall ist die Präsenz. Man bezeichnet damit in der Tontechnik den Frequenzbereich, in dem das menschliche Ohr am empfindlichsten ist. Betont man diesen Bereich (z.B. mittels der Klangregelung am Mischpult), so wirkt ein Signal nahe, scharf, aufdringlich und aggressiv.[27] Ist die Raumgröße, optisch oder akustisch, bereits erkennbar geworden, läßt sich die Entfernung auch aus der Zeitverzögerung zwischen Direktschall und Nachhall ableiten. So ist es üblich, entweder die Mikrofone, welche die Instrumente aus der Nähe abnehmen oder die Raummikrofone künstlich zu verzögern. In erstem Fall wirkt ein Klangkörper kompakter, im zweiten wird er in die Tiefe gestreckt. Man kann sich diesen Effekt etwa wie eine Tele- bzw. Weitwinkeloptik vorstellen. In Verbindung mit der Hörerfahrung erzeugt auch Lautstärke allein einen Entfernungseindruck: ein bekanntermaßen leises Instrument, welches laut zu hören ist, wird als nah wahrgenommen, ein normalerweise lautes rückt mit abnehmender Lautstärke in die Ferne.

Rechnergestützte Simulation von Richtungseindrücken

Die Wechselwirkungen zwischen den für Richtungs- und Entfernungswahrnehmung verantwortlichen Parametern waren Ende der 80er Jahre auf physikalischer und psychoakustischer Ebene so weit erforscht, daß die Idee umgesetzt wurde, sie im Rechner zu modellieren. Mit dem Anspruch, auch bei Stereowiedergabe eine Tonquelle beliebig im dreidimensionalen Raum plazieren zu können, wurden Systeme wie "Qsound" der gleichnamigen Firma oder "RSS" der Musikinstrumentenfirma Roland auf den Markt gebracht. In der Musikproduktion setzten sie sich kaum durch. Ihre Möglichkeiten gingen nur wenig über das hinaus, was ein erfahrener Toningenieur mit seinem konventionellen Equipment erreichen konnte, ihr fünf- bis sechsstelliger Preis aber weit darüber, was ein durchschnittliches Musikstudio für diesen Luxus bezahlen wollte. Inzwischen sind einige 3D-Verfahren als Software-Erweiterungen zu digitalen Audio Workstations verfügbar, sie werden aber hauptsächlich für Special Effects verwendet. Da Popproduzenten üblicherweise weniger Wert auf naturgetreue räumliche Abbildung legen, als auf einen subjektiv guten Sound und Puristen ohnehin den Einsatz von Raumsimulation ablehnen, bleibt eine naturgetreue dreidimensionale Simulation nur ein Spezialfall.

 

 

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