Entwicklungsverlauf
bei geistig behinderten Kindern
Zur Entwicklung des geistig behinderten Kindes existieren
zwei sich diametral gegenüberstehende Theorien: Die Entwicklungstheorie
und die Defekt- bzw. Differenztheorien (Wendeler, 1976; Holtz, 1994). Die
Entwicklungstheorie geht davon aus, daß geistig behinderte Kinder
prinzipiell die gleichen Entwicklungsstufen durchlaufen wie normal entwickelte
Kinder, wobei das Entwicklungstempo allerdings erheblich langsamer ist.
Dieses würde bedeuten, daß geistig behinderte Kinder und nicht
geistig behinderte Kinder, die sich im gleichen Intelligenzalter, aber
unterschiedlichen Lebensalter befinden, in etwa dasselbe Verhalten zeigen
müßten. Zigler beschränkt die Gültigkeit der Entwicklungstheorie
jedoch auf Personen, bei denen eine ‘familiare Retardierung’ diagnostiziert
wurde (Holtz, 1994). Bach (1990) schränkt die Gültigkeit der
Entwicklungstheorie nicht ein. Er schreibt:
„Vergegenwärtigt man sich diese Züge des
geistig behinderten Kindes, d. h. seine sozialen Verhaltensweisen, den
Grad seiner Selbständigkeit und Orientierung in Zeit und Raum, Art
und Maß der Aufmerksamkeit, Durchhalte- und Leistungsfähigkeit,
der Körperbeherrschung, der Darstellungs- und Sprachtüchtigkeit,
des Gegenstands-, Regel- und Zeichenverständnisses, der Interessen,
der gefühlsmäßigen Differenziertheit und wertbezogenen
Verhaltenssteuerung, ohne sich von Lebensalter und besonderen Symptomen
ablenken zu lassen, dann drängt sich der Vergleich auf zwischen diesen
Lebensformen und dem Verhalten eines nicht behinderten Kindes in der Ein-,
Anderthalb-, Zwei- oder Dreijährigkeit" (S.
10).
Der Vergleich geistig behinderter Erwachsener mit Kleinkindern
bereitet Bach (1979) allerdings auch Probleme. Er schränkt ein:
„...denn trotz der offenkundigen Vergleichbarkeit
vieler Verhaltensweisen jugendlicher oder erwachsener Geistigbehinderter
mit Verhaltensweisen etwa nicht behinderter Vierjähriger und trotz
der Dienlichkeit dieses Vergleichs gilt es jedoch, die vielfältigen
Unterschiedlichkeiten und bestimmten lebensaltergemäßen Bedürfnisse,
Ansprüche und Aufgaben zu sehen, so daß man zum Beispiel einem
geistigbehinderten Fünfundzwanzigjährigen keineswegs gerecht
wird, wenn man ihn durch die Angabe des Entwicklungsalters der Vierjährigkeit
kennzeichnet" (S. 5).
Nach den Defekt- bzw. Defizittheorien verläuft die Entwicklung
von geistig Behinderten nach anderen Gesetzmäßigkeiten, als
der von Nichtgeistigbehinderten. Vertreter dieser Theorien, wie Lewin und
Ellis, gehen davon aus, „...daß sich Geistigbehinderte von Normalen
trotz gleichen Niveaus der Allgemeinintelligenz in speziellen kognitiven
Funktionen unterscheiden, (...) wodurch sie sich im kognitiven Verhalten
grundsätzlich von normalen Menschen unterscheiden" ( zit. n. Wendeler,
1976, S. 32). Defekttheorien besagen, daß bestimmte kognitiver Prozesse,
die allerdings nicht genauer definiert werden, in der Entwicklung des Kindes
nicht durchlaufen werden. Differenztheorien gehen davon aus, daß
dieser Prozeß, oder diese Prozesse, in einer geringeren Ausprägung
als bei normal entwickelten Kindern durchlaufen werden.
Unterschiedliches Verhalten von geistig behinderten Kindern
und nicht geistig behinderten Kindern gleichen Intelligenzalters wird nach
der Entwicklungstheorie mit einer unterschiedlichen Ausprägung der
Motivation erklärt (Holtz, 1994; Wendeler, 1976). Die unterschiedliche
Ausprägung der Motivation wird mit den unterschiedlichen Lebenserfahrungen
begründet die geistig Behinderte, im Unterschied zu nicht geistig
behinderten Menschen, in unserer Gesellschaft machen.
Vertreter der Differenz- und Defekttheorien sehen im Vorhandensein
unterschiedlicher Verhaltensweisen einen Hinweis auf das prinzipielle kognitive
Anderssein dieser Menschen.
Grenzen der kognitiven Entwicklung
Es stellt sich die Frage, ob geistig behinderte Menschen,
deren Entwicklung im Verhältnis zu nicht geistig behinderten Menschen
erheblich verlangsamt verläuft, das gleiche Endstadium der kognitiven
Entwicklung erreichen können. Bärbel Inhelder geht davon aus,
daß der Verlauf der kognitiven Entwicklung bei ‘debilen’ Menschen
„...nicht zu ihrem Endpunkt, dem vollendeten Gleichgewicht der formalen
Operationen gelangt, sondern auf der Stufe der konkreten Operationen stehenbleibt"
(zit. n. Schröder, 1981, S. 100). Unter Debilität fallen nach
dem ICD 10 (siehe Punkt 1.1.4) Menschen mit einem IQ zwischen 50 und 69.
Inhelder beschreibt eine schrittweise Verkleinerung des Tempos der Entwicklung
bei geistig Behinderten, an deren Ende ein Zustand der Stagnation steht
( Schröder, 1981).
Äquilibration ist einer der zentralen Begriffe der
Piagetschen Entwicklungstheorie. Nach der Piagetschen Äquilibrationstheorie
bedeutet Stagnation, daß sich das Kind in einem Zustand befindet,
der nicht den Charakter eines wirklichen Gleichgewichts hat (Schröder,
1981). Der Aufbau komplexerer kognitiver Strukturen erfolgt, nach dieser
Theorie, aus der Erfahrung eines Ungleichgewichtes. Dieses Ungleichgewicht
können nicht erfolgreiche Assimilationsversuche, kognitive Konflikte
etc. auslösen. Das Individuum versucht dieses Ungleichgewicht mit
dem Aufbau komplexerer kognitiver Strukturen aufzuheben (Montada, 1995).
„Die Entwicklung der kognitiven Strukturen von einem weniger leistungsfähigen,
widerspruchsanfälligen zu immer leistungsfähigeren, stabileren
Strukturen bezeichnet Piaget als Äquilibrationsprozeß" (S.
554).
Stephens und McLaughlin (1974) stellten in ihren Untersuchungen
zwar auch eine fortschreitende Verlangsamung der Entwicklung fest, eine
totale Stagnation konnten sie jedoch nicht entdecken. Sie untersuchten
den Verlauf der geistigen Entwicklung von jeweils 75 geistig behinderten
und nicht geistig behinderten Kindern und Jugendlichen im Alter von 6 bis
18 Jahren anhand von Entwicklungsaufgaben nach Piaget und Inhelder. Die
Gruppe der nicht geistig behinderten Kinder besaß eine IQ-Spanne
zwischen 90 und 110, die der geistig behinderten Kinder von 50 bis 75.
Die behinderten Kinder waren nach amerikanischer Definition in die Gruppe
‘mild mental retardation’ eingestuft, nach deutscher Definition teilweise
in die Gruppe der ‘Lernbehinderten’ und teilweise in die Gruppe der ‘mäßig
geistig Behinderten’(vgl. Punkt 1.1.1 ).
Die Gesamtgruppe wurde in drei Altersklassen differenziert:
a) 6 bis 10 Jahre
b) 10 bis 14 Jahre
c) 14 bis 18 Jahre.
Stephens und McLaughlin (1974) kamen zu folgenden Ergebnissen:
-Kein geistig behindertes Kind erreichte formal operationales
Niveau.
-Es zeigten sich keine eindeutigen Beweise für ein
generelles vorzeitiges Ende der Entwicklung bei geistig behinderten Kindern.
„Lack of difference between the middle and older group
of retarded subjects suggested possible arrestation of cognitive development
in the older group. However, data provided during Phase 2 indicates that
development does proceed in retarded persons, ages 16 to 20, although at
a decelerating tempo" (S. 126).
Nach Rauh (1983) erreichen Mongoloide in etwa im Alter
von 6 Jahren das Entwicklungsniveau von Zwei bis Vierjährigen und
im Jugendalter können sie so gut wie nie das Intelligenzalter von
Fünf- bis Siebenjährigen übertreffen. Das Denken dieser
Menschen bleibt weitgehend präoperational. „Was die normativen
Entwicklungsdaten betrifft, wird jedoch immer wieder berichtet, daß
die Variationsbreite innerhalb der DS Kinder (DS = Down Syndrom, der
Verf.) mindestens so groß ist, wie in der normalen Bevölkerung,
wenn nicht sogar noch größer, nämlich von schwerster Behinderung
bis an die Grenze der Normalität" (S. 120). Es ist also davon
auszugehen, daß zumindest ein kleiner Teil dieser Gruppe konkretoperationales
Niveau erreichen kann. Thomae (1979) schlußfolgert ähnlich.
„Die kognitive Entwicklung Geistigbehinderter endet (...) in
einem frühen bis mittleren Stadium der zweiten Periode, das heißt
des anschaulich konkreten Denkens" (S. 345).
Ob Stufenmodelle der kognitiven Entwicklung bei geistig
behinderten Kindern als gültig angesehen werden können, hängt
von der jeweiligen theoretischen Orientierung ab. Vertreter der Defekttheorie
müßten demnach, entsprechend ihrer Grundannahme, eine Übertragung
des Piagetschen Modells auf geistig Behinderte ablehnen. Vertreter der
Entwicklungstheorie sollten, ebenfalls entsprechend ihrer Grundannahme,
von einer Gültigkeit des Modells ausgehen.
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