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Das Siegel
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Bildbeschreibung
Was ist geistige Behinderung ?
Klassifikation von geistiger Behinderung nach ICD-10
und DSM-IV
Ursachen von geistiger Behinderung
Häufigkeit des Auftretens von geistiger Behinderung
Entwicklungsverlauf bei geistig behinderten Kindern
Verhaltensstörungen bei geistiger Behinderung
Ursachen von psychischen Störungen und Verhaltensstörungen bei geistig Behinderten
Soziale Kompetenz
Selektive Wahrnehmung
Soziale Informationsverarbeitung bei Kindern
Überprüfung der sozialen  Informations- verarbeitung bei geistig behinderten Kindern
Aufmerksamkeitsverhalten bei geistig behinderten Kindern
Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung von Emotionen und sozialer Kompetenz bei Kindern
Trainingsprogramme zur Verbesserung der sozialen Kompetenz
Literatur
pix Dr. Sven Bielski - Geistige Behinderung und soziale Kompetenz
Entdeckungen 1 Entdeckungen 2 Entdeckungen 3 Entdeckungen 4 Entdeckungen 5
 
   
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Entwicklungsverlauf bei geistig behinderten Kindern


Zur Entwicklung des geistig behinderten Kindes existieren zwei sich diametral gegenüberstehende Theorien: Die Entwicklungstheorie und die Defekt- bzw. Differenztheorien (Wendeler, 1976; Holtz, 1994). Die Entwicklungstheorie geht davon aus, daß geistig behinderte Kinder prinzipiell die gleichen Entwicklungsstufen durchlaufen wie normal entwickelte Kinder, wobei das Entwicklungstempo allerdings erheblich langsamer ist. Dieses würde bedeuten, daß geistig behinderte Kinder und nicht geistig behinderte Kinder, die sich im gleichen Intelligenzalter, aber unterschiedlichen Lebensalter befinden, in etwa dasselbe Verhalten zeigen müßten. Zigler beschränkt die Gültigkeit der Entwicklungstheorie jedoch auf Personen, bei denen eine ‘familiare Retardierung’ diagnostiziert wurde (Holtz, 1994). Bach (1990) schränkt die Gültigkeit der Entwicklungstheorie nicht ein. Er schreibt:

    „Vergegenwärtigt man sich diese Züge des geistig behinderten Kindes, d. h. seine sozialen Verhaltensweisen, den Grad seiner Selbständigkeit und Orientierung in Zeit und Raum, Art und Maß der Aufmerksamkeit, Durchhalte- und Leistungsfähigkeit, der Körperbeherrschung, der Darstellungs- und Sprachtüchtigkeit, des Gegenstands-, Regel- und Zeichenverständnisses, der Interessen, der gefühlsmäßigen Differenziertheit und wertbezogenen Verhaltenssteuerung, ohne sich von Lebensalter und besonderen Symptomen ablenken zu lassen, dann drängt sich der Vergleich auf zwischen diesen Lebensformen und dem Verhalten eines nicht behinderten Kindes in der Ein-, Anderthalb-, Zwei- oder Dreijährigkeit" (S. 10).
Der Vergleich geistig behinderter Erwachsener mit Kleinkindern bereitet Bach (1979) allerdings auch Probleme. Er schränkt ein:
    „...denn trotz der offenkundigen Vergleichbarkeit vieler Verhaltensweisen jugendlicher oder erwachsener Geistigbehinderter mit Verhaltensweisen etwa nicht behinderter Vierjähriger und trotz der Dienlichkeit dieses Vergleichs gilt es jedoch, die vielfältigen Unterschiedlichkeiten und bestimmten lebensaltergemäßen Bedürfnisse, Ansprüche und Aufgaben zu sehen, so daß man zum Beispiel einem geistigbehinderten Fünfundzwanzigjährigen keineswegs gerecht wird, wenn man ihn durch die Angabe des Entwicklungsalters der Vierjährigkeit kennzeichnet" (S. 5).
Nach den Defekt- bzw. Defizittheorien verläuft die Entwicklung von geistig Behinderten nach anderen Gesetzmäßigkeiten, als der von Nichtgeistigbehinderten. Vertreter dieser Theorien, wie Lewin und Ellis, gehen davon aus, „...daß sich Geistigbehinderte von Normalen trotz gleichen Niveaus der Allgemeinintelligenz in speziellen kognitiven Funktionen unterscheiden, (...) wodurch sie sich im kognitiven Verhalten grundsätzlich von normalen Menschen unterscheiden" ( zit. n. Wendeler, 1976, S. 32). Defekttheorien besagen, daß bestimmte kognitiver Prozesse, die allerdings nicht genauer definiert werden, in der Entwicklung des Kindes nicht durchlaufen werden. Differenztheorien gehen davon aus, daß dieser Prozeß, oder diese Prozesse, in einer geringeren Ausprägung als bei normal entwickelten Kindern durchlaufen werden.

Unterschiedliches Verhalten von geistig behinderten Kindern und nicht geistig behinderten Kindern gleichen Intelligenzalters wird nach der Entwicklungstheorie mit einer unterschiedlichen Ausprägung der Motivation erklärt (Holtz, 1994; Wendeler, 1976). Die unterschiedliche Ausprägung der Motivation wird mit den unterschiedlichen Lebenserfahrungen begründet die geistig Behinderte, im Unterschied zu nicht geistig behinderten Menschen, in unserer Gesellschaft machen.

Vertreter der Differenz- und Defekttheorien sehen im Vorhandensein unterschiedlicher Verhaltensweisen einen Hinweis auf das prinzipielle kognitive Anderssein dieser Menschen.

 

Grenzen der kognitiven Entwicklung

Es stellt sich die Frage, ob geistig behinderte Menschen, deren Entwicklung im Verhältnis zu nicht geistig behinderten Menschen erheblich verlangsamt verläuft, das gleiche Endstadium der kognitiven Entwicklung erreichen können. Bärbel Inhelder geht davon aus, daß der Verlauf der kognitiven Entwicklung bei ‘debilen’ Menschen „...nicht zu ihrem Endpunkt, dem vollendeten Gleichgewicht der formalen Operationen gelangt, sondern auf der Stufe der konkreten Operationen stehenbleibt" (zit. n. Schröder, 1981, S. 100). Unter Debilität fallen nach dem ICD 10 (siehe Punkt 1.1.4) Menschen mit einem IQ zwischen 50 und 69. Inhelder beschreibt eine schrittweise Verkleinerung des Tempos der Entwicklung bei geistig Behinderten, an deren Ende ein Zustand der Stagnation steht ( Schröder, 1981).

Äquilibration ist einer der zentralen Begriffe der Piagetschen Entwicklungstheorie. Nach der Piagetschen Äquilibrationstheorie bedeutet Stagnation, daß sich das Kind in einem Zustand befindet, der nicht den Charakter eines wirklichen Gleichgewichts hat (Schröder, 1981). Der Aufbau komplexerer kognitiver Strukturen erfolgt, nach dieser Theorie, aus der Erfahrung eines Ungleichgewichtes. Dieses Ungleichgewicht können nicht erfolgreiche Assimilationsversuche, kognitive Konflikte etc. auslösen. Das Individuum versucht dieses Ungleichgewicht mit dem Aufbau komplexerer kognitiver Strukturen aufzuheben (Montada, 1995). „Die Entwicklung der kognitiven Strukturen von einem weniger leistungsfähigen, widerspruchsanfälligen zu immer leistungsfähigeren, stabileren Strukturen bezeichnet Piaget als Äquilibrationsprozeß" (S. 554).

Stephens und McLaughlin (1974) stellten in ihren Untersuchungen zwar auch eine fortschreitende Verlangsamung der Entwicklung fest, eine totale Stagnation konnten sie jedoch nicht entdecken. Sie untersuchten den Verlauf der geistigen Entwicklung von jeweils 75 geistig behinderten und nicht geistig behinderten Kindern und Jugendlichen im Alter von 6 bis 18 Jahren anhand von Entwicklungsaufgaben nach Piaget und Inhelder. Die Gruppe der nicht geistig behinderten Kinder besaß eine IQ-Spanne zwischen 90 und 110, die der geistig behinderten Kinder von 50 bis 75. Die behinderten Kinder waren nach amerikanischer Definition in die Gruppe ‘mild mental retardation’ eingestuft, nach deutscher Definition teilweise in die Gruppe der ‘Lernbehinderten’ und teilweise in die Gruppe der ‘mäßig geistig Behinderten’(vgl. Punkt 1.1.1 ).
Die Gesamtgruppe wurde in drei Altersklassen differenziert:

    a) 6 bis 10 Jahre
    b) 10 bis 14 Jahre
    c) 14 bis 18 Jahre.
Stephens und McLaughlin (1974) kamen zu folgenden Ergebnissen:
    -Kein geistig behindertes Kind erreichte formal operationales Niveau.
    -Es zeigten sich keine eindeutigen Beweise für ein generelles vorzeitiges Ende der Entwicklung bei geistig behinderten Kindern.
„Lack of difference between the middle and older group of retarded subjects suggested possible arrestation of cognitive development in the older group. However, data provided during Phase 2 indicates that development does proceed in retarded persons, ages 16 to 20, although at a decelerating tempo" (S. 126).

Nach Rauh (1983) erreichen Mongoloide in etwa im Alter von 6 Jahren das Entwicklungsniveau von Zwei bis Vierjährigen und im Jugendalter können sie so gut wie nie das Intelligenzalter von Fünf- bis Siebenjährigen übertreffen. Das Denken dieser Menschen bleibt weitgehend präoperational. „Was die normativen Entwicklungsdaten betrifft, wird jedoch immer wieder berichtet, daß die Variationsbreite innerhalb der DS Kinder (DS = Down Syndrom, der Verf.) mindestens so groß ist, wie in der normalen Bevölkerung, wenn nicht sogar noch größer, nämlich von schwerster Behinderung bis an die Grenze der Normalität" (S. 120). Es ist also davon auszugehen, daß zumindest ein kleiner Teil dieser Gruppe konkretoperationales Niveau erreichen kann. Thomae (1979) schlußfolgert ähnlich. „Die kognitive Entwicklung Geistigbehinderter endet (...) in einem frühen bis mittleren Stadium der zweiten Periode, das heißt des anschaulich konkreten Denkens" (S. 345).

Ob Stufenmodelle der kognitiven Entwicklung bei geistig behinderten Kindern als gültig angesehen werden können, hängt von der jeweiligen theoretischen Orientierung ab. Vertreter der Defekttheorie müßten demnach, entsprechend ihrer Grundannahme, eine Übertragung des Piagetschen Modells auf geistig Behinderte ablehnen. Vertreter der Entwicklungstheorie sollten, ebenfalls entsprechend ihrer Grundannahme, von einer Gültigkeit des Modells ausgehen.