Selektive Wahrnehmung
Die Fähigkeit, soziale Situationen erfassen zu können,
beinhaltet deren Wahrnehmung, Verarbeitung und Interpretation. Um eine
Situation wahrnehmen zu können, muß die Aufmerksamkeit des Kindes
zuerst auf diese Situation gerichtet werden. Da es jederzeit einer derart
großen Vielfalt von Reizen ausgesetzt ist, die sein kognitives System
in ihrer Gesamtheit nicht verarbeiten kann, muß eine Fokussierung
auf einen bestimmten Teil dieser Reize durchgeführt werden. Das Kind
muß also eine selektive Wahrnehmung entwickeln.
Selektive Aufmerksamkeit bedeutet, daß das Kind
nur die relevanten Aspekte in die Situationsverarbeitung einbezieht und
überflüssige Elemente nicht beachtet (Holtz, Eberle, Hillig &
Marker, 1995). Rauh (1979) sieht im Mangel an gesteuerter und gerichteter
Aufmerksamkeit, in der Schwierigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden,
eines der Hauptprobleme geistig Behinderter. Dieselbe Ansicht vertritt
auch Spreen (1978). Er behauptet, daß geistig Behinderte in Testsituationen
versuchen sich allen Aspekten der Versuchssituation gleichzeitig zuzuwenden
und es dabei versäumen, ihre Aufmerksamkeit auf die relevanten Aspekte
der Aufgabe zu richten.
Am Anfang der Wahrnehmungsentwicklung steht die überselektive
(oder zu grobe) Aufmerksamkeit. Hier werden nur wenige Aspekte aus einem
vielfältigen Reizfeld herausgehoben und oft nur über einen Wahrnehmungskanal
aufgenommen und verarbeitet (Ross & Petermann, 1987). Diese Phase der
Wahrnehmungsentwicklung dauert bei normal entwickelten Kindern etwa bis
zum Schulalter. Vor allem geistig behinderte Kinder zeigen allerdings nach
Untersuchungen von Loovas auch in diesem und höheren Alter noch überselektive
Aufmerksamkeit (Holtz et al., 1995; Ross & Petermann, 1987). Nach der
überselektiven Aufmerksamkeit folgt die Phase der überinklusiven
(oder zu feingliedrigen) Aufmerksamkeit. Hier passiert fast das Gegenteil
der vorhergegangenen Phase. Das Kind richtet seine Aufmerksamkeit auf mehr
Aspekte, als zur Lösung der Aufgabe notwendig sind. Diese Phase dauert
bei normal entwickelten Kindern bis etwa zum Beginn des 12. Lebensjahres
an. Das Ende der Aufmerksamkeitsentwicklung ist mit der danach beginnenden
selektiven Aufmerksamkeit erreicht.
Oerter und Dreher (1995) beschreiben zwei Hauptvorteile,
die das Kind, das selektive Wahrnehmung ausbildet, erwirbt:
· Die Berücksichtigung der wesentlichen Dimensionen
und Aspekte einer Aufgabe
· Die Einsparung von Speicherplatz im Arbeitsgedächnis.
In Tabelle 8 sehen wir die Aufmerksamkeitsentwicklung bei
normalen Kindern, mit den entsprechenden Entwicklungsphasen nach Piaget,
dargestellt. Die Entwicklungsphasen dauern, abhängig vom Behinderungsgrad,
bei geistig behinderten Kindern entsprechend länger. Ein großer
Teil der geistig behinderten Kinder erreicht die Phase der selektiven Aufmerksamkeit
nicht.
Tabelle 8: Entwicklung der Aufmerksamkeit bei normal entwickelten
Kindern
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