Verhaltensstörungen
bei geistiger Behinderung
Castell, Biener, Artner und Dilling (1981) untersuchten
in einer repräsentativen Querschnittsuntersuchung die Häufigkeit
von psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern.
Sie kamen zu dem Ergebnis, daß 5%, der von ihnen untersuchten 3.0
bis 14.11jährigen Kinder als psychisch gestört klassifiziert
werden konnten.
Eine Expertenkommission hat im Auftrag der Bundesregierung
im Jahre 1988 festgestellt, „...daß mindestens fünf Prozent
aller Kinder und Jugendlichen bis 18 Jahre kinder- und jugendpsychiatrisch
behandlungsbedürftig sind. Weitere 10 bis 13 Prozent zeigen Verhaltensstörungen
oder psychische und soziale Auffälligkeiten" (Junglas, 1990, S.
94).
Jacobson (1990) wertete die Daten einer großen Population
(n= 42479) geistig Behinderter im Hinblick auf das Vorkommen von psychischen
Störungen aus. 8496 Personen (20%) erhielten die Doppeldiagnose psychische
Störung und Entwicklungsstörung. 33983 Personen (80%) wurden
nur als entwicklungsgestört eingestuft. Es muß allerdings angemerkt
werden, daß in der Untersuchung ein Anteil von ca. 30.3% der Einstufung
‘mild mental retardation’ zugeordnet war. Diese Einstufung entspricht,
wie bereits mehrfach erwähnt, nicht unbedingt dem deutschen Terminus
der geistigen Behinderung. Jacobson differenzierte die Gesamtgruppe in
zwei Teilgruppen. In der ersten Gruppe wurden die geistig Behinderten bis
22 Jahre zusammengefaßt, in der zweiten die über 22jährigen.
Tabelle 6: Häufigkeit
des Vorkommens psychischer Störungen bei geistig Behinderten ( vgl.
Jacobson, 1990, S. 588)
Wir erkennen anhand von Tabelle 6, daß Verhaltensstörungen
im Kinder- und Jugendalter, genau wie bei nicht geistig behinderten Personen,
bei Jungen gehäufter auftreten als bei Mädchen. Nach Angaben
des DSM-III-R kann bei 9% der Jungen und bei zwei Prozent der Mädchen
eine Störung des Sozialverhaltens diagnostiziert werden (Wittchen,
Saß, Zaudig & Köhler, 1991).
Ansonsten sehen wir ein deutlich geringes Auftreten von
psychischen Störungen bei geistig Behinderten im Alter von über
22 Jahren. Die niedrigen Raten dieser Gruppe erklärt Jacobson (1990)
mit dem Ausschluß eines Teils der Fälle aufgrund unspezifizierter
Diagnosen.
Anhand der dargestellten Untersuchungen können wir
feststellen, daß psychische Störungen bei geistig behinderten
Kindern und Jugendlichen erheblich öfter auftreten, als bei nicht
Behinderten. Dem von Jacobson ermittelten Anteil von 25.67 % psychisch
gestörter Kinder und Jugendlicher, steht ein Anteil von 5% bei der
Normalbevölkerung entgegen. Es muß allerdings einschränkend
angemerkt werden, daß beide Untersuchungen aufgrund der unterschiedlichen
Stichproben nicht direkt miteinander vergleichbar sind.
Matson , Gardner, Coe und Sovner (1991) beschreiben die
psychischen Störungen einer Gruppe von 506 amerikanischen erwachsenen
geistig Behinderten, die nach dem Diagnoseschema der AAMR (vgl. Punkt 1.1.2)
als severely mental retarded (32.3%) und profoundly mental retarded (62.7%)
eingestuft wurden. Es zeigten 45.8% der Stichprobe selbstverletzendes Verhalten.
37.7% zeigten Steorotypen. Probleme der Impulskontrolle wurden bei 72.9%
der Stichprobe diagnostiziert. Psychiatrische Störungen der Gruppen
eins und zwei des triadischen Systems der Psychiatrie (vgl. Huber, 1994)
wurden erheblich weniger diagnostiziert. Beispielsweise wurden schizophrene
Störungen nur bei 0.6% der Stichprobe festgestellt.
Lotz und Koch (1994) geben einen Überblick über
75 durchgeführte Studien zur Fragestellung des Auftretens von psychischen
Störungen bei geistig Behinderten. Sie zeigen, daß in der Bundesrepublik
bislang drei Studien zu dieser Fragestellung durchgeführt worden sind.
Drei viertel der Studien insgesamt sind in den USA und in Großbritannien
erstellt worden. Die beiden Autoren attestieren eine Zunahme der Forschungstätigkeit
auf diesem Gebiet, da 68% der von ihnen gesichteten Untersuchungen in den
Jahren nach 1981 durchgeführt worden sind. Sie gehen nach Sichtung
der Studien von einem Anteil von 30-40% psychisch gestörter geistig
behinderter Menschen aus. Die am häufigsten gestellten Diagnosen sind
Verhaltensstörungen und psychotisches Verhalten. Sie stellen weiterhin
fest, daß bei Menschen mit leichter geistiger Behinderung häufiger
neurotische Störungen und Persönlichkeitsstörungen, sowie
affektive und schizophrene Psychosen festgestellt werden. Verhaltensstörungen
werden dagegen häufiger bei schwerer geistig behinderten Menschen
diagnostiziert. Weiterhin behaupten sie, daß Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen
häufiger bei männlichen Probanden festgestellt wurden. Im Gegensatz
dazu wurden affektive und insbesondere depressive Störungen vermehrt
bei weiblichen geistig Behinderten beobachtet. Dieses deckt sich mit dem
Vorkommen dieser Störungen in der Normalbevölkerung.
Ein Großteil dieser Studien griff allerdings auf
‘Gelegenheitsstichproben’ von jeweils gerade innerhalb großer Einrichtungen
leicht verfügbaren geistig Behinderten zurück. Die Mehrzahl der
Studien untersuchte eine heterogene Stichprobe, heterogen sowohl nach dem
Alter, wie nach dem Behinderungsgrad der Probanden. Einige machten keine
Angaben hinsichtlich Alter, Geschlecht und Behinderungsgrad der untersuchten
Personen. Dieses könnte Auswirkungen auf die Repräsentativität
der Ergebnisse haben.
Meins (1994) kommt nach Sichtung des Forschungsstandes
zu dem Ergebnis, daß bei leicht geistig Behinderten die Prävalenz
von psychischen Störungen um etwa 50% über dem Niveau der Normalbevölkerung
liegt. Bei schwerer geistiger Behinderung geht er von einer zwei- bis dreifach
höheren Prävalenz gegenüber Normalintelligenten aus.
Gaerdt, Jäckel und Kischkel (1989) beschreiben eine
Studie von Rutter aus dem Jahre 1976. Dieser ermittelte bei der Untersuchung
aller Kinder einer Gemeinde auf der Isle of Wight ein um das Vier- bis
Fünffache erhöhtes Vorkommen von psychischen Störungen bei
geistig behinderten Kindern.
Reiss, Goldberg, und Ryan (1993) geben an, daß amerikanische
Gesundheitsbehörden von einer Quote zwischen 10 und 40 % an psychischen
Störungen bei geistig Behinderten ausgehen. Im Gegensatz dazu kamen
verschiedene amerikanische Studien nur auf eine Quote von 10 bis 20 % (ebd.).
Reiss et al. (ebd.) geben weiterhin an, daß bei geistig Behinderten
im Bereich psychische Störungen Probleme des Sozialverhaltens am verbreitetsten
sind.
Nach Angaben im ICD-10 der WHO (vgl. Dilling, Mombour
& Schmidt, 1993) liegt die Prävalenzrate für psychiatrische
Störungen bei geistig Behinderten mindestens drei- bis viermal so
hoch wie bei der Normalbevölkerung.
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