Häufigkeit des Auftretens von geistiger Behinderung
Sander (1973) beschreibt in einem Gutachten für die
Bildungskommision des deutschen Bildungsrates die Häufigkeit und Verbreitung
von sonderschulbedürftigen Behinderten in der Bundesrepublik. Er gibt
an, daß amtliche Behindertenstatistiken für im Schulpflichtalter
stehende Personen nicht geführt werden. Die bis zu diesem Zeitpunkt
durchgeführten Prävalenzstudien werden von ihm auf Grund vorliegender
Mängel kritisiert. Häufig wurden Schulleiter befragt, wieviel
ihrer Schüler sie als geistig behindert einstufen würden. Die
Definition von geistiger Behinderung wurde in diesen Studien also den Befragten
überlassen. Die Reliabilität dieser Untersuchungen ist deshalb
durchaus als fragwürdig anzusehen. Bei einer Zusammenfassung der Studien
und Expertenschätzungen kommt er zu folgendem Resultat: „Wir kommen
daher zusammenfassend zu der Annahme, daß durchschnittlich 0,6% der
Kinder im Schulpflichtalter als sonderschulbedürftige geistig Behinderte
zu betrachten sind" (S. 36).
Bach (1990) gibt an, daß eines von 200 Kindern geistig
behindert ist. Dieses entspricht ebenfalls einer Quote von 0.6%. Er bezieht
sich auf verschiedene, von ihm nicht näherbeschriebene, Untersuchungen.
Auch Speck (1980) und Rauh (1995) geben einen Anteil von 0.6% geistig Behinderter
in Deutschland an.
Wendeler (1993) bezieht sich auf eine Studie von Liebmann
und behauptet: „Die Häufigkeit geistiger Behinderungen ist bei
Jungen höher als bei Mädchen" (Wendeler, 1993, S. 22). Er
gibt für Jungen eine Prävalenz von 2.9% und für Mädchen
von 0.54% an. Auch Baird und Sadovnick (1985) stellen eine leicht erhöhte
Prävalenz bei Jungen fest (vgl. Tabelle 5). Katusic et al. (1995)
stellen allerdings in ihrer Untersuchung eine erhöhte Prävalenz
bei Mädchen fest.
Katusic et al. (1995) haben die Häufigkeit geistig
behinderter Kinder in einem Geburtsjahrgang (n = 5919) in Rochester (Minnesota)
untersucht. Sie stellen eine Prävalenz von 0.91% fest. Dabei ist die
Prävalenz für leichte geistige Behinderung 0.42% und für
schwere geistige Behinderung 0.49%. Bei Jungen stellen sie eine höhere
Prävalenz für leichte geistige Behinderung fest; 0.53% für
leichte und 0.29% für schwere geistige Behinderung. Bei Mädchen
stellen sie ein umgekehrtes Verhältnis fest. Die Prävalenz beträgt
für leichte geistige Behinderung 0.31% und für schwere geistige
Behinderung 0.69%.
In einer Untersuchung bei 12058 Kindern eines Geburtsjahrganges
in Nordfinnland haben Rantakallio und von Wendt (1986) einen Anteil von
0.74% schwer geistig Behinderter (Einstufung severe IQ < 50) bestimmt.
0.5% der Kindern konnten von ihnen in die Kategorie leicht geistig behindert
(IQ 50-70) eingestuft werden. 1.34% dieser Kinder sind nach ihren Ergebnissen
in die Kategorie mental subnormality (IQ 71-85) einzuordnen.
Baird und Sadovnick (1985) untersuchten die Häufigkeit
des Vorkommens von geistig Behinderten in British Columbia, Kanada. In
British Columbia wird seit 1952 ein zentrales Behindertenregister geführt.
Nach diesem Register ergibt sich eine Quote von 0.77% geistig Behinderter
im Alter von 15-29 Jahren. Die Einteilung der Behinderungsgrade wird in
diesem Register anhand der ICD 9 Klassifizierungen durchgeführt (ICD
9 und ICD 10 IQ-Werte sind identisch, vgl. Punkt 1.1.4). Die genauen Ergebnisse
können Tabelle 5 entnommen werden. Angemerkt werden muß, daß
mit Borderline der IQ Bereich zwischen 70 und 90 klassifiziert ist. Da
diese Klassifikation nicht in den Bereich der geistigen Behinderung fällt,
ist in der letzten Spalte von Tabelle 5 das Gesamtergebnis ohne Borderlinefälle
hinzugefügt worden. Die Prävalenz von geistig Behinderten beträgt
nach dieser Korrektur 0.56%.
Tabelle 5: Geschlechtsspezifische
Prävalenz für geistige Behinderung bei 15-29jährigen in
British Columbia im Jahre 1982 (aus Baird und Sadovnick, 1985, S. 327)
|
Männer
|
|
Frauen
|
|
Gesamt
|
|
Klassifikation
|
n
|
Prävalenz
|
n
|
Prävalenz
|
n
|
Prävalenz
|
Borderline
|
927
|
2,5
|
616
|
1,7
|
1543
|
2,1
|
Mild
|
701
|
1,9
|
520
|
1,4
|
1221
|
1,7
|
Moderate
|
473
|
1,3
|
354
|
1
|
827
|
1,1
|
Severe
|
266
|
0,7
|
188
|
0,5
|
454
|
0,6
|
profound
|
220
|
0,6
|
173
|
0,5
|
393
|
0,5
|
Unspezifiziert
|
692
|
1,9
|
579
|
1,6
|
1271
|
1,7
|
Gesamt
|
3279
|
8,8
|
2430
|
6,6
|
5709
|
7,7
|
Gesamt (o. Borderline)
|
2352
|
6,4
|
1814
|
5
|
4166
|
5,6
|
Die Ergebnisse dieser Studie sind allerdings vorsichtig
zu interpretieren, da für ca. ein viertel der Fälle keine IQ-Werte
vorliegen.
Sonnander, Emanuelsson und Kebbon (1993) untersuchten
die Häufigkeit von geistiger Behinderung in Schweden. Sie geben einen
Anteil von 0.44% von geistig Behinderten an. Der Anteil von leicht geistig
Behinderten (mild mentally retarded) beträgt nach ihren Angaben weniger
als 25% an der Gesamtgruppe der geistig Behinderten.
Vollkommen von den bisherigen Studien abweichende Ergebnisse
beschreibt McDermott (1994). Sie errechnete anhand von Angaben aus 92 verschiedenen
Schulbezirken in Süd Carolina Prävalenzzahlen für geistige
Behinderung und für Lernbehinderung. Für geistige Behinderung
ergibt sich danach eine Prävalenz von 0.42%. Leichte geistige Behinderung
(educable mental handicap) hat danach eine Prävalenz von 0.37%, schwere
geistige Behinderung (trainable mental handicap) eine Prävalenz von
0.036% und sehr schwere geistige Behinderung (profound) eine Prävalenz
von 0.067%. McDermott (ebd.) geht davon aus, daß viele der als geistig
behindert eingestuften Kinder aufgrund von sozioökonomischen Faktoren
klassifiziert wurden. Sie beschreibt weiterhin, daß viele Kinder,
die ein langsames Lerntempo zeigen, mit der Einstufung mild metal retardation
versehen werden. Außerdem nimmt sie an, daß in den meisten
Fällen nicht nach der AAMR-Richtlinie klassifiziert wurde. Sonnander
et al. (1993) erklären den hohen Anteil der mild mentally retarded
an der Gesamtgruppe der geistig Behinderten in den USA unter anderem damit,
daß in den Vereinigten Staaten eine Diagnosenstellung es vereinfacht,
soziale Hilfsleistungen des Staates zu erhalten.
Die betrachteten Prävalenzangaben, bei Ausklammerung
der Studie von McDermott, schwanken zwischen 0.44% und 1.29%. Ausgehend
davon, daß die Stichproben der dargestellten Studien nicht repräsentativ
sind, daß der IQ mit verschiedenen Meßverfahren erhoben wurde
oder teilweise sogar nur geschätzt wurde und daß den Untersuchungen
unterschiedliche Definitionen von geistiger Behinderung zugrunde lagen,
ist von einer Prävalenz für geistige Behinderung auszugehen,
die im Bereich zwischen 0.5% und 1% liegen könnte. Diese Einschätzung
deckt sich in etwa mit der Einschätzung im DSM-IV (vgl. Saß
et al., 1996). Hier wird von einer Prävalenz von circa einem Prozent
ausgegangen, aber auch eingeräumt, daß die Prävalenzangaben
in verschiedenen Studien aufgrund der unterschiedlichen Definitionen, Ermittlungsmethoden
und untersuchten Populationen erheblich variieren.
Da den schweren geistigen Behinderungen in der Regel
eine organische Ätiologie zugrunde liegt, ist nicht davon auszugehen,
daß sich die Prävalenz in verschiedenen Staaten der westlichen
Hemisphäre stark von einander unterscheidet. Lediglich bei den leichteren
Formen von geistiger Behinderung sind, aufgrund von differierenden Sozialstrukturen
und verschiedenen Bildungs- und Fördersystemen, unterschiedliche Prävalenzen
in den einzelnen Ländern zu erwarten.
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