Ursachen von psychischen
Störungen und Verhaltensstörungen bei geistig Behinderten
Das von Zubin und Spring 1977 im Rahmen der Schizophrenieforschung
entwickelte Vulnerabilitätsmodell ( Roder, Brenner, Kienzle &
Hodel, 1991) wird in den letzten Jahren auch zur Erklärung des Auftretens
von psychischen Störungen bei geistig Behinderten verwendet (David
& Neukäter, 1995; Fiedler, 1994; Steiger, 1994, Theunissen &
Stichling, 1997).
Eine der Aussagen des Vulnerabilitäts-Streßmodells
ist, daß Menschen mit Einschränkungen im biologischen, psychischen
und/oder sozialen Bereich Limitierungen erleiden, die das Risiko für
sie erhöhen, bei akuten Belastungen psychisch zu erkranken (Roder
et al., 1991; Steiger, 1994; Theunissen & Stichling, 1997). Schmidt
(1994) beschreibt zwei verschiedene Formen der Vulnerabilität, die
genetisch determinierte und die erworbene Form. Seiner Ansicht nach kann
die Vulnerabilität allein schon ausreichen, um eine psychische Störung
auszulösen. Kommen zusätzlich noch akute oder chronische Streßfaktoren
hinzu, wird das Erkrankungsrisiko erhöht. Gegen die Stressoren können
Copingfähigkeiten des Individuums wirken.
Abbildung 1: Vulnerabilitätsmodell
von Zubin und Spring ( vom Autor leicht modifiziert, nach Roder, Brenner,
Kienzle & Hodel, 1991, S. 25).
Es ist davon auszugehen, daß geistig Behinderte
ein erhöhtes Risiko besitzen, psychisch zu erkranken bzw. Verhaltensauffälligkeiten
zu entwickeln (siehe Punkt 1.1.9). Dieses kann sowohl durch die Vulnerabilität
sowie auch durch die erhöhten Stressoren, denen sie in unserer Gesellschaft
ausgesetzt sind und die wiederum Auswirkungen auf die Vulnerabilität
besitzen, begründet werden (Bradl, 1994; Schmidt, 1994; Steiger, 1994).
Verschärfend kommt noch die begrenzte Verfügbarkeit von Bewältigungsstrategien
(Coping Skills ) hinzu (David & Neukäter, 1995).
Abbildung 2: Modell für das Auftreten
von psychischen Störungen bei geistig Behinderten (vom Autor leicht
modifiziert, nach Schmidt, 1994, S. 368)
Schmidt (1994) beschreibt vier Varianten für das
Auftreten von psychischen Störungen bei geistig behinderten Menschen
(vgl. Abbildung 2). In der ersten Variante wird davon ausgegangen, daß
die Grunderkrankung die Intelligenzminderung auslöst, aus der wiederum
die psychische Störung entsteht. Diese auf defektorientierter Psychopathologie
und monokausaler Ursachenzuschreibung basierende Variante bezeichnet Bradl
(1994) als traditionelles psychiatrisches Erklärungsmodell. Theunissen
und Stichling (1997) bezeichnen diese Variante als ‘psychiatrische Orthodoxie’.
Dieses Modell hatte häufig die Nichttherapie der psychischen Störungen
zur Folge. Da die Intelligenzminderung, die die psychische Störung
ausgelöst haben soll, irreversibel ist, wurde auch die psychische
Störung als zur Intelligenzminderung gehörig betrachtet und gleichfalls
als irreversibel eingestuft.
In Variante 2 wird davon ausgegangen, daß psychische
Störung und Intelligenzminderung von einer gemeinsamen Grundstörung
ausgelöst werden.
In der dritten Variante wird angenommen, daß die
Intelligenzminderung von der Grundstörung ausgelöst wird. Die
psychische Störung entsteht aufgrund eines anderen Risikofaktors.
Die Intelligenzminderung beeinflußt allerdings die Entwicklung und
den Verlauf der psychischen Störung. Diese Variante wird jedoch erst
in den letzten Jahren von der Forschung verstärkt wahrgenommen. Lotz
und Koch (1994) schreiben, daß „...wir lernen, zwischen der Intelligenzminderung
selbst und den sie eventuell begleitenden Verhaltensauffälligkeiten
zu differenzieren und die »Fähigkeit« dieser Personen
anerkennen, unabhängig von ihrer geistigen Behinderung psychisch zu
erkranken" (S. 13).
Die vierte Variante zeigt beispielhaft, daß aufgrund
der durch die Grunderkrankung ausgelösten Intelligenzminderung das
Risiko ansteigt, daß weitere Faktoren entstehen, die eine psychische
Störung auslösen, auf die in Entwicklung und Verlauf wiederum
die Intelligenzminderung Einfluß nimmt. Ob diese Risikofaktoren stärkeren
Einfluß auf die Entwicklung und den Verlauf der psychischen Störung
nehmen als die Intelligenzminderung, kann naturgemäß nicht genau
festgestellt werden.
Intelligenzminderung führt häufig zu ungenügender
Bearbeitung von altersgemäßen Entwicklungsaufgaben aufgrund
kognitiver Mängel (siehe Punkt 1.1.7). Es treten deshalb gehäuft
Aufmerksamkeitsstörungen, altersunadäquate Ängste, Einnässen
und Einkoten, sowie Interaktionsprobleme mit Gleichaltrigen und Erwachsenen
auf (Schmidt, 1994). Diese werden in der Regel jedoch nicht als eigenständige
Störung klassifiziert, da sie nach Schmidt als Symptome der Intelligenzminderung
betrachtet werden. Er bezeichnet dieses als Verhaltensauffälligkeiten
ohne Krankheitswert.
Schmidt stellt dar, daß als mittelbare Folge der
Intelligenzminderung Entwicklungsverzögerungen auftreten (ebd.). Aus
diesen entwickeln sich häufig Entwicklungsstörungen die irreversible
Formen annehmen können. Diese Entwicklungsstörungen bezeichnet
Schmidt als psychische Störungen von Krankheitswert.
Viele Fähigkeiten werden von geistig Behinderten
aufgrund nicht vorhandener Handlungskompetenzen oder Abwehrmechanismen
nicht oder nur unzureichend erworben (Schmidt, 1994). Häufig treten
deshalb bei diesen Kindern Störungen wie Pica ( Kind ißt ständig
nicht eßbare Stoffe), Bewegungsstereotypen mit und ohne Selbstverletzung,
Einnässen, Einkoten, spezifische Phobien, sozial ängstliches
und gegebenenfalls mutistisches Verhalten (Kinder verweigern das Sprechen
mit anderen Personen, mit der Ausnahme von eng vertrauten Kontaktpersonen)
auf.
Nach Schmidt (1994) kann Intelligenzminderung allerdings
auch umgekehrt als Schutzfaktor wirken, wenn durch sie verhindert wird,
daß Wahrnehmungen kognitiv adäquat verarbeitet werden, deren
Verarbeitung pathogene Auswirkungen haben könnte. Er behauptet, daß
die protektive Wirkung um so größer ist, je jünger und
emotional undifferenzierter das intelligenzgeminderte Kind ist.
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